Eine fundierte Kritik fällt mir nicht leicht, wir hatten in der ersten Loge im ersten Rang einen nicht so guten Platz, das betrifft die musikalische Leistung des Orchesters (zu laut, trotz Abdeckung des halben Orchestergrabens) und das Bühnenbild, wir saßen einfach zu nah dran. Und nach zwei Abenden in der Elbphilharmonie bei Mahler und Sibelius vor zwei bzw. drei Tagen ist der Orchesterklang im Opernhaus (akustisch) sehr gewöhnungsbedürftig. Die Durchhörbarkeit der einzelnen Instrumentengruppen und der nicht nachlassende volle Klang selbst im Pianissimo (in der Elbphilharmonie) war hier in der Oper einem Klanggemisch gewichen, der zudem (in der ersten Loge) keine Pianoempfindung zuließ. Also, wenn man sich Karten für den neuen Hamburger Parsifal besorgt, sollte man möglichst ab der 11. Reihe im Parkett sitzen, nicht weiter vorn. Insgesamt wurde das Orchesterspiel unter der Leitung von Kent Nagono von anderen Zuhörern gelobt und vom Publikum am Ende bejubelt, deutlich kräftiger als die Leistungen der Sängerin und der Sänger.
Doch zunächst zum Gesamtkunstwerk, damit meine ich nicht Wagners Komposition oder ggf. seine Regieanweisungen, sondern die künstlerische Freiheit, die sich Achim Freyer für Inszenierung, Bühne, Kostüme und Licht genommen hat. Das war durchaus Maßstabs-setzend. Ob es jedem gefallen wird, sei dahingestellt, das ist bei Kunstwerken eben so, sie gefallen nicht jedem und müssen auch nicht jedem gefallen.
Wo spielt Freyers Parsifal, schwer zu sagen, vielleicht in einem Gasometer oder, vielleicht noch treffender, im Mittelschiff eines Raumgleiters. Wenn man vom Ende her interpretiert (die halbrunde Rückwand wird nach hinten gezogen und die Gralsritter verschwinden im Dunkel der Hinterbühne), scheint die Ritterschaft in selbstgewollter Gefangenschaft zu leben. Die Bühne zeigt einen halbrunden durchgitterten Prospekt mit vorkragenden Laufebenen auf vier Geschossen; nach vorn setzt sich das zylinderartig mit einer halbrunden Abdeckung des Orchestergrabens und einem zum Zuschauerraum hin abschließenden halbrunden Gazevorhang über die gesamt Portalhöhe fort. Verschiedene Leuchtelemente und zahreiche andere Utensilien sowie Videoprojektionen auf Rückwand und Gazevorhang führen zu unterschiedlichen visuellen Erlebnissen, während sich der zylindrische Bühnenaufbau, abgesehen vom geschilderten Schluss, nicht ändert. Alle Personen der Oper sind clownshaft verkleidet und bewegen sich überwiegend statisch, fast wie bei der Vorgängerinszenierung von Robert Wilson. Die ernsten Gesichter sind maskenhaft schwarz/weiß bemalt. Kundry ist unter körperlangem Zottelhaar kaum zu erkennen, die Länge der Haare entspricht wohl ihrer bereits langen Lebensdauer. Gurnemanz träg im ersten Aufzug ein Gestell auf dem Rücken, auf dem sich ein zweiter Kopf befindet (das erinnerte mich an den Film „Mad Max, jenseits der Donnerkuppel“ von George Miller. Auch dort trägt ein (etwas tumber) Hüne einen (intelligenten) Minderwüchsigen mit einem Gestell auf dem Rücken; Master und Blaster genannt). Auch die Donnerkuppel hat durchaus Ähnlichkeit mit der Halle der Gralsburg.
Achim Freyer bedient sich offenbar verschiedener Zitate, was das Erinnerungsvermögen und den Intellekt, auch die Emotion fordert. Amfortas hängt blutend am Kreuz, dessen Enden zwei Ritter über die Ränge und die Ebene tragen. Die Christus am Kreuz-Assoziation ist wohl gewollt und verkettet das christliche (seelisch aufbauende) Abendmahl stärker mit dem Leid Christi am Kreuz, als es uns manchmal bewusst wird. Christus litt, damit wir leben können. Hat das nicht auch einen grausamen Aspekt? Jedenfalls legt die Forderung der Gralsritter nach der sie belebenden, Amfortas aber dem Leid weiter hingebenden Gralsenthüllung dieses nahe.
Da diese Inszenierung kein wohliges Zurücklehnen mit alleiniger Hingabe an die rauschhafte Musik zuließ, kamen mir auch noch andere Gedanken, die ich bei bisherigen (gesanglich „schöneren“) Aufführungen nicht hatte bzw. sie verdrängte. Warum eigentlich muss Amfortas für ein wenig sexuelle Hingabe so leiden? Ist das irgendwie nachzuvollziehen? Warum wird Parsifal eigentlich dafür gescholten, dass er im ersten Aufzug sich vor dem Leid des Amfortas wegduckt? (er rollt sich vollständig in ein rotes Tuch ein, welches vorher als Symbol für den erlegten Schwan vom Bühnenhimmel gefallen war).
Der erste Aufzug geriet etwas langatmig, zum einen wegen des Anfangs gewöhnungsbedürftigen Bühnenbildes, zum anderen weil mir der Bass Kwangchul Youn als Gurnemanz nicht balsamisch genug und anfangs auch mit zu viel Vibrato sang (im Vergleich mit den Vorgängern Peter Rose oder Kurt Moll). Spannender geriet der zweite und vor allem der dritte Aufzug, der natürlich auch handlungsmäßig mehr bot. Vladimir Baykov fand ich als Klingsor sehr gut, Claudia Mahncke als Kundry gesanglich zumindest nicht. Sie spielte ihre Rolle gut und überzeugend, war aber schon von der Stimmschönheit her nicht in der Lage, Parsifal im Blumengarten wirklich zu reizen. Außerdem störte bei ihr ein ausgeprägteres Vibrato. Wolfgang Kochs Bassbariton (Amfortas) und Andreas Schagers Tenor (Parsifal) waren nicht vibratogetrübt, die Stimmen flossen frei, bei Koch etwas zurückgenommen, bei Schager das Heldische betonend. Der stimmliche Schönklang, den ich in der letzten Parsifal-Aufführung unter Simone Young (W. Koch, P. Rose, KF. Vogt, A. Denoke) erleben durfte, stellte sich aber auch hier nicht ein.
Trotz dieser leichten (gesanglichen) Einschränkungen war es insgesamt aber eine durchaus hörenswerte Aufführung, was natürlich wesentlich auf den Fähigkeiten des Komponisten beruht und dem, was das Philharmonische Staatsorchester unter Kent Nagano daraus gemacht hat; aber auch die Auseinandersetzung des 83jährigen Achim Freyer mit Wagners Bühnenweihfestspiel ist durchaus einen Besuch wert. Das Publikum des vollbesetzten Hauses war begeistert und spendete langen Beifall, vor allem, wie oben angeführt, beim Erscheinen von Kent Nagano.