Wenn alle Haydn-Sinfonien so akkurat datiert wären wie das heute als Nr. 35 gezählte Werk, hätten wir’s einfacher: Auf dem Autograph hat der Komponist fein säuberlich das Datum „1. Dezember 1767“ notiert. Der auch durch seine flachen und schlecht recherchierten Opernführer bekannte Musikschriftsteller Kurt Pahlen nahm das zum Anlass, dem Werk in seinem Buch Sinfonie der Welt eine Passage zu widmen – ausgehend von der absurden Vermutung, Haydn habe das Werk an einem einzigen Tag komponiert. Pahlen bemerkt: Und so geht es fort, genau wie der Anstellungsvertrag es vorschreibt und die Stellung es erfordert, die vom Dirigenten die „Beistellung“ der für alle Konzerte und Festlichkeiten nötigen Musik verlangt, gerade so wie der Gärtner die Blumen, der Jäger für das Wildbret, der Schneider für die Toiletten zu sorgen hat. Vor 1764 hatte Haydn schon zwanzig Sinfonien geschrieben; vielleicht schon manche oder viele mehr – wer sollte sie damals registrieren oder zählen? (…) Sinfonie folgte auf Sinfonie (…). Ich zitiere das deshalb (sträflicherweise aus zweiter Hand nach der deutschen Wiki), weil hier sehr schön Argumentationslinien sichtbar werden, die eine abschätzige Rezeption von Haydns Schaffen begünstigten – unglückliche „Popularisierer“ wie Pahlen haben ihr Teil dazu beigetragen.
Tatsächlich gibt es drei Möglichkeiten, das Datum zu interpretieren: als Beginn der Komposition, als ihr Ende, oder als Tag eines besonders festlichen Anlasses, zu dem das Werk uraufgeführt wurde. Nach meinem Wissensstand hat man darüber bisher keine Einigkeit erzielt.
Sicher ist jedoch: nach 1766 als einem Jahr der (fast?) vollständigen Abstinenz bezüglich der Komposition von Sinfonien begann Haydn sich ab 1767 erneut mit der Gattung zu beschäftigen – es beginnt der Zeitraum, den man heute als Sturm-und-Drang-Periode des Komponisten bezeichnet. Nr. 35 dürfte zu den ersten Sinfonien dieser neuen Schaffensphasen zählen: Haydn hat sie in seinem eigenhändigen Werkverzeichnis offenbar zwischen Nr. 39 und Nr. 59 eingetragen.
Zu Beginn des ersten Satzes, Allegro molto im 3/4-Takt, spielen die Violinen über pochenden Achteln der Unterstimmen ein einfaches, eher lyrisches Motiv im Piano, das dann durch Sequenzierungen und kleine Forte-Eskapaden mit Bläsern „angereichert“ wird. Die Überleitung zum Seitenthema, das mit dem Hauptthema verwandt ist und im folgenden eher eine untergeordnete Rolle spielen wird, bestreitet ein ryhthmisch akzentuiertes Unisono-Motiv der Streicher, das sehr stark an ein ähnliches Thema in Mozarts über 20 Jahre später entstandener Es-dur-Sinfonie KV 543 erinnert. Nach dem schwungvollen Seitenthema führen kratzbürstige Tremoli zu einer zweiten, veränderten Präsentation des Hauptthemas über. Richtig aufregend ist die Durchführung: Das Hauptthema wird im schroffen kontrapunktischen Wechselspiel zwischen ersten Geigen, Celli und Bässen sowie Oboen dramatisch ausgeleuchtet, anschließend erklingt eine ebenfalls sehr bewegte, vielstimmige Verarbeitung des Überleitungsmotivs, die in das Tremolo-Motiv mündet. An thematischer Arbeit muss sich diese Durchführung vor keiner späteren Haydns verstecken! In der Reprise ist zweierlei bemerkenswert: beim Hauptthema ein abenteuerlicher Ausflug des ersten Horns in hohe Regionen, und dann eine Episode zwischen Überleitungs- und Seitenthema, bei dem erste und zweite Violinen sich einen kontrapunktischen Dialog mit dem Material des Hauptthemas liefern – ähnlich wie in manchen späteren Sinfonien eine kleine „zweite Durchführung“, sehr spannungsreich!
