Das deutsche Kunstlied - große Musik auf schlechte Texte?

  • Wenn man sich ein wenig mit dem deutschen Kunstlied beschäftigt, hört man oft die Meinung, dass sich schlechtere poetische Texte besser vertonen ließen. Natürlich fällt auf, dass viele unserer großen Liedkomponisten wie etwa Schubert auch zahlreiche Autoren vertont haben, die heute kein Mensch mehr und selbst der Belesenste kaum noch kennt. Was also ist dran an dem Befund? Lässt ein schwacher Text mehr Spielraum für kompositorische Feinheiten? Sind zu perfekte Texte vertonbar, ohne sie ihres Ranges zu berauben? Muss man, wenn man hunderte Lieder komponiert, notgedrungen auch auf schwaches Material zurückgreifen, wiel es nicht so viele gute Gedichte gibt? Gerne auch auf Liedkomponisten anderer Länder ausweitbar.


    P.S. Falls es das Thema schon gibt, bitte löschen oder verschieben!

  • Es ist eine interessante Frage, wer - wann - welchen - Text als "schlecht" bewertet.
    Manches, das wir heute als "schwülstig"" und antiquiert betrachten sahen die Zeitgenossen durchaus anders. Und natürlich ist es für den Komponisten sicher besser, wenn seine Vertonung eines "mittelmäßigen" Textes von Publikum und Kritik als "Veredelung" wahrgenommen wird, als wenn ein schon an sich bekannter und dominierender Text eine Veränderung durch die Vertonung erfährt, die nicht immer als Gewinn für das Werk empfunden wird. Vermutlich haben sich manche Komponisten davor gescheut "erstklassige" Texte durch ihre Vertonung von der Wirkung her zu beeinflussen.
    Dieser Tatsache war sich wohl auch Goethe bewusst. Er sah das Problem nur von der anderen Seite, war sich wahrscheinlich dessen bewusst, dass eine allzu dominante Vertonung seiner Texte deren Inhalt zugunsten der Tonsprache in den Hintergrund drängen könnte. Deshalb hat Goethe Schuberts Vertonungen kommentarlos abgelehnt, während er andere Komponisten ermunterte, seine Dichtungen in ihrer Wirkung zu unterstreichen .


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Eigentlich habe ich erwartet, dass Alfred Schmidt darauf hinweisen würde, dass er dieses Thema schon selbst einmal zu Gegenstand eines Threads in seinem Forum gemacht hat, und dass es dort dazu eine ganze Reihe von substanziell relevanten Beiträgen gibt.

  • Eigentlich habe ich erwartet, dass Alfred Schmidt darauf hinweisen würde, dass er dieses Thema schon selbst einmal zu Gegenstand eines Threads in seinem Forum gemacht hat, und dass es dort dazu eine ganze Reihe von substanziell relevanten Beiträgen gibt.


    In meinem Post Scriptum habe ich ja auf diese Möglichkeit hingewiesen und alle Reaktionen der Forumsleitung freigestellt. Ich bin ja keiner von denen, die bei jedem Einfall blind einen Thread aufmachen; ich habe ganz im Gegenteil das ganze Kunstliedforum durchgesehen, die Titel abgeglichen und auch in den Threads selbst gelesen. Da kam manches zur Sprache, aber einen genauen diesbezüglichen konnte ich nicht entdecken. Verfahrt also wie ihr wollt; aber macht euch bitte auch Gedanken darüber, wie man den Überblick behalten soll: Die Suchfunktion ist keine wirkliche Hilfe. Dennoch bin ich der Meinung, dass es in so manchem Unterforum (Orchestermusik von Klassik und Romantik) etliche praktisch völlig identische Threads gibt, die trotzdem nicht zuammengelegt wurden und dass der meinige hier doch ein Problem zu bündeln scheint, das anderswo in dieser Konzentration noch nicht angesprochen wurde.

