Der komplette Text (Übersetzung von Dietburg Spohr):
http://www.belcanto-spohr.de/d…tein%20-%20Deutsch%20.pdf
Die Erläuterung von Dietburg Spohr (Klappentext):
„Hildegard von Bingen komponiert für „Belcanto“ – als Komponistin auch unserer Zeit? Ein Versuch, Hildegard von Bingen aus ihrer oft esoterisch-mystizistischen Vereinnahmung herauszuholen. Unsere Version ist eine Gegenüberstellung. Die Fragen stellenden oder Kommentare gebenden Virtutes – die vorantreibenden Kräfte – entwickeln und entfalten die Kompositionen. Sie teilen ihr Denken, Gedanken, Überlegungen, Ideen und Kritik in die Charaktere auf. Unsere Fassung erhebt keinerlei Anspruch auf historische Authentizität oder gar „Werktreue“. Wenn uns Ordo Virtutum fasziniert, dann weit eher als Schöpfung einer in ihrer Zeit einzigartigen Frau im Schnittpunkt kontroverser Strömungen. Relativ eindeutig scheint allenfalls die Notation im Sinne einstimmiger gregorianischer Tradition. Wir wollten uns nicht der Illusion hingeben, eine konkrete historische Aufführungssituation wäre auch nur andeutungsweise rekonstruierbar. In Hildegards Komposition steckt ein utopisches Potential, das aktuell zu aktivieren ist. Der historische Notentext ist in jeder Ausarbeitung vollständig vorhanden und wird so auch gesungen.
Völlig homogen in Anlage wie Einzelteilen ist Ordo virtutum nicht. Ein gleichförmiges Heruntersingen nach Art mancher Mittelalter-Kult-Versionen würde der gewiss allenfalls zu mutmaßenden Intentionen der Hildegard von Bingen kaum entsprechen, außerdem als abendfüllende Aufführung reichlich monoton wirken. Natürlich konnte damals von Polyphonie noch nicht die Rede sein. Aber eine gewisse Gleichzeitigkeit zumindest im Sinne eines gedanklich-musikalischen Kräftegeschehens ist immerhin vorstellbar. Schließlich geht es um den Konflikt seelischer Energien, weltanschaulicher Prinzipien. Rein statisch jedenfalls ist dieses Weltbild nicht. Dementsprechend haben wir auf der Basis der überlieferten Notationen weiterkomponiert, die Einstimmigkeit aufgefächert. Dies widerspricht noch nicht einmal dem mittelalterlichen Weltbild von der tönenden Reibung der Himmels-Sphären. Folglich lassen wir unterschiedliche Schichten gleichzeitig kreisen.
Die Partitur und ihre Figuren:
36 virtutes – einstimmiges Original; 14 animae – Seelen – Hilfe reichend – in unterschiedlichen Dreiklangsformen singend; 8 humilitas – Ganzton-Cluster 5 diabolus – Kinderstimme; 3 castitas – kanonische Formen; 3 victoria ecclesia militans et triumphans – einstimmig mit Trommel-Begleitung 2 patriarches – altehrwürdige Grundtöne; 2 scientia dei – als gestörtes Wissen; 13 einzelne „Charaktere“ als Individuen: caritas, timor dei, obedientia, fides, apes, innocentia, contemptus mundi, amor caelestis, disciplina, verecundia, misericordia, discretio, patentia, ein Epilog“
Den Anspruch einer „werktreuen“ Rekonstruktion erhebt die Belcanto-Fassung des Ordo Virtutum der Hildegard v. Bingen (1098-1179) ausdrücklich nicht. Statt den Weg einer historisierenden Aufführung. zu gehen, entsteht diese Musik vielmehr „neu“ aus einer lebendigen Begegnung von Mittelalter und Moderne, von „alter“ und „neuer“ Musik. Kein noch so gewissenhafter Rekonstruktionsversuch kann die schier unüberwindlichen Schwierigkeiten der Aufführung von antiker und mittelalterlicher Musik verleugnen. Es wäre schlicht naiv zu glauben, aus den überlieferten Quellen ließe sich ein wirklich verlässliches und auch nur annähernd vollständiges Bild gewinnen, wie dieses liturgische Drama aus dem Mittelalter tatsächlich aufgeführt wurde.
Die große Qualität dieser Belcanto-Version ist, dass sie die beiden Klippen der Exotik und Esoterik souverän umschifft. Exotisch – freilich auch nicht ohne Reiz – bliebe eine „puristische“ Wiedergabe nur der originalen Gesänge, weil sie lediglich von einem kleinen Expertenkreis wahrgenommen würde. Populär dagegen sind – gerade im Falle der Hildegard von Bingen – esoterische Mystifizierungen. Hildegards Musik als Erlebnis-Mystik zu vereinnahmen kann jedoch kaum so etwas wie Authentizität beanspruchen, stellt vielmehr eine Projektion durchaus moderner Bedürfnisse auf das Mittelalter dar.
Warum es der vorliegenden, vom ersten bis zum letzten Ton fesselnden Aufnahme so ungemein gut gelingt, von der musikalischen Erfahrung unserer Epoche her ein Fenster zur Vergangenheit des Mittelalters zu öffnen, liegt an der Verbindung des ganz Alten und ganz Neuen. In der Musik des 20. Jhd. vollzieht sich eine Abkehr von den Hörgewohnheiten der „Romantik“ in einem tiefer gehenden und weiter reichenden Sinne, indem sich nämlich die neuzeitliche Moderne der vormodernen Welt des Mittelalters in einer entscheidenden Hinsicht wieder annähert: Worum es hier geht ist das (Ver-)Schwinden des Subjekts und damit zusammenhängend einer subjektiven Erlebnisperspektive.
Hildegard von Bingens Ordo Virtutum folgt einem großen literarischen Vorbild, der Psychomachia des christlich-spätantiken Dichters Prudentius (eigentlich Aurelius Prudentius Clemens, (348 – ca. 405 n. Chr.)) Die „Psychomachia“ ist ein Seelenkampf, wo die einzelnen Tugenden mit den ihnen zugehörenden Untugenden bildlich-allegorisch personifiziert ums Überleben kämpfen – verletzt werden, Blessuren davontragen aber letztlich doch den Sieg erringen. Bei Hildegard von Bingen kämpfen entsprechend die christlichen Tugenden der Demut, der Nächstenliebe, der Gottesfurcht usw. mit den skeptischen Verunsicherungen, die vom „Teufel“ ausgehen. Es kann hier jedoch keine Rede davon sein, dass es sich bei diesem Seelenkampf um so etwas wie den „inneren“ Konflikt eines Subjekts handelt, das an diesem „leidet“ und sich entsprechend auch weiter entwickelt, indem es nach einer Konfliktlösung sucht. Die Tugenden und ihre Anfechtungen stellen vielmehr personifizierende Kräfte dar und die Seele so etwas wie ein Kräftefeld, dem eine organisierende Mitte – ein alle seine Erlebnisse synthetisierendes Subjekt – fehlt. Die musikalische „Form“ dieses Dramas ist deshalb auch weit entfernt von der geschlossenen, finalisierenden Ordnung und Organisation des klassisch-romantischen Sonatensatzes mit einer den thematischen Konflikt exponierenden Exposition, seiner Austragung in der Durchführung und versöhnlichen Lösung in der Reprise: Die Gegensätze zeigen sich vielmehr in einer „Geschichte“, die in der losen Aneinanderreihung von Episoden besteht, im entwicklungs- und ziellosen Hin- und Her einer Behauptung der Tugenden und ihrer drohenden Entmachtung, wo sich der „Sieg“ der Tugend und des Glaubens letztlich auch nicht zielgeführt („teleologisch“ präformiert in der Philosophensprache) einstellt.