Es folgt ein Es-dur-Andante im 2/4-Takt, nur für Streicher, wie wir es von vielen früheren Sinfonien kennen. Interessant an diesem etwas konventionelleren Satz (grob als ABA-Form zu kennzeichnen) ist das Changieren zwischen einer verhalten-lyrischen Atmosphäre und einem recht trockenem Humor, bei dem ein Thema immer mehr auf seine Essentials reduziert wird, bis es nur noch in banalen staccatierten Achteln erklingt (T. 38ff., T. 117ff.). Auch der Schluss, bei dem das Thema noch einmal anzusetzen scheint, um dann ohne jeden weiteren Umstand abzukadenzieren, verblüfft ein wenig.
Bei Menuett (Un poco allegretto) und Trio ist bemerkenswert, wie Haydn durch die Dominanz von Triolen die beiden Satzteile zusammenzubinden sucht. Ganz witzig die Umkehrung der „normalen“ Instrumentation: während im Trio diesmal nur die Streicher spielen, sind im Menuett die Oboen und Hörner sehr aktiv, insbesondere die letzteren haben wieder halsbrecherische Passagen zu bewältigen.
Wiewohl kurz, ist das Presto-Finale im 2/4-Takt – ein Sonatensatz - doch von bemerkenswertem thematischen Reichtum und dramatischer Stringenz geprägt. Beginnend mit drei Tutti-Unisonoschlägen, die immer wieder gliedernd und/oder überraschend einbrechend den Satz durchspuken (das gibt’s ja später auch immer wieder bei Haydn). Das eher einfache, sehr kurze und lustige Kehraus-Hauptthema taucht zwar ständig auf, wird aber kaum verarbeitet. Dagegen erweist sich das Seitenthema aus Achteln samt ruppigen Tremoli und reizvoll zwischen Streichern und Oboen dialogisierender Schlussgruppe in der Durchführung zu dramatischen Kulminationen in der Lage. Äußerst abwechslungsreich!
Diese schöne Sinfonie besitze ich in drei Einspielungen, weil sie aufgrund ihrer Zuordnung zur Sturm-und-Drang-Periode in den entsprechenden Editionen von Frans Brüggen und Trevor Pinnock auftaucht. Die Zeiten der einzelnen Sätze sind gut vergleichbar, weil bei der Wiederholungsfrage alle drei Dirigenten identisch verfahren:
Fischer: 5:01, 4:07, 3:00. 3:18
Brüggen: 5:29, 7:12, 3:55, 3:27
Pinnock: 4:57, 6:26, 3:41, 3:15
Brüggen hat mich beim Wiederhören schwer enttäuscht – schon der erste Satz lahmt und klingt grau. Das Andante ist völlig verschleppt und büßt jeglichen Witz ein. Besser die letzten beiden Sätze, aber auch hier tendenziell zu langsam und nicht an die beiden anderen Aufnahmen heranreichend.
Vorzüglich Fischer, sehr straff und dramatisch (hier auch mal im Menuett). Einziger kleiner Einwand: Manchmal sind die Bläser nicht vorlaut genug. Großer Vorzug dieser Aufnahme: das Andante, hier fast schon in Richtung Allegretto interpretiert, zeigt wirklich einmal Witz, besonders schön beim Schluss, dessen letzte beide Akkorde Fischer eigenmächtig, aber wirkungsvoll lapidar pizzicato spielen lässt.
Hervorragend auch Pinnock, beim Kopfsatz und besonders beim Finale gefällt er mir mit leichtem Vorsprung vor Fischer am besten (sehr schön die Hörner!). Einziger kleiner Einwand: das Andante ist besser als bei Brüggen, aber etwas zu brav gespielt.
Viele Grüße
Bernd