Tschaikowskij-Interpretation: Lieber "russisch rauh" oder "westlich dekadent"?

  • Ausgerechnet in einem Bruckner Thread ist's passiert: Irgendwie reiste man vom Donau-Ufer ans Newa-Gestade und vom Dombaumeister aus St. Florian kam man auf den russischen Kutscherkneipen-Musikus (frei nach Ed. Hanslick).
    Nun halte ich die Diskussion über den richtigen interpretatorischen Zugang zu Tschaikowskij für so spannend, daß sie nicht verlorengehen soll. Daher versuche ich mich sozusagen als Herausgeber.
    Alle Grußformeln etc. habe ich ausgelassen, die Zuordnung der Zitate versuche ich, durch Farbe kenntlich und damit leichter lesbar zu machen. Wenn jemand einen anderen Taministen zitiert, erscheint das Zitat kursiv in der Farbe des Zitierten.


    Theophilus = grün (ein innerösterreichisches Scherzlein...) :D *)
    Wulf = schwarz (ohne politische Anspielung!)
    Edwin = rot (ebenfalls ohne politische Anspielung)
    Johannes Roehl = purpur
    GiselherHH = pink



    --------------------------------------------------------------------------------
    Theophilus
    Und daher auch kein Wunder, dass echte Anti-Interpretationen à la Mrawinsky sehr hoch im Kurs stehen (die sind natürlich ganz phantastisch, aber ich bin überzeugt, dass sich der Meister persönlich sehr darüber gewundert hätte).




    Wulf
    Nur weil jemand bei Tschaikowskij keinen übersteigerten Seelen-Striptease hinlegt ist das noch lange keine Anti-Interpretation. Ganz im Gegenteil: Wüßte nicht, was bei Mrawinskij pures Runterspielen der Partitur wäre (hattest Du die mal in der Hand?)
    Entschuldige, aber Aussagen wie "ich bin überzeugt, daß sich Komponist xy sehr gewundert / sehr gefreut hätte", halte ich für müßige Spekulation - ein wenig esoterisch, das Ganze.....




    Theophilus
    Wie bitte?
    Zitiert Wulf: Wüßte nicht, was bei Mrawinskij pures Runterspielen der Partitur wäre (hattest Du die mal in der Hand?)
    Wo steht das bei mir? Bitte etwas genauer lesen. Ich habe die Mrawinsky-Interpretation sogar als "phantastisch" bezeichnet, aber wenn du dich mit dem Komponisten beschäftigst, einen Großteil seiner Werke kennst und dich auch mit seinen Lebensumständen auseinandergesetzt hast, dann kannst du nicht der Meinung sein, dass diese spartanische, unerbittlich strenge, eminent "russische" Sicht auf den Komponisten wirklich seinem Wesen entspricht. Ein Komponist, der von seinen russischen Kollegen nicht als einer der ihren akzeptiert wurde, sondern als der französisch-parfümierte "Westler" galt (hat er doch u.a. einige "ausländische" Stoffe vertont, zu einer Zeit, wo kein "echter" Russe, der auf sich hielt, auch nur einen Gedanken darauf verschwendet hätte, nicht-russische Stoffe auf die Bühne zu bringen).





    Wulf
    wüßte nicht, wie ich das Wort "Anti-Interpretation" (was es im strengen Sinne ja gar nicht geben kann)anders deuten sollte als "Nicht-Interpretation" - ergo als bloßes Runterspielen des Notentextes.


    Ich bin mir bewußt, daß Du die Mravinsky-Aufnahme gelobt hast.
    Wenn Du Dich ja so gut auskennst mit Tschaikowskij und der russischen Musikgeschichte, dann weißt Du ja sicher, daß es zu der Zeit bereits zwei Schulen bzw. Kreise gab: einmal der westwärts gewandte Moskauer Kreis, dem auch Tschaikowsky angehörte und der sich auf russische Wurzeln besinnende St. Petersburger Kreis. Zugegebnermaßen sind gerade das "mächtige Häuflein" der Kern des St. Peterburger Kreises und Tschaikowskij ist heute der einzig bekannte seiner Zeit des Moskauer Kreises, aber ganz allein war eben nicht.


