Wie "rückwärtsgewandt" ist das Tamino- Klassikforum?

  • Frederic Lamond setzt beim "Liebestraum" deutlich die Klangfarben zur Gestaltung der Harmonien ein, z.B. indem er zum zweiten Takt (C7) und noch stärker zum vierten Takt (B79) deutlich weicher wird, bei jeweils identischem Melodieton. Ich finde seine Darstellung ausgesprochen schön, auch wenn man (bzw. ich) das heutzutage nicht so spielen würde

    Danke für die Hinweise auf die Klangfarben, die ich nachvollziehen konnte. Selbstverständlich spielt Lamond gut.


    Trotzdem scheint die Melodie herausgehoben zu sein, oder sagen wir anders, die begleitenden Figuren bekommen in der modernen Interpretation ein eignenes Gesicht, was Lamond so nicht herausspielt. (natürlich nicht, weil er das nicht kann, sondern, weil man es sich so vorstellte :))


    Ich kann es nicht belegen, aber von Deinem Interesse als Pianist abgesehen, könnte es sein, dass die modernere, für meine Ohren neutralere, weniger subjektive Spielart, einfach mehr Bestand bei häufigerem Hören hat?

  • Ja, klar ändert sich der Zeitgeschmack. Macht er das aber beliebig oder lassen sich Ideen hinter diesen Änderungen erkennen?

    Man kann sich dem Zeitgeschmack ja auch gar nicht entziehen, man ist natürlich ein Kind seiner Zeit. Aber es wäre schon seltsam, wenn man heute anders spielt, nur weil einer mal gewürfelt hat und sich entschieden hat, Portamenti wegzulassen ....

    Die Idee von Portamenti ist natürlich die Verbindung von Einzeltönen zu Linien. Dass man das heute nur noch ausnahmsweise macht, ist sicher kein Ergebnis eines Würfelspiels. Aber ich traue mir keine Antwort auf die Frage zu, was es denn sonst ist.


    Der Hang nach Perfektion hängt doch wahrscheinlich mit den Möglichkeiten und der Verbreitung der Tonaufzeichnung zusammen.

    Das klingt bezogen auf manuelle Perfektion plausibel, aber diese Plausibilität wird für mich gleich wieder in Frage gestellt, wenn man sich klar macht, dass die umgekehrte These es auch wäre: Wenn bei Aufzeichnungen durch den technischen Fortschritt manuelle Perfektion viel leichter erreichbar ist und durch die weltweite Professionalisierung der Ausbildung auch direkt am Instrument von immer mehr Musikern erreicht wird, könnte sie auf Rezipientenseite doch auch gerade deshalb weniger wichtig werden und statt dessen zu einem "Hang nach künstlerischer Individualität" führen. Auch hier traue ich mir keine Antwort auf die Frage zu, warum das nicht so ist.


    Wenn sich also unser Zeitgeschmack gegen solche Dinge geändert hat, dann doch zum Besseren, wie ich finde.

    Finde ich nicht. Mir fällt kein Grund ein, aus dem man den Geschmack der eigenen Zeit für überlegen halten könnte.


    Aber sollte man nun dieses Hin-und Hergleiten zwischen den Tönen z.B. bei Schubert, Schumann oder Brahms mit dem Hinweis anfangen, dass "die das ja um die Jahrhundertwende schließlich auch so gemacht haben" (sollen), dann wäre ich definitiv kein Kunde für solche Konzerte oder Aufnahmen.

    Da bin ich allerdings ganz bei Dir: Dass man etwas "früher" so gemacht hat, ist niemals ein Grund, es immer noch oder wieder so zu machen.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Ich kann es nicht belegen, aber von Deinem Interesse als Pianist abgesehen, könnte es sein, dass die modernere, für meine Ohren neutralere, weniger subjektive Spielart, einfach mehr Bestand bei häufigerem Hören hat?

