Haydn: Streichquartett G-dur op. 76 Nr. 1

  • Hallo!


    Eigene threads zu den Quartetten aus dem Opus summum der Haydnschen Kammermusik (damit ist op. 76 gemeint) sind wohl angebracht, zumal es bereits einen eigenen thread zu op. 76 Nr. 2 gibt. Die anderen fünf Quartette sind sicher ähnlich diskutierenswert.
    Ich werde in loser Folge zu weiteren Haydn-Quartetten Spezialthreads eröffnen und damit das bald anlaufende Haydn-Symphonien-Projekt ein wenig kammermusikalisch untermalen (so die Idee).


    Nun zum Werk:
    Entstanden ist das Streichquartett G-dur op. 76 Nr. 1 ( Hob.III:75 ) wie die anderen Quartette der Gruppe im Jahre 1797 für den Grafen Erdödy.
    Die vier Satzbezeichnungen lauten:
    Allegro con spirito
    Adagio sostenuto
    Menuett. Presto
    Allegro ma non troppo


    Der erste Satz beginnt mit drei kräftigen Akkordschlägen (um das Publikum zu wecken :D ), daraufhin setzt ein Instrument nach dem anderen mit dem 1. Thema ein, daß sich nach meist locker-heiterm Verlauf schließlich dramatisch steigert (ich will da nichts Überinterpretiern, aber eine gewisse Ähnlichkeit zum berühmten Motiv aus Beethovens Fünfter ist an der Stelle vorhanden, zumindest aber zu Beethovens Quartett op. 74, das ja auch damit in Verbindung gebracht wird). Es folgt eine gemütliche Schlußgruppe (2. Thema?). In der Durchführung wird dann die Monothematik der Satzanlage nochmal betont, indem das Thema durch diverse Gemütslagen wandert.


    Der zweite Satz ist ein tiefsinniges Adagio in C-dur, das zwischen sehr langsamen, getragenen Passagen und tänzerisch-bewegten Passagen wechselt. Klanglisch wunderschön ist die Stelle, an der die 1. Geige mit den tieferen Stimmen ein Staccato-Wechselspiel anstimmt.


    Der dritte Satz ist eher ein Scherzo als ein Menuett. Der schnellste dritte Satz aus allen Haydn-Quartetten huscht virtuos vorüber und rahmt ein an dieser Stelle durchaus überraschend süßliches Ständchen der 1. Geige ein.


    Das Finale steht zunächst mal in g-moll und hat ein recht schroffes Hauptthema, dessen Dramtik in der Durchführung nochmals gesteigert und verdichtet wird. In der Reprise kommt dann die Wendung nach G-dur (teilweise übertrieben heilewelt-"durig"), nach der das Werk einen heiteren Ausgang nimmt.


    Insgesamt ist op. 76 Nr. 1 für mich keines der ganz großen Haydn-Quartette, ein sehr interessantes und hörenswertes aber auf jeden Fall.
    Wie beurteil Ihr das Auftakt-Werk zu op. 76? Was ist die Referenzeinspielung?
    Mir gefällt am besten die Aufnahme des Festetics-Quartetts:



    Viele Grüße,
    Pius.

  • Hallo Pius!


    Das G-Dur-Quartett gefällt mir ausgezeichnet, vor allem die ersten beiden Sätze. Allerdings kommt es in meiner Wertschätzung nicht ganz mit Quinten- und Sonnenaufgangsquartett mit. Es scheint bis auf den langsamen Satz sehr humorvoll angelegt zu sein:


    Zitat


    Der erste Satz beginnt mit drei kräftigen Akkordschlägen (um das Publikum zu wecken :D )


    Diese drei Akkordschläge bilden übrigens auch das Ende des Satzes (am Anfang der Reprise werden sie hingegen ausgelassen und statt am Anfang der Wiederholung der Exposition stehen sie am Ende der Exposition); der Satz beginnt quasi mit seinem Ende. Ich finde den Satz großartig, er sprüht vor Witz und Energie.


    Zitat


    Der dritte Satz ist eher ein Scherzo als ein Menuett. Der schnellste dritte Satz aus allen Haydn-Quartetten huscht virtuos vorüber und rahmt ein an dieser Stelle durchaus überraschend süßliches Ständchen der 1. Geige ein.


