Schubert und Goethe. Wie große Lyrik zu großer Liedkunst wurde

  • Wie „Ganymed“ und „Prometheus“ stellt auch dieses Gedicht eine Herausforderung an den Komponisten dar. Dies nicht nur wegen der Struktur der lyrischen Sprache, sondern auch wegen seines Gehalts. Gedankenlyrik, philosophische Poesie gleichsam, - was hat den Melodiker Schubert hier angezogen?


    Es war wohl nicht nur die Tatsache, dass Goethe dieses Gedicht in der Ausgabe seiner Werke als eine Art lyrischen Kontrapunkt hinter die beiden anderen freien Hymnen der Sturm und Drang-Zeit gesetzt hat. Schubert musste sich auch von der Thematik des Gedichts angesprochen gefühlt haben. Anders ist die hohe musikalische Expressivität des Liedes nicht zu erklären.


    Schuberts auf klangliche Größe hin angelegte Lieder wie „Ganymed“, „Prometheus“, „Grenzen der Menschheit“, „An Schwager Kronos“ haben oft große Aufmerksamkeit erregt, weil man darin gleichsam zukunftsweisende musikalische Strukturen zu entdecken meinte. So kommentiert ein Schubert-Kenner etwa „“Grenzen der Menschheit“ mit den Worten: „Vorahnung dessen, was man später unendliche Melodie genannt hat. Im Verein mit der orchestral gefärbten Begleitung wird ein Eindruck erzielt, der Wagnersche Wirkungen vorwegnimmt.“ (zit. nach W. Vetter, Der Klassiker Schubert).


    Thr. Georgiades merkt hierzu in seinem Schubert-Buch an, - und dies zu Recht:
    „Aber Schubert – wie jeder Große – ist am größten, nicht wenn er über sich selbst >hinausweist<, sich gleichsam verleugnet, sondern wenn er er selbst bleibt. Nur dann hat sein Werk das Merkmal des Wirklichen, des Verbindlichen. Wo er mehr will, geling ihm weniger.“ (S.206)

  • Über meines Liebchens Äugeln
    Stehn verwundert alle Leute,
    Ich, der Wissende, dagegen
    Weiß recht gut, was das bedeutet.


    Denn es heiß: Ich liebe diesen,
    Und nicht etwa den und jenen,
    Lasset nur, ihr guten Leute,
    Euer Wundern, euer Sehnen.


    Ja, mit ungeheuren Mächten
    Blicket sie wohl in die Runde;
    Doch sie sucht nur zu verkünden
    Ihm die nächste süße Stunde.


    Das Gedicht ist Bestandteil des „Westöstlichen Divan“, „Buch der Liebe“. Es entstand am 31. August 1814. Ein schelmischer Grundton macht seinen Reiz aus. Überdies auch noch eine gewollte Einfachheit in der lyrisch-sprachlichen Diktion und im Reim: Nur der zweite und der vierte Vers der drei Strophen können reimmäßig zueinander finden.


    Der sprachlichen Einfachheit und Metaphorik, wie sie sich etwa in dem Bild von „des Liebchens Äugeln“ ausdrückt, steht allerdings die Raffinesse der inneren Korrespondenzen gegenüber. Die „Leute“ des zweiten Verses der ersten Strophe werden im dritten Vers der zweiten noch einmal angesprochen. Der „Verwunderung“ derselben steht der „Wissende“ gegenüber, der im Unterschied zu den „Leuten“ den Blick der „Äugeln“ sehr wohl zu deuten weiß. Er kann sie deshalb in einer Art innerer Überlegenheit und Herablassung mit „ihr guten Leute“ ansprechen.


    Die feine Heiterkeit dieses Gedichts klingt ganz besonders in der dritten Strophe auf. Es ist vor allem die Verbindung des Blicks von des „Liebchens Äugeln“ mit dem großen Wort von den „ungeheuren Mächten“, die dem Leser ein Lächeln zu entlocken vermag. Vor allem deshalb auch, weil dieser so überaus bedeutungsschwere Blick sich am Ende in seiner schlicht sinnlichen Banalität enthüllt: Es geht um die nächste „süße Stunde“.