    Es kann sein, dass frühere Musiker unter anderem deshalb mehr Mut zur Freiheit, zur Hingabe an den Augenblick hatten, weil sie sicher sein konnten, dass es eben auch nur ein Augenblick ist. So jemanden wie Shura Cherkassky, der niemals ein Stück zweimal gleich oder auch nur ähnlich gespielt hat, gibt es heute einfach nicht mehr. Diese beinahe improvisierende, ganz der spontanen Eingebung folgende Hingabe an den Moment, das ist vollkommen außer Mode gekommen. Was es neben purer Perfektion statt dessen manchmal gibt, ist die Zurschaustellung vermeintlicher Individualität, z.B. in der Art von Patricia Kopatchinskaja, deren Spiel zwar "anders", aber im Grunde dennoch langweilig vorhersehbar ist.

    Das häufige Hören einer exakt identischen Interpretation ist natürlich ein grundsätzliches Problem von Aufzeichnungen, aber ich glaube nicht, dass das nur bei sehr subjektiven Darstellungen existiert: Die brav "texttreuen" Schumann-Aufnahmen mit Karl Engel sind spätestens beim zweiten Hören sterbenslangweilig, dagegen kann man vieles von Glenn Gould oder extreme Konzertmitschnitte mit Horowitz oder Richter auch nach Jahrzehnten immer noch und immer wieder hören, obwohl (oder gerade weil) sie von "neutraler Spielart" weit entfernt sind.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Das häufige Hören einer exakt identischen Interpretation ist natürlich ein grundsätzliches Problem von Aufzeichnungen, aber ich glaube nicht, dass das nur bei sehr subjektiven Darstellungen existiert: Die brav "texttreuen" Schumann-Aufnahmen mit Karl Engel sind spätestens beim zweiten Hören sterbenslangweilig, dagegen kann man vieles von Glenn Gould oder extreme Konzertmitschnitte mit Horowitz oder Richter auch nach Jahrzehnten immer noch und immer wieder hören, obwohl (oder gerade weil) sie von "neutraler Spielart" weit entfernt sind.

    Da gebe ich Dir recht. Das Problem liegt woanders.

  • Ich hatte eigentlich nicht den Eindruck daß Elam Rotem werten wollte, er wollte nur die Unterschiede zwischen eins und heute aufzeigen.

    Aber ich meine, daß er hier vorbeizielt, denn es worde jeweils EIN Beispiel gewählt, das vielleich typisch sein mag -aber nicht notwendigerweise sein muß

    Denn weder eins - noch heute spielten all Interpreten GLEICH.

    Daß ältere Interpretationen SCHNELLER gespielt wurden als heute ist technisch bedingt.

    Bis etwa mitte bis Ende der Dreißiger Jahre wurde auf WACHSPLATTEN aufgenommen, welche lediglich eine Spieldaier von etwa 4 Minuten pro Plattenseite erlaubten

    Das Tonband , erfunden 1936 war noch so unausgereift, daß man es nur selten einsetzte, es gab einen brumm und schnell verschmutzende Tonköße, da die zu magnetisierenden Metallpartikel AUF die Trägerschicht appliziert wurde und nicht - wie später üblich IN die Trägerschicht eingebettet wurde. Das Tonban erlaubt dann (etwa ba 1941 waren essentielle Probleme behoben, wobei hier der Zufall zu Hilfe kam: Man hatte die HF -Vormagnetisierung und ihre auswirkungen entdeckt)

    Die Spieldauer war nun erheblich länger, aber auf 17 Minuten beschränkt, weil die ersten Tonbandgeräte mit eine Bandgeschwindigkeit von etwas mehr als 1Meter pro Sekunde !!!

    lieben. Später war den - für einen langen Zeitraum die Bandgeschwindigkeit für Studios auf 76,2 cm festgelegt. Allerdings gab hier die Plattenseite die Maximallänge för. Die dürft etwa bei 4- 5 Minunten liegen, bei den extra großen Schellackplatten bei etwa 10 Minuten pro seite.

    Das erforderte genaues Haushalten mit der verfügbaren Zeit - gelegentlich wurden Stücke auch gekürzt !!!

    In der LP-Zeit lag dann mit 33 UpM eine 30 cm LP (Vinyl) bei etwa 20-25 Minuten pro Seite, abhängig von der Dynamik des Programms einerseits (die Rillenbreite wurde während des Schneidvorgangs angepasst)und von den Ansprüchen, die man an Dynamik und Verzerrungsarmut stellte...... Beethovens 9. auf z LP-Plattenseiten war tontechnisch IMO grenzwertig. In den Endrillen war die Verzerrung bereits am Rande des Akzeptablen...


    Laufzeit der tonträger schwebte also in der Vergangenheit wie ein Damoklesschwert über den Interpreten....


    mfg aus Wien

    Alfred

    Die Tamino Moderation arbeitet 24 Stunden am Tag - und wenn das nicht reicht - dann fügen wir Nachtstunden hinzu.....



  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Die Zeit hat sich einfach in den letzten Jahren grundlegend verändert, was die Herstellung und Verfügbarkeit von Tonträgern angeht. Wenn man bedenkt was für ein - auch finanzieller - Aufwand es war, eine Schallplatte oder CD zu produzieren! Viele international nicht so bekannte Künstler hatten so kaum eine Chance auf dem Plattenmarkt, weil die Risiken einer Produktion viel zu hoch waren, die erheblichen Produktionskosten nicht wieder einzufahren. Dass es heute ganz anders ist, zeigt das Beispiel Valentina Lisitsa. Sie hatte erst Millionen Youtube-Klicks, bevor sie ihren Plattenvertrag bekam. Heute ist der Aufwand nicht hoch, eine Aufnahme zu machen und ins Netz zu stellen. Da sich das Streaming-Angebot immer mehr ausweitet und diese Nutzung die der herkömmlichen Tonträger immer mehr verdrängt, entsteht eine ganz andere Situation. Früher konnte man davon ausgehen, dass eine Plattenproduktion mit namhaften Künstlern auch exemplarischen Charakter hatte. Heute dagegen kann sich jeder der Weltöffentlichkeit präsentieren. Der Musikliebhaber muss auch keine Scheune anmieten, um all die Aufnahmen zu horten. Weil alles virtuell-raumlos ist, kann man über Millionen Aufnahmen frei verfügen. Was damit aber verloren geht, ist die Orientierung an wirklich maßstabsetzenden, prägenden Aufnahmen. Was faktisch als Angebot existiert, ist einfach zuerst einmal Masse. Und genau deswegen macht die Musikindustrie gerade mit "rückwärtsgewandten" Produktionen gute Gewinne. Der gesamte Gilels, Klemperer, Celibidache - alle diese großen "Blöcke" verkaufen sich wie warme Semmeln. Auch bei jungen und ganz jungen Musikern ist bemerkenswert, dass sie sich vornehmlich für die "großen Alten" interessieren - also Rubinstein, Horowitz, Cortot, Michelangeli, Gilels, Richter, Schnabel, Kempff usw. Sogar Josef Hofmann ist ihnen ein Begriff. Ein Internet-Forum wie Tamino ist letztlich auch dazu da, die Maßstäne zurecht zu rücken. Natürlich freut man sich, in viel größerem Umfang auch Aufnahmen nicht ganz so bekannter Pianisten frei verfügbar zu haben. Und durch den Ausbildungsstand heute ist das durchschnittliche Niveau sehr hoch - höher vielleicht als früher. Aber dazu kommen dann letztlich die wirklich herausragenden großen Aufnahmen. Ein Horowitz wird eben nicht jeden Tag geboren - so eine eine Erscheinung gibt es einmal in einem Jahrhundert. Von den maßgeblichen Pianisten und Pianistinnen des 19. Jhd. gibt es leider keine oder kaum Aufnahmen. Wie gerne würde man Liszt selber hören können oder Clara Schumann! Auch hier sind finde ich die historischen Aufnahmen erhellend - die sich keineswegs über einen Kamm scheren lassen. Das merkt man, wenn man sie sammelt. Interpretationsstile sind Ausdruck ihrer Zeit. Die "großen Alten" haben oft eine Poesie, die das Fegefeuer von wissenschaftlicher Aufklärung, technischer Perfektion und professioneller Routine leider viel zu oft zerstört hat. Martha Argerich - die nun auch schon zu den "großen Alten" gehört ^^ - hatte in jungen Jahren eine riesen Angst, einen falschen Ton zu spielen, wie sie erzählt. Mein Gott! Wie viele falsche Töne gibt es bei Alfred Cortot! Die sind nun wirklich völlig unwichtig - Geza Anda hat das Treffende dazu gesagt. Wenn man die Titanen von früher im Ohr hat, ist man beim Sammeln der Jungen und ganz Jungen selektiver und konsumiert nicht einfach wahllos die große Masse. Ich weiß sehr genau, welche neue erscheinenden Aufnahmen ich kaufen werde und welche nicht. Ich kaufe nur, was ich für unverzichtbar für mich halte. Und dazu, das Verzichtbare vom Unverzichtbaren zu unterscheiden, dient dienen die alten Referenzen, die einfach zeitlos gültig sind.