    Ich verstehe Deinen interpretatorischen Einwand. Auch ich dachte zunächst, eine Mravinsky-Interpretation würde Tschaikowskij "Wesen" vielleicht gar nicht gerecht werden.
    Doch sieh es mal aus der Sparte: Es bedarf nicht unbedingt einer zusätzlichen Soße und einer zusätzlichen Spur Kitsch, um den eklatanten Unterschied zum Petersburger Kries eminent werden zu lassen.
    Als Beispiel höre man sich mal den 2. Satz der Pathetique an. Auch wenn man wie Mravinsky nicht noch extra zusätzlich dreifaches expressivo daraus macht hat der Satz vom Wesen her etwas von diesem - von Dir genannten -"französische Parfum"-Charakter. Russisch a la Mussorgsky wirst Du den gar nicht spielen können! Was Mravinsky macht, ist lediglich den Satz von zusätzlichem Ballast freizuhalten - in dem Sinne transparent klassisch zu dirigieren. Und trotzdem bleibt es Tschaikowskij und wird deswegen nicht zu Mussorgskij.



    Edwin
    zitiert Theophilus: (hat er doch u.a. einige "ausländische" Stoffe vertont, zu einer Zeit, wo kein "echter" Russe, der auf sich hielt, auch nur einen Gedanken darauf verschwendet hätte, nicht-russische Stoffe auf die Bühne zu bringen).
    Wacker geschrieben - nur stimmen tut's nicht. Ein Exkurs würde vom Thread-Thema jetzt zu weit wegführen. Daher nur in Kürze:
    Mussorgskij: "Salambo" (Flaubert)
    Rimskij-Korsakow: "Servilia" (röm. Antike), "Nausikaa" (griech. Antike; Skizzen)
    Cui: 50 Prozent der Stoffe nicht-russisch


    Der Unterschied war nicht so sehr der Opernstoff, sondern die ästhetische Haltung: "Echte Russen" lehnten die "westliche" akademische Ausbildung ab - und gleich auch die erlernbaren Techniken.


    Abgesehen davon glaube ich nicht, daß Mrawinskij an Tschaikowskij so weit vorbeidirigiert - man achte auf die langsamen Sätze und die lyrischen Episoden. Es muß doch Tschaikowskij nicht immer als karajanische Larmoyanz daherkommen. Wenn man davon ausgeht, daß Mrawinskij ja nicht aus dem Nichts kommt, sondern durch Gauk in der russischen Tradition verankert ist, könnte es sogar sein, daß die westlichen Wiedergaben weiter an der Musik vobeigehen als die herberen russischen.




    Theophilus
    zitiert Wulf: wüßte nicht, wie ich das Wort "Anti-Interpretation" (was es im strengen Sinne ja gar nicht geben kann)anders deuten sollte als "Nicht-Interpretation" - ergo als bloßes Runterspielen des Notentextes.
    Gemeint ist, dass der Komponist gegen den Strich gebürstet wird, also ganz bewusst aus einem zumindest ungewohnten Blickwinkel gesehen wird.


    zitiert Wulf: Zugegebnermaßen sind gerade das "mächtige Häuflein" der Kern des St. Peterburger Kreises und Tschaikowskij ist heute der einzig bekannte seiner Zeit des Moskauer Kreises, aber ganz allein war eben nicht.
    Richtig.


    zitiert Wulf: Ich verstehe Deinen interpretatorischen Einwand. Auch ich dachte zunächst, eine Mravinsky-Interpretation würde Tschaikowskij "Wesen" vielleicht gar nicht gerecht werden.


    Ich will Mrawinsky gar nicht kritisieren, sondern bin froh, dass es auch diese Sichtweise gibt. Nur wehre ich mich dagegen, dass sie neuerdings sehr gerne als die "wahre Interpretation" angesehen wird, und ich missbillige Aussagen wie "im Vergleich zu Mrawinsky enttäuschend...". Man sollte bedenken, dass Mrawinsky bei Tschaikowsky mindestens so extrem ist wie z.B. Glenn Gould bei den Beethoven-Sonaten. Eine faszinierende Variante, aber wohl kaum das Maß der Dinge. Fast heiter wird es, wenn es heißt "Mrawinsky ist richtig - Karajan liegt falsch", wo es bei Licht betrachtet eher umgekehrt ist.


    Auch ist das Wörtchen "russisch" nicht unproblematisch. Bei Mrawinsky denke ich russisch im Sinne des 20. Jahrhunderts. Ich habe Roschdestwensky gehört, der war so richtig russisch im Sinne des 19. Jahrhunderts, also richtig schön schwermütig. Wieder ein anderes Extrem. Man könnte sagen, dass Karajan, Mrawinsky und Roschdestwensky ein Dreieck von sehr ausgeprägten Interpretationsansätzen aufspannen. Wo ich da noch den Lenny hintun soll, weiß ich nicht. Muss wohl als Sonderfall weiterleben.