  • Das Lied entstand im März 1821. Es steht in As-Dur, weist einen Zweivierteltakt auf und ist mit der Anweisung “Etwas geschwind, zart“ versehen. Der Klaviersatz besteht nahezu durchgehend aus einer einzigen klanglich-rhythmischen Figur: Ein Viertel und ein Achtel in akkordischer Form gebunden und nachfolgend eine Achtelpause. Satztechnisch verblüffend einfach ist das, weil in gar keiner Weise modifiziert, - höchstens in der Form, dass die Bass und Diskant übergreifenden Akkorde drei- bis maximal sechsstimmig sein können. Faszinierend ist die klangliche Wirkung, die von diesem so einfachen Klaviersatz ausgeht: Es ist die eines leichtfüßig rhythmisierten Trägers der melodischen Linie der Singstimme, der in eben dieser klanglichen Eigenschaft gleichsam auf diese abfärbt und ihr einen tänzerisch schwebenden Charakter verleiht. Den sie, abgelöst von ihm, an sich gar nicht hat.


    Die drei Strophen sind nach dem Schema A-B-A liedkompositorisch umgesetzt, - mit einer kleinen Einschränkung: Bei der dritten Strophe unterscheidet sich der zweite Takt in der Führung der melodischen Linie von dem im der ersten. Ansonsten besteht – bis auf das Nachspiel natürlich – Identität. Der Reiz des Liedes liegt in der Art und Weise, wie die melodische Linie der Singstimme bei all ihrer klanglichen Eingängigkeit und scheinbaren strukturellen Einfachheit den lyrischen Text in seiner sprachlichen Gestalt und seiner Semantik in überaus treffender Weise wiedergibt, - und doch zugleich in interpretierender Weise markante Akzente setzt. Das geht von der Hervorhebung einzelnen lyrischer Worte bis hin zur Akzentuierung der Aussage eines Verses durch musikalisch modifizierte Wiederholung.


    Das lyrisch verspielte Wort „Äugeln“ wird auf einer in Terz und Quart fallenden melodischen Linie deklamiert, was man wie eine Steigerung dieser lyrischen Verspieltheit empfindet. Bei dem Wort „verwundert“ gipfelt der melodische Bogen, der auf dem zweiten Vers der ersten (und dritten) Strophe liegt, auf. Klanglich bestechend ist, wie der dritte Vers in Musik gesetzt ist. Auf dem Wort „ich“ liegt ein Sekundschritt, und dann folgt eine Pause. Das lyrische Ich wird auf diese Weise in seiner Eigenschaft als „Wissender“ viel stärker hervorgehoben, als dies im lyrischen Text möglich ist.


    Und hierzu gehört, wie eine Art Fortsetzung der musikalischen Interpretation, dass auf dem Wort „dagegen“ eine ungewöhnlich lange und mit einem Oktavfall versehene melodische Dehnung gelegt wird. Als reichte das nicht, folgt sogar noch eine eintaktige Pause in der Vokallinie nach. Das „wissende“ lyrische Ich wird so in einer Weise von den „Leuten“ abgesetzt und abgehoben, wie das der lyrische Text nicht tut, - und tun kann. Gleichwohl liegt die ganz in der Intention der dichterischen Aussage.


    Der letzte Vers der ersten (und dritten) Strophe wird wiederholt. Auch hier kann man die Kunst bestaunen, wie Schubert dabei liedkompositorisch verfährt. Zunächst wohnt der melodischen Linie eine Art lapidarer Ton inne, - mit einer Aufgipfelung auf dem Wort „gut“, um dieses zu akzentuieren. Bei der Wiederholung aber wird das hohe „es“ an dieser Stelle mit einer langen Dehnung versehen und in die melodische Linie bei dem Wort „bedeute“ ein für dieses Lied ungewöhnlich großes Melisma eingefügt. Auch hier interpretiert Schubert also musikalisch, indem er die lyrische Aussage an einer bestimmten Stelle akzentuiert. Aber er tut dies auf eine Weise, dass der Hörer des Liedes denkt: Ja, hier spricht der Dichter; das wollte er sagen!