    Schöne Grüße

    Holger

  • In der Musik ist es wie mit allem, mit Büchern, Musik, Filmen, Autos, Informationen, Nachrichten, Filmstars etc etc. Wir, in den Industriestaaten, haben nicht das Problem der Mangelwirtschaft, sondern der Überversorgung. Ich habe das immer gut in Frankreich verstanden, wenn ich im Supermarkt Käse kaufen wollte. Die französischen Supermärkte sind meist ohne weitere Etagen, dadurch kann eine Käsetheke vielleicht 100 m lang sein. Da heißt, dass ich irgendeinen oder gar keinen Käse kaufe. Bei Eco gibt eine Beobachtung über historische Forschung. Er wollte ein Buch über Julius Cäsar lesen und hatte gedacht, dass er so 2-3 finden würde. Er fand 10.000; da gab er auf. Schopenhauer: Was ist das Schlechte an schlechten Büchern? Sie bilden den Heuhaufen, in dem man die Nadel der Literatur suchen muss. Wer heute in einen Laden von thalia geht, der befindet sich im C&A der Literatur. Klassik gibt es gar nicht mehr, 19. und 20. Jahrhundert ganz wenig. Dazu kommt, dass Smartphones und Tablets diesen Trend noch verstärken, denn jetzt kann man Tag und Nacht sich mit Medien zuschütten. Leider auch dann, wenn man es lassen sollte. Fall 1: im frühen Berufsverkehr überquert ein Mädchen mit Blick aufs Handy bei Rot über die Straße und wird von einem Lieferwagen angefahren und getötet. Fall 2: (Irgendwo im Ruhrgebiet): ein junger Mann geht, aufs Handy schauend, über ein Bahngleis. Der Lokführer kann nicht mehr stoppen. Der neueste Trend sind Ampeln, die quer gebaut werden, damit man sie nicht verpasst. Was ich hier im forum jetzt nicht kritisch sehe, sondern bewundere, aber schon finanziell und platzmäßig nicht machen kann, sind die großen Mengen an Musik und die großen Mengen an CDs des gleichen Stücks, die hier ins Spiel kommen, z.T. auch mit Komponisten, die ich noch nie gehört habe. Meistens werden diese CDs/DVDs auch kommentiert, sodass man weiß, dass es hier nicht um den reinen Besitz geht.

    Daher scheint mir doch das Motto unseres Hauptphilosophen Luhmann, "Reduktion von Komplexität" , besser zu sein als das Motto von Storms Häwelmann: "Mehr, mehr, sprach der kleine Häwelmann!"

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)