  • Es gibt natürlich zig mehr oder minder identische threads, aus unterschiedlichen Gründen. Ich kann jetzt auch nicht mehrere hundert Postings durchpflügen, um zu entscheiden, ob und inwieweit man diesen thread dort irgendwo anhängen sollte:


    Was gewinnen Gedichte durch ihre Vertonung?
    Das Lied als Vehikel
    Gedichte und ihre Vertonungen
    Sprache und Musik im Lied


    Ich halte, was in der zugespitzt gestellten Frage anklingt, für ein Scheinproblem. Für mich ist offensichtlich, dass Schubert ein anerkannt großartiges Gedicht wie Goethes Erlkönig nicht besser/schlechter/grundlegend anders vertont hat als zB die Gedichte Wilhelm Müllers.
    Und so ähnlich gilt das auch für andere Komponisten. Gewiss kann es mancherlei Gründe haben, warum ein Komponist bestimmte Text wählt bzw. von ihnen angezogen wird (Mahler schätzte anscheinend an den Wunderhorn-Gedichten gerade die "Primitivität", "mehr Leben als Kunst".)


    Es ist offenbar auch nicht so, dass von den Zeitgenossen verbreitet die Ansicht vertreten worden ist, Rellstab, Mayrhofer oder Müller seien Dichter auf dem Level von Goethe, Schiller oder Heine. während wir das heute "besser "wissen.


    Selbst vertonte Gedichte fragwürdiger Qualität sind m.E. fast immer noch erheblich besser als sehr viele Opernlibretti. Viele davon sind selbst als Libretti noch grausig, andere funktionieren in dieser Form gut, wären aber isoliert kaum erträglich.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich halte, was in der zugespitzt gestellten Frage anklingt, für ein Scheinproblem. Für mich ist offensichtlich, dass Schubert ein anerkannt großartiges Gedicht wie Goethes Erlkönig nicht besser/schlechter/grundlegend anders vertont hat als zB die Gedichte Wilhelm Müllers.
    Und so ähnlich gilt das auch für andere Komponisten. Gewiss kann es mancherlei Gründe haben, warum ein Komponist bestimmte Text wählt bzw. von ihnen angezogen wird (Mahler schätzte anscheinend an den Wunderhorn-Gedichten gerade die "Primitivität", "mehr Leben als Kunst".)

    Für ein Scheinproblem haben wir aber schon einige interessante Fragen und Ansätze zusammenbekommen, die deinen Befund zum Wenigsten schwächen. :) Was für dich offensichtlich ist, mag anderen noch zweifelhaft oder fraglich sein. Es geht ja auch nicht eigentlich darum, ob Schubert den Erlkönig besser oder schlechter komponiert hat als die Gedichte Müllers; sondern um die Frage, ob er sich beim ersteren wesentlich mehr reinknien musste, weil der Text so gut war, und bei zweiterem war das gar nicht nötig. Also, wie von mir intendiert: Sind schwächere Vorlagen leichter mit musikalischem Leben zu erfüllen? Und warum sich nun der eine Künstler den Dichter erkiest und der andere einen anderen, ist schon wieder ein so weites Feld und damit so interessant, dass man nicht von Scheinproblemen sprechen sollte, sondern einfach von viel zu vielen wirklichen. Persönliche Vorlieben, Bekanntschaften, Qualität und Quantität des zu Grunde liegenden Oeuvres, Geschmack der Zeit, artifizielle Texte oder eher volkstümliche, liedhaft oder eher vergrübelt? Die Frage, ob bestimmte Gedichte eine besondere Musikalität haben (beim frühen Brentano spricht man davon, natürlich auch bei den Spätromantikern a la Eichendorff) und andere sich eher sperren (Hölderlin?), liegt in der Luft und ist doch nicht gänzlich von der Hand zu weisen.



    Es ist offenbar auch nicht so, dass von den Zeitgenossen verbreitet die Ansicht vertreten worden ist, Rellstab, Mayrhofer oder Müller seien Dichter auf dem Level von Goethe, Schiller oder Heine. während wir das heute "besser "wissen.