    Auch in der zweiten Strophe ist diese so bewundernswerte Nähe Schuberts zum lyrischen Text Goethes zu vernehmen und zu beobachten. Das lakonische „etwa“, das die beiden ersten Verse lyrisch beherrscht, schlägt sich in zwei Melodiezeilen nieder, bei denen die Singstimme zunächst auf einem Ton deklamiert, dann mit einem Mal einen überraschenden Sprung macht und danach mit gleichsam lapidaren Quartschritten nach unten geht. Auch das „lasset nur“ schlägt sich in seinem lyrischen Ton auf vollkommene Weise melodisch nieder: Nun in Gestalt eines zweimaligen Sextfalls, der nachfolgenden Deklamation auf einem Ton und einer Dehnung mit Oktavfall bei dem Wort „Sehnen“ am Ende.


    Das ist im Vergleich zu seinen drei hymnischen Vorgängern zwar nur ein kleines „Liedchen“, aber es ist eines von Schubert. Und deshalb hat es eine kompositorische Größe, die im unmittelbaren Reflex der lyrischen Sprache im Raum der Musik wurzelt.

  • War es so etwas wie Entspannung und Erholung in der Hingabe an Melodieseligkeit, was den so sehr von dramatischer Emphase und rezitativischem Gestus geprägten Liedern „Ganymed“, „Prometheus“ und „Grenzen der Menschheit“ bei Schubert folgte, - die „Suleika-Lieder“ und eben dieses „Geheimnis“?


    Als Hörer empfindet man dies jedenfalls so. Dieses Lied wirkt wie eine kleine, kostbar schimmernde Perle, und dieser Schimmer wurzelt in dem überaus reizvollen Spiel, das Schubert mit den ihrerseits mit Andeutungen kokettierenden Versen Goethes treibt. Und dem liedanalytischen Blick bietet es zudem das Bild einer geradezu perfekten Verwandlung von lyrischer Sprache in musikalische. Kann man die Worte „Stehn verwundert alle Leute“ großartiger in eine melodische Linie umsetzen und diese dann zudem noch in den Worten „Weiß recht gut, was das bedeute“ sich auf gleichsam verschmitzte Weise spiegeln lassen?

  • Durch Feld und Wald zu schweifen,
    Mein Liedchen wegzupfeifen,
    So gehts von Ort zu Ort!
    Und nach dem Takte reget,
    Und nach dem Maß beweget
    Sich alles an mir fort.


    Ich kann sie kaum erwarten,
    Die erste Blum im Garten,
    Die erste Blüt am Baum.
    Sie grüßen meine Lieder,
    Und kommt der Winter wieder,
    Sing ich noch jenen Traum.


    Ich sing ihn in der Weite,
    Auf Eises Läng und Breite,
    Da blüht der Winter schön.
    Auch diese Blüte schwindet,
    Und neue Freude findet
    Sich auf bebauten Höhn.


    Denn wie ich bei der Linde
    Das junge Völkchen finde,
    Sogleich erreg ich sie.
    Der stumpfe Bursche bläht sich,
    Das steife Mädchen dreht sich
    Nach meiner Melodie.


    Ihr gebt den Sohlen Flügel
    Und treibt durch Tal und Hügel
    Den Liebling weit von Haus.
    Ihr lieben holden Musen,
    Wann ruh ich ihr am Busen
    Auch endlich wieder aus?


