Die Neuproduktion von Hans Werner Henzes Bassariden an der Bayerischen Staatsoper hatte am letzten Montag (19.5.) Premiere. Ich habe die zweite Vorstellung am gestrigen Feiertag (22.5.) gehört und gesehen – alles in allem eine großartige Aufführung.
Die Bassariden sind auf ein vielschichtiges Libretto von W.H. Auden und Chester Kallman in englischer Sprache komponiert, wurden aber bereits bei der Salzburger Uraufführung 1966 in einer deutschen Übersetzung gegeben. Auch in München singt man die deutsche Fassung. Auf der Grundlage der Bakchen von Euripides erzählt die Oper die Geschichte vom Einzug des Dionysos und seines Kultes nach Theben und den vergeblichen und tödlichen Versuch des Königs Pentheus, sich diesem Kult entgegenzustellen. Das Libretto wird in unserem Opernführer von Davidoff zusammengefasst, zudem gibt es auch einen Thread zum Werk, das Henze wie eine Symphonie in vier „Sätze“ unterteilt hat.
Von Anfang an wurde der Oper im positiven und negativen Sinn nachgesagt, sie habe das Zeug zum modernen Klassiker. Die Uraufführung in Karajans Salzburg und die Kompatibilität des Sujets zum bildungsbürgerlichen Kanon taten das ihre dazu. Schließlich und vor allem die Musik – den Grundtenor gab schon damals Hans Heinz Stuckenschmidt vor, als er titelte: „Richard Strauss hat seinen Nachfolger gefunden.“ Henze hat sich immer gegen diese Auffassung gewehrt und noch kürzlich im Interview der SZ darauf hingewiesen, dass er zur Zeit der Komposition gerade intensiv Mahler kennengelernt und rezipiert habe (im Orchesterzwischenspiel vor der Mänadenszene klingen auch einmal die Herdenglocken wie in Mahlers Sechster und Siebter von fern herein). Trotzdem ist in vielen Punkten – Sujet, teilweise „süffiger“ Stil, Orchesterbesetzung – die Verbindung zu Elektra nicht von der Hand zu weisen. Wie dem auch sei: Heute steht man Henzes undogmatischem Kompositionsstil sicher offener gegenüber und auch der Konnex zwischen Antikenrezeption und Bildungsbürgertum (sofern überhaupt noch vorhanden) löst nicht mehr die allergischen Reaktionen früherer Zeiten aus.
Insofern verwundert es nicht, dass Die Bassariden zwar nicht gerade zum Repertoirestück geworden sind, sich aber öfter als andere Opern der letzten fünfzig Jahre auf den Bühnen wiederfinden, selbst auf kleineren wie Freiburg oder Oldenburg. Und das, obwohl Henze einen Riesenapparat fordert: ein Orchester in noch leicht verstärkter Elektra-Größe sowie einen Chor, der einen Part von enormem Umfang und Anspruch bewältigen muss.
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Und musikalisch wurde in München Großartiges geboten: Der in großer Besetzung (ca. 90 Sänger/innen) angetretene Staatsopernchor (Einstudierung: Andrés Máspero) hat in über 80 Proben seit letztem September seinen Part erarbeitet – und wurde ihm brillant gerecht. Sowohl die massiven Jubelchöre zu Beginn, als auch die wispernden Hintergrundchöre, die lyrischen Passagen (besonders schön: Nacht öffnet weit im dritten Satz) und natürlich die dionysischen „Schreichöre“ der Mänaden überwältigten in jeder Beziehung.
Das Dirigat lag in den Händen von Marc Albrecht, der mit dem Orchester ganze Arbeit geleistet hat. Der Klang des riesigen Orchesters uferte nie aus, ohne aber im geringsten unterkühlt oder zurückgenommen zu wirken. Im Gegenteil: Die gelegentlich an Strawinskys Sacre erinnernden „dionysischen“ Passagen kamen mit enormer rhythmischer Präzision und klanglicher Gewalt. Besonders schön gelangen auch die lyrischen Arioso-Inseln bei den Ariosi der Agaue (Auf dem alten Waldweg) und des Dionysos (Ich fand ein Kind). Schon rein spieltechnisch war das eine herausragende orchestrale Leistung. Am meisten hat mich aber die stupende Balance zwischen Orchester, Chor und Solosängern verblüfft: selbst in den Ensembles, in denen alle gleichzeitig aktiv sind, blieb die Transparenz gewahrt. Und fast nie wurden die Sänger vom Orchester überdeckt – die Textverständlichkeit war ausgesprochen hoch.
Das lag natürlich auch an den Sängern selbst, die fast ohne Ausnahme tadellos artikulierten. An erster Stelle muss hier Michael Volle als Pentheus genannt werden. Die beeindruckende darstellerische Leistung, mit dem er die Wandlung des zunächst machtbewussten, später verzweifelten Königs herausarbeitet, wurde von seiner Gestaltung des musikalischen Parts noch übertroffen: makellose Diktion, dynamische Differenzierung von gehauchten Pianissimi (die Nennung des eigenen Namens direkt vor seinem Tod) bis zu markanten Fortissimi, dabei auch in den größten Entäußerungen nie die Gesangslinie verlassend (Nein! Dies Fleisch bin ich!).
