Ausgerechnet in einem Bruckner Thread ist's passiert: Irgendwie reiste man vom Donau-Ufer ans Newa-Gestade und vom Dombaumeister aus St. Florian kam man auf den russischen Kutscherkneipen-Musikus (frei nach Ed. Hanslick).
Nun halte ich die Diskussion über den richtigen interpretatorischen Zugang zu Tschaikowskij für so spannend, daß sie nicht verlorengehen soll. Daher versuche ich mich sozusagen als Herausgeber.
Alle Grußformeln etc. habe ich ausgelassen, die Zuordnung der Zitate versuche ich, durch Farbe kenntlich und damit leichter lesbar zu machen. Wenn jemand einen anderen Taministen zitiert, erscheint das Zitat kursiv in der Farbe des Zitierten.
Theophilus = grün (ein innerösterreichisches Scherzlein...) *)
Wulf = schwarz (ohne politische Anspielung!)
Edwin = rot (ebenfalls ohne politische Anspielung)
Johannes Roehl = purpur
GiselherHH = pink
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Theophilus
Und daher auch kein Wunder, dass echte Anti-Interpretationen à la Mrawinsky sehr hoch im Kurs stehen (die sind natürlich ganz phantastisch, aber ich bin überzeugt, dass sich der Meister persönlich sehr darüber gewundert hätte).
Wulf
Nur weil jemand bei Tschaikowskij keinen übersteigerten Seelen-Striptease hinlegt ist das noch lange keine Anti-Interpretation. Ganz im Gegenteil: Wüßte nicht, was bei Mrawinskij pures Runterspielen der Partitur wäre (hattest Du die mal in der Hand?)
Entschuldige, aber Aussagen wie "ich bin überzeugt, daß sich Komponist xy sehr gewundert / sehr gefreut hätte", halte ich für müßige Spekulation - ein wenig esoterisch, das Ganze.....
Theophilus
Wie bitte?
Zitiert Wulf: Wüßte nicht, was bei Mrawinskij pures Runterspielen der Partitur wäre (hattest Du die mal in der Hand?)
Wo steht das bei mir? Bitte etwas genauer lesen. Ich habe die Mrawinsky-Interpretation sogar als "phantastisch" bezeichnet, aber wenn du dich mit dem Komponisten beschäftigst, einen Großteil seiner Werke kennst und dich auch mit seinen Lebensumständen auseinandergesetzt hast, dann kannst du nicht der Meinung sein, dass diese spartanische, unerbittlich strenge, eminent "russische" Sicht auf den Komponisten wirklich seinem Wesen entspricht. Ein Komponist, der von seinen russischen Kollegen nicht als einer der ihren akzeptiert wurde, sondern als der französisch-parfümierte "Westler" galt (hat er doch u.a. einige "ausländische" Stoffe vertont, zu einer Zeit, wo kein "echter" Russe, der auf sich hielt, auch nur einen Gedanken darauf verschwendet hätte, nicht-russische Stoffe auf die Bühne zu bringen).
Wulf
wüßte nicht, wie ich das Wort "Anti-Interpretation" (was es im strengen Sinne ja gar nicht geben kann)anders deuten sollte als "Nicht-Interpretation" - ergo als bloßes Runterspielen des Notentextes.
Ich bin mir bewußt, daß Du die Mravinsky-Aufnahme gelobt hast.
Wenn Du Dich ja so gut auskennst mit Tschaikowskij und der russischen Musikgeschichte, dann weißt Du ja sicher, daß es zu der Zeit bereits zwei Schulen bzw. Kreise gab: einmal der westwärts gewandte Moskauer Kreis, dem auch Tschaikowsky angehörte und der sich auf russische Wurzeln besinnende St. Petersburger Kreis. Zugegebnermaßen sind gerade das "mächtige Häuflein" der Kern des St. Peterburger Kreises und Tschaikowskij ist heute der einzig bekannte seiner Zeit des Moskauer Kreises, aber ganz allein war eben nicht.
Ich verstehe Deinen interpretatorischen Einwand. Auch ich dachte zunächst, eine Mravinsky-Interpretation würde Tschaikowskij "Wesen" vielleicht gar nicht gerecht werden.
Doch sieh es mal aus der Sparte: Es bedarf nicht unbedingt einer zusätzlichen Soße und einer zusätzlichen Spur Kitsch, um den eklatanten Unterschied zum Petersburger Kries eminent werden zu lassen.
Als Beispiel höre man sich mal den 2. Satz der Pathetique an. Auch wenn man wie Mravinsky nicht noch extra zusätzlich dreifaches expressivo daraus macht hat der Satz vom Wesen her etwas von diesem - von Dir genannten -"französische Parfum"-Charakter. Russisch a la Mussorgsky wirst Du den gar nicht spielen können! Was Mravinsky macht, ist lediglich den Satz von zusätzlichem Ballast freizuhalten - in dem Sinne transparent klassisch zu dirigieren. Und trotzdem bleibt es Tschaikowskij und wird deswegen nicht zu Mussorgskij.
Edwin
zitiert Theophilus: (hat er doch u.a. einige "ausländische" Stoffe vertont, zu einer Zeit, wo kein "echter" Russe, der auf sich hielt, auch nur einen Gedanken darauf verschwendet hätte, nicht-russische Stoffe auf die Bühne zu bringen).
Wacker geschrieben - nur stimmen tut's nicht. Ein Exkurs würde vom Thread-Thema jetzt zu weit wegführen. Daher nur in Kürze:
Mussorgskij: "Salambo" (Flaubert)
Rimskij-Korsakow: "Servilia" (röm. Antike), "Nausikaa" (griech. Antike; Skizzen)
Cui: 50 Prozent der Stoffe nicht-russisch
Der Unterschied war nicht so sehr der Opernstoff, sondern die ästhetische Haltung: "Echte Russen" lehnten die "westliche" akademische Ausbildung ab - und gleich auch die erlernbaren Techniken.
Abgesehen davon glaube ich nicht, daß Mrawinskij an Tschaikowskij so weit vorbeidirigiert - man achte auf die langsamen Sätze und die lyrischen Episoden. Es muß doch Tschaikowskij nicht immer als karajanische Larmoyanz daherkommen. Wenn man davon ausgeht, daß Mrawinskij ja nicht aus dem Nichts kommt, sondern durch Gauk in der russischen Tradition verankert ist, könnte es sogar sein, daß die westlichen Wiedergaben weiter an der Musik vobeigehen als die herberen russischen.
Theophilus
zitiert Wulf: wüßte nicht, wie ich das Wort "Anti-Interpretation" (was es im strengen Sinne ja gar nicht geben kann)anders deuten sollte als "Nicht-Interpretation" - ergo als bloßes Runterspielen des Notentextes.
Gemeint ist, dass der Komponist gegen den Strich gebürstet wird, also ganz bewusst aus einem zumindest ungewohnten Blickwinkel gesehen wird.
zitiert Wulf: Zugegebnermaßen sind gerade das "mächtige Häuflein" der Kern des St. Peterburger Kreises und Tschaikowskij ist heute der einzig bekannte seiner Zeit des Moskauer Kreises, aber ganz allein war eben nicht.
Richtig.
zitiert Wulf: Ich verstehe Deinen interpretatorischen Einwand. Auch ich dachte zunächst, eine Mravinsky-Interpretation würde Tschaikowskij "Wesen" vielleicht gar nicht gerecht werden.
Ich will Mrawinsky gar nicht kritisieren, sondern bin froh, dass es auch diese Sichtweise gibt. Nur wehre ich mich dagegen, dass sie neuerdings sehr gerne als die "wahre Interpretation" angesehen wird, und ich missbillige Aussagen wie "im Vergleich zu Mrawinsky enttäuschend...". Man sollte bedenken, dass Mrawinsky bei Tschaikowsky mindestens so extrem ist wie z.B. Glenn Gould bei den Beethoven-Sonaten. Eine faszinierende Variante, aber wohl kaum das Maß der Dinge. Fast heiter wird es, wenn es heißt "Mrawinsky ist richtig - Karajan liegt falsch", wo es bei Licht betrachtet eher umgekehrt ist.
Auch ist das Wörtchen "russisch" nicht unproblematisch. Bei Mrawinsky denke ich russisch im Sinne des 20. Jahrhunderts. Ich habe Roschdestwensky gehört, der war so richtig russisch im Sinne des 19. Jahrhunderts, also richtig schön schwermütig. Wieder ein anderes Extrem. Man könnte sagen, dass Karajan, Mrawinsky und Roschdestwensky ein Dreieck von sehr ausgeprägten Interpretationsansätzen aufspannen. Wo ich da noch den Lenny hintun soll, weiß ich nicht. Muss wohl als Sonderfall weiterleben.
Johannes Roehl
zitiert Theophilus: Tschaikowsky (und ähnlich Berlioz) - wie bändige ich den Gefühlsüberschwang? Wer hat je soviel eigenes Empfinden in Symphonien verpackt, wer kann seinen Weltschmerz im ppp dem Hörer ins Gesicht schreien wie er? Das ist heute nicht leicht zu vermitteln und polarisiert fast automatisch. Und daher auch kein Wunder, dass echte Anti-Interpretationen à la Mrawinsky sehr hoch im Kurs stehen (die sind natürlich ganz phantastisch, aber ich bin überzeugt, dass sich der Meister persönlich sehr darüber gewundert hätte).
Ich kann nur wiederholen, dass ich mich wundert, woher ihr alle so genau wißt, worüber sich ein "Meister" gewundert hätte oder nicht. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine bestimmte Interpretationsrichtung aufgrund eines vagen Gefühls (sehr viel wahrscheinlicher aber aufgrund der Prägung oder Gewöhnung) als "authentisch" ausgezeichnet wird, ohne dass es wirklich historische oder musikalische Gründe gibt.
Ein Abschnitt wie das 2. Thema aus dem Kopfsatz von Tschaikowksy Pathetique ist in jedem Fall an der Kitschgrenze, selbst als midi-file abgespielt. Da ist mir überhaupt nicht klar, ob das durch die Interpretation verstärkt oder abgemildert werden sollte. Das sind stilistisch-ästhetische Fragen, die sich m.E. überhaupt nicht abschließend ein für allemal beantworten lassen, selbst wenn historisch gut belegt sein sollte, dass z.B. Tschaikowksy selbst extremes rubato und Dynamik bevorzugt hätte (oder als Ballettkomponist vielleicht im Gegenteil eher rhythmisch-straffe und stetige Tempi)
Theophilus
Aber Tschaikowsky war nicht Strawinsky, der sich einen Spass daraus machte, als kompositorisches Chamäleon durchs Leben zu laufen. Und wenn du dir Tschaikowskys Werk einmal anschaust, wirst du vielleicht zu einem ähnlichen Ergebnis kommen wie ich. Außer vielleicht dem 1. Klavierkonzert wirst du nichts auf diese Art spielen können wie es Mrawinsky und Swetlanow mit den Symphonien machen (nicht das Violinkonzert, die Rokoko-Variationen, die Ballette, zumindest die meisten Opern,...). Sie sind für mich wirklich sehr ausgeprägt (obwohl ich nicht so weit gehe, zu behaupten, sie wären an T. vorbeigespielt), und ich glaube allen Ernstes, dass T. damit nicht zurecht gekommen wäre.
GiselherHH
zitiert Theophilus
Man könnte sagen, dass Karajan, Mrawinsky und Roschdestwensky ein Dreieck von sehr ausgeprägten Interpretationsansätzen aufspannen. Wo ich da noch den Lenny hintun soll, weiß ich nicht. Muss wohl als Sonderfall weiterleben.
Bernstein ist dann sozusagen das "schwarze Loch" der Diskographie, das den innerhalb dieses Interpretations-Dreiecks aufgespannten Raum extrem verzerrt.
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*) Aufgrund mehrer PN-Anfragen: Das innerösterreichische Scherzlein ist keine wie auch immer geartete Bosheit (bin ich wirklich so abgestempelt), sondern reflektiert die Tatsache, daß die Steiermark, deren Hauptstadt Graz ist, in Österreich auch "die grüne Mark" genannt wird, weil dort so viele Grün-Wähler zu Hause sind. Weil den Wald habt Ihr doch eigentlich allen abgeholzt, nicht?