    Ich denke, die Frage, ob die Zeitgenossen diese und jene Dichtung ganz anders einschätzten als wir heute, ist in unserem Zusammenhang hier entscheidend und gleichzeitig nebensächlich. Auch wenn sich ein Komponist seinerzeit auf die für ihn beste Dichtung warf und er eigentlich nur auf das Hochwerstigste achtete (woran ich ehrlich gesagt nicht glaube, das spielten andere Kriterien eine Rolle), werfen die Ergebnisse für uns Heutige dennoch die oben gestellten Fragen auf.



    Selbst vertonte Gedichte fragwürdiger Qualität sind m.E. fast immer noch erheblich besser als sehr viele Opernlibretti. Viele davon sind selbst als Libretti noch grausig, andere funktionieren in dieser Form gut, wären aber isoliert kaum erträglich.

    Richtig, aber das ist nun ein ganz anderes Thema, weil das dramaturgische Element hier im Focus steht und nicht das lyrische.


    Ich halte das Thema übrigens auch deshalb für so spannend und wichtig, weil das Verhältnis vom Wort zur Musik in der deutschen Musikgeschichte immer eine große Rolle gespielt hat, von spätestens Schütz und Bach an gerechnet, natürlich das Kunstlied einbeziehend, selbstverständlich Wagner, bis zu Mahller und Co.

  • Ein quantifizierendes Verfahren würde vielleicht weiterhelfen, zum Beispiel bei Schubert: Wieviele seiner etwa 600 Lieder basieren auf heute als großer Poesie angesehenen Texten und wie viele auf Rellstab und Co.?

  • Zitat

    Diese Fragestellung ist dem Wesen des Kunstliedes unangemessen.


    Im Thread "Sprache und Musik im Lied" wurde in detaillierter Form - das heißt anhand von vielen analytisch betrachteten Beispielen – aufgezeigt, dass mit Schubert das Lied in seiner Entwicklung in eine Phase eingetreten ist, die man mit dem Begriff „Kunstlied“ belegt. Dessen Wesen besteht aber gerade darin, dass nicht – wie das etwa bei Reichardt oder Zelter noch der Fall war – die Musik nur Träger des musikalischen Textes ist, so dass dieser von ihr gleichsam unberührt bleibt (weshalb Goethe das so schätzte und Schuberts Lieder ablehnte), sondern dass sich im Akt der Komposition lyrischer Text in musikalischen Text verwandelt.


    Das nun hat zur Folge, dass der lyrische Text gleichsam sein Eigensein verliert, so dass es gar nicht mehr angebracht ist, ihn mit den Maßstäben von Lyrik zu qualifizieren und in diesem Zusammenhang von einem „guten“ oder „schlechten“ Gedicht zu sprechen.

    Dieser Argumentation vermag ich nicht zu folgen. Sie ist in sich widersprüchlich und im Grunde absurd, weil schon analytisch unsauber. Was immer Schubert leistete, das zu Grunde liegenden Gedicht bleibt ein Gedicht und hat sich in seiner Entität nicht aufgegeben, nur weil es zum Kunstlied wurde. Ich sehe noch ein, dass man das gelungene Kunstlied als Einheit wahrnimmt; aber das erübrigt nicht das Sezieren der sprachlichen Vorlage aus analytischen Gründen. Man könnte ja als Germanist kein Gedicht interpretieren, wenn man nicht zergliedern und wieder zusammensetzen dürfte (siehe Bert Brecht: "Über das Zerpflücken von Gedichten".



    Zitat

    Der Akt er Komposition erfolgt beim Kunstlied über eine Inspiration des Komponisten durch bestimmte, den Text als gleichsam als poetischen konstituierende Merkmale, die in ihrer Relevanz für den kompositorischen Akt jenseits der Kategorie dichterischer Qualität liegen: Sie reichen von der Sprachmelodie über die Thematik bis hin zu der sie gleichsam dichterisch elaborierenden Metaphorik.

    Das nun dringt in den Kern der Problemfrage und liest sich hochinteressant; aber Aporie auf Aporie; ein Zirkelschluss nach dem anderen ...