    Das Gedicht ist um 1774 entstanden. Man kann es als einen lyrischen Niederschlag des Selbstverständnisses Goethes als Dichter lesen, in das durchaus Einflüsse seiner Beschäftigung mit Spinoza eingegangen sind. Denn in „Dichtung und Wahrheit“ (Vierter Teil, sechzehntes Buch) werden die ersten drei Verse des Gedichts zitiert, und unter Bezugnahme auf Spinoza wird dieses Zitat eingeleitet mit den Worten:
    „Ich war dazu gelangt das mir innewohnende dichterische Talent ganz als Natur zu betrachten, um so mehr als ich darauf angewiesen war, die äußere Natur als den Gegenstand desselben anzusehen. Die Ausübung dieser Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden; aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwillkürlich, ja wider Willen hervor.“


    Man möchte diesen „Musensohn“ als regelrechte Verkörperung dieses Verständnisses der dichterischen – und überhaupt künstlerischen – Betätigung lesen, wie Goethe sie hier zu Papier gebracht hat. Dieser Sänger und Musiker tritt ja als ganz und gar naturverbunden auf: Nicht nur, dass er „durch Feld und Wald schweift“, seine Lieder speisen sich auch aus der Natur. Er besingt die Jahreszeiten in ihren naturhaften Erscheinungsformen, und das, was er künstlerisch hervorbringt, ist für ihn ein „Begrüßen“ des Frühlings in seiner Blütenpracht, aber auch des Winters in dessen eigenen Formen von „Eisesblüten“.


    Darüber hinaus hat seine künstlerische Betätigung aber auch eine wichtige gesellschaftliche Funktion. So wie ihm selbst, seinen „Sohlen“, die „holden Musen“ Flügel verleihen, so vermag er das „junge Völkchen“ zum Tanze zu erregen, - also dazu, seinen Alltag gleichsam spielerisch zu überhöhen und ihm damit zusätzlichen Sinn zu verleihen. Lyrisch-sprachlich überaus gelungen dieses lautliche Wortspiel: Der „stumpfe Bursche“ „bläht“ sich ein wenig grobschlächtig. Das „steife Mädchen“ hingegen „dreht“ sich. Das breite „ä“ ist durch ein lautlich schlankeres „e“ ersetzt.


    Wie überhaupt dieses Gedicht überaus kunstvoll gebaut ist. Die einzelnen Verse fließen im Rhythmus dreihebiger Jamben nur so dahin. Aber dieses Fließen ist kein form- und gestaltloses. In den einzelnen Strophen weist es gleichsam Ruhepunkte auf, die durch die Reime gesetzt werden. Paarreime und umarmende Reime machen die Gestalt der Strophen aus. Das reimmäßig gleichsam Raffinierte ist dabei, dass die umarmenden Reime klanglich stumpf angelegt sind, während die übrigen klingend enden. Man empfindet dies wie eine lyrisch-sprachliche Konkretisierung dessen, was dieser „Musensohn“ so betreibt: Musik machen, in deren Rhythmik und Klanglichkeit man „sich dreht“.

  • Dieses Lied entstand im Dezember 1822, und es ist eines von jenen wenigen Liedkompositionen, in denen Schubert eine von jeglicher klanglichen Trübung unberührte und tänzerisch heitere Musik sich entfalten lässt. Gleichwohl weist es im Vergleich zur Vertonung durch Zelter und Reichardt in seiner Faktur einen deutlich höheren Grad an Komplexität auf. Man sieht es schon daran, dass Schubert nicht die einfache Strophenlied-Form wählt, sondern die modifizierte des Wechselstrophen-Liedes: Erste, dritte und fünfte Strophe sind in ihrer Faktur identisch, die zweite und vierte sind es ebenfalls, weichen aber in der Tonart, der Akzentuierung der Rhythmik und der Struktur der melodischen Linie von jenen anderen Strophen ab.


    Mit „Ziemlich lebhaft“ ist das Lied überschrieben. Und es steht in einem Sechsachteltakt, der dieses nicht nur möglich macht, sondern zudem dieser Lebhaftigkeit auch noch einen tänzerischen Schwung verleiht. Man vernimmt ihn vom ersten Takt des Vorspiels an. Der Rhythmus, der hier angeschlagen wird, beherrscht das Lied bis zu seinem letzten Takt und wird nur vorübergehend – eben in jener zweiten und vierten Strophe – in seiner markanten Akzentuierung vorübergehend ein wenig zurückgenommen und gedämpft. Musikalisch generