Dieser Thread ist eine Abspaltung von diesem hier: Leonard Bernstein zum 90. Geburtstag . Nachdem Edwin Baumgartner eine eigene Diskussion über Bernstein und seine lebenslange Beschäftigung mit dem Musical angestoßen hatte, erschien es mir (und ihm wohl auch) als sinnvoll, dieses Thema in einem eigenen Thread weiter zu führen. Da ich den Ausgangspunkt erhalten wollte, kommt die eigentliche Threaderöffnung leider etwas später.
ZitatAlles anzeigenOriginal von Edwin Baumgartner
Lieber PianoForte,
prinzipiell stimme ich Dir in allen Punkten zu - nur in einem nicht, nämlich:
Dazu muß man sich vor Augen halten, daß Bernstein mit der "West Side Story" das Kapitel Musical für sich als abgeschlossen betrachtete. "1600 Pennsylvania Avenue" komponierte er nur nach endlos langen Zureden, weil man ihm den Floh ins Ohr setzte, das gespann Lerner and Lennie könne den meilenstein des US-Unterhaltungstheaters zusammenbringen. Bernstein war aber über das "normale" Musical weit hinaus, schrieb eine ziemlich komplexe Partitur, und der Flop war fertig.
Hätte er "1600" nicht komponiert, wäre der Blick auf sein Werk etwas klarer: Bernstein hatte sich nach "West Side Story" vom Unterhaltungstheater abgewendet, weshalb er auch gar nicht mehr am Serienerfolg interessiert war. Etwas Vergleichbares ist ihm daher schon deshalb nicht mehr gelungen, weil er es auch gar nicht angestrebt hat. Es gibt allerdings zahlreiche Werke nach der "West Side Story", die ähnlich dicht und sogar dichter gearbeitet sind und deren Qualität mindestens so hoch ist wie die der "West Side Story" - nur sind sie eben nicht Musical, sondern Orchesterwek, szenische Mischform und, in einem Fall, Oper.
Dazu muß man sich vor Augen halten, daß Bernstein mit der "West Side Story" das Kapitel Musical für sich als abgeschlossen betrachtete. "1600 Pennsylvania Avenue" komponierte er nur nach endlos langen Zureden, weil man ihm den Floh ins Ohr setzte, das gespann Lerner and Lennie könne den meilenstein des US-Unterhaltungstheaters zusammenbringen. Bernstein war aber über das "normale" Musical weit hinaus, schrieb eine ziemlich komplexe Partitur, und der Flop war fertig.
Lieber Edwin,
das sehe ich etwas anders, seit ich einen Mitschnitt einer Aufführung von 1600 PENNSYLVANIA AVENUE zu hören bekam, der trotz technischer Defizite belegt, dass die Ursache für den Flop keineswegs Bernsteins Musik war, die kaum komplexer ist als die der WEST SIDE STORY. Die spätere Verpackung als WHITE HOUSE CANTATA täuscht da etwas, auch wenn man diese Einspielung als einzig tontechnisch akzeptables Zeugnis dieser Musik kennen sollte:
Eine Affenschande übrigens, dass auch diese Aufnahme schon wieder vom Markt verschwunden ist!
Schon vom reinen Anhören des Broadwaymitschnitts erschließt sich, dass das Problem weniger eines von Bernstein, sondern des Buchautors Alan Jay Lerner war, der es (wie auch?) nicht schaffte, das dramaturgisch unmögliche Konzept einer Reise durch die Epochen mehrerer US-Präsidenten in eine halbwegs fesselnde dramatische Form zu bringen. Statt dessen gibt es ein Episodenmusical, dessen stark fivergierende Teile durch die nicht sehr dramatische Klammer eines Gebäudes, nämlich des weißen Hauses verknüpft sind. Bernstein, der dieses Projekt zur 200-Jahr-Feier Amerikas zunächst durchaus sehr enthusiasmiert mittrug, wollte nach der nicht sonderlich überzeugenden Washingtoner Uraufführung weit gründlichere Überarbeitungen vornehmen, aber der Sponsor (Pepsi Cola) und Lerner erzwangen die voreilige Broadwayserie, die dann schief ging.
Aber selbst dann war Bernsteins Enthusiasmus für das Musical keineswegs abgeschlossen. Noch 1987 kam es zu einer Reihe öffentlicher Previews seines Musicals THE RACE TO URGA. Dieses Musicalprojekt
beruhte auf einem Lehrstück von Bertolt Brecht, dessen Thema ihm Jerome Robbins bereits Ende der 60er Jahre erstmals als Stoff für ein neues, ernstes Musical vorgeschlagen hatte. In den folgenden Jahren arbeitete Bernstein immer wieder mit mehreren Librettisten, darunter Stephen Sondheim, daran. Dank Robbins’ nachhaltigem Drängen waren Bernstein und seine Partner 1987 soweit, die erwähnte Serie öffentlicher Testaufführungen am Lincoln Center abzuhalten. Diesmal hatte Bernstein jedoch aus den Problemen seiner früheren Thesendramen CANDIDE und 1600 PENNSYLVANIA AVENUE gelernt, und er entschloss sich, das Projekt abzubrechen, obwohl ihm einige Teile darin, vor allem der Prolog und Epilog, recht gut gefallen hatten. Vielleicht gibt es eines Tages wenigstens eine Aufnahme dieser weitestgehend unbekannten Teile des Stückes.Ich glaube nicht, dass Bernstein zeitlebens irgendeine seiner virtuos beherrschten Interessen wirklich aufgegeben hatte (vielleicht mit Ausnahme der Filmmusik, die ihm zu fremdbestimmt war), und das Musical nahm unter ihnen immer eine besondere Rolle ein.
Die Einzigartigkeit der WEST SIDE STORY, deren Rang ich wahrlich nicht bestreite, gilt daher vor allem für die gelungene Kombination von Musik, Drama und Publikumserfolg. Da aber auch die Endfassung von CANDIDE eine Summe beständiger Überarbeitungen und Neufassungen war und somit ihre Vorstellung durch Bernstein in London kurz vor seinem Tod fast der Premiere einer Neukomposition gleichkam, scheint sich abzuzeichnen, dass auch der Publikumserfolg der WSS nicht mehr singulär bleibt. Musikalisch ist 1600 PENNSYLVANIA AVENUE jedenfalls keineswegs schwächer.
Jacques Rideamus