    Das Geigensolo im Trio wirkt für mich so, als würde jemand das gerade einüben und jede Note mühsam vom Blatt lesen; immer wieder wird abgebremst, eine Pause eingefügt, etc (ich nehme mal stark an, dass das nicht an den Fähigkeiten von Norbert Brainin liegt, der dies in meiner Einspielung zum Besten geben darf ;) , Noten habe ich nicht zur Hand ).
    Auch gegen Ende des Menuett-Teils gibt es solch eine unerwartete Pause.


    Zitat


    Das Finale steht zunächst mal in g-moll und hat ein recht schroffes Hauptthema, dessen Dramtik in der Durchführung nochmals gesteigert und verdichtet wird. In der Reprise kommt dann die Wendung nach G-dur (teilweise übertrieben heilewelt-"durig"), nach der das Werk einen heiteren Ausgang nimmt.


    Irgendwie scheint sich das Thema immer weiter aufzuhellen (Kopfthema => Seitenthema Exposition => Reprise => Coda(?)). Am Anfang noch schwer stampfend, hüpft die letzte Variante quasi freudig drein.


    Diesen eher humorigen Sätzen steht der verinnerlichte zweite gegenüber.


    Zitat

    Der zweite Satz ist ein tiefsinniges Adagio in C-dur, das zwischen sehr langsamen, getragenen Passagen und tänzerisch-bewegten Passagen wechselt. Klanglisch wunderschön ist die Stelle, an der die 1. Geige mit den tieferen Stimmen ein Staccato-Wechselspiel anstimmt.


    Oh ja, das finde ich auch! Die Dialoge zwischen Violine und Cello sind wirklich ergreifend! "Das ist wirklich von Haydn?" war übrigens mein erster Gedanke zu dem Satz, aber da hatte ich die anderen Quartette aus op. 76 noch nicht gehört.


    Meine Einspielung ist diese hier:



    Günstig aus den USA eingeflogen (Dollarschwäche sei Dank... :rolleyes: ). Das Amadeus-Quartett spielt mit viel Witz und Wärme, was op. 76,1 m.E. hervorragend zu Gesicht steht; ich müsste aber auch einmal in eine andere Aufnahme hereinhören, um das abschließend zu bestätigen.



    Gruß,
    Spradow.

  • Zitat

    Original von Spradow


    Diese drei Akkordschläge bilden übrigens auch das Ende des Satzes (am Anfang der Reprise werden sie hingegen ausgelassen und statt am Anfang der Wiederholung der Exposition stehen sie am Ende der Exposition); der Satz beginnt quasi mit seinem Ende. Ich finde den Satz großartig, er sprüht vor Witz und Energie.


    Langsame Einleitungen kommen bei Haydns Quartetten nur in op.71/74 vor, dem ersten Opus, von dem man ziemlich sicher weiß, daß es für den Konzertsaal geschrieben wurde. Sie sind alle sehr kurz, vermutlich wirklich, um die Aufmerksamkeit sicherzustellen. op. 76,1 ist das letzte Stück, das so ähnlich vorgeht. op.76,5&6 scheren sich anscheinend kaum um ein Publikum, bei dem Unikat op.76,4 gehört die "Einleitung" schon zum Hauptsatz.
    In mancher Hinsicht geht eine Zäsur durch op.76, die ersten drei Werke scheinen mir, trotz einzelner Kühnheiten (wie den Moll-Finali von 1 & 3 oder dem "Hexenmenuett" in 2) deutlich konventioneller als die zweite Hälfte, besonders natürlich 5 und 6.
    Nr.1 hat das übliche Pech der Werke ohne Beinamen, ich schätze es sehr und bin daher der Ansicht, daß es durchaus zu den ganz großen Quartetten gehört (ich persönlich mag es lieber als das "Kaiserquartett").


    Zitat

    Das Geigensolo im Trio wirkt für mich so, als würde jemand das gerade einüben und jede Note mühsam vom Blatt lesen; immer wieder wird abgebremst, eine Pause eingefügt, etc (ich nehme mal stark an, dass das nicht an den Fähigkeiten von Norbert Brainin liegt, der dies in meiner Einspielung zum Besten geben darf ;) , Noten habe ich nicht zur Hand ).
    Auch gegen Ende des Menuett-Teils gibt es solch eine unerwartete Pause.


    Ausdrücklich "Presto" bezeichnete Menuette gibt es bei Haydn später noch dreimal: op,76,6 und op.77,1+2 (hier "ma non troppo). Aber auch andere Menuette in op.76 sind mit "allegro" (anstatt allegretto) bezeichnet (auch wenn sie kaum je so gespielt werden X()
    Was Du im Trio beschreibst, müssen Manierismen von Brainin sein. In den Noten steht nichts davon, auch wenn ein gewisses Nachlassen im Tempo gegenüber dem Hauptteil und rubato sicher auch anderswo üblich sind, scheint mir das doch ziemlich extrem...


    Zitat

    Irgendwie scheint sich das Thema immer weiter aufzuhellen (Kopfthema => Seitenthema Exposition => Reprise => Coda(?)). Am Anfang noch schwer stampfend, hüpft die letzte Variante quasi freudig drein.


    Diesen eher humorigen Sätzen steht der verinnerlichte zweite gegenüber.


    Ich finde den Beginn des Satzes schon ziemlich dramatisch (jedenfalls dramatischer als irgendwas vorher in dem Werk, im "Kaiserquartett" ist das ja noch extremer). Die Wende nach Dur und die entsprechende Themenumgestaltung halte ich für außerordentlich faszinierend und genial.


    Nochmal zum Kopfsatz: Wie bei Haydn sehr häufig tritt ein greifbares "2. Thema" erst in der "Schlußgruppe" auf, hier wieder mal eine Art "Proto-Radetzkymarsch", ein Beispiel für das, was Rosen als "volkstümlichen Stil" beim späten Haydn hervorhebt (ein Merkmal ist die einen oder einen halben Takt vorher einsetzende simple Begleitung). Dieses Thema wird dann aber interessanterweise bei seiner Wiederkehr in der Reprise für einige Takte "durchgeführt", nachdem es in der eigentlichen Durchführung nicht aufgetaucht war.


    Der langsame Satz ist natürlich auch grandios, gleichwohl er das Pech hat, mit den drei vermutlich großartigsten langsamen Sätzen Haydns überhaupt (in 4-6) in einer Sammlung aufzutreten.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo Johannes!


    Zitat

    Original von Johannes Roehl



    [...] Was Du im Trio beschreibst, müssen Manierismen von Brainin sein. In den Noten steht nichts davon, auch wenn ein gewisses Nachlassen im Tempo gegenüber dem Hauptteil und rubato sicher auch anderswo üblich sind, scheint mir das doch ziemlich extrem...


    Ich kann mir kaum vorstellen, dass man das so spielen wollen könnte, wenn es kein von Haydn eingebauter Gag ist - dazu ist es viel zu extrem.
    Leider hat unsere Uni-Bibliothek Noten fast aller anderen Streichquartett-Opera Haydns, nur nicht von op. 76, so dass ich das nicht mit der Aufnahme abgleichen kann; Literatur ist aber einige da. Vielleicht finde ich da was.



    Gruß,
    Spradow.

  • Zitat


    Ich kann mir kaum vorstellen, dass man das so spielen wollen könnte, wenn es kein von Haydn eingebauter Gag ist - dazu ist es viel zu extrem.
    Leider hat unsere Uni-Bibliothek Noten fast aller anderen Streichquartett-Opera Haydns, nur nicht von op. 76, so dass ich das nicht mit der Aufnahme abgleichen kann; Literatur ist aber einige da. Vielleicht finde ich da was.


    In diversen Büchern habe ich keine Kommentare dazu gefunden; das wird wohl wirklich eine Unart des Amadeus-Quartetts sein. Was der Zweck davon sein soll, kann ich nicht verstehen.



    Gruß,
    Spradow.

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Zitat

    Original von Spradow
    In diversen Büchern habe ich keine Kommentare dazu gefunden; das wird wohl wirklich eine Unart des Amadeus-Quartetts sein. Was der Zweck davon sein soll, kann ich nicht verstehen.