    Johannes Roehl
    zitiert Theophilus: Tschaikowsky (und ähnlich Berlioz) - wie bändige ich den Gefühlsüberschwang? Wer hat je soviel eigenes Empfinden in Symphonien verpackt, wer kann seinen Weltschmerz im ppp dem Hörer ins Gesicht schreien wie er? Das ist heute nicht leicht zu vermitteln und polarisiert fast automatisch. Und daher auch kein Wunder, dass echte Anti-Interpretationen à la Mrawinsky sehr hoch im Kurs stehen (die sind natürlich ganz phantastisch, aber ich bin überzeugt, dass sich der Meister persönlich sehr darüber gewundert hätte).
    Ich kann nur wiederholen, dass ich mich wundert, woher ihr alle so genau wißt, worüber sich ein "Meister" gewundert hätte oder nicht. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine bestimmte Interpretationsrichtung aufgrund eines vagen Gefühls (sehr viel wahrscheinlicher aber aufgrund der Prägung oder Gewöhnung) als "authentisch" ausgezeichnet wird, ohne dass es wirklich historische oder musikalische Gründe gibt.
    Ein Abschnitt wie das 2. Thema aus dem Kopfsatz von Tschaikowksy Pathetique ist in jedem Fall an der Kitschgrenze, selbst als midi-file abgespielt. Da ist mir überhaupt nicht klar, ob das durch die Interpretation verstärkt oder abgemildert werden sollte. Das sind stilistisch-ästhetische Fragen, die sich m.E. überhaupt nicht abschließend ein für allemal beantworten lassen, selbst wenn historisch gut belegt sein sollte, dass z.B. Tschaikowksy selbst extremes rubato und Dynamik bevorzugt hätte (oder als Ballettkomponist vielleicht im Gegenteil eher rhythmisch-straffe und stetige Tempi)




    Theophilus
    Aber Tschaikowsky war nicht Strawinsky, der sich einen Spass daraus machte, als kompositorisches Chamäleon durchs Leben zu laufen. Und wenn du dir Tschaikowskys Werk einmal anschaust, wirst du vielleicht zu einem ähnlichen Ergebnis kommen wie ich. Außer vielleicht dem 1. Klavierkonzert wirst du nichts auf diese Art spielen können wie es Mrawinsky und Swetlanow mit den Symphonien machen (nicht das Violinkonzert, die Rokoko-Variationen, die Ballette, zumindest die meisten Opern,...). Sie sind für mich wirklich sehr ausgeprägt (obwohl ich nicht so weit gehe, zu behaupten, sie wären an T. vorbeigespielt), und ich glaube allen Ernstes, dass T. damit nicht zurecht gekommen wäre.




    GiselherHH
    zitiert Theophilus
    Man könnte sagen, dass Karajan, Mrawinsky und Roschdestwensky ein Dreieck von sehr ausgeprägten Interpretationsansätzen aufspannen. Wo ich da noch den Lenny hintun soll, weiß ich nicht. Muss wohl als Sonderfall weiterleben.

    Bernstein ist dann sozusagen das "schwarze Loch" der Diskographie, das den innerhalb dieses Interpretations-Dreiecks aufgespannten Raum extrem verzerrt.


    -------------------------------


    *) Aufgrund mehrer PN-Anfragen: Das innerösterreichische Scherzlein ist keine wie auch immer geartete Bosheit (bin ich wirklich so abgestempelt), sondern reflektiert die Tatsache, daß die Steiermark, deren Hauptstadt Graz ist, in Österreich auch "die grüne Mark" genannt wird, weil dort so viele Grün-Wähler zu Hause sind. Weil den Wald habt Ihr doch eigentlich allen abgeholzt, nicht? :D

    ...

  • In der für mich charakteristischen Objektivität fasse ich die Standpunkte zusammen:


    Theophilus meint, daß Tschaikowskij als westlich orientierter Komponist des 19. Jahrhunderts von Mrawinskij und Swetlanow falsch (aber wirkungsvoll) interpretiert wird, und zwar als russischer Komponist des 20. Jahrhunderts.
    In einem oben nicht zitierten Statement meint Theophilus, es könne der politische Wille gewesen sein, nach der Revolution einen neuen, quasi sowjetischen Tschaikowskij-Stil zu entwickeln.


    Wulf und ich meinen (mit kleinen Unterschieden), daß Mrawinskij und Swetlanow die idealen Tschaikowskij-Interpreten wären, weil sie die Musik für den Menschen von heute erlebbar machen.
    Darüber hinaus meine ich, daß Mrawinskij und Swetlanow die russische Tradition eher fortsetzen, im Westen sich dagegen ein falsches Tschaikowskij-Bild etabliert hat, in dem seine Musik als Show für Brillanz, aber auch als Show der Emotionen inszeniert wird.