Ausgezeichnet auch die zweite große Hauptrolle, der Dionysos von Nikolai Shukoff. Äußerlich ein fast ephebenhafter Latin-Lover-Typus, was einen wirkungsvollen Gegensatz zum größeren Volle bewirkt, kann er seinem Gegenpart stimmlich durchaus die Stirn bieten: mit ebenfalls vorzüglicher Diktion, schönen Lyrismen und stimmlicher Präsenz. An drei Stellen hat der Regisseur Shukoff ein Mikrophon in die Hand gedrückt – was wohl seine Qualitäten als Massenverführer kennzeichnen soll, aber beim orchestral massiven Schluss auch seinem Gesang zu seinem Recht verhilft.
Tadellos und mehr als rollendeckend auch Sami Luttinen als Kadmos sowie Christian Rieger als Hauptmann. Agaue, die wichtigste Frauenrolle, war Gabriele Schnaut anvertraut – die darstellerisch äußerst intensiv agierte, aber streckenweise nicht verdecken konnte, dass ihre Stimme schlichtweg kaputt ist. Auch wenn es sich nur um eine mittlere Rolle handelt und das bei Schnaut besonders desaströse obere Register nicht allzu stark beansprucht wird, legte sich hier doch ein kleiner Schatten auf die sonst makellose Aufführung – auch beim lyrischen Arioso Auf dem alten Waldweg fiel es Schnauts Stimme aufgrund des wabernden Vibrato schwer, auf dem Weg zu bleiben (für sie gab es am Ende einige Buhrufe von der Galerie).
Bei zwei anderen nicht mehr ganz jungen und verdienten Vertreter der Sängerzunft hatte ich ebenfalls gewisse Befürchtungen, die aber glorios entkräftet wurden: Hanna Schwarz sieht immer noch so aus wie vor zwanzig Jahren (ich habe sie ewig nicht mehr auf der Bühne gesehen) und konnte in der Rolle der Amme Beroe mit ihrem beeindruckendem tiefen Register punkten. Auch Reiner Goldberg war für die nicht große, aber wichtige Rolle des Sehers Teiresias eine Luxusbesetzung und überzeugte ebenso durch Bühnenpräsenz – das Rollenbild des weisen Sehers wird im Libretto in Richtung Lachnummer verändert, und Goldberg erfüllte die ihm zugedachte Rolle des schwuchteligen Trottels ausgezeichnet.
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Die intensiven musikalischen und darstellerischen Leistungen waren die Voraussetzung dafür, dass auch die Szene mit Leben erfüllt werden konnte. Regie führte Christof Loy, das Bühnenbild wurde von Johannes Leiacker gestaltet. Loy wird in letzter Zeit ja nicht müde zu betonen, dass er sich einem szenischem Minimalismus verschrieben hat, der sich auf das vorgeblich Wesentliche konzentriert. Wir haben Risiken und Chancen dieses Ansatzes schon einmal anhand von Loys Frankfurter Inszenierung des Simon Boccanegra diskutiert. Leiacker hat dazu das passende Bühnenbild gestaltet: Die Antike kommt nicht vor. Die riesige Bühne ist vollkommen leer, nach den Seiten und nach hinten bis zu den Brandmauern (einschließlich technischer Apparaturen) einzusehen. An der Mitte der Rückwand ist eine breite weiße Stoffbahn heruntergelassen, die auf dem Boden bis zum vorderen Bühnenrand ausgelegt ist. Links entzündet sich – wie im Libretto vorgeschrieben – gelegentlich die Flamme auf dem Grab der Semele. Vor den Seitenwänden sind große Gestelle mit Neonröhren angebracht, die mit dem Erdbeben im dritten Satz angeschaltet werden. Requisiten: ein Stuhl, später noch ein Tisch und ein Pappkarton sowie eine Axt und ein Feuerzeug. Nur wenige gezielte farbliche Akzente bei der Kleidung: der Chor überwiegend in Grau, später z.T. in weißer Unterwäsche, Pentheus ganz in Schwarz, Dionysos in Schwarz mit weißem Hemd, die Frauen in Pastellfarben, der als Lustobjekt begehrte Hauptmann mit auffällig knallrotem Hemd. Alles sehr schick.