    Ich hab's mir jetzt nochmal angehört. Nicht dass ich die Interpretation des Amadeus-Quartetts besonders prickelnd fände - aber so schlimm manieriert ist Brainin im Trio doch nicht, die Verzögerungen und Rubati scheinen mir hier durchaus am Platze. Das macht der Primgeiger in zwei weiteren mir zur Verfügung stehenden Aufnahmen nicht viel anders (Carmina-Quartett und Quatuor Ebène). Man kann's natürlich auch stur nach Takt durchbuchstabieren wie Sigiswald mit dem Kujiken-Quartett - zweifellos seriös, aber m.E. etwas starr.


    Eine andere Frage ist die Temporelation zwischen Menuett und Trio: Das Kujiken-Quartett nimmt das Presto so langsam, dass es das Trio im gleichen Tempo spielen kann. Bei den drei anderen Formationen wird z.T. kräftig abgestoppt - am schnellsten sind im Presto die Franzosen vom Ebène-Quartett, etwas langsamer, aber immer noch recht schnell Amadeus- und Carmina-Quartett. Die Grundsatzfrage, ob man das Trio in einem anderen Tempo nehmen darf, obwohl es keine andere Tempovorschrift hat als das Menuett/Scherzo, wird ja sehr verschieden beantwortet. Ich bin da nicht auf dem neuesten Erkenntnisstand.


    Die sehr lebendige Einspielung mit dem Quatuor Ebène gefällt mir besonders gut (knapp vor dem Carmina-Quartett, Kujiken und Amadeus belegen die Plätze):





    Viele Grüße


    Bernd

  • Die op. 76 Quartette sind Haydns letzte komplette Serie, danach komponierte er nur noch die zwei Quartette op. 77 und das zweisätzige Fragment op. 103. Die op. 76 Quartette gelten allgemein als Höhepunkt des Haydn'schen Quartettschaffens und damit als ein Höhepunkt des Genres überhaupt. Umso erstaunlicher, dass es in den letzten Jahren kaum Einspielungen aller sechs Quartette durch ein Spitzenensemble außerhalb von GA gegeben hat; die letzte Aufnahme, die mir bekannt ist, stammt vom tschechischen Prazak Quartett und ist schon 10 Jahre alt. Eine sehr gute wenn auch konventionelle Einspielung.

    Neu hinzugekommen ist jetzt eine Aufnahme durch das britische Doric Quartett auf Chandos, die schon vor Jahresfrist eine vielbeachtete Einspielung von op. 20 vorgelegt haben (die ich aber nicht kenne). Nach dem Hören von op. 76.1 kann ich schon mal ankündigen, dass es sich hier sicher um eine Einspielung handelt, die ebenfalls Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird, denn sie weicht deutlich vom gewohnten Haydn Bild ab. Erst einmal ist zu bemerken, dass die Dorics ähnlich wie kürzlich das Quatuor Zaide bei op. 50 ganz nahe an der HIP sind, auch wenn moderne Instrumente gespielt werden. Das Spiel ist fast vibratolos und der Klang dadurch leicht und schwebend. Darüber hinaus werden viele wohlbekannte Stellen anders phrasiert als gewohnt, so dass man glaubt vieles neu und zum ersten Mal zu hören. So wird das Menuett schneller gespielt als auf jeder anderen Aufnahme, die ich kenne; nicht aber das Adagio, das hier regelrecht zelebriert wird. Der Witz Haydns kurz vor Ende des Finale kommt hier deutlicher zu tragen als bei den meisten konventionellen Einspielungen. Ähnlich den Zaides erlauben sich die Dorics einfach mehr Frei- vielleicht auch manche Frechheiten. Das gefällt mir und deutet daraufhin, dass eine neue und witzigere Art Haydn zu spielen en vogue werden könnte. Das wird vielleicht nicht jedem gefallen, ich empfinde es aber als Gewinn. Technisch ist das Doric Quartett unangreifbar und bestätigt mit dieser Aufnahme den Ruf, neben dem Belcea das führende britische Quartett der Gegenwart zu sein.