    Und damit gibt's, hoffe ich, einmal eine Grundlage für eine spannende Diskussion.


    :hello:

    ...

  • Erstmal muß ich zugeben, dass ich nicht genug Tschaikowsky-Interpretationen kenne, so z.B mit Mrawinskij bisher nur die Mono-Aufnahmen der 5 & 6, mit Karajan garnix. Das meiste, was ich habe, paßt so recht zu keinem der beiden Pole, weder Plüsch noch Wodka, sagt mir aber vielleicht gerade deswegen zu, nämlich Markevitch (zwar in Rußland/Ukraine geboren, aber in Westeuropa aufgewachsen) mit allen 6 (mit dem London Symphony) und Fricsay (4-6), Szell (5) und Abbado (2 &4). Die bieten alle einen ziemlich gradlinigen, durchaus brillanten, aber weder typisch russischen noch schmalzigen oder klangberauschten Tschaikowsky.


    Eigentlich wollte ich aber meine schon im anderen thread gestellte Frage wiederholen: Es gibt doch zig im Umfeld der Revolution emigrierte russische Musiker, die auch teilweise lange genug lebten und berühmt genug waren, Plattenaufnahmen zu machen. Daran ließe sich doch erkennen, ob es eine von der russischen zu unterscheidende "sowjetische" Tradition gibt.


    Aufgrund der bekannten Vorliebe Tschaikowsky für einige französische Komponisten scheint mir als Alternative zum "russischen" Stil weniger Karajan, sondern eher ein wirklich französischer Zugang zu sein, mit den typischen, eher hellen und spezifisch timbrierten franz. Holzbläsern, transparent und elegant. Was ist mit Monteux oder Ansermet, haben die viel Tschaikowksy gemacht?


    (wie gesagt, weder die Franzosen noch die Russen dieser Zeit sind mein Repertoire, wenn überhaupt, dann einige Jahrzehnte später...)


    viele Grüße


    JR

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    (Bob Dylan)

  • Hallo


    Zitat

    Theophilus meint, daß Tschaikowskij als westlich orientierter Komponist des 19. Jahrhunderts von Mrawinskij und Swetlanow falsch (aber wirkungsvoll) interpretiert wird, und zwar als russischer Komponist des 20. Jahrhunderts.


    Ich schätze, ich muss an meinen Formulierungen arbeiten. Es ist schon erstaunlich, wie man (Edwin) mich da missversteht. Also als Versuch einer Korrektur:


    Ich bin der Meinung, dass die genannten Interpretationen keineswegs als falsch zu bezeichnen sind, aber von ihrer Sichtweise derart extrem, dass man sie nicht als Referenz hernehmen sollte, an denen alle anderen Einspielungen gemessen werden. Man käme dann zwangsläufig zu einem sehr einseitigen Bild der Tschaikowsky-Interpretation. (Wenn jemand für sich selbst diese Entscheidung trifft, ist dagegen nichts einzuwenden, aber eine konsensfähige, nach Möglichkeit objektive allgemeine Einschätzung kann auf diese Weise meines Erachtens nicht zustande kommen.)


    Ich versuche, das mit einem anderen bekannten, fast noch extremeren Beispiel zu erhellen: wäre ich der festen Überzeugung, dass Glenn Goulds Einspielung der Mozart-Sonaten die ideale Aufnahme wäre, die diese Musik für Menschen von heute erlebbar macht, käme ich dennoch nicht auf die Idee, sie zur Referenz zu erklären, da ich mir bewusst bin, dass sie ein sehr einseitiges - teilweise bewusst verzerrendes - Bild dieser Sonaten zeichnet. Dennoch könnte ich mit meiner Einschätzung leben, ohne diesen Standpunkt missionieren zu müssen.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Auf die Gefahr, mich bei Theophilus ernsthaft endgültig in die Nesseln zu setzen: Mich befremdet der Gould-Vergleich mehr als Deine Aussage vorher (die ich zumindest verstanden hatte). Nicht nur, dass wohl noch nie jemand auf den Gedanken gekommen wäre, Goulds Mozart-Sonaten zur Referenz zu erklären, es gibt auch keinerlei "Tradition", der sie angehören. Sie sind höchstens negativ durch ihre vollständige Ablehnung einer Spieltradition bestimmt. NICHTS davon trifft auf Mravinsky & Co zu, jedenfalls nicht, bevor jemand positive Hinweise dafür bringt, das Tschaikowsky von 1890 bis 1925 größtenteils auf eine bestimmte Art gespielt wurde (gewiß nicht nur auf eine...), auf die die sowjetische Interpretationshaltung eine "negierende" Reaktion darstellt.
    Goulds Bach-Interpretation könnte man als Bsp. eher akzeptieren, aber auch hier gilt wieder, dass er höchstens einen Interpretationsansatz begründet, nicht zu einer bestehenden Tradition gehört.


    Außerdem bestreite ich, dass extreme Lesarten keine Referenz sein können. Im Gegenteil. Es gibt etliche prominente Beispiele hierfür: Beethovens Sonaten mit Schnabel, Sinfonien mit den Antipoden Toscanini und Furtwängler, alle Mögliche gesungen von Maria Callas (oder von Schwarzkopf oder Fi-Di) u.v.a.
    Es mag stimmen, dass man, an solche "Referenzen" gewohnt, viele andere Interpretationen schnell fad findet.
    Andererseits: [sophist mode] Warum sollte extreme Musik nicht extrem interpretiert werden? Und weniger extreme erst recht, damit sie überhaupt lohnt und nicht fad wird... :D [/sophist mode]


    Eine vernünftige Lehre, die man vielleicht ziehen kann, ist, dass keine Referenz als allgültiger Maßstab genommen werden sollte. Ohne Vielfalt wären unterschiedliche Interpretationen überflüssig...


    viele Grüße


    JR

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  • Hallo JR


    Zitat

    Auf die Gefahr, mich bei Theophilus ernsthaft endgültig in die Nesseln zu setzen:


    Du setzt dich insoferne in die Nesseln, als du offenbar nicht bereit bist, präzise zu lesen. Oder einfach aus irgendeinem Grund meine Gedankengänge prinzipiell missverstehst. Ansonsten könntest du aus meinem wohlformulierten Beispiel nicht den für mich völligen Unsinn ableiten. Da wird eine Diskussion natürlich mühsam.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Theophilus


    Du setzt dich insoferne in die Nesseln, als du offenbar nicht bereit bist, präzise zu lesen. Oder einfach aus irgendeinem Grund meine Gedankengänge prinzipiell missverstehst. Ansonsten könntest du aus meinem wohlformulierten Beispiel nicht den für mich völligen Unsinn ableiten. Da wird eine Diskussion natürlich mühsam.


    Du schreibst wörtlich "[Mravinsky &Co seien] von ihrer Sichtweise derart extrem, dass man sie nicht als Referenz hernehmen sollte".
    Dann ist das nächstliegende Beispiel, das Dir für eine ähnlich (wiewohl noch extremer) verzerrende "Referenz" einfällt: Goulds Mozart ?!?!??!
    Das kann ich, mit Verlaub, hörend beim besten Willen nicht nachvollziehen, abgesehen von den bereits genannten Gründen der Unähnlichkeit.
    Ich kann es höchtens als einen sehr persönlichen Eindruck deinerseits auffassen. o.k., aber die in der Überschrift von Edwin genannten Interpretationsansätze solllten doch schon etwas allgemein Nachvollziehbares sein.


    Wenn Du meinst, dass jemand, der nur Mravinsky gehört hat, ein einseitiges Bild dessen, was man mit Tschaikowsky anstellen kann, gewinnt, so ist das gewiß richtig. Dennoch kann es sein, dass dieses einseitige Bild "richtig" ist; es ist nicht dadurch unvollständig, dass es (aus der Perspektive desjenigen, der eben auch Bernsteins Lesart etc. kennt) extrem ist. (So ähnlich verstehe ich Edwin) Ähnlich wirst Du z.B. unseren Freund salisburgensis kaum davon überzeugen können, dass er auf jeden Fall die Aufnahmen von Beecham's Messiah und Mengelbergs Matthäuspassion zusätzlich nennen sollte, wenn er Empfehlungen für diese Werke ausspricht, denn nur mit Gardiners (o.ä.) Interpretationen gewönne man ja ein total einseitiges Bild dieser Werke (ja, das hier ist eine Art HIP-Diskussion) . (Ebenso ist aus meiner Perspektive die Standardempfehlung Böhm für Mozartsinfonien einseitig, aber hier weiß ich, dass eher meine Position exzentrisch ist.)