Bereits eine Viertelstunde vor 18 Uhr (dem offiziellen Beginn der Aufführung) und auch noch zehn Minuten danach lässt Loy auf einem weissen Zwischenvorhang einen „Film“ von rechts nach links abrollen, auf dem Menschen verschiedenen Alters in Alltagskleidung dastehen, sich gelegentlich mit der Hand durch die Haare fahren oder andere unauffällige Gesten machen. Wenn der Zwischenvorhang hochgeht und die Musik einsetzt, erkennt man, dass es sich um die Choristen handelt, die jetzt in loser Formation auf der Bühne stehen und ihren Triumphgesang auf den frisch ernannten König Pentheus anstimmen. Dieser sitzt bereits - wie man später feststellt – mit dem Rücken zum Publikum auf einem Stuhl, der seinen Palast ersetzt. Für den Chor gibt es durchaus eine ausgeklügelte Choreographie, die manchmal überzeugt, manchmal – gerade bei den Abgängen und Auftritten – aber auch etwas unmotiviert wirkt. Wie Loy betont hat: der Chor ist die eigentliche Hauptrolle des Stücks (das schließlich auch Die Bassariden heißt) – und an ihm müsste der Wandel von der königstreuen, geordneten Masse zur dionysisch entfesselten Menge dargestellt werden. Das halbe Entkleiden und Zeigen der Unterwäsche reicht da nicht aus und wirkt auf mich wie ein halbgarer Kompromiss, ebenso wie die mäßig entfesselte Choreographie der Mänaden. Der zentrale Konflikt des Stücks bleibt in dieser Hinsicht unterbelichtet.
Über die Personenregie bei den Solisten lässt sich Besseres sagen, was auch auf die schon betonte darstellerische Begabung der Sänger/innen zurückzuführen ist. Die langen Dialoge zwischen Pentheus und Dionysos werden von Volle und Shukoff zu spannenden Konfrontationen ausgebaut. Die nur selten, dann aber nachhaltig irritierte Nonchalance, mit der Dionysos seine Überlegenheit demonstriert, stellt Pentheus zunächst eine stimmliche und szenische Autorität sondergleichen entgegen, um dann zusehends zu verzweifeln und zu verfallen. Auch die szenische Präsenz von Goldberg, Schnaut und Hanna Schwarz zieht immer wieder in ihren Bann. Eine besonders ergreifende Szene gelingt Loy und den Sängern im letzten Satz: Wenn Schnaut den von ihr abgeschlagenen Kopf des Pentheus unter dem Kleid trägt und ihr Vater Kadmos ihr klarmacht, dass sie ihren eigenen Sohn getötet hat, wenn Kadmos schließlich wie bei einer Geburt den Kopf des Getöteten unter dem Kleid hervorreißt und ihn – folgerichtig – an die Amme weiterreicht: das ist beklemmend gespielt (von der grandiosen musikalischen Gestaltung ganz zu schweigen). Immer wieder wird auch die im Libretto angelegte Inzestthematik in Bezug auf Pentheus und seine Mutter szenisch direkt angedeutet.
Eine zentrale Stellung im Regiekonzept nimmt das Intermezzo im dritten Satz ein, in dem Teiresias, Agaue, ihre Schwester Autonoe und der Hauptmann das „Urteil der Kalliope“ nachspielen, bei dem es um die sexuelle Verfügungsgewalt von Venus und Proserpina (gespielt von Agaue und Autonoe) über Adonis (den Hauptmann) geht. Hier wird der bewusste Stilbruch der Musik auch szenisch übersetzt: es herrscht aufgedrehte Aktivität, es darf kräftig chargiert werden (musikalisch wie szenisch). Frau Schnaut pinselt auf einen vom Chor gehaltenen Leinwandstreifen Piktogramme und Wörter, die die Geschichte von Adonis nacherzählen – durch diese Leinwand rennen dann die sexuell entfesselten Darsteller und zerreißen sie dabei in kleine Stücke (wohl ein Verweis auf das spätere Zerreißen des Pentheus durch die Mänaden).
Das Intermezzo ist seit Mitte der 80er Jahre bei keiner Darbietung der Oper gespielt worden. Albrecht und Loy mussten angeblich bei Henze Telefonterror machen, um die Erlaubnis zur Aufführung zu erhalten. Gemäß dem ursprünglichen Konzept Henzes legt Loy das Intermezzo als Spiegel des ganzen Stückes an: Pentheus wird im gleichen Karton von seiner Mutter enthauptet, in dem vorher Adonis gekauert hat, Dionysos sitzt am gleichen Richtertisch, an dem Kalliope das Urteil gesprochen hat usw. Das ist alles gekonnt ausgeklügelt und intelligent umgesetzt. Vielleicht wäre manchmal weniger Schachspiel und mehr unmittelbare theatralische Energie wirkungsvoller gewesen. Zum Schluss sitzt Dionysos allein auf der Bühne und wirft irritierte Seitenblicke auf den (verhüllten) abgeschlagenen Kopf des Pentheus, der Chor ist ganz nach hinten zurückgedrängt und abgesperrt worden. Eine Gewaltherrschaft ist durch eine andere ersetzt worden. Darüber hätte man gerne noch mehr erfahren.
Jedenfalls lässt die Inszenierung Freiraum für die Gewalt der Musik, die unmittelbar und um Dimensionen stärker als bei einer CD-Aufnahme zu erfahren war. Ich habe mich keine Sekunde der pausenlosen zweieinhalb Stunden gelangweilt und hoffe, dass es dem Großteil des Publikums im nicht gerade ausverkauften Nationaltheater ähnlich gegangen ist.
Viele Grüße
Bernd