Fehlende Emphase ist das, was mittelalterlich-subjektlose Musik auszeichnet. Subjektive Gefühlsreaktionen mischen dem Ausdruck einer seelischen Regung immer etwas bei, worin sich das beteiligte und betroffene Selbst meldet: die Freude kann verhalten sein oder sich zum Überschwang steigern (wie die Wiedersehensfreude in Beethovens Klaviersonate „Les Adieux“), ein Kunstlied aus der Romantik die emotionale Regung mit Ironie und Spott oder mit dem Ton von Verzweiflung noch einmal gleichsam kommentieren. Die archaische Wirkung eines gregorianischen Chorals, welche uns ein Gefühl der Selbstvergessenheit und Zeitenthobenheit vermittelt, beruht vielleicht gerade darauf, dass sie abstrakt bleibt, von solchen dynamischen Gefühlsreaktionen nahezu frei ist. „Tugenden“ im antik-mittelalterlichen Verständnis stellen bezeichnend so etwas wie feste Haltungen (griech. hexis) dar – sie sind damit noch keine „Gefühle“ mit einer dazu gehörenden Gefühlsdynamik im modernen Sinne, welche gerade die Auflösung von Tugendfestigkeit in höchster Beweglichkeit und veränderlicher Anpassung in der Reaktion auf wechselnde Umstände zur Voraussetzung haben. Dietburg Spohr spricht von „Gleichzeitigkeit“ an der Stelle echter Polyphonie, vom Ausdruck eines „Konflikts seelischer Energien“. Die Tugenden und ihre Anfechtungen – allegorisch ins Bild gesetzt als Verletzungen einer handelnden Person durch eine andere – bedeuten zwar nicht so etwas wie die Reaktion eines Subjekts auf seine eigenen Erlebnisse. Seelische Komplexität kommt hier zustande nicht durch subjektives Reagieren, sondern ein Agieren, das mannigfaltige „Resonanzen“ in seinem Gegenüber auslöst. Ein solches Gefüge von Resonanzen ergänzt die Belcanto-Fassung, vertreibt damit die Monotonie der Einstimmigkeit und gibt der Musik ihr inneres Leben sehr sinnenfällig durch ihre Manifestation in einer Lautgestalt zurück. Der moderne Mensch besitzt zwar in hohem Maße die Fähigkeit zur Gefühlsreaktion und zur Einfühlung darin, die mannigfaltigen seelischen Resonanzen, die ein gregorianischer Choral im Akt des Singens einst auslöste, sind jedoch im Übergang vom Mittelalter zur Moderne mehr und mehr verklungen. Viel spricht deshalb dafür, dass unser vordringlicher Eindruck des Eintönig-Archaischen mittelalterlicher Gesänge einer purifizierenden Abstraktion entspringt, letztlich ursächlich hervorgeht aus dem geschichtlich bedingtem Verlust einstmals lebendiger Erfahrung. Die Laut-Gesänge Karlheinz Stockhausens, mit denen das Belcanto-Ensemble so gut vertraut ist, führen hier zurück in eine seelische Komplexität, welche vor subjektiver Gefühlskultur liegt, deren unverzichtbar großer Reichtum an emotionaler Reaktion allerdings auch die Kehrseite hat, den anderen Reichtum ursprünglich agierender seelischer Kräfte und ihrer vielfältigen Resonanzen tendenziell zu verdecken. Reiner Stimmgesang lebt vom Atmen und den flexiblen Modifikationen der Atembewegung – hier spricht sich die mythische, atmende Seele aus, das Ein- und Aushauchen des Lebensatems – etwa in Track Nr. 21. Das Lachen wiederum (Track Nr. 23), es ist als eine seelische Kraft erst einmal nur ein Lachen, das in den Raum eindringt, hallt und widerhallt, dabei nur es selbst ist, dessen Resonanzen der Hörer wie gebannt nachhört, ohne sie durch eine einsetzende Gefühlsreaktion gleichsam abzudämpfen. Der Weg in die vergangene musikalische Welt des Mittelalters führt so zurück zu uns selbst – zu dem in uns verborgenen Reichtum ursprünglicher seelischer Regungen und Kräfte.
Schöne Grüße
Holger