    Das alleinige Referenzen Unfug sind, da dürften wir uns wohl einig sein. Sobald man irgendeien konkrete Einspielung als "Referenz" auswählt und empfiehlt, ist man genaugenommen "einseitig", insofern sitzen alle im selben Boot.
    Mit dieser Einschränkung behaupte ich aber, dass "extreme" Referenzen gar nicht so selten sind. Insofern ist der Fall Tschaikowsky gar nichts so Außergewöhnliches.


    Mit der vielleicht entscheidenden Ausnahme, dass - wie viele meinen- aufgrund der kulturellen Tradition usw. Mrawinsky &Co nicht einfach irgendwie "extrem" sind (wie zB Gould), sondern "näher dran". Daher muß man, wenn man die Schwerpunkte von Giselhers gleichseitigen Dreiecken bestimmt, ein wesentlich größeres Gewicht in diese Ecke hänge.
    Genauso wie man Deiner mehrfach geäußerten Meinung nach bei Schubertintepretation nicht ein gleiches Gewicht bei S. Richter und Badura-Skoda hinhängen darf, sondern klar ist, wer richtig liegt und wer extrem und eigenartig ist. Die Fälle sind aufs Haar parallel und es scheint, dass, da man in beiden Fällen erstmal vom Bestehen einer lokalen Tradition ausgehen kann, derjenige, der das bestreitet, zusätzliche Gründe liefern muß.


    Du hast hierzu bisher einzig darauf verwiesen, dass der Charakter anderer Werke Tschaikowskys dem der Sinfonien a la Mravinsky widersprechen würde. Nun haben Mravinsky &Co ja auch die meisten anderen Werke Tschaikowskys dirigiert. Ich kenne die Aufnahmen nicht, aber entweder dirigieren sie die ähnlich wie die Sinfonien oder sie meinen, ebenfalls durchaus nachvollziehbar, dass diese Stücke eben anders dirigiert werden müssen als die Sinfonien, weil es andere Genres oder "Nebenwerke oder was immer seien (Ähnlich wie jemand (stark überspitzt) meinen könnte, Beethovens 1. Sinf müßte eher nach Haydn klingen, die 9. eher nach Wagner. Furtwängler hat Sinfonien wie Beethovens 2. ja tatsächlich kaum dirigiert)
    Ich habe angedeutet, wie man herausfinden könnte, ob die Tradition besteht, oder erst nach dem 1. Weltkrieg enststand. Selbst im letzten Fall könnten Mravinsky &Co noch wesentlich "näher dran" sein als Furtwängler oder Karajan.


    viele Grüße


    JR

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  • Ich muß auch mit einem Irrtum aufräumen: Die Kommunisten haben in der Sowjetunion mit der Tradition gebrochen bzw. eiine neue Tradition begründet.
    Das stimmt nicht ganz.
    Vielmehr ist es so, daß die Kommunisten nahezu alle Klassiker übernahmen. Und das war eine sehr kluge Entscheidung.
    Wie ich schon in einem anderen Thread ausgeführt habe, lebte die halbwegs gebildete Bevölkerung mit der russischen Kultur. Ein Bruch mit dieser Kultur wäre niemals akzeptiert worden. Der Trick war nun, in allen Künstlern die revolutionären Tendenzen aufzuspüren - und zwar in den Biografien. Eine plötzliche staatlich gelenkte Umwertung eines Klassikers wie Tschaikowskij hätte mit Sicherheit nicht funktioniert.
    D.h., sie hätte eventuell in der Generation von Mrawinskij und Swetlanow funktionieren können, nicht aber in der von Gauk und Golowanow, die beide natürlich ganz in der Tradition des vorrevolutionären Rußland standen.
    Wenn nun sowohl Gauk als auch Golowanow einen Stil pflegen, der in die Richtung der aufgepeitschten Interpretationen von Mrawinskij und Swetlanow weist, bekomme ich das Gefühl, daß Mrawinskij und Swetlanow eher in der russischen Tradition stehen als Karajan oder Muti.
    Daß Roschdestwenskij seinen Tschaikowskij anders dirigiert als Mrawinskij und Swetlanow (aber keineswegs so larmoyant in den langsamen Sätzen und so nur-showstückhaft in den schnellen, wie es im Westen gemacht wird), ist für mich eine Reaktion auf diese beiden Dirigenten.
    Wenn nämlich Roschdestwenskij "frei" von Maßsstäben im eigenen Land agieren kann, etwa bei den Sibelius-Symphonien, haben wir sehr schnell wieder diese extremen Spannungen und diese auf Siedehitze gebrachte Emotionalität, wie sie in der russischen Tradition offenbar verankert ist.

    ...

  • Ein höchst interessantes Thema, das nun seit fünfeinhalb Jahren brachliegt. Ein guter Anlaß, es wiederzubeleben.


    Ich finde diese Diskussion spannend und höchst lehrreich. Die vorherigen Beiträge zeugen von einem großen Wissen, welches einem Respekt abnötigt.


    Besonders interessant die Feststellung, daß Roschdestwenskijs Tschaikowskij nicht so auf der Linie von Mrawinskij und Swetlanow wäre. Ich muß gestehen, daß ich nur Aufnahmen der beiden letzteren kenne. Wußte gar nicht, daß es von Roschdestwenskij groß Tschaikowskij gäbe (aus dem Stegreif entsinne ich mich nur an einen BBC-Mitschnitt der Vierten). Und was ist eigentlich mit Kondraschin? Hatte der keinen Bezug zu diesem Komponisten? Liegen Aufnahmen vor? Und wenn ja: Orientieren die sich an der "russischeren" Sicht oder an der etwas westlicheren?


    Wäre schön, wenn diese Diskussion wieder in Gang käme.


    :hello:


    P.S.: Habe grad etwas recherchiert: Es gibt scheinbar alle bis auf die 1. Symphonie unter Roschdestwenskij mit dem Großen SO der Russischen Föderation (wohl Ex-RSO der UdSSR); daneben besagte BBC-Mitschnitte. Von Kondraschin fand ich nichts.



    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Noch ein Nachtrag: Offenbar nahm Rosch sogar alle sechs Symphonien auf. Es gibt eine Komplettbox von Melodiya aus den 70ern. Kennt die jemand?



    Ferner existieren Nr. 4–6 mit dem London Symphony Orchestra, die offenbar auch auf der Brilliant-Box enthalten sind:


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    – Luís de Camões

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  • Hi


    Ja, dunkel kann ich mich noch an diese Diskussion erinnern. Jetzt kann ich nur wiederholen, was ich andernorts schon geschrieben habe. Jeder, der einen "russischen" Tschaikowsky hören will, hat genügend Möglichkeiten, dies zu tun. Er soll aber folgendes bedenken:


    Tschaikowskis Mutter war französischstämmig, seine Gouvernante war Französin, er wurde wie die meisten russischen Kinder aus gutem Haus zu dieser Zeit auf französische Art erzogen. Als Komponist orientierte er sich an westeuropäischen Vorbildern. Das führte so weit, dass er 1862, als sich das "mächtige Häuflein" formierte (Balakirev, Borodin, Cui, Mussorgski und Rimski-Korsakow), er nicht als Mitglied aufgenommen wurde, weil er "zu wenig russisch" komponierte. Ebenso erging es z.B. Rachmaninow.


    MIR kann niemand einreden, dass Mrawinskys in ihrer Art großartige Interpretationen idiomatische Beispiele für diese Musik darstellen. Es ist auch völlig undenkbar, z.B. die Ballette in diesem Stil zu dirigieren. Aber jedem nach seinem Geschmack...


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Ich habe als Teenager die Sinfonien 2,5 und 6 alle in Aufnahmen Roschdestwjenskijs (mit dem Großen Rundfunksinfonieorchester der UdSSR) kennengelernt. Das waren Melodija-Eurodisc LPs in einer Reihe des Bertelsmann Schallplattenclubs (diese Reihe erschien 1984, ich habe sie einige Jahre später gehört, Info über das Aufnahmedatum sehe ich keine). Ich besitze die LPs noch, kann sie aber z Zt. nicht abspielen. Damals waren das einige der ersten größeren Werke, die meine Klassikbegeisterung auslösten. Meine Tschaikoswky-Begeisterung ist allerdings später abgeflaut und ich habe die seit vielen Jahren nicht mehr gehört und kann sie daher nicht beurteilen oder gar vergleichen.

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  • Ich konnte in den vergangenen Tagen in die Tschaikowskij-Aufnahmen (4.–6. Symphonie) unter Roschdestwenskij (Großes RSO der UdSSR/RSO Moskau) hinein hören. Entstanden sind sie zwischen 1972 und 1974, also quasi zeitgleich mit seinen herausragenden Sibelius-Aufnahmen mit demselben Orchester. Schließe mich den bisherigen Feststellungen an: russisch ja, aber nicht so extrem "rauh" wie Swetlanow und (mehr noch) Mrawinskij. Man könnte es in der Tat russisch im Sinne des 19. Jahrhunderts nennen, als die Ausrichtung ja doch noch europäischer war (St. Petersburg Hauptstadt usw.). Natürlich ist auch Roschdestwenskij meilenweit weg vom westlichen Klang eines Karajan, Bernstein oder Klemperer. Die russische Seele hört man immer noch zweifelsohne heraus.


    Ich persönlich kann mich mit allen Lesearten anfreunden. Die unerbitterliche Härte und Schärfe eines Mrawinskij hat natürlich das Ihre. Ich finde die bekannten DG-Studio-Aufnahmen von 1960 sogar noch beinahe gemäßigt. Viel extremer tritt das in den späten Live-Mitschnitten aus den 70ern und 80ern zutage. Die 4. nahm er da allerdings nicht mehr auf; auch von der "Pathétique" gibt es nur zwei Mitschnitte. Sein Hauptaugenmerk lag eindeutig auf der 5., die sich nach den Worten von Jansons (aus dem Gedächtnis zitiert) jedesmal leicht veränderte bei der Aufführung. Swetlanows Tschaikowskij ist dem vermutlich am ähnlichsten, sein Orchester hat aber einen ganz anderen Klang. Markewitsch kenne ich nicht. Wand und Karajan sind von den Westlichen vielleicht gar am engsten an der Partitur, was man von Klemperer (oft seltsame Tempowahl, speziell in der 6.) und vom späten Bernstein kaum behaupten kann. Trotzdem legten diese grandiose Aufnahmen vor.

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    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Noch ein Nachtrag: Offenbar nahm Rosch sogar alle sechs Symphonien auf. Es gibt eine Komplettbox von Melodiya aus den 70ern. Kennt die jemand?


    Hallo Joseph,


    die Tschaikowsky-Sinfonien - GA incl.Manfred mit Roshdestwensky / Großes RSO der UdSSR/RSO Moskau (Eurodisc, 7LP-Box) hatte ich damals (als es bereits die ersten CD´s gab) als Ergänzung zu meinen Einzel-Aufnahmen mit Swetlanow 1-3 + Manfred und Karajan 4-6 gekauft. Der Hintergrund meines Kaufes waren die höchst begeisterungsfähigen Schostakowitsch-Sinfonien mit Rosh. Ich erwartete mir von seinem Tschaikowsky ähnlich begeisterungswürdiges.
    :huh: Ich war dann allerdings von Anfang an von Roshdestwenskys Tschaikowsky-Sicht enttäuscht. Zwar war der von mir geliebte russische Orchesterklang durch das fabelhafte RSO Moskau gegeben, aber Rosh verpasst für meinen Geschmack etliche Spannungsmomente und sieht Tschaikowsky konservativ als romantischen Klassiker ohne Exzesse --- so ganz anders und abgeklärter als Swetlanow und ja, auch als der zupackende Karajan. Es waren die fetzigen Karajan-Aufnahmen von 1964 (Nr.4-6) denen ich eindeutig bis heute den Vorzug gegenüber Rosh gebe !


    Noch extreemer langweilig empfand ich dann die Manfred-Sinfonie mit Roshdestwensky. Ich hatte damals zuerst nur die Swetlanow-Aufnahme (Eurodisc) - heute weis ich das es die Beste sein würde, die mir jemals zu Ohren kommt; später ergänzt durch die Swetlanow-Live-Aufnahme aus Tokyo (WARNER; 1992) dort mit dem verkürzten Schlusssatz ohne Orgel, die ebenfalls der absolute Wahnsinn ist und bei der Roshdestwensky im Vergleich nur ein laues Lüftchen bietet ! Mir ist diese interpretatorische Sicht von Rosh auf Tschaikowsky bis heute ein Rätsel !??!


    Bei Sibelius hatte Roshdestwensky mir 2011 als BestBuy2011 wirklich gezeigt, dass er dort ähnlich wie bei Schostakowitsch das Explosive auch so angemessen betont, wie ich es bei Tschaikowsky gerne mit ihm gehört hätte.


    Ich schrieb im ersten Satz "hatte" zur Tschaikowsky-Rosh-LP-Box ...
    Ja, ich habe mir überlegt, was soll ich die Tschaikowsky-Rosh-LP-Box stehen lassen, wo ich diese sowieso nicht mehr höre und LP´s auch nur dann, wenn keine CD vorliegt --- so habe ich die Rosh-LP-Box Ende 2011 bei EBAY noch gut verkaufen können.


    :thumbup: Ich kann mich auch mehr mit den unerbittlichen Lesearten von (allen voran) Swetlanow (1-6, Manfred) auf WARNER, dann Mrawinsky - besonders in den späteren Aufnahmen bei ERATO, Solti (4-6) auf Decca, Bernstein (1-6) bei SONY und Karajan (1-6) bei DG anfreunden.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang