Othmar Schoeck und seine Lieder

  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Ludwig Uhland steht im Zweiviertelakt und ist mit der Vertragsanweisung „Langsam“ versehen. Es ist ein stilles Lied, in dem sich aus einem von verhaltener Schmerzlichkeit geprägten Anfang ganz langsam eine zarte und klanglich weiche Melodik herausschält.


    Aus der Bedrängnis, die mich wild umkettet,
    Hab` ich zu dir mich, süßes Kind, gerettet,
    Damit ich Herz und Augen weide
    An deiner Engelfreude,
    An dieser Unschuld, dieser Morgenhelle,
    An dieser ungetrübten Gottesquelle.


    Die melodische Linie der Singstimme setzt ohne Klaviervorspiel ein. Dreimal wird silbengetreu auf einem „a“ deklamiert und nach einem kleinen Sekundanstieg folgt ein Sextfall, der in einen verminderten Akkord mündet. Das ist klanglicher Ausdruck seelischen Schmerzes. Er durchdringt die melodische Linie die ganze erste Strophe lang. Erst mit dem Vers „an deiner Engelfreude“ tritt ein neuer Ton in das Lied: Die melodische Linie nimmt einen lieblichen Ton an und ist nun in Dur harmonisiert.


    Der Eindruck von Schmerzlichkeit und stiller Klage, die lyrisch dem Rückblick auf das vergangene Leben entspringt, kommt im ersten Teil des Liedes nicht nur durch die Moll-Harmonisierung der melodischen Linie und ihre chromatische Führung zustande, er wird auch dadurch noch intensiviert, dass ihre Bewegung immer wieder von Pausen unterbrochen wird. Nur dann, wenn das Kind angesprochen wird, kommt ein Ton von Zärtlichkeit in die Vokallinie. Bei den Worten „die mich“ beschreibt sie einen kleinen melodischen Bogen in hoher Lage, zu dem Schoeck die Anweisung „zart“ vorgibt.


    Bezeichnend ist aber, dass auch hier die Schmerzlichkeit des Rückblicks nicht ganz verdrängt werden kann. Die Worte „süßes Kind“ und „gerettet“ sind rhythmisch durch Pausen hervorgehoben und in ihrem Bekenntnischarakter klanglich akzentuiert. Aber bei dem Wort „Kind“ erklingt überraschend ein verminderter Terzsprung in chromatischer Harmonisierung, der klanglich spüren lässt, welche seelische Last in dieses Kind projiziert wird.


    „Zart“ lautet die Anweisung zum Vortrag der Vokallinie, die auf den letzten drei Versen liegt. Sanft und mit behutsamen Schritten setzt sie ein und beschreibt über dem Wort „Unschuld“ einen kleinen melodischen Bogen. Zum Wort „Morgenhelle“ hin macht sie einen Sextsprung hin zu einem hohen „dis“ und fällt danach in zwei lang gedehnten Sekundschritten auf ein hohes „h“ ab.


    Und noch einmal erfolgt mit dem letzten Vers („an dieser ungetrübten Gottesquelle“) ein Aufstieg der melodischen Linie in hohe Lage mit nachfolgendem überaus behutsamem Niedersteigen, das, weil noch einmal ein kleiner Bogen beschrieben wird, überaus lieblich wirkt. Die melodische Linie endet nicht auf dem Grundton, sondern auf der Terz und wirkt deshalb wie unvollendet. Das Klavier übernimmt ihre Bewegung und führt sie bei den letzten Takten des Liedes zu Ende.

  • Das Lied „Auf ein Kind“ entstand, obwohl es dem 1917 veröffentlichten Opus 20 (mit Liedern auf Gedichte von Uhland und Eichendorff) zugehört, schon im Jahre 1908, ist also, wenn man so will, noch den „Jugendliedern“ Schoeck zuzuordnen.


    Gleichwohl zeigt es schon seine Meisterschaft im kompositorischen Aufgreifen der zentralen Aussage eines lyrischen Textes und in dem damit einhergehenden Umsetzen der lyrischen Bilder in Musik. Die melodische Linie der Singstimme folgt – wie das für Schoeck typisch ist – sehr eng der Sprachmelodie. Bemerkenswert und seinen ganz spezifischen klanglichen Reiz ausmachend ist aber an diesem Lied, wie sich die melodische Linie langsam aus einer anfänglich wie wirr in verschiedenen Tonarten und Tongeschlechtern herumirrenden Harmonik herauswindet und bei den beiden letzten Versen, in denen die Begriffe „Unschuld“, „Morgenhelle“ und „Gottesquelle“ im Mittelpunkt stehen, zu wunderbarer Helle und strahlender Klarheit in reinem Dur findet.


    Der Gegensatz der lyrischen Bilder von der „Bedrängnis“ und der „Morgenhelle“, der die Aussage des Gedichtes sprachlich trägt, ist so auf höchst beeindruckende Weise zu Musik geworden.

  • Diesem Lied liegt ein Gedicht von Ludwig Uhland zugrunde. Sehnsucht nach Geborgenheit in der Natur artikuliert sich lyrisch darin, - eine Geborgenheit, die das Leben übergreift und bis in den Tod reicht. Den leicht schwärmerischen lyrischen Grundton fängt die Musik Schoecks in beeindruckender Weise ein.


    O legt mich nicht ins dunkle Grab,
    nicht unter die grüne Erd´ hinab!
    Soll ich begraben sein,
    lieg´ ich ins tiefe Gras hinein.


    In Gras und Blumen lieg´ ich gern,
    wenn eine Flöte tönt von fern,
    und wenn hoch oben hin
    die hellen Frühlingswolken ziehn.


    „Ruhig und zart“ lautet die Vortragsanweisung für dieses Lied. Die melodische Linie der Singstimme ist ganz vom Dreivierteltakt geprägt. Eine zarte Beschwingtheit zeichnet sie aus. Sie setzt mit einem Vorhalt ein. Ein Klaviervorspiel gibt es nicht.


    Die Melodiezeile, die auf den ersten beiden Versen liegt, fällt aus hoher Lage um eine ganze Oktave ab. Zwar beschreibt sie bei den Worten „dunkle Grab“ noch einmal einen kleinen melodischen Bogen, als würde sie von dem lyrischen Bild gleichsam nach unten gezogen. Bei den Worten „Erd hinab“ erreicht sie dann aber ihren tiefsten Punkt. Die Worte „Soll ich begraben sein“ wirken klanglich isoliert. Auf „sein“ liegt eine melodische Dehnung, die den ganzen Takt ausfüllt. Das wirkt wie ein gedankliches Innehalten, - als sollte einen kurzen Augenblick lang offen bleiben, wo denn nun der Ort der ewigen Ruhe ist.


    Es ist das „tiefe Gras“. Und diese lyrische Aussage wird von Schoeck mit einer fallenden, dieses Mal aber lieblich anmutenden melodischen Linie ausgedrückt. Vor der zweiten Strophe erklingt ein kurzes Zwischenspiel. Und das nachfolgende Klangbild weicht deutlich von dem der ersten Strophe ab: Es ist rhythmisch lebhafter und melodisch bewegter. Im Klaviersatz dominieren repetierende Achtelakkorde, und die melodische Linie der Singstimme hat die leicht müde wirkende Fallbewegung der ersten Strophe aufgegeben.


    Ein Auf und Ab über große Intervalle prägt sie nun. Bei den Worten „Wenn eine Flöte tönt von fern“ schwingt sie sich in hohe Lage auf. Das geschieht auch – nach einer kurzen Pause – beim lyrischen Bild von den hoch oben ziehenden Frühlingswolken. „Träumerisch“ und „sehr zart“ lauten die Vortragsanweisungen an dieser Stelle.


    In ruhigen, langsamen Schritten bewegt sich die Vokallinie beim letzten Vers des Gedichts. Es ist ein Wechsel aus halben und Viertelnoten, der deshalb klanglich so reizvoll wirkt, weil man den Eindruck gewinnt, als würde die melodische Linie, die eigentlich eine Tendenz nach unten hat, vom lyrischen Bild, eben jenen hellen Wolken am Himmel, immer wieder neu beflügelt und nach oben gezogen. Hier kann man Schoecks hohe Sensibilität für lyrische Sprache und seine Fähigkeit hörend erfahren, sie in melodische Bewegung umzusetzen.


    Bei der Wiederholung des Verses setzt sich diese Abwärtstendenz dann aber doch durch. Die zentrale Aussage des lyrischen Textes erzwingt dies gleichsam. In langsamen Schritten bewegt sich die Vokallinie aus hoher Lage herab, - über mehr als eine Oktave. Bei dem Wort „ziehn“ endet die Bewegung auf der Tonika.


    Das lyrische Ich hat seine Ruhe im Bett der Natur gefunden.

  • Ludwig Uhlands Lyrik bildet zwar – im Vergleich zu Keller, Eichendorff oder Hesse etwa – keinen Schwerpunkt in Schoecks Liedschaffen, aber sie ist ein durchaus typisches Beispiel dafür, dass Schoeck nie flüchtig mal da mal dort zu einem Gedicht greift, um ein Lied daraus zu machen, sondern dass er sich ganz bewusst mit dem lyrischen Werk eines Dichters und der Weltsicht darin auseinandersetzt.


    Immerhin hat er von Uhland 15 Gedichte vertont. Einen diesbezüglichen Schwerpunkt bilden das 1907 entstandene Opus 3 (sechs Lieder) und das 1914 erschienene Opus 20, das neben sechs Liedern auf Gedichte von Eichendorff fünf auf Texte von Uhland enthält.


    Zwei Lieder wurden hier besprochen, und es könnten eigentlich noch viel mehr sein, denn viele dieser Lieder weisen einen wiederum ganz eigenen, durch die lyrische Sprache Uhland inspirierten, Ton auf. So zeichnet sich zum Beispiel das Lied „An einem heitern Morgen“ durch einen überaus vielschichtigen und in einem reizvollen Spannungsverhältnis zur Singstimme stehenden Klaviersatz aus:


    O blaue Luft nach trüben Tagen,
    Wie kannst du stillen meine Klagen?
    Wer nur am Regen krank gewesen,
    Der mag durch Sonnenschein genesen.


    O blaue Luft nach trüben Tagen,
    Doch stillst du meine bittern Klagen;
    Du glänzest Ahnung mir zum Herzen,
    Wie himmlisch Freude labt nach Schmerzen.


    Wird bei ersten Vers der ersten Strophe die „blaue Luft“ in noch verhaltenem Ton angesprochen – die melodische Linie neigt sich beiden Worten „trüben Tagen“ nach unten - , so geschieht das zu Beginn der zweiten Strophe mit weitaus mehr Emphase. Jetzt steigt sie in höhere Lagen empor, und auch bei den neuerlich angesprochenen „trüben Tagen“ vollzieht sie nur eine kurze Fallbewegung, um auf den letzten Silben wieder anzusteigen. Denn jetzt stillt die „blaue Luft“ ja die „bittern Klagen“.


    Höchst eindringlich wird die Frage melodisch artikuliert: „Wie kannst du stillen mein Verlangen“. Die melodische Linie steigt hier zu großer Höhe empor. Wie sich überhaupt dieses Lied sich klanglich dadurch auszeichnet, dass sich die Vokallinie aus anfänglichem Verbleiben auf einer Tonebene mit einem Mal über große Intervalle hinweg zu großen Höhen aufschwingt. Eindrucksvoll kann man das bei der Wiederholung des ersten Verses beider Strophen am Ende des Liedes erleben.


    Diese strukturelle Eigenart der melodischen Linie ist – wie auch die in lebhaften Bewegungen agierende und die Singstimme umspielende Klavierbegleitung – Ausdruck der lebhaften seelischen Regungen an einem „heiteren Morgen“, - bei der Begegnung mit der „blauen Luft nach trüben Tagen“.

  • Der Reiz des Gedichtes von Nikolaus Lenau für den Liedkomponisten dürfte in der Vielfalt der lyrisch-szenischen Bilder und in der in ihrem Zentrum stehenden drei Typen von Menschen liegen. Es geht darum, die lyrische Szenerie in der jeweils adäquaten musikalischen Form einzufangen, gleichwohl aber die innere Einheit des Liedes zu wahren und dabei den lyrischen Rahmen, der aus einer epischen Eröffnung und einer gleichsam philosophischen Quintessenz besteht, zu berücksichtigen. Othmar Schoeck ist dies auf höchst eindrucksvolle Weise gelungen.


    Drei Zigeuner fand ich einmal
    Liegen an einer Weide,
    als mein Fuhrwerk mit müder Qual
    schlich durch sandige Heide.


    Hielt der Eine für sich allein
    In den Händen die Fiedel,
    spielte, umglüht von Abendschein,
    sich ein feuriges Liedel.


    Hielt der Zweite die Pfeif´ im Mund,
    blickte nach seinem Rauche,
    froh, als ob er vom Erdenrund
    nichts zum Glücke mehr brauche,


    Und der dritte behaglich schlief,
    und sein Cimbal am Baum hing,
    über die Saiten ein Windhauch lief,
    über sein Herz ein Traum ging.


    An den Kleidern trugen die Drei,
    Löcher und bunte Flicken,
    aber sie boten trotzig frei
    Spott den Erdengeschicken.


    Dreifach haben sie mir gezeigt:
    Wenn das Leben uns nachtet,
    wie man´s verraucht und verschläft und vergeigt,
    und es dreimal verachtet.


    Nach den Zigeunern lang noch schaun
    mußt´ ich im Weiterfahren,
    nach den Gesichtern dunkelbraun,
    den schwarzlockigen Haaren.


    „Ruhig, etwas schleppend“ lautet die Vortragsanweisung für dieses Lied, das einen Viervierteltakt aufweist. Die Tonart ist zwar a-Moll, aber eine der spezifischen klanglichen Eigenarten besteht darin, dass die melodische Linie eine ganze Reihe von Tonarten durchläuft und nicht auf längere Dauer an einer festzumachen ist. Das dürfte der Vielfalt der lyrischen Bilder geschuldet sein.


    Ohne Vorspiel setzt die Singstimme ein, und sie bewegt sich bei der ersten Melodiezeile, die die beiden ersten Verse der ersten Strophe umfasst, in einer melodisch höchst markanten Weise: In silbengetreuer Deklamation geht es von einem hohen „es“ über eine ganze Oktave abwärts, und danach, nach kurzem Innehalten auf der Silbe („ein-„) „-mal“ wieder hinauf zu diesem Ausgangs-„es“. Bei dem Wort „Weide“ erfolgt ein Quartfall mit melodischer Dehnung, - wieder ausgehend von diesem hohen „es“. Das Klavier begleitet diese melodische Bewegung exakt mit Oktaven im Diskant. Das alles wirkt musikalisch überaus gewichtig, - wie sich das für eine Exposition gehört.


    Dieses Unisono von Vokallinie und Klavierdiskant ist ein weiteres, dieses Lied prägendes Merkmal der Faktur. Man vernimmt es nicht nur bei der zweiten Melodiezeile der ersten Strophe, die in ihrer Bewegung der ersten ähnlich ist, es setzt sich auch in der zweiten Strophe fort.


    Es kann nun nicht darum gehen, die musikalische Struktur des Liedes in detaillierter Form zu beschreiben. Vielmehr soll versucht werden, an Einzelfällen aufzuzeigen, in welcher Form melodische Linie und Klaviersatz die dichterische Aussage reflektieren. So steigt zum Beispiel bei dem Bild des vom Abendschein „umglühten“ Fiedlers die Vokallinie mit einem klanglich überaus eindrucksvollen Sextsprung hoch zu einem zweigestrichenen „gis“ und verharrt dort mit einer Dehnung im Wert von einer halben Note, um danach bei dem Wort „Abendschein“ über eine ganze Oktave herabzusteigen. Das Klavier begleitet auch diese Bewegung unisono mit Oktaven im Diskant und verstärkt auf diese Weise ihre ohnehin schon vorhandene Expressivität.


    Bei den Worten „feuriges Liedel“ purzelt die melodische Linie, ganz dem lyrischen Bild gemäß, in Form von Sechzehnteln über eine Quinte im Sekundschritt herab, um danach diese Quinte (bei dem Wort „Liedel“) wieder in einem einzigen Sprung nach oben zu nehmen.


    Beim zweiten Zigeuner, dem mit der „Pfeif“ im Mund, setzt die melodische Linie wieder in gleicher Weise ein, - womit Schoeck die innere musikalische Einheit des Liedes wahrt: Sie verharrt in syllabisch exakter Deklamation auf einem Ton (bei den ersten vier Worten). Jetzt aber wirkt ihre Bewegung im folgenden lapidarer, weil in einfachen Schritten auf und ab steigend. Das Klavier bildet dabei mit „leggiero“ nach oben steigenden Sechzehntel-Figuren den aus der Pfeife steigenden Rauch musikalisch ab. Bei dem Wort „Erdengrund“ beschreibt die Vokallinie einen weit ausgreifenden melodischen Bogen, den man als dem lyrischen Bild vollkommen gemäß empfindet.


    Wenn der Dritte „behaglich schläft“, steigt die melodische Linie – wiederum unisono mit dem Klavier – langsam in sehr tiefe Lage hinab und verharrt bei dem Wort „schlief“ dort lange. „Sehr leise“ lautet die Vortragsanweisung für die folgenden Verse: „Über die Saiten ein Windhauch lief…“. Die melodische Linie bewegt sich hier mit überaus zarter klanglicher Eindringlichkeit in immerzu gleicher Weise im Raum einer Quart. Und bei den Worten „Traum ging“ erklingt genau dieser Quartfall noch einmal, jetzt aber mit melodischer Dehnung.


    Bei der fünften Strophe entwickelt das Klavier eine herausragende klangliche Aktivität. „Etwas eilend“ lautet hier die Vortragsanweisung, - und es eilt klanglich mit all den rasanten Aufwärtsbewegungen in Form von Sechzehnteln im Klaviersatz tatsächlich.


    Für die letzte Strophe gilt wieder „Tempo I“. Und wieder verharrt die melodische Linie bei den Worten „Dreifach haben sie mir“ auf einem Ton. Dieser trägt aber, wie auch die nachfolgenden melodischen Schritte, eine Portato-Markierung, und jetzt spielt sich alles im Fortissimo-Bereich ab. Die melodische Linie bewegt sich dabei über große tonale Räume auf und ab. Bei den Worten „und dreimal verachtet“ zum Beispiel von einem tiefen „es“ hoch zu einem zweigestrichenen „f“.


    Es ist das immer gleiche Auf und Ab, das auf den Versen der letzten Strophe liegt. Und das Wunderliche ist: Obgleich der Vortrag im Forte-Fortissimo erfolgt, hat man das Gefühl, dass das Lied allmählich verklinge.

  • Lenaus Gedicht „Die drei Zigeuner“ wurde auch von Franz Liszt vertont. Die diesbezügliche Besprechung findet sich im Thread „Franz Liszt und seine Lieder“ als Beitrag Nr. 117 (vom 7.12.2011).


    Es soll hier kein Liedvergleich vorgenommen werden. Aber wenn man beide Vertonungen hintereinander hört, wird einem - jenseits aller liedanalytischen Perspektive – allein vom unmittelbaren Klangeindruck bewusst, wie ganz und gar unterschiedlich der kompositorische Ansatz und das zugrundeliegende Verständnis des lyrischen Textes ist.


    Zu Liszts Lied wurde einleitend angemerkt:
    Hier entfaltet er all seine kompositorischen Fähigkeiten zur Verwandlung lyrischer in musikalische Bilder von faszinierender Klanglichkeit. Dem Klavier kommt dabei eine maßgebliche – und wahrhaft virtuose! – Rolle zu. Liszt greift dabei auf das Klangmaterial der Zigeunermusik zurück und setzt die dort verwendete Moll-Tonleiter mit übermäßigen Sekunden und Zimbal-Sequenzen ein. Weil die Musik in intensiver Weise auf den lyrischen Gehalt der Strophen in gleichsam musikalisch-illustrativer Weise eingeht, weist das Lied eine ungewöhnliche klangliche Vielfalt auf.


    Das liedkompositorische Konzept Schoecks ist ein völlig anderes. Man könnte den Unterschied auf den Nenner bringen:
    Während Liszt mit allen Mitteln der Klangmalerei und unter Einsatz des gleichsam kommentierenden und klanglich figurativen Klaviereinsatzes den szenischen Aspekt des Gedichts musikalisch herausarbeitet, betrachtet Schoeck das szenische Geschehen aus der Perspektive des lyrischen Ichs und der Gedanken und Empfindungen, die dieses bei der Begegnung mit den drei Zigeunern hat.


    Die philosophische Dimension des Gedichtschlusses schlägt – wenn man so will – bei Schoeck ungleich stärker auf die kompositorische Gestaltung der vorangehenden Strophen durch. Sie sind aus diesem Grund ungleich stiller und introvertierter als bei Liszt. Das Klavier agiert nicht lautmalerisch, es färbt die Bewegung der melodischen Linie der Singstimme gleichsam klangfarblich ein, setzt dabei auch Mollklänge und dissonante Akkorde ein und kommentiert insofern mehr, als dass es situativ schildert.

  • Mit dem Lyriker Nikolaus Lenau hat sich Schoeck kompositorisch sehr stark beschäftigt. Insgesamt vertonte er 60 Gedichte Lenaus. Die ersten Lieder erschienen mit dem Opus 2 (1905), einen ersten Schwerpunkt bildet das Opus 24a mit vier Vertonungen, aber die umfangreichste und intensivste Auseinandersetzung ereignete sich im Rahmen von Liederzyklen:


    „Elegie“, op.36: Liederfolge nach Gedichten von Lenau und Eichendorff für eine Singstimme und Kammerorchester (mit 18 Liedern auf Lenau-Texte, 1922/23);
    „Wanderung“, op.45: Gedichtfolge nach Lenau für eine Singstimme und Klavier (1930);
    „Notturno“, op.47: „Fünf Sätze für Streichquartett und eine Singstimme (mit 9 Liedern auf Lenau-Texte, 1931-33);
    „Nachhall“, op.70: Liederfolge für mittlere Singstimme und Orchester Nach Gedichten von Lenau und Claudius (mit 11 Liedern auf Lenau-Texte, 1954/55).


    Ich sehe mich außerstande, auf diese Liederzyklen hier näher einzugehen. Das würde den Rahmen dieses Threads sprengen und ihm deshalb vielleicht sogar abträglich sein. Im Grunde verlangte jeder von Schoecks großen Liederzyklen eine intensive Auseinandersetzung in Form eines eigenen Threads. Ich hege freilich erhebliche Zweifel, ob es dafür ein hinreichendes Interesse gibt.


    Hinsichtlich der Motive von Schoecks Hinwendung zur Lyrik Lenaus kann ich nur Vermutungen anstellen. Aber es fällt auf, dass den Liedern auf Texte von Lenau sehr oft ein Unterton von Schwermut innewohnt, - sich musikalisch ausdrückend in chromatisch gebrochener Harmonik und einer von fallender Linienführung und Schwere geprägten Bewegung der melodischen Linie der Singstimme.


    In dieser Form reflektiert Schoeck musikalisch die von starker innerer Zerrissenheit, Einsamkeit und Heimatlosigkeit eingefärbte Lyrik Lenaus. Und es könnte durchaus sein, dass sie darin eine Seite seines Wesens ansprach. Dass er unter starken Depressionen litt, wurde ja bereits angedeutet. Im Lied „An die Entfernte“ (op.5, Nr.2) lässt sich der biographische Hintergrund sogar ein wenig genauer konkretisieren.


    Diese Rose pflück´ ich hier
    In der fremden Ferne;
    Liebes Mädchen, dir, ach dir
    Brächt´ ich sie so gerne!


    Doch bis ich zu dir mag ziehn
    Viele weite Meilen,
    Ist die Rose längst dahin,
    Denn die Rosen eilen.


    Nie soll weiter sich ins Land
    Lieb´ von Liebe wagen,
    Als sich blühend in der Hand
    Lässt die Rose tragen;


    Oder als die Nachtigall
    Halme bringt zum Neste,
    Oder als ihr süßer Schall
    Wandert mit dem Weste.


    Dieses Gedicht Lenaus wurde auch von Felix Mendelssohn vertont und ist im zugehörigen Thread besprochen („Felix Mendelssohn und seine Lieder“, Beitrag 36 vom 1.5.2012). Es ist kein größerer Gegensatz denkbar zwischen jenem Lied und dem von Schoeck. Man kann dessen Vertonung in ihrem klanglichen Eindruck nicht anders als mit den Worten schwermütig, trist, ja finster beschreiben und charakterisieren.


    Die Komposition hat einen biographischen Hintergrund. Schoeck machte im Oktober 1914 die Bekanntschaft mit der jungen Geigerin Elsbeth Mutzenbecher (1891-1987). Er verliebte sich in sie, und sie verbrachten drei Tage miteinander, - drei nur, weil die Geigerin wegen Verpflichtungen weiterreisen musste. Schoeck, der von ihren „wunderbaren seelenvollen blauen Augen“ schwärmte, bemerkte hinterher einem Freund gegenüber: „So sind wir aus dem Paradies vertrieben worden, bevor es nur zum Sündenfall gekommen ist.“ Eine ihr zugedachte Violinsonate vollendete er nicht, wohl aber das Lied „An die Entfernte“, das er für sie komponierte (obwohl es keine Widmung trägt).


    Das Lied ist in seiner kompositorischen Faktur kühn und zukunftsweisend. Schoeck wagt sich hier weit in den Bereich der Atonalität vor, ohne dass es freilich ein konsequent atonales Lied wäre. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich keineswegs atonal: Sie umkreist tonale Zentren, - dies allerdings mit Ausgriffen in weitab liegende Tonarten.


    Der Eindruck von Atonalität stellt sich im Zusammenspiel von Vokallinie und Klaviersatz ein. Hier besteht keinerlei harmonischer Zusammenklang, vielmehr herrscht eine Art Bitonalität. Permanent erklingen im Klavierdiskant alternierende Akkorde in hoher Lage, und das völlig unberührt von der Bewegung der Singstimme und in klanglich und rhythmisch z.T. fast schrillem Gegensatz zu ihr.


    Durchweg schwerfällig in ihrer Bewegung und in Moll harmonisiert bietet sich die melodische Linie dar. Und vor allem: Da sie nach kurzem, mühsamem Sich-erheben alsogleich wieder niedersinkt, suggeriert sie klanglich den Eindruck großer Müdigkeit.


    Es gibt nur wenige klangliche Lichtblicke in diesem Lied. Die Worte „so gerne“, bei denen man einen solchen eigentlich erwarten würde, sind es nicht. Da gibt es nur einen Sekundanstieg der melodischen Linie mit nachfolgendem Zurückfallen, - wie man das schon kennt.


    Bei dem Vers „Als sich blühend in der Hand“ steigt die melodische Linie, als wolle sie sich aufbäumen, erstmals in höhere Lagen auf. Auch bei dem Bild von der Nachtigall gibt es einen in höhere Lagen ausgreifenden melodischen Bogen. Und bei den Worten „süßer Schall“ erreicht die Vokallinie gar den dynamischen und melodischen Höhepunkt des Liedes.


    Aber beim letzten Vers geht es wieder langsam abwärts in die triste Tiefe, aus der die melodische Linie kam und aus der sie sich nicht wirklich befreien konnte. Diese Tiefe haftet ihr in diesem Lied auf eine klanglich wirklich beeindruckende Weise fest an.

  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Eichendorff steht in As-Dur, weist einen Viervierteltakt auf und ist in seinem ersten Teil mit der Vortragsanweisung „Ruhige Bewegung“ versehen. Es ist durchkomponiert, allerdings weisen die erste und die zweite Strophe Ähnlichkeiten in der Struktur der melodischen Linie auf. Dasselbe gilt für die dritte und die vierte Strophe. Nur die letzte (Frisch auf…“) weicht in ihrer Faktur deutlich ab. Sie wird in Gänze wiederholt, und die Vortragsanweisung lautet hier: „munter und fließend“.


    Vergangen ist der lichte Tag,
    Von ferne kommt der Glocken Schlag;
    So reist die Zeit die ganze Nacht,
    Nimmt manchen mit, der´s nicht gedacht.


    Wo ist nun hin die bunte Lust,
    Des Freundes Trost und treue Brust,
    Des Weibes süßer Augenschein?
    Will keiner mit mir munter sein?


    Da´s nun so stille auf der Welt,
    Ziehn Wolken einsam übers Feld,
    Und Feld und Baum besprechen sich,
    O Menschenkind! Was schauert dich?


    Wie weit die falsche Welt auch sei,
    Bleibt mir doch einer nur getreu,
    Der mit mir weint, der mit mir wacht,
    Wenn ich nur recht an ihn gedacht.


    Frisch auf denn, liebe Nachtigall,
    Du Wasserfall mit hellem Schall!
    Gott loben wollen wir vereint,
    Bis daß der lichte Morgen scheint.


    Die melodische Linie der Singstimme ist von eindrucksvoller Schlichtheit. Sie bewegt sich sehr ruhig, da auf den Silben der Worte überwiegend Viertelnoten liegen. Eine bestimmte melodische Figur kehrt immer wieder: Es ist eine silbengetreu deklamierte Abwärtsbewegung im Sekundschritt. Zum ersten Mal ist sie zu hören bei dem Vers: „Von ferne kommt der Glocken Schlag“. Aber sie begegnet einem immer wieder, - zum Teil auch mit einem Terzintervall. So etwa bei den Worten „nimmt manchen mit“. Innigkeit ist der klangliche Eindruck, der von dieser melodischen Figur ausgeht, vielleicht mit einem Hauch von Schwermut darin.


    Immer wieder empfindet man, dass die melodische Linie in der Einfachheit ihrer Bewegung der Aussage des lyrischen Textes voll gemäß ist, - ähnlich wie man das von Schubert kennt. Die Frage „Wo ist nun hin die bunte Lust?“ erhält durch einen Quintfall besondere Nachdrücklichkeit, und bei „bunte Lust“ treten – fas überraschend – fallende Achtel in die Bewegung der Vokallinie. Sehr eindringlich ist der Vers „Will keiner mit mir munter sein?“ kompositorisch gestaltet. Zunächst steigt die melodische Linie um fast eine Oktave an. Danach fällt sie (bei „munter sein“) in Form von halben Notenwerten im Sekundschritt ganz langsam ab.


    „Etwas schneller“ lautet die Anweisung für den Vortrag der dritten und der vierten Strophe. In ihrer Faktur weichen diese aber nicht wesentlich von der der ersten Strophengruppe ab. Zwar setzt die melodische Linie bei dem Vers „Da´s nun so stille auf der Welt“ in tiefer Lage ein – das lyrische Bild reflektierend - , aber auch jetzt bewegt sich die Vokallinie in ruhiger Deklamation, und es erklingt wieder diese Fallbewegung in Sekunden und Terzen. Der zweite, dritte und vierte Vers der dritten Strophe sind klanglich davon geprägt.


    Ein inniger Ton kommt beim letzten Vers der vierten Strophe in das Lied („wenn ich nur recht an ihn gedacht“). In einer über Terzen und eine Quart erfolgenden Aufwärtsbewegung beschreibt die melodische Linie einen großen Bogen, der in einen lang gehaltenen Ton auf dem letzten Wort mündet. Danach erklingt ein überraschend dynamisches und von Chromatik durchsetztes Zwischenspiel im Klavier. „Mit gesteigertem Ausdruck“ steht darüber.


    Mit einem Quintsprung bei „Frisch auf“ setzt die Vokallinie bei der letzten Strophe ein. „Munter und fließend“ lautet die Vortragsanweisung, und so mutet die Bewegung der melodischen Linie auch an. Jetzt steigt sie hinauf zu Höhen, die sie bislang gemieden hat. Zwar vernimmt man nun auch wieder diese melodische Fallbewegung, die für das Lied klanglich so prägend ist, aber sie wird jetzt deutlich rascher zurückgelegt und erfolgt aus größerer Höhe.


    Die Musik reflektiert hier auf beeindruckende Weise die Aussage des lyrischen Textes. Und da der Komponist ihr eine zentrale Bedeutung für das ganze Lied beimisst, wiederholt er diese Strophe. Das geschieht aber mit neuer musikalischer Faktur. Die Fallbewegung erklingt zwar jetzt auch wieder, sie wird aber von einer Aufwärtsbewegung gleichsam aufgefangen, und das Ganze mündet in eine lang melodisch lang gedehnte Bewegung hin zum Grundton.

  • Eichendorffs Gedicht „Nachtlied“ wurde auch von Felix Mendelssohn vertont. Die diesbezügliche Liedbesprechung findet sich als Beitrag Nr.47 (11.5.2012) im Thread „Felix Mendelssohn und seine Lieder“. In einer Nachbetrachtung merkte ich an:
    „Mendelssohns „Nachtlied“ gehört zu jenen seiner Liedkompositionen, die mich immer wieder in Bann schlagen, wenn ich sie höre.“


    Und so ist das auch. Wenn ich Eichendorffs Verse lese, klingt mit der Sprachmelodie wie in gleichsam naturhaft generierter Symbiose die melodische Linie der Mendelssohn-Vertonung auf. Bei Schoecks Lied ist das nicht in gleicher Weise der Fall. Und ich sehe mich durch die Tatsache, dass ich es für eine geniale kompositorische Anverwandlung von Eichendorffs lyrischer Sprache halte, förmlich dazu genötigt, der Frage nachzugehen, woran das liegen mag.


    Zunächst einmal scheint das ein simples Phänomen von Quantität zu sein: Ich habe Mendelssohns Lied häufiger gehört als das Schoecks. Daran kann es aber nicht wirklich liegen. Eher scheint mir die musikalische Faktur dafür verantwortlich zu sein. Im Vergleich zur Komposition Schoecks ist die von Mendelssohn weniger komplex.. Vor allem ist die Struktur der melodischen Linie von jener volksliedhaften Einfachheit und zugleich Treffsicherheit hinsichtlich der dichterischen Aussage, wie das für Mendelssohns Liedkomposition so typisch ist.


    Aber „einfach“ ist die melodische Linie Schoecks in bestimmten Strukturelementen ja auch. Gerade diese melodische Figur, die das Lied so sehr prägt, diese Fallbewegung der Vokallinie in ruhigen Sekundschritten, ist von gleichsam elementarer und der lyrischen Sprache Eichendorffs vollkommen adäquater Einfachheit. Und dann gibt es noch diese überaus einprägsame melodische Figur, die auf den Worten „Nimmt manchen mit, der´s nicht gedacht“ liegt. Sie ist auch das Lied prägend, weil sie sich in gleicher Form bei den Worten „Will keiner mit mir munter sein“ wiederholt. Das ist reiner und schönster Volksliedton.


    Aber da ist etwas, worin Schoeck sich von Mendelssohn in liedkompositorisch wesentlicher Form unterscheidet: Er lässt sich gleichsam radikal und kompromisslos von der Aussage und der sprachlichen Struktur des lyrischen Textes leiten und nimmt dafür eine höhere Komplexität der musikalischen Faktur seines Liedes in Kauf. Das hat zur Folge, dass es zwar durchaus eingängige Passagen in der Vokallinie gibt, dass diese aber in ihrer Gesamtheit gleichsam keinen Block melodischer Eingängigkeit bildet. Da kann sich die melodische Linie etwas schwerer einprägen und festsetzen.


    Hinzu kommt, dass auch der Klaviersatz sowohl in seiner Struktur als auch in seiner Harmonik komplexer ist. Im Grunde ist auch das dem Bemühen um eine musikalisch umfassende Umsetzung der der dichterischen Aussage geschuldet. Dieses Gedicht Eichendorffs weist ja einen ausgeprägten Zug von Betrübtheit und Trauer auf, der sich lyrisch insbesondere in der zweiten und dritten Strophe artikuliert. Hierauf reagiert Schoeck mit einer in tiefere Lagen absteigenden und durchweg in Moll harmonisierten melodischen Linie.


    Wenn man nun noch die letzte Strophe mit ihrer sich lebhafter und in größeren Intervallen bewegenden melodischen Linie berücksichtigt, so ergibt sich hinsichtlich der Faktur des Liedes tatsächlich ein ungleich komplexeres musikalisches Bild, als dies bei Mendelssohn der Fall ist.

  • Dieses Lied kenne ich nur mit der Stimme von Gunnel Sköld (Alt) und habe keine anderen Interpretationen parat, aber der wesentliche musikalische Eindruck müsste ja rüberkommen … Also wenn drei Zigeuner zur Fidel greifen, dann erwarte ich eigentlich etwas mehr „Paprika“ und Feuer, gerade das gesungene „feurige Liedel“ kommt doch sehr gemächlich und in die Länge gezogen daher, aber wenn in der „Gebrauchsanweisung“ steht „Ruhig und etwas schleppend“, dann ist das eben so …


    Leider habe ich dieses Lied nicht in der Liszt-Vertonung und stattdessen mich mal bei Brahms umgehört, wo es in Opus 103 etwas zigeunerhafter zugeht.


    Weil im Zigeunerlied von Nikolaus Lenau die Rede vom „umglühten Abendschein“ ist, habe ich mir mal bei Brahms „Rote Abendwolken ziehn am Firmament“ angehört, da ist etwas vom oben erwähnten „Paprikafeuer“.


    Worum es mir geht:


    Wenn man ein Gedicht liest, kann man sich ganz individuell alles Mögliche dabei vorstellen. Wenn jedoch ein Text vertont ist, geht man mit einer gewissen Erwartungshaltung ans Hören und ist dann begeistert oder verwundert. Im Anfangstext wird von „müder Qual“ gesprochen, da kann man „schleppend“ schon nachvollziehen, aber beim „feurigen Liedl“?


    Ganz anders liegen die Verhältnisse bei Eichendorffs „Nachtlied“, ich finde hier die Musik besser zum Text passend, möchte dazu aber erst was sagen, wenn ich Mendelssohns Version noch einige Male gehört habe – vorerst rätsle ich noch wegen des unterschiedlichen Textumfangs der Mendelssohn-Vertonung:


    Vergangen ist der lichte Tag,
    Von ferne kommt der Glocken Schlag;
    So reist die Zeit die ganze Nacht,
    Nimmt manchen mit, der´s nicht gedacht.


    Wo ist nun hin die bunte Lust,
    Des Freundes Trost und treue Brust,
    Der Liebsten süßer Augenschein?
    Wird keiner mit mir munter sein?


    Frisch auf denn, liebe Nachtigall,
    Du Wasserfall mit hellem Schall,
    Gott loben wollen wir vereint,
    Bis daß der lichte Morgen scheint.

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  • Zit. hart:
    „Also wenn drei Zigeuner zur Fidel greifen, dann erwarte ich eigentlich etwas mehr „Paprika“ und Feuer, gerade das gesungene „feurige Liedel“ kommt doch sehr gemächlich und in die Länge gezogen daher, aber wenn in der „Gebrauchsanweisung“ steht „Ruhig und etwas schleppend“, dann ist das eben so …“


    Hierzu bitte ich zu bedenken:
    Lenaus Gedicht "Die drei Zigeuner" handelt nicht in vordergründig deskriptiver Weise von drei Zigeunern, sondern von den Gedanken über drei Zigeuner. Das lyrische Ich betrachtet diese Bilder aus der Perspektive der Erinnerung („Drei Zigeuner fand i ch“), und diese Erinnerung mündet in eine Art „Moral von der Geschicht“, die eigentlich die zentrale lyrische Aussage darstellt.


    Das heißt aber nun: Wenn der Komponist der Verführung erliegt, sich lautmalerisch allzu sehr auf die lyrischen Bilder von den drei Typen von Zigeunern einzulassen, gefährdet er die innere Einheit des lyrischen Gedichts und damit auch seine dichterische Aussage. Genau das könnte man in diesem Fall Franz Liszt vorwerfen: Er bringt tatsächlich „Paprika“ und „Feuer“ in sein Lied und entfaltet im Klavier einen großen situationsschildernden und lautmalerischen musikalischen Aufwand.


    Meine Feststellung, dass Schoeck dem lyrischen Text wesentlich näher kommt, weil er eben aus der Perspektive des lyrischen Ich heraus komponiert hat, halte ich für wohlbegründet. Über die Qualität des Liedes als beeindruckendes musikalisches Kunstwerk ist damit noch nichts gesagt. Liszts Lied entfaltet ganz ohne Frage mehr Wirkung auf den Rezipienten als das von Schoeck.


    Zit. hart:
    „…vorerst rätsle ich noch wegen des unterschiedlichen Textumfangs der Mendelssohn-Vertonung“.

    Dass Mendelssohn in seinem Lied die dritte und die vierte Strophe von Eichendorffs Gedicht „Nachtlied“ nicht berücksichtigt hat, hat seine Ursache in der zugrundliegenden liedkompositorischen Intention. Und diese wiederum hängt mit der menschlichen Grundhaltung Mendelssohns zusammen. Ich meinen Liedbesprechungen habe ich mehrfach darauf hingewiesen, dass er lyrischen Passagen, die allzu viel Trostlosigkeit. Betrübnis und Hoffungslosigkeit aufweisen, gerne ausweicht.


    Das geht bis zu einem regelrechten Eingriff in den lyrischen Text, der dessen Aussage völlig verändert. So geschehen (und besprochen) bei dem Heine-Lied „Meerfahrt“, wo er die letzte Strophe umschreibt, weil ihm das Lied sonst zu trostlos wäre:


    „Dort klang es lieb und lieber,
    Es ward uns wohl und weh; (Heine: „Und wogt es hin und her“)
    Wir schwammen leise vorüber (Heine: „schwammen vorüber“)
    Allein auf weitem See. (Heine: „Trostlos auf weitem Meer“)“

    Hier, im Falle von „Nachtlied“ störte ihn wohl das Bild von der „falschen Welt“, - genauso, wie ihn das Wort „Weib“ in der zweiten Strophe störte, so dass er es durch „Liebste“ ersetzte.
    Den Grundton von Trauer und Melancholie, der über den ersten vier Strophen von Eichendorffs Gedicht liegt und in der letzten mit einem – ein wenig gezwungen wirkenden - „Frisch auf denn!“ kompensiert wird, wollte Mendelssohn nicht in sein Lied übernehmen.


    Eichendorff hat in diesem Gedicht die Zeitlichkeit der menschlichen Existenz lyrisch thematisiert. Sie wird sinnlich greifbar im „Glockenschlag“ und gefühlt in der „eilenden Zeit“ der Nacht, die für manchen den Tod mit sich bringen kann, der innerlich gar nicht darauf eingestellt war. Mendelssohn greift diese zentrale dichterische Aussage zwar auf, will ihr aber nicht allzuviel Raum in seinem Lied geben, damit die Aussage der letzten Strophe stärker zur Geltung kommen kann. Und das gelingt ihm ja nun auch mit dem Quartsprung von „b“ nach dem hohen „es“ bei den Worten „Frisch auf“ in musikalisch eindrucksvoller Weise.

  • Ich weiß nicht, wie Othmar Schoeck selbst dieses Lied in seiner kompositorischen Qualität beurteilt hat. Für mich atmet es musikalisch in vollendeter Weise den Geist seines Lied-Kompositionsstils. Zugrunde liegt diesem Lied ein Gedicht von Eichendorff. Es steht in F-Dur, weist einen Dreivierteltakt auf und ist mit der Vortragsanweisung „Ruhig“ versehen.


    Du liebe, treue Laute,
    Wie manche Sommernacht,
    Bis daß der Morgen graute,
    Hab ich mit dir durchwacht!


    Die Täler wieder nachten,
    Kaum spielt noch Abendrot,
    Doch die sonst mit uns wachten,
    Die liegen lange tot.


    Was wollen wir nun singen
    Hier in der Einsamkeit,
    Wenn alle von uns gingen,
    Die unser Lied erfreut?


    Wir wollen dennoch singen!
    So still ist´s auf der Welt;
    Wer weiß, die Lieder dringen
    Vielleicht zum Sternenzelt.


    Wer weiß, die da gestorben,
    Sie hören droben mich
    Und öffnen leis die Pforten
    Und nehmen uns zu sich.


    Ein Blick auf die Notenblätter, und die Einfachheit der Faktur springt einem ins Auge. Die melodische Linie ist in ihrer Bewegung von einer Schlichtheit, dass selbst einer, der noch ungeübt im Vom-Blatt-Singen ist, sie wahrscheinlich ohne Mühe gesanglich realisieren kann. Die Klavierbegleitung besteht durchgängig aus einem im Bass gehaltenen Einzelton, über dem sich in Intervallen hin und her pendelnde Achtel bewegen, die die einzelnen angeschlagenen Saiten einer Laute musikalisch imitieren.


    Und trotz – oder vielleicht gerade wegen? – dieser Einfachheit in der Faktur hat man beim Hören des Liedes das Gefühl, dass der Geist des Eichendorff-Gedichts in vollendeter Weise eingefangen ist. Einsamkeit und stille Trauer durchwehen die ersten drei Strophen. Der Anblick der Laute macht dem lyrischen Ich seine Einsamkeit bewusst. Die, mit denen es die Nächte musizierend verbracht hat, sind verstorben, und das Singen-Wollen will sich nicht mehr einstellen. In der vierten Strophe klingt gleichwohl ein „Dennoch“ auf. Es gründet sich auf den Glauben, dass Musik die Pforte zu „denen da droben“ zu öffnen vermag.


    Die Melodiezeile, die auf den beider ersten Versen der ersten Strophe liegt, ist in ihrer Struktur von volksliedhafter Einfachheit: Im Wechsel von Viertel- und halben Noten bewegt sie sich in Form von kleinen Intervallen innerhalb einer Oktave. Bei dem Wort „Laute“ erreicht sie den Höhepunkt, verharrt dort einen ganzen Takt lang und steigt danach in Sekundschritten – wieder mit der gleichen Rhythmik – zum Grundton herab. Diese rhythmische und melodische Grundstruktur bleibt im wesentlichen das ganze Lied über erhalten, und man meint, dass sie der Innigkeit und der still klagenden Trauer des lyrischen Textes musikalisch vollkommenen Ausdruck verleiht.


    Bei der zweiten Strophe ist die Vokallinie ganz und gar in Moll-Harmonik eingebettet, in die sich da und dort noch zusätzlich chromatische Einfärbungen hineindrängen. Die Aussage des letzten Verses prägt die Musik: „Die liegen lange tot“. Die melodische Linie gewinnt dadurch, dass sie noch immer mit der gleichen Rhythmik wie bei den ersten beiden Versen auf einer Tonebene verbleibt, eine große Eindringlichkeit.


    Danach kehrt sie zu der melodischen Grundfigur der ersten Strophe zurück, nun aber mit der leisen Tristesse der Moll-Harmonisierung. Etwas mehr Bewegung kommt in die Vokallinie bei der vierten Strophe. Der Wechsel von Viertel- und halben Noten wird da und dort durch reine Viertel ersetzt, und es kommt bei den Worten „wenn alle“ („von uns gingen“) sogar zu einem Oktavsprung, der wie ein unerwartet heftiger Ausbruch von Klage wirkt.


    „Kräftiger“ lautet die Anweisung über der vierten Strophe. Das Tongeschlecht wechselt zu Dur hinüber, die Tonart wandelt sich zu Des, und die Vokallinie bewegt sich in größeren Intervallen: Das „Dennoch-Singen“ wird musikalisch zum Ausdruck gebracht. Auf dem Wort „dennoch“ sitzt klanglich strahlend ein hohes „ges“. Aber bei „so still ist´s auf der Welt“ zieht sich die melodische Linie schon wieder in sich zurück.


    Eindrucksvoll wird das „wer weiß“ musikalisch zum Ausdruck gebracht: Mit einem Sextsprung, der die Vokallinie in große Höhe emporhebt, auf der sie wie zögerlich den ganzen Vers über verharrt.


    Auf den beiden letzten Versen liegt die erste Melodiezeile des Liedes. Anfang und Ende greifen ineinander über und verbinden sich. Die Laute, auf die dort noch ein stummer Blick fiel, darf jetzt wiedererklingen, - zu der alten Melodie.

  • Ich weiß nicht, wie Othmar Schoeck selbst dieses Lied in seiner kompositorischen Qualität beurteilt hat.

    Aber wenn man so über seine Lieder-CDs schaut, ist zu bemerken, dass dieses Lied zumindest eine weite Verbreitung gefunden hat.
    Denn wenn Sänger oder Sängerinnen auf einer CD Lieder verschiedener Komponisten darbieten, dann ist häufig „Nachruf“ mit dabei. Sogar Karl Erb (der übrigens einige Male, unter der Stabführung Schoecks, Werke von Mahler und Schubert sang) hat es aufgenommen. Auch der Schweizer Tenor Ernst Haefliger, der mitunter bei Liederabenden von Schoeck begleitet wurde, singt dieses Lied auf einer CD mit verschiedenen Komponisten (siehe Bildbeispiel) man darf annehmen, dass diese Interpreten, bezüglich der Vortragsweise, Informationen aus erster Hand besaßen. Das Gleiche gilt selbstverständlich auch für Dietrich Fischer-Dieskau.


    Von allen Schoeck-Liedern, die ich kenne, ist mir dieses relativ frühe Werk (entstanden 1910, uraufgeführt 1914) das Liebste.


    Aber natürlich kann man bei dieser Liedbetrachtung nicht auf den Hinweis verzichten, dass der gleiche Text in genialer Weise auch von Hugo Wolf vertont wurde. Dietrich Fischer-Dieskau beurteilt dies wie folgt:


    >Er übertrifft alle anderen Vertonungen einschließlich der bekannten von Othmar Schoeck bei weitem< und weiter heißt es: >Hinter dem „wir wollen dennoch singen“ steht ein gerütteltes Maß an Willen zur Beständigkeit. Ein frühes Meisterwerk!<


    Unsereiner hat nicht diesen brillanten Sachverstand und kann nur staunend zuhören. Ich empfinde Schoecks Vertönung „eingängiger“, aber beide Kompositionen sind wunderbar und es wundert, dass man diese Stücke auch als eifriger Konzertgänger noch nie im Konzertsaal hören konnte …

  • Wenn hart bekennt:
    „Von allen Schoeck-Liedern, die ich kenne, ist mir dieses relativ frühe Werk (entstanden 1910, uraufgeführt 1914) das Liebste.“
    …so kann ich das gut versehen und nachempfinden. Zwar gibt es noch eine ganz Reihe klanglich unmittelbar beeindruckender Lieder von Schoeck - „Dämmrung senkte sich von oben“ zum Beispiel, oder „Ravenna“ - , aber keines besticht so sehr durch die volksliedhafte Schlichtheit seiner Melodik, wie das bei „Nachruf“ der Fall ist.


    Das Gedicht Eichendorffs wurde, worauf hart schon hingewiesen hat, auch von Hugo Wolf vertont (Nachgelassene Lieder, Nr.24). Ohne mich auf einen Vergleich der beiden Kompositionen einlassen zu wollen, würde ich generalisierend sagen:


    Beide sind gültige und den lyrischen Text in seiner Aussage musikalisch voll erfassende Lieder. Aber sie zeigen den Unterschied des liedkompositorischen Grundverständnisses auf eindrucksvolle Weise. Und das ist erstaunlich! War doch Schoeck ein großer Verehrer des Liedkomponisten Hugo Wolf.


    Und worin besteht dieser Unterschied?


    Hugo Wolf drückt die Aussage des lyrischen Textes weitaus stärker mit den Mitteln der Harmonik aus, als Schoeck das tut. Lautenklänge gibt es bei ihm auch, aber sie sind arpeggierend und in ihrer Struktur hochkomplex. Schon das Vorspiel lässt in seiner harmonischen Komplexität hören, dass der Komponist die Harmonik als der melodischen Linie gleichwertiges und diese unterstützendes und sie interpretierendes Mittel einsetzen wird. Und wenn man hört, wie dies bei der in verminderte Harmonik fallenden Linie des Verses „Die liegen lange tot“ geschieht, dann weiß man spätestens jetzt, dass in diesem Lied der lyrische Text in seiner genuinen Aussage aus der Perspektive des lyrischen Ichs musikalisch ausgeleuchtet und interpretiert wird.


    Genau dieses tut Schoecks Lied nicht. Es bringt den lyrischen Text – in bester Schubertscher Manier – ganz einfach als solchen rein melodisch zum Erklingen. Auch hier durchläuft die melodische Linie eine tonartlich differenzierte Harmonik, - einschließlich der Einbeziehung des anderen Tongeschlechts (b-Moll zum Beispiel bei „Was wollen wir nun singen…“) Aber das geschieht behutsam und orientiert sich an der Aussage der lyrischen Strophen. Das Lied ist ganz bewusst auf konsequent schlichte – und damit nach Auffassung des Komponisten Eichendorff-gemäße – Melodik und Harmonik angelegt.

  • Lieber Helmut,


    ich hatte Dir ja bereits mitgeteilt, daß mich Deine Bemühungen, uns die Schoeck-Lieder schmackhaft zu machen, in Neugierde versetzt haben. Der Winter kommt, und damit Zeit, sich auch einmal Schoeck-Lieder zu hören - eindeutig Dein Verdienst!!!


    Welche Aufnahme könntest Du mir empfehlen (natürlich sollte eine Einstiegs-CD nicht den finanziellen Rahmen sprengen)? Es sollten natürlich auch Lieder dabei sein, welche Du hier besprochen hast!!


    Viele Grüße von La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Lieber La Roche,


    das ist aber nun mal eine Ankündigung, über die man sich von Herzen freuen kann. Wenn Dich meine Liedbesprechungen hier neugierig auf Othmar Schoeck gemacht haben, dann habe ich doch wenigstens einen(!) Beweis dafür, dass das einen Sinn hat, was ich hier tue.


    Mit den Liedaufnahmen in Sachen Othmar Schoeck ist es, wie ich ja eingangs schrieb, ein wenig schwierig. Es gibt nämlich kaum welche auf dem regulären Markt. Dort findest Du die Aufnahme von Gunnel Sköld (Jan Bülow, Klavier). Aber empfehlen kann ich die Dir nicht. Wohl aber kann ich das - und dies uneingeschränkt! - bei der Aufnahme mit Fischer-Dieskau. Sie erschien als Band 13 im Rahmen der sog. "Fischer-Dieskau-Edition" bei der DG. Der Titel lautet einfach "Schoeck-Lieder", und die Begleiter Fischer-Dieskaus sind Margrit Weber und Karl Engel.


    Diese Aufnahme ist zwar nicht mehr auf dem regulären Markt zu kriegen, aber Amazon bietet sie gebraucht ab 24.60 Euro, wie ich eben sehe. Aus meiner Sicht ist das das Beste, was ich Dir raten kann. Die Aufnahme bietet einen guten Querschnitt durch Schoecks Liedschaffen, und die Interpretation ist höchste Klasse.


    Hoffentlich bist Du nicht enttäuscht. Man muss sich in Schoecks Lieder erst einmal ein wenig einhören, um mit seiner Liedsprache vertraut zu werden. Lohnen tut sich das aber - nach meiner festen Überzeugung - allemal!

  • Die von hart zitierte Äußerung von D. Fischer-Dieskau, das Lied „Nachruf“ und die beiden Vertonungen durch Wolf und Schoeck betreffend, hat mir natürlich keine Ruhe gelassen. Sie lautet:
    (Wolfs Lied „Nachruf“) „übertrifft alle anderen Vertonungen einschließlich der bekannten von Othmar Schoeck bei weitem (…) Hinter dem >wir wollen dennoch singen< steht ein gerütteltes Maß an Willen zur Beständigkeit. Ein frühes Meisterwerk!“.
    Sie findet sich in Fischer-Dieskaus Werk „Hugo Wolf, Leben und Werk“ auf Seite 107. Als ich heute nachschlug, fand ich an dieser Stelle ein mit grünem Filzstift angebrachtes großes Fragezeichen.


    Man könnte es sich jetzt leicht machen und das mit der beliebten und gerne benutzten Formel „Reine Ansichtssache“ abtun. Aber Fischer-Dieskau hat das ja so formuliert, als handele es sich dabei um einen objektiven Sachverhalt. Und da muss man sich schon fragen:
    Ist da was dran? Trifft das zu?


    Unbestreitbar ist, dass es sich bei Wolfs Komposition um „ein frühes Meisterwerk“ handelt. Den Vergleich, den Fischer-Dieskau mit Schoecks Vertonung zieht, halte ich jedoch für sachlich nicht berechtigt. Und das aus dem ganz einfachen Grund, der schon aus meinem diesbezüglich vorangehenden Beitrag ersichtlich ist:
    Beiden Liedern liegt ein sehr wesensverschiedenes kompositorisches Konzept zugrunde, das auf einer unterschiedlichen Leseweise des Eichendorff-Gedichts ruht.


    Man könnte diesen Unterschied in der „Leseweise“, der unterschiedlichen Rezeption des lyrischen Textes also, auf die Formel bringen:
    Hugo Wolf liest in diesem Gedicht Resignation und versteht das „Dennoch“ darin als Sich-Aufbäumen dagegen wider besseres Wissen.
    Othmar Schoeck glaubt hingegen an die tiefe Sinnhaftigkeit dieses „Dennoch“, weil er die letzte Strophe wörtlich und damit ernst nimmt: Dass die da droben den Sänger hören und ihn – und damit uns – zu sich nehmen.
    Da lesen zwei Komponisten ihren Eichendorff auf sehr verschiedene Weise.


    Ich möchte nach wie vor kleine vergleichende Liedanalyse machen, weil ich an das allgemeine Interesse daran nicht mehr so recht zu glauben vermag. Aber wenigstens auf ein kleines Detail möchte ich mich doch einlassen: Den Liedanfang nämlich. Er sagt alles über das unterschiedliche Verständnis von Eichendorffs Gedicht.


    Wie spricht man musikalisch seine „liebe Laute an“, wenn man darauf vertraut, dass die Lieder mit ihr nicht nur vielleicht, sondern tatsächlich „zum Sternenzelt“ führen?


    Man tut es wie Othmar Schoeck: In Form einer einfachen, in ihrer Terzenseligkeit schlichten melodischen Linie, die auf das Wort „liebe“ einen ersten Höhepunkt setzt und danach ihn bei dem Wort „Laute“ noch übertrifft. Man ist sich ganz sicher, wenn man das hört: So spricht man jemanden an, der einem wirklich „lieb“ ist.


    Wie spricht man diese „liebe Laute“ aber an, wenn man die dritte Strophe von Eichendorffs Gedicht im Hinterkopf hat, - dieses „Was wollen wir nun singen / Hier in der Einsamkeit, / Wenn alle von uns gingen, / Die unser Lied erfreut?“?


    Man tut es wie Hugo Wolf: In Form einer aus hoher Lage fallenden melodischen Linie, die noch dazu einer harmonischen Modulation unterworfen wird, die sie in ihrer klanglichen Wärme gleichsam abkühlt. Die Laute wird hier nicht liebevoll angesprochen, sie wird mit einer Klage überzogen, die dem „Blick zurück“ entspringt, wie ihn die erste Strophe artikuliert, und der an das „Dennoch“ der vierten Strophe nicht so recht zu glauben vermag.


    Wenn man bei Hugo Wolf dieser Stelle, dem ersten Vers der vierten Strophe also, aufmerksam lauscht, dann vernimmt man zwar einen energischen, ganz und gar in Dur harmonisierten Ton in der melodischen Linie, aber schon im nächsten Vers bricht der zusammen. Das „So still ist´s auf der Welt“ wird wie in einer Art harmonischem Bruch mit einer in hohe Lage aufsteigenden melodischen Linie deklamiert. Und das zögerliche, nämlich in kleinen melodischen Schritten vollzogene „Wer weiß…“, das dann zu Beginn der letzten Strophe nachfolgt, spricht eine eindeutige musikalische Sprache hinsichtlich des Verständnisses des lyrischen Textes durch den Komponisten.


    Er nimmt diese Worte so, wie sie da stehen: „Wer weiß?...Wirklicher Glaube an die lyrische Aussage der letzten Strophe dieses Gedichts artikuliert sich musikalisch anders. So wie bei Othmar Schoeck nämlich.


    Und jetzt weiß ich, warum ich bei der ersten Lektüre dieser Stelle in Fischer-Dieskaus Buch vor einigen Jahren meinen grünen Filzstift gezückt habe. Auch große Meister haben nicht immer recht!

  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Eichendorff steht in B-Dur, weist einen Vierviertelakt auf und ist mit der Vortragsanweisung „Ruhige Bewegung“ versehen. Und die Ruhe der stillen Betrachtung, die von den lyrischen Bildern der Strophen ausgeht, ist von diesem Lied in eindrucksvoller Weise eingefangen. Auch die Eichendorffsche Sehnsucht, dieses konjunktivische „Könnt ich…“ hat Schoeck in meisterhafter Weise in Musik gesetzt. Eines seiner melodisch schönsten Lieder ist dabei herausgekommen.


    Lustge Vögel in dem Wald,
    Singt so lang es grün,
    Ach! wer weiß, wie bald wie bald
    Alles muß verblühn!


    Sah ich´s doch vom Berge einst
    Glänzen überall,
    Wußte kaum, warum du weinst,
    Fromme Nachtigall.


    Und kaum ging ich über Land,
    Frisch durch Lust und Not
    Wandelt´ alles, und ich stand
    Müd im Abendrot.


    Und die Lüfte wehen kalt
    Übers falbe Grün,
    Vöglein, euer Abschied hallt –
    Könnt ich mit euch ziehn!


    Im zweitaktigen Vorspiel kling eine musikalische Figur auf, die das ganze Lied klanglich prägt und bis zu seinem Ende die Vokallinie begleitet, wobei hochinteressant ist, wie sie variiert wird, indem sie auf die Aussagen des lyrischen Textes reagiert. Diese Figur besteht aus einer Aufwärtsbewegung von Achteln aus dem Bass in den Diskant, die erst in eine Quinte und danach in eine Quarte mündet, wobei eine Rhythmisierung dadurch eintritt, dass die Quinte punktiert ist. Ein starker lyrisch-klanglicher Reiz geht davon aus.


    Dieser Reiz wird dadurch verstärkt, dass die Vokallinie anfänglich – und später noch mehrfach – die gleiche Bewegung vollzieht. Beim ersten Vers macht sie zunächst bei dem Wort „Vögel“ einen Sextsprung und bewegt sich danach in silbengetreuer Deklamation langsam über eine ganz Oktave nach unten. Beim dritten Vers der ersten Strophe wiederholt sich diese Bewegung, so dass der Eindruck schlichter melodischer Volksliedhaftigkeit entsteht.


    Es handelt sich hier aber nicht um ein Strophenlied. Obgleich die Grundstruktur der melodischen Linie in den einzelnen Strophen ähnlich ist, nämlich in der beim ersten Vers beschriebenen Weise bogenförmig angelegt, ist das Lied durchkomponiert, weil sich die lyrischen Aussagen der einzelnen Strophen sowohl in der Bewegung der melodischen Linie als auch im Klaviersatz niederschlagen. So bewegt sich die Vokallinie bei der zweiten Strophe, die ja einen wehmütigen Rückblick lyrisch artikuliert, anfänglich in bogenförmiger Weise abwärts und die Begleitfigur ist jetzt in Moll harmonisiert. Beim Bild von der Nachtigall taucht jedoch die melodische Linie des Anfangsverses der ersten Strophe wieder auf.


    In der dritten Strophe wird diese nun leicht variiert und mit einer harmonischen Rückung versehen. Bei dem Wort „frisch“ („durch Lust und Not“) macht die Vokallinie einen Sprung über mehr als eine Oktave und fällt danach sofort wieder um eine Sexte ab, - forte gesungen. Ganz kurz bringt das tatsächlich einen Anflug von klanglicher Frische in das Lied. Aber schon bei dem Wort „Not“ folgt eine lange Dehnung mit einem melodischen Abfall um eine kleine Sekunde. Bei den letzten beiden Versen der dritten Strophe erklingt wieder die melodische Figur des Liedanfangs, - nun aber im Moll harmonisiert. Sie erfüllt eine die innere klangliche Einheit stiftende, quasi leitmotivische Funktion.


    Wunderbar ist die letzte Strophe kompositorisch gestaltet. Mit dem befremdlichen Bild von den übers „falbe Grün kalt wehenden Lüften“ setzt sie ein. „Leise“ heißt die Anweisung für deren Vortrag. Die melodische Linie wirkt hier wie eine zerbrochene Form von der des Liedanfangs. Nur noch die Aufwärtsbewegung ist da, nicht aber mehr die Fortführung. Und so erklingt es auch im Klavier: Auch hier bleibt die Aufwärtsbewegung der das ganze Liede begleitenden Klangfigur einfach stecken.


    Die beiden letzten Verse erklingen in einer melodischen Linie, die zwar die Bewegung jener des Liedanfangs nachzuvollziehen versucht, es aber nicht mehr zu schaffen scheint, sich zu deren Höhe aufzuschwingen. Nur noch die halbe Bewegung gelingt ihr. Dann fällt sie langsam ab zum tiefsten Ton des ganzen Liedes.


    Der aus tiefster Seele kommende Ausdruck der Sehnsucht, jenes „Könnt ich mit euch ziehn“, - er ist unerfüllbar.

  • Lieber Helmut,


    seit Jahren steht bei mir in der Sammlung die CD-Box "Das holde Bescheiden" mit D. Fischer-Dieskau und M. Shirai. Näher eingehend beschäftigt habe ich mich damit aber bislang nicht! Das werde ich gerne nachholen und freue mich darauf, Deine Besprechungen zu studieren, wenn ich in den nächsten Wochen endlich die nötige Zeit und Muße finde! Das werde ich aber bestimmt nicht verpassen - versprochen! :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ach du liebe Zeit!


    Mit leichtem Erschrecken lese ich Deinen Beitrag, lieber Holger. Ich wollte eigentlich hier langsam zu Ende kommen. Hab heute schon den "Rückblick" zu formulieren begonnen. Auf die großen Liederzyklen mich wirklich einzulassen, wage ich nicht. Das ist eine Lebensaufgabe! Jedes dieser Werke erforderte eigentlich einen eigenen Thread.


    Und das betrifft auch den Liederzyklus "Das holde Bescheiden" op.62. Meiner lieben Frau gewidmet. Lieder und Gesänge nach Gedichten von Eduard Mörike für eine Singstimme und Klavier". Er entstand in den Jahren 1947-1950, ist also eine Art Spätwerk von Othmar Schoeck. Das sind insgesamt 40 (vierzig!) Lieder. Wie soll man das in Form von einzelnen Liedbetrachtungen bewältigen? Ich könnte eigentlich meine Tage hier im Forum mit diesem Othmar-Schoeck-Thread beschließen. Möchte ich aber nicht!


    Interessant aber:
    Während ich am "Rückblick" (mit noch einigen schon fertigen Beiträgen in der Hinterhand) formulierte und gerade einmal eine Pause machen musste, weil ich nicht weiterkam, hörte ich in den Liederzyklus "Das stille Leuchten" auf Gedichte von C.F. Meyer rein. Und nun meine ich plötzlich, dass ich den nicht einfach so übergehen könne. Ähnlich ging mir das schon bei "Unter Sternen" (Gottfried Keller), Bei "Lebendig begraben" und bei der "Elegie" op.36 auf Gedichte von Eichendorff und Lenau.


    So sehr ich die Lieder von Othmar Schoeck liebe! Aber langsam wächst mir das hier über den Kopf und droht mir zur Last zu werden. Schoeck hat über vierhundert Lieder komponiert, darunter eine Reihe von bedeutenden Zyklen. Wenn man daraus in diesem Thread eine Verpflichtung für sich selbst herleitet - und ich bin ziemlich nahe daran - droht das in mühselige Arbeit auszuarten. Hinter jeder Liedbesprechung steckt ja ein aufwendiger Prozess von Analyse, Deskription und sprachlicher Artikulation. Irgendwann kann einem das zuviel werden.

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  • Mit den Liedaufnahmen in Sachen Othmar Schoeck ist es, wie ich ja eingangs schrieb, ein wenig schwierig. Es gibt nämlich kaum welche auf dem regulären Markt. Dort findest Du die Aufnahme von Gunnel Sköld (Jan Bülow, Klavier). Aber empfehlen kann ich die Dir nicht. Wohl aber kann ich das - und dies uneingeschränkt! - bei der Aufnahme mit Fischer-Dieskau. Sie erschien als Band 13 im Rahmen der sog. "Fischer-Dieskau-Edition" bei der DG. Der Titel lautet einfach "Schoeck-Lieder", und die Begleiter Fischer-Dieskaus sind Margrit Weber und Karl Engel.

    Genau so ist es!


    Aber ich möchte noch auf neun Schoeck-Aufnahmen mit der Sopranistin Elisabeth Grümmer (1911-1986) und dem begleitenden Pianisten Aribert Reimann hinweisen, die am 24. Mai 1968 entstanden sind.


    In den 1960er Jahren sang Elisabeth Grümmer an allen bedeutenden Opernhäusern der Welt und war ab 1965 Professorin an der Musikhochschule Berlin.


    Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass auf der hier im Bild gezeigten CD außer den Liedern von Othmar Schoeck, auch Lieder von Felix Mendelssohn und Hugo Wolf angeboten werden, sowie der Zyklus Frauenliebe und- Leben op. 42 von Robert Schumann.


    Schoeck-Lieder:

    Lieder nach Texten von Joseph von Eichendorff


    Erinnerung op.10/1
    Die Einsame op. 10/2
    Auf meines Kindes Tod op. 20/8
    Nachruf op. 20/14
    Ergebung op. 30/6
    Motto op.51/2


    Lieder nach Texten von Eduard Mörike


    Auf der Teck op. 62/6
    Im Park op. 62/8
    Nachts op. 62/19


  • Das Lied „Nachruf“ wurde hier als eines der schönsten und beeindruckendsten Lieder von Othmar Schoeck eingestuft. In meiner Besprechung des Liedes „Nachklang“ findet sich hier nun die Feststellung: Eines seiner melodisch schönsten Lieder ist dabei herausgekommen.


    Und das ist zutreffend. Dieses Lied ist auch eines, das man unter die musikalisch schönen, weil in der Grundstruktur seiner melodischen Linie einfachen und die Sprachmelodie Eichendorffs in vollkommener Weise aufgreifenden Lieder Schoecks einstufen kann. Freilich unterscheidet es sich von „Nachruf“ durch einen deutlich komplexeren Klaviersatz.


    Der raubt dem Lied aber nicht seine klangliche Schönheit. Im Gegenteil! Der Reiz dieses Liedes besteht geradezu in der klanglich höchst subtilen Interaktion zwischen melodisch einfach strukturierter Singstimme und ihrer klanglichen Umspielung durch das Klavier, das gleichsam die Aussage der einzelnen lyrischen Bilder musikalisch reflektiert und in harmonisch in die Vokallinie einfließen lässt, dabei seinerseits aber auch eine gewisse klanglich-strukturelle Identität wahrt.


    Auf diese Weise gewinnt die melodische Linie, obgleich ihre Grundstruktur im wesentlichen erhalten bleibt, in jeder Strophe eine neue Expressivität. Bis sie dann am Ende doch ein wenig an Kraft zum Aufschwung verliert und auf ihren Tiefpunkt absinken muss. Die Aussage des lyrischen Textes will es so.

  • Lieber Helmut,


    es tut mir leid, daß ich Dich beunruhigt habe mit meinem spontanen Einwurf! Ich kann Dich gut verstehen - ich bin auch jemand, der sich lieber wenig vornimmt und dafür gründlich. Hauptsache ist doch, man findet einen Zugang und Motivation sich weiter einzuhören. Den Vergleich von Liedvertonungen finde ich jedenfalls sehr spannend und lehrreich - man bekommt eine Ahnung davon, was es heißt, einen Text in Musik umzusetzen und lernt ganz anders zu hören. Auf jeden Fall - mach weiter so! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Das muss Dir nicht leid tun, lieber Holger. Ich habe mich ja über Deine Reaktion auf meine Beschäftigung mit den Liedern Schoecks hier sehr gefreut. Sie hatte prompt zur Folge, dass ich meinen Ausstieg aus diesem Thread noch ein wenig verschiebe und wenigstens aspekthaft auf einige der großen Liederzyklen einzugehen versuche.


    Es geht ja wirklich nicht an, dass man bei einem Thread über Othmar Schoeck mit keinem Wort auf seine großen "Liederfolgen" eingeht. Aber allein der Blick darauf macht - wegen der riesigen Zahl von Liedern, umd die es dabei geht - ein wenig mutlos. Es war dumm von mir, diesen meinen Empfindungen spontan und unkontrolliert freien Lauf zu lassen.


    Auch von mir schöne Grüße
    Helmut

  • Zugrunde liegt diesem Lied ein Gedicht von Eichendorff, das bei diesem den Titel „Reiselied“ trägt. Schoecks Komposition weist einen Zweihalbe-Takt auf und sie ist mit der Tempoanweisung „Gemächlich, aber bestimmt“ versehen. Tatsächlich bewegt sich die melodische Linie zu ruhig und gemessen voran, als dass sie einem Wanderschritt gemäß wäre. Auf der anderen Seite ist dieses Lied von einem energischen Grundrhythmus geprägt.


    So ruhig geh ich meinen Pfad,
    So still ist mir zu Mut;
    Es dünkt mir jeder Weg gerad
    Und jedes Wetter gut.


    Wohin mein Weg mich führen mag,
    Der Himmel ist mein Dach,
    Die Sonne kommt mit jedem Tag,
    Die Sterne halten Wach.


    Und komm ich spät und komm ich früh
    Ans Ziel, das mir gestellt:
    Verlieren kann ich mich doch nie,
    O Gott, aus Deiner Welt!


    Der Eindruck eines „gemächlichen“, aber zugleich bestimmten Sich-voran-Bewegens kommt ganz wesentlich durch den Klaviersatz zustande. Gleich im ersten Takt des insgesamt viertaktigen Vorspiels kling eine musikalische Figur auf, die das ganze Lied prägt, weil sie – mit einigen Unterbrechungen – bis zum Ende durchgehalten wird: Über einer Sextole im Klavierbass bewegen sich Viertel- und Achtelterzen, die in eine Aufeinanderfolge von einer Terz und einer Sexte im Wert einer jeweils halben Note münden. Hurtigkeit und gemächliche Ruhe wechseln einander an und bilden damit das klanglich-rhythmische Fundament des Liedes.


    Die Bewegung der melodischen Linie ist hingegen durchweg sehr gemessen. Auf den Worten „So ruhig“ liegen ein Sextsprung und ein Terzfall in Form von Viertelnoten. Danach aber geht es für den Rest des ersten Verses mit halben Noten weiter, Und in gleicher Weise, nämlich betont ruhig, bewegt sich die melodische Linie auch beim zweiten Vers. Erst beim dritten und vierten wird die Bewegung der Vokallinie ein wenig lebhafter. Jetzt dominieren Viertelnoten und es werden größere Intervalle genommen. Aber der rhythmische Grundcharakter ruhiger Bestimmtheit in der Bewegung bleibt erhalten.


    Die zweite Strophe weist eine zwar nicht mit der der ersten identische, jedoch in der Grundstruktur ähnliche melodische Linie auf: Wieder dieses Nebeneinander von Ruhe und Bewegung. Bei dem Vers „Die Sterne halten Wach“ legt die Vokallinie große Schritte auf und ab innerhalb einer Oktave in Form von halben Noten zurück. Das „Wach-Halten“ bekommt auf diese Weise großes musikalisches Gewicht.


    Ganz typisch für den klanglichen Charakter dieses Liedes ist die Art, wie die letzte Strophe kompositorisch gestaltet ist. Wieder zunächst eine kurzschrittige Deklamation des ersten Verses in Form von aufeinanderfolgenden Vierteln und Achteln. Danach aber das ruhige Dahinschreiten der melodischen Linie bei der zentralen Aussage des lyrischen Textes: „Verlieren kann ich mich doch nie“. Sie wird, eben deshalb, weil der Komponist ihr das angemessene Gewicht geben wollte, noch einmal wiederholt.


    Bei „O Gott“ macht die Vokallinie einen Quintsprung zum höchsten Ton des Liedes, hält diesen mehr als einen ganzen Takt lang und steigt danach – wieder gemessenen Schrittes – bei den Worten „aus deiner Welt“ über eine ganz Oktave auf den Grundton herab. Im Klavier erklingt derweilen diese melodische Grundfigur über einer Sextole, die schon im ersten Takt zu hören war und das ganze Lied klanglich-rhythmisch prägt. Das ungewöhnlich lange Nachspiel wirkt, als würde diese Figur langsam zerfallen. „Immer leiser“ lautet die Anweisung hier.

  • Das ist ein Lied, das ans Herz geht. Schon Eichendorffs Gedicht tut das. Es ist der lyrische Ausdruck größten seelischen Schmerzes, ausgelöst durch den Tod der jüngsten Tochter Anna (geb. 1830, gest. 1832).Eichendorff verfasste daraufhin einen Zyklus von 10 Gedichten, um diese schreckliche Erfahrung bewältigen zu können. Dieses hier ist das achte daraus.


    Die Erschütterung, die der Tod des zweijährigen Mädchens für Eichendorff mit sich brachte, hat sich auf die ganze nachfolgende Lyrik ausgewirkt. In die lyrischen Naturbilder dringt jetzt das Weinen ein: „Als ich zum ersten Male / Wieder durch den Garten ging, ( …) Tränen in dem Grase hingen.“


    Von fern die Uhren schlagen,
    Es ist schon tiefe Nacht,
    Die Lampe brennt so düster,
    Dein Bettlein ist gemacht.


    Die Winde nur noch gehen
    Wehklagend um das Haus,
    Wir sitzen einsam drinne
    Und lauschen oft hinaus.


    Es ist, als müßtest leise
    Du klopfen an die Tür,
    Du hättst dich nur verirret,
    Und kämst nun müd zurück.


    Wir armen, armen Toren!
    Wir irren ja im Graus
    Des Dunkels noch verloren –
    Du fandst dich längst nach Haus.


    Das Lied steht in cis-Moll, weist einen Dreivierteltakt auf und ist mit „Langsam“ überschrieben. Die melodische Linie der Singstimme, die ohne Klaviervorspiel einsetzt, wirkt schon beim ersten Vers so, als wolle sie sich mühsam auf einer Tonhöhe halten, schaffe das aber nicht und falle deshalb in sich zusammen.


    Drei Silben werden auf einem Ton gesungen, danach geht es mit einem Sekundschritt über eine Quinte hinab in die Tiefe. Und diese Fallbewegung in tiefe Lagen wiederholt sich in der ersten Strophe Vers für Vers, - als habe die Vokallinie nicht die Kraft, sich auf einer Höhe zu halten. Dieser Eindruck von unendlicher Müdigkeit und Trauer wird durch die Moll-Harmonisierung noch intensiviert.


    Beim ersten Vers der zweiten Strophe steigt die Vokallinie erstmals mit einem Dezimensprung in höhere Lage auf. Aber dort verbleibt sie nicht. Schon beim zweiten Vers (Wehklagend um das Haus“) steigt sie in müdem Sekundschritt wieder herab. Pianissimo wird das „Wir sitzen einsam drinne“ auf nur einer Tonhöhe (mit der Abweichung von einer Sekunde) deklamiert.


    Noch eindringlicher klingt die Vokallinie bei der Melodiezeile, die auf den ersten beiden Versen der dritten Strophe liegt: „Es ist, als müßtest du leise…“. Sie verbleibt in silbengetreuer Deklamation durchweg fünf Takte lang auf einem Ton. Im Klavier erklingen derweilen jeweils einen Takt lang gehaltene Akkorde. Und bei dem Wort „Tür“ schreibt Schoeck ein ins Vierfache gesteigertes Piano vor. Danach entfalten sich kaum mehr Bewegung in der melodischen Linie: Sie erhebt sich um eine kleine Sekunde von dem eben gerade so lange gehaltenen Ton, um danach gleich wieder in tiefe Lagen abzusinken. Nur bei dem Wort „müd“ erfolgt noch einmal ein Sprung von einer kleinen Quarte.


    Mit einem melodischen Klageruf setzt die Vokallinie beim ersten Vers der letzten Strophe ein: Mit einem Quintsprung steigt sie zum höchsten Ton des ganzen Liedes auf, um danach gleich wieder diese Fallbewegung in kleinen Schritten zu vollziehen, die das ganze Lied klanglich prägt und beherrscht. Lange verharrt sie bei dem Wort „Graus“. Bei dem Wort „Dunkels“ macht sie einen Quartfall in tiefe Lage.


    Beim letzten Vers steigt die Vokallinie in kleinen Schritten zum tiefsten Ton herab und endet danach nicht auf dem Grundton, sondern auf der Terz. Das wirkt, vor allem weil das Klavier diesen letzten Ton mit einer zunächst fallenden, dann aber in einen Dur-Akkord mündenden Akkordfolge umspielt, als komme ganz am Ende ein ins Offene mündender Hoffnungsschimmer in dieses so tieftraurige, ja trostlose Lied.

  • Es ist dieses Bild der dritten Strophe, es sind diese schrecklichen Konjunktive des „Es ist als…“, „Du hätt´st…“, „Du kämst…“ , die einen an Rückerts Kindertotenlieder denken lassen, das vierte Lied von Mahlers Zyklus, nämlich: „Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen“.


    Es ist sachlich unangebracht, hier Vergleiche anzustellen. Dazu sind die liedkompositorischen Konzepte und Intentionen zu verschieden. Und doch! Die Frage drängt sich auf, - ob man will oder nicht:
    Wo, in diesen beiden Liedern, ist das menschliche Leid, um das es hier geht, in musikalisch eindrucksvollerer und kompositorisch gelungenerer Weise zum Ausdruck gebracht worden?


    Ich scheue mich nicht, diese Frage mit den Namen Eichendorff und Othmar Schoeck zu beantworten. Und das aus einem, wie ich meine einfachen und plausiblen Grund:
    Menschliches Leid von dieser Größe und solchem Schrecknis hat etwas elementar Einfaches und Direktes an sich: Es trifft direkt und ganz und gar unverblümt ins Herz.


    Diesen musikalisch elementarenTon, dieses Direkte und Unvermittelte vernimmt man in der unendlich müden und immer wieder erneut fallenden melodischen Linie des Liedes von Othmar Schoeck. Sie hat in ihrer strukturellen Einfachheit etwas erschreckend Lapidares.
    Es ist adäquater musikalischer Ausdruck des Schreckens, der Eichendorff beim Verlust seines kleinen Kindes getroffen hat

  • Eichendorffs Gedichte haben den Liedkomponisten Schoeck fast sein ganzes Leben lang begleitet. Es hat ganz den Anschein, als ob es zwischen ihm und dem Dichter so etwas wie eine tiefreichende menschliche und künstlerische Korrespondenz geben haben muss. Immerhin bescheinigte ihm Hermann Hesse in einer von ihm betreuten Ausgabe von Gedichten und Novellen Eichendorffs:
    „Von den heutigen Musikern hat keiner so schöne Eichendorfflieder komponiert wie der Schweizer Othmar Schoeck.“


    Man kann mit guten Gründen feststellen, dass Schoeck zu den ganz großen Eichendorff-Lied-Komponisten gehört. Dies nicht nur wegen der schieren Zahl der vertonten Gedichte, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass für den spezifischen Ton der lyrischen Sprache Eichendorffs ein musikalisch adäquates Pendant gefunden hat.


    Die ersten Vertonungen von Eichendorff-Gedichten entstanden 1907: Drei Lieder auf Texte von Eichendorff op.10; die letzte Gruppe von drei Liedern für Singstimme und Klavier, die zwischen 1931 und 1935 komponiert wurden, erschien im Rahmen des Opus 51. Insgesamt hat Schoeck 32 Lieder für Singstimme und Klavier auf Gedichte von Eichendorff komponiert. Den Schwerpunkt bildet dabei das 1921 bei Breitkopf und Härtel veröffentlichte Opus 30 mit 12 Liedern.


    Darüber hinaus widmete er sich der Lyrik Eichendorffs auch in Werken für Singstimme und Instrumentengruppe, Kammerorchester und großes Orchester, so dass er insgesamt auf die bemerkenswerte Zahl von 53 Eichendorff-Vertonungen kommt:


    „Wandersprüche“, op.42: Liederfolge nach Gedichten von Eichendorff für Tenor- oder Sopranstimme und Klavier mit Klarinette, Horn und Schlagzeug (komponiert 1928);
    „Elegie“, op.36: Liederfolge nach Gedichten von Lenau und Eichendorff für eine Singstimme und Kammerorchester (komponiert 1922/23);
    „Befreite Sehnsucht“, op.66: Liederfolge für hohe Singstimme und Orchester nach vier Sonetten von Eichendorff (komponiert 1952).


    Überdies gibt es von Schoeck eine veritable Eichendorff-Oper:
    „Das Schloß Dürande“, Oper in vier Akten nach der Novelle von Eichendorff, op. 53. Sie wurde in den Jahren 1937 bis 39 komponiert und fand ihre Uraufführung am 1. April 1943 an der Berliner Staatsoper.


    Mit den Jahren änderte sich der kompositorische Blick auf die Lyrik Eichendorffs sehr deutlich. Die Spanne reicht von der frohgemut heiteren Wander-Thematik à la „Taugenichts“ über religiöse Themen bis hin zu dem von tiefer subjektiver Betroffenheit geprägten Umkreisen der Themen Sehnsucht, Heimatlosigkeit und Vergänglichkeit.


    Typisch für das erste Stadium der kompositorischen Begegnung mit der Lyrik Eichendorffs ist etwa das Lied „Reiselied“, op.12, Nr.1.

    Durch Feld und Buchenhallen
    Bald singend, bald fröhlich still,
    Recht lustig sei vor allen,
    Wer´s Reisen wählen will.


    Wenn´s kaum im Osten glühte,
    Die Welt noch still und weit:
    Da weht recht durchs Gemüte
    Die schöne Blütenzeit!


    Die Lerch´ als Morgenbote
    Sich in die Lüfte schwingt,
    Eine frische Reisenote
    Durch Wald und Herz erklingt.


    Oh Lust, vom Berg zu schauen
    Weit über Wald und Strom,
    Hoch über sich den blauen
    Tiefklaren Himmelsdom!


    Vom Berge Vöglein fliegen
    Und Wolken so geschwind,
    Gedanken überfliegen
    Die Vögel und den Wind.


    Die Wolken ziehn hernieder,
    Das Vöglein senkt sich gleich,
    Gedanken gehen und Lieder
    Fort bis ins Himmelreich.


    Dieses Lied nimmt die Verse „Recht lustig sei vor allen, // Wer´s Reisen wählen will“ wörtlich. Es ist ein schwungvoll heiteres Lied im Volksliedton mit einer vorwiegend diatonisch sich entfaltenden melodischen Linie. Die fast schmetternd wirkenden Akkorde, mit denen es eingeleitet wird, setzen von vornherein eben diesen musikalischen Akzent des Frohsinns und behalten ihn bei, da sie zwischen den Strophen immer wieder aufklingen.


    Dabei handelt es sich keineswegs um ein Strophenlied. Jede Strophe weist eine die jeweiligen lyrische Aussage reflektierende Faktur auf. Hier schleichen sich da und dort Moll-Klänge in die melodische Linie. Aber sie wirken wie episodisch. Die aus dem hurtigen Viervierteltakt erwachsende klangliche und rhythmische Frische des Liedes wird nie ernsthaft gestört.


    Ähnlich ungebrochen hell ist das kompositorische Eichendorff-Bild auch etwa in dem Lied „In der Fremde“ , dem vierten aus Schoecks Opus 15.:


    „Da fahr ich still im Wagen,
    Du bist so weit von mir,
    Wohin er mich mag tragen,
    Ich bleibe doch bei dir. (…)


    Das wird einem besonders dann bewusst, wenn man es auf dem Hintergrund der Vertonung dieses Eichendorff-Gedichts durch Hugo Wolf hört. In dieser klingt immerhin die Tatsache des In-der Fremde-Seins noch durch, und zwar insbesondere im weit gespannten Tonraum der melodischen Linie und in der Unruhe ihrer Bewegung durch die Tonarten. Immerhin heißt es ja an einer Stelle: „Ich bin so froh verweinet“.


    Schoeck lässt sich aber in seiner Vertonung ganz und gar von den durchweg positiven lyrischen Bildern leiten: „Da fliegen Wälder, Klüfte // und schöne Täler tief“ und „Die Sonne lustig scheinet, // Weit über das Revier“. Sein Lied scheint ganz und gar inspiriert zu sein von dem Schlussvers: „Mein´ Seel ist mir so munter…“. Zwar ist die melodische Figur, mit der das Lied einsetzt und die es in variierter Form durchweg prägt, zunächst in Moll harmonisiert, am Ende der Strophe erklingt sie in hellem Dur. Das Klavier begleitet durchweg mit überaus lebhaften und die Singstimme auf reizvolle Weise umspielenden Arpeggien.


    Das ist – ganz ohne Frage – eine großartige Eichendorff-Vertonung. Der Grad ihrer kompositorischen Reflektiertheit lässt sich u.a. daran ablesen, dass der heitere Fluss der melodischen Linie keineswegs über das „froh verweinet“ hinweggeht. Dieser Vers wird wiederholt, und hierbei tritt ein Ritardando in eben diesen melodischen Fluss, und eine Pause folgt, bevor es zur letzten Strophe übergeht, die mit dem Vers eingeleitet wird: „Vom Berge geht´s hinunter…“.


    Das „Grüß dich aus Herzensgrund“, das bei Hugo Wolf in emphatischer Weise melodisch hervorgehoben wird, ist hier ganz und gar in die Grundstruktur eingebunden, die die Bewegung der melodischen Linie in allen Strophen prägt. Es nimmt keine musikalische Sonderstellung ein, sondern wirkt – wie alle Aussagen dieses Liedes – aus einer Grundhaltung heraus musikalisch artikuliert.


    Und das ist eine beschwingt heitere. Es ist die des der Welt positiv und bejahend zugewandten Eichendorff.

  • Das im ersten Teil dargestellte kompositorische Eichendorff-Bild – eben das des jungen Othmar Schoeck – ist nur die eine Seite seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit der Lyrik – und überhaupt dem dichterischen Werk – Eichendorffs. Die andere klingt spätestens in seinem Opus 30 auf, das insgesamt zwölf Lieder auf Eichendorff-Texte umfasst.


    Hier dominieren die dunklen Töne und die sich langsam bis schwer bewegenden und immer wieder trist-chromatisch eingefärbten oder in Moll versinkenden Bewegungen der melodischen Linie. Allerdings gibt es darin auch einen ausgeprägt religiösen Ton, wie er in dem hier besprochenen Lied aufklingt: „Verlieren kann ich mich doch nie // O Gott aus deiner Welt!“ Das ist ein lyrischer Ton, der die Eichendorff-Lyrik wie ein roter Faden durchzieht, aber hier , in Schoecks Liedern des Opus 30, wirkt er wie die musikalische Beschwörung einer Haltung, die nicht wirklich mehr nachvollzogen werden kann.


    Durchaus repräsentativ hierfür ist das erste Lied dieses Zyklus:
    Waldeinsamkeit, op.30, Nr.1


    Waldeinsamkeit!
    Du grünes Revier,
    Wie liegt so weit
    Die Welt von hier!
    Schlaf nur, wie bald
    Kommt der Abend schön,
    Durch den stillen Wald
    Die Quellen gehen,
    Die Mutter Gottes wacht,
    Mit ihrem Sternenkleid
    Bedeckt sie dich sacht
    In der Waldeinsamkeit,
    Gute Nacht, gute Nacht!


    Klanglich ist dieses Lied geprägt von der melodischen Figur, die auf dem lyrischen Schlüsselwort „Waldeinsamkeit“ liegt. Sie erklingt gleich am Anfang und besteht aus dem ruhigen Herbsteigen der Vokallinie in vier, auf den Silben des Wortes ansetzenden Schritten über eine ganze Oktave. Das Klavier begleitet diese Bewegung mit ebenfalls ruhigen Moll-Akkorden. Das ganze Lied über bilden sie den Rahmen und die Grundlage für die Bewegung der melodischen Linie.


    Die Dominanz dieser melodischen Figur ist unaufdringlich, aber immer zu vernehmen. So gleich bei den ersten drei Versen, wenn die melodische Linie in ähnlich gearteter Fallbewegung sich im gleichen Tonraum bewegt und immer wieder zum Ausgangston zurückkehrt. Erst mit dem Wort „hier“ am Ende des vierten Verses verlässt sie diesen tonalen Raum.


    Ein wehmütiger Ton wohnt diesem Lied inne. Die melodische Linie scheint wie um sich selbst zu kreisen, und das in ruhigen Schritten, durchweg in Moll gebettet und immer wieder zu dem Ort zurückkehrend, von dem sie ausging. Bei den Worten „Kommt der Abend schön“ meint man erstmals leise Anklänge von Lieblichkeit zu vernehmen.


    Wenn das Bild von der „Mutter Gottes“ auftaucht, kommt Lebhaftigkeit in die melodische Linie. Sie bewegt sich in markanten Schritten auf und ab, und es wird hörbar, dass etwas Bedeutsames musikalisch zum Ausdruck gebracht werden soll. Bei dem Wort „sacht“ macht die Vokallinie eine sanfte Bewegung nach oben, um der lyrischen Aussage musikalischen Nachdruck zu verleihen.


    Und dann ist es wieder da, - das Wort „Waldeinsamkeit“, mitsamt der ihm eigenen melodischen Figur. Sie ist so suggestiv mächtig, dass auch die Worte „Gute Nacht“ von ihr ergriffen werden.


    Und weil sie ihre klangliche Magie wie im Rückgriff über das ganze Lied legen und es auf diese Weise klanglich zu sich selbst bringen will, erklingt sie am Ende wieder, - und das zwei Mal: „Waldeinsamkeit“.


    Zu Eichendorffs Opus 30 sei noch angemerkt:
    Die Biographen sind nicht einheitlicher Meinung in bezug auf die Frage, wie der doch durchaus düstere Ton, der über und in den Liedern liegt, hinsichtlich seiner Genese zu beurteilen sei. Hans Corrodi, der mit Schoeck eng befreundet war und ihn sehr gut kannte, sieht in diesem Ton den Niederschlag der realen und geistigen Situation des Weltkriegs-Jahres 1918 und der damit verbundenen seelischen und geistigen Krise Schoecks.


    Der Biograph Chris Walton, der sich ganz bewusst von dem Schoeck-Bild Corrodis distanzieren will, meint hingegen:


    „Doch die melancholische Stimmung der Lieder deutet nicht so sehr auf eine Sympathiekundgebung für die >weite Welt< hin, eher auf deren Verweigerung. Es scheint, als ob die Trauer nicht den Sterbenden und Toten gelten sollte – denen im Schlamm von Flandern oder denen im überquellenden Zürcher Krematorium - , sondern ihm selbst, ans Haus gefesselt mit einem verstauchten Fuß, verurteilt zu zeitweiligem, erzwungenem Zölibat und illusionslos ahnend, daß die gegenwärtige politische Lage in Österreich Pläne für eine Einstudierung des >Don Ranudo< zu Fall bringen dürfte.“


    Diese Beurteilung der Eichendorff-Vertonungen von op.30 scheint mir sehr oberflächlich zu sein und der Sache nicht gerecht zu werden. Wenn man ein Lied wie „Sterbeglocken“ hört, ist man sich diesbezüglich ganz sicher:


    „Nun legen sich die Wogen,
    Und die Gewitter schwül
    Sind all hinabgezogen,
    Mir wird das Herz so kühl.“ (…)


    In langsamen, überaus müde wirkenden Schritten bewegt sich die melodische Linie aus tiefer Lage und einer harmonischen Einbettung in Moll-Klänge in immer wieder neuen Anläufen nach oben, erreicht nur auf die Dauer einer Silbe eine höhere Lage und eine Du-Harmonisierung, um danach sofort wieder langsam nach unten abzusinken.
    Zwar hellt sich das Klangbild bei den beiden folgenden Strophen ein wenig auf. Die lyrischen Bilder bewirken es:
    „Wie schön die Gipfel funkeln
    Und Glocken hör´ ich weit.
    So hell noch niemals klangen
    Sie übern Waldessaum – (…)
    Aber selbst wenn sich die melodische Linie hier in höherer Tonlage bewegt und die Anteil an Dur-Harmonien im Klaviersatz ansteigt, - sie behält den schweren Schritt ihrer Bewegung bei und allemal drängen sich chromatische Einfärbungen und Disharmonien in das Klangbild.


    Eine solche Komposition, die von tiefer Betroffenheit durch den lyrischen Text zeugt, in der spezifischen Rezeption von Eichendorffs Lyrik kausal auf einen „verstauchten Fuß“ und einen „erzwungenen Zölibat“ zurückzuführen, darf wohl mit guten Gründen als Unsinn eingestuft werden.

  • Am Beispiel Eichendorff wird ein Wesenszug des Liedkomponisten Schoeck sinnfällig. Er ist auch bei den anderen lyrischen Dichtern zu beobachten, aus deren Gedichten er Lieder gemacht hat: Es handelt sich in allen Fällen um das Resultat eines Prozesses langwieriger und intensiver personaler und kompositorischer Auseinandersetzung mit einem lyrischen Werk.


    Schoeck ist keiner von jenen Liedkomponisten – Franz Liszt kommt mir eben in den Sinn - , die ein Gedicht, auf das sie eben mal gerade gestoßen sind, in einer Art genialischer, augenblicksgenerierter musikalischer Inspiration in ein – durchaus großartiges! - Lied zu verwandeln vermögen. Schoeck ist ein mit dem jeweiligen lyrischen Werk lebender und damit auch sich abmühender Liedkomponist. Wahrscheinlich ist das der Grund, dass er sich nur auf große Lyriker-Namen der Vergangenheit eingelassen hat, - mit Ausnahme von Hermann Hesse.


    In einem Gespräch mit Willi Schuh stellte dieser ihm einmal die Frage:
    „Du hast kürzlich beiläufig erwähnt, ein Stoff müsse, damit er Musik in Dir wachrufen könne, eine gewisse >Patina< besitzen. Soll das so verstanden werden, daß Du in den Schächten der Vergangenheit schürfen mußt, um zu finden, was Dir die Zunge löst?“


    Schoeck antwortete darauf:
    „Soviel ist schon richtig: zeitgenössische Dichter – Hermann Hesse, der ja mehr zu den >Alten< gehört, ausgenommen – haben mich nie im gleichen Maße zu Musik zu stimmen vermocht, wie dies Goethe, Claudius, Eichendorff, Mörike, Lenau und die großen Schweizer Lyriker des vergangenen Jahrhunderts, Gottfried Keller, Heinrich Leuthold und Conrad Ferdinand Meyer immer wieder imstande sind. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß es einer langen Vertrautheit mit den Dichtern bedarf, bis man ihren Kern erfaßt.“


    Dieser letzte Satz scheint mir ein für Schoecks Verhältnis zur lyrischen Dichtung als Grundlage seiner Liedkomposition eine überaus erhellende Aussage zu sein. Er muss mit dem lyrischen Werk leben, um es in Musik setzen zu können.
    Vielleicht ist das auch eine Erklärung dafür, warum er zu den großen Figuren des deutschen Klavierliedes zu rechnen ist. Er gehört zu all jenen, die deutsche Lyrik musikalisch „in ihrem Kern“ erfasst haben. Seine Eichendorff-Lieder lassen dies in besonders ausgeprägter Form vernehmen.

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