    Zitat

    Die literarische Qualität kann zwar ein die kompositorische Inspiration wesentlich bestimmender Faktor sein, sie ist aber nicht die conditio sine qua non für die musikalische Qualität des Liedes.

    Ersteres haben wir vermutet, zweiteres hat niemand behauptet!



    Zitat

    Johann Mayrhofer: „Nachtstück“.
    Ein schlechtes Gedicht. Es lügt. Luna kämpft mit Gewölken, grüne Bäume rauschen nicht nur, sie flüstern ein "schlaf süß", Gräser lispeln wankend fort, Vögel rufen einem etwas zu, und zwar, dass man doch bitte in Rasengruft ruhen möge. Kitsch, dass sich die Balken biegen. Und was macht Schubert daraus? Dieser sprachliche Kitsch stört ihn überhaupt nicht. Hugo Wolf hätte einen solchen Text nicht einmal mit spitzen Fingern angefasst. Schubert macht ein wunderschönes Lied daraus. Es ist auf keinen Fall so, dass Schubert - wie man früher meinte - keinen geschulten literarischen Geschmack gehabt hätte. Er hat sogar, das ist belegt, Gedichte zurückgewiesen, die ihm zur Vertonung angeboten wurden. Ich möchte nicht so weit gehen wie Fischer-Dieskau, der meint, Schubert habe sich über die mindere Qualität seiner Texte sogar gefreut, weil sie ihm viel mehr Freiheit zur Entfaltung seiner kompositorischen Genialität gelassen hätte.


    "Nachtstück" ist ein Beleg für seine Intention als Liedkomponist. Er "vertont" die Texte nicht. Dieses schlechte Gedicht von Mayrhofer muss wohl eine Imagination in ihm ausgelöst haben, die er kompositorisch dann zum Ausdruck bringt. Dies geschieht über die Verwandlung von sprachlichen in musikalischen Text, wobei dessen dichterische Qualität ein kompositorisch unerheblicher Faktor ist. Heraus kommt die musikalisch großartige Evokation eines uralten Menschheitstraumes: Der Tod als Erlösung, als friedliches Eingehen in eine bergende Natur. Die Komposition Schuberts hat in diesem Fall die literarische Fragwürdigkeit der lyrischen Bilder Mayrhofers gleichsam musikalisch kompensiert. Durch ihr Eingehen in den musikalischen Text haben sie eine über ihre sprachliche hinausgehende neue künstlerische Dimension gewonnen.

    Entschuldige, aber wo ist hier der Beweis? Schubert vertont ein schlechtes Gedicht und das gut! Mit dem Befund könnte man auch die oben aufgeführte Threadproblemfrage belegen! Im Grunde mehr ein Argument für mich.

  • Was für dich offensichtlich ist, mag anderen noch zweifelhaft oder fraglich sein. Es geht ja auch nicht eigentlich darum, ob Schubert den Erlkönig besser oder schlechter komponiert hat als die Gedichte Müllers; sondern um die Frage, ob er sich beim ersteren wesentlich mehr reinknien musste, weil der Text so gut war, und bei zweiterem war das gar nicht nötig. Also, wie von mir intendiert: Sind schwächere Vorlagen leichter mit musikalischem Leben zu erfüllen? Und warum sich nun der eine Künstler den Dichter erkiest und der andere einen anderen, ist schon wieder ein so weites Feld und damit so interessant, dass man nicht von Scheinproblemen sprechen sollte, sondern einfach von viel zu vielen wirklichen. Persönliche Vorlieben, Bekanntschaften, Qualität und Quantität des zu Grunde liegenden Oeuvres, Geschmack der Zeit, artifizielle Texte oder eher volkstümliche, liedhaft oder eher vergrübelt? Die Frage, ob bestimmte Gedichte eine besondere Musikalität haben (beim frühen Brentano spricht man davon, natürlich auch bei den Spätromantikern a la Eichendorff) und andere sich eher sperren (Hölderlin?), liegt in der Luft und ist doch nicht gänzlich von der Hand zu weisen.

    Dieses Kriterium ist aber doch eins, dass auf den Aspekt der Vertonung zugeschnitten ist. Dem stimme ich zu, aber gerade deswegen halte ich eine davon unabhängige Bewertung der zugrundeliegenden Lyrik für problematisch.
    Und ob ein Komponist sich mit einer Vertonung schwer oder leicht tut, dürfte nur in seltenen Fällen rauszukriegen sein. Es könnte ebensogut umgekehrt sein, dass ein "guter" Text besonders inspirierend und leichter zu vertonen ist. Vermutlich ist es sehr unterschiedlich, welcher Text "leichter mit musikalischem Leben zu füllen" ist und kaum abhängig von einer absoluten literarischen Qualität.
    V.a. aber komponierten Liederkomponisten vermutlich meistens eben die Lieder, deren Texte sie inspirierend (ohne sich selbst klar zu sein, warum genau) fanden und nicht welche, in die sie sich hätten "reinknieen" müssen. Das waren normalerweise ja keine Auftragswerke. Und selbst wenn. Komponisten haben auch Auftragswerke mit für sie erkennbar schwachen Texten anstandslos vertont und das Endergebnis muss insgesamt kein schwaches Werk sein.



    Zitat

    Auch wenn sich ein Komponist seinerzeit auf die für ihn beste Dichtung warf und er eigentlich nur auf das Hochwertigste achtete (woran ich ehrlich gesagt nicht glaube, das spielten andere Kriterien eine Rolle), ...

    Eben, daher leuchtet mir nicht unbedingt ein, was ich daraus lernen soll. Dass Komponist X kein Germanist oder Literaturkritiker war, wusste ich schon vorher ;) Es wäre sehr seltsam, wenn Texte nicht nach vertonungsbezogenen Kriterien zur Vertonung ausgewählt würden.


    Ich kenne vielleicht nicht genügend oder nicht die richtigen Lieder und bin sicher auch nicht allzu kritisch gegenüber den Texten. Aber mir fallen sehr wenige Lieder ein, deren Texte so schlecht sind, dass sie mich stören. "Das Zügenglöcklein" habe ich vermutlich schonmal in einem der andern Theads erwähnt, finde ich ziemlich kitschig und es gibt sicher noch einiges Grenzwertige. Aber die Müller-Texte finde ich nirgendwo störend schlecht.

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  • Das ganze kommt mir wesentlich diffiziler vor als es zunächst scheint. Man müsste nämlich zuerst die Kriterien definieren, anhand welcher man Gedichte als "gut" oder "schlecht" einstuft. Ist dies geschehen, kann man sich überlegen inwiefern ein empfundener stilistischer Mangel, das Zustandekommen einer gelungenen Vertonung erleichtern könnte. Ich behaupte aber, man wird hier nichts finden. Die Hypothese klingt im Grunde wenig plausibel und spiegelt wahrscheinlich eher unser Erstaunen wider, dass Komponisten wie Schubert aus textlichen Vorlagen, die wir als schlecht empfinden, gute Lieder komponieren konnten. Sehen wir uns aber bspw. Schuberts beliebteste Lieder an, dann sind die Texte allgemeinhin keineswegs schlecht, oder?

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  • Lieber teurer Freund, diese Definition zum Kunstlied - eine sehr nachvollziehbare und stimmige übrigens - stellt auch niemand ernsthaft in Frage! Dass es beim Kunstlied darum geht, den Wortausdruck nicht nur wiederzugeben, sondern möglichst auch zu erhöhen, ist doch eine Allerweltsweisheit, das versteht sich doch von selbst. Jede Kunst, die mit verschiedenen Mitteln arbeitet, die auf schon vorhandene Stoffe zurückgreift, arbeitet so! Diese höhere Einheit aber entsteht ja erst und die Frage nach dem Schaffensprozess legt auch jene nach dem Material frei und da das Gedicht vor dem Kunstliedwerden eine eigenständige Existenz führte und vom Komponisten erst wahrgenommen, auf seine Vertonbarkeit hin eingeschätzt und verarbeitet werden musste, ist die hier aufgeworfene Frage eben nicht abwegig, schon gar nicht mit dem Verweis auf das spätere Gesamtkunstwerk Kunstlied! Es bringt wenig, angebrachte Analyse mit Phrasen abzufertigen!



    Zitat

    Insofern ist es der Sache nicht angemessen, mit der Fragestellung „Schlechter Text, gute Musik“ oder „Guter Text,
    schlechte Musik“ an das Kunstlied heranzugehen, wenn man seine künstlerische Aussage zu erfassen versucht.

    Für die Analyse eines Kunstliedes wird man ALLE Bestandteile untersuchen müssen, neben den rein musikalischen Aspekten (Begleitung, Stimmführung etc.) auch den Text - und zwar hinsichtlich Thema, Stoff, Motiv, Sprache, künstlerische Gestaltungsmittel: Die Frage nach der künstlerisch-poetischen Qualität ergibt sich daraus wie von selbst, wenn sie auch nicht zwingend die Qualität des Liedes determiniert.

  • Das ganze kommt mir wesentlich diffiziler vor als es zunächst scheint. Man müsste nämlich zuerst die Kriterien definieren, anhand welcher man Gedichte als "gut" oder "schlecht" einstuft. Ist dies geschehen, kann man sich überlegen inwiefern ein empfundener stilistischer Mangel, das Zustandekommen einer gelungenen Vertonung erleichtern könnte.

    Genau so sollte man vorgehen! Und man müsste die Möglichkeiten der musikalischen Gestaltung im Einzelnen und im Detail prüfen, inwieweit sie einen Text aufwerten!



    Zitat

    Ich behaupte aber, man wird hier nichts finden.

    :D



    Zitat

    Die Hypothese klingt im Grunde wenig plausibel und spiegelt wahrscheinlich eher unser Erstaunen wider, dass Komponisten wie Schubert aus textlichen Vorlagen, die wir als schlecht empfinden, gute Lieder komponieren konnten. Sehen wir uns aber bspw. Schuberts beliebteste Lieder an, dann sind die Texte allgemeinhin keineswegs schlecht, oder?

    Erstaunen ja, zweiteres bedürfte schon noch der Verifizierung!

  • Dem stimme ich zu, aber gerade deswegen halte ich eine davon unabhängige Bewertung der zugrundeliegenden Lyrik für problematisch.

    Wieso unabhängig? Ein Gedicht hat - zumindest in unserem Kulturkreis - eine bestimmte Qualität als dichterisches Produkt, wobei man bei den Kunstrichtern sicher zwischen Fachleuten oder Gebildeten und dem gemeinen Volk unterscheiden muss. Letzterem gefällt das schlichte romantische Gedicht im Volksliedton, ersteren der Goethesche Divan, Hölderlin oder Trakl. Das jeweilige Gedicht existiert ja nun mal VOR der Vertonung und wird auch VOR der Vertonung vom Komponisten als bloßes Gedicht wahrgenommen. Und warum er jetzt wie wählt, das würde mich interessieren! Ich denke aber, du hast Recht, dass eine "objektive" Qualität des Gedichtes als Kunstwerk außerhalb einer schon antizipierten Musik keine Rolle für ihn spielt.



    Zitat

    Und ob ein Komponist sich mit einer Vertonung schwer oder leicht tut, dürfte nur in seltenen Fällen rauszukriegen sein. Es könnte ebensogut umgekehrt sein, dass ein "guter" Text besonders inspirierend und leichter zu vertonen ist. Vermutlich ist es sehr unterschiedlich, welcher Text "leichter mit musikalischem Leben zu füllen" ist und kaum abhängig von einer absoluten literarischen Qualität.

    Ja, ja und ja! :)



    Zitat

    V.a. aber komponierten Liederkomponisten vermutlich meistens eben die Lieder, deren Texte sie inspirierend (ohne sich selbst klar zu sein, warum genau) fanden und nicht welche, in die sie sich hätten "reinknieen" müssen. Das waren normalerweise ja keine Auftragswerke. Und selbst wenn. Komponisten haben auch Auftragswerke mit für sie erkennbar schwachen Texten anstandslos vertont und das Endergebnis muss insgesamt kein schwaches Werk s

    Inspiration wäre in der Tat ein guter Aufhänger, aber auch die schwebt ja nicht im luftleeren Raum, sondern muss vom jeweiligen Gedicht ausgehen: Bleibt auch hier die Frage, warum?



    Zitat

    Es wäre sehr seltsam, wenn Texte nicht nach vertonungsbezogenen Kriterien zur Vertonung ausgewählt würden.

    Stimmt! Aber was sind vertonungswürdige Kriterien?

  • "Ich möchte nicht so weit gehen wie Fischer-Dieskau, der meint, Schubert habe sich über die mindere Qualität seiner Texte sogar gefreut, weil sie ihm viel mehr Freiheit zur Entfaltung seiner kompositorischen Genialität gelassen hätte. "


    Das verstehe ich zB einfach nicht. Insbesondere den Umkehrschluss: Inwiefern ließe ein Meistergedicht weniger Freiraum und warum?
    Was wären Belege hierfür? Ungeachtet der Schwierigkeit des tatsächlichen historischen Nachweises, wie sollte überhaupt ein Nachweis aussehen, der diese These stützen könnte?
    Rein statistisch sind vermutlich berühmte Meistergedichte viel häufiger mehr oder minder gut vertont worden. Vielleicht lassen sie sogar mehr Möglichkeiten zu.


    Mir sind diese generalisierenden Behauptungen zu abstrakt und theoretisch. Ich vermute, dass die lyrischen Vorlagen immer gut für bestimmte Ziele des Komponisten sind. Wie schon angedeutet, schätzte zB Mahler an den Wunderhorngedichten (die er ja in den von im selbst verfassten Texten einiger früher Lieder im Grunde imitiert hat) anscheinend gerade den naiven kruden Volkston. Sollten literarische Feinheiten den kompositorischen nicht im Wege sein? Oder versucht er nicht vielmehr, ungeachtet aller Raffinesse, die Naivität auch in der Vertonung zu treffen, nicht als Imitation von Volksmusik, sondern wie ein sehnsüchtiger Traum von solch einer naiven Kinderwelt (oder auch ein grotesker Alptraum wie in "Revelge").


    Brahms hat dagegen nicht nur viele Volkslieder gesetzt, sondern explizit für Kunstlieder das "Volkslied" als Ideal vertreten. Das mag zu einer Auswahl vieler Texte, die uns zweitklassig scheinen, geführt haben, und auch zu nach außen hin schlichten Vertonungen usw.
    In einem der verlinkten threads hatte ich als Beispiel für einen wohl nicht allzu gut vertonbaren Text, Schillers "Nänie" (Brahms-Chorwerk) angeführt. Für mich "klappern" Distichen und Hexameter auf deutsch häufig (zumal wenn es mehr als ein paar Verse sind). Die Vertonung vermeidet diesen Eindruck ziemlich erfolgreich.


    Methodisch besteht das Problem einmal darin, dass wir wohl nur sehr selten Kommentare der Komponisten selbst zu den vertonten Texten haben, oder?
    Vor allem aber glaube ich, dass, wenn wir das Lied am Ende gelungen finden, wir uns von einer "prima la musica" Haltung nicht befreien können. Ich glaube, dass beinahe überall, vom Schlager bis zu liturgischer Musik die Musik (wenn sie gewisse Qualitäten hat) immer den Vorrang bei der Rezeption des Endprodukts haben wird. Es bedarf einer Rezeptionsanstrengung sich von der Musik zu lösen. Wir müssen uns den Text separat vornehmen und die Vertonung sozusagen vergessen. Dann stellen wir fest, dass das Gedicht nach unserem Dafürhalten schwach ist. Das vergessen wir normalerweise aber wieder, sobald wir das Lied hören, weil uns, im Falle eines gelungenen Liedes, die Musik "bezirzt". Deswegen wirkt das ganze auf mich ein wenig wie eine akademische Übung, die mit meiner Rezeption von Liedern eher wenig zu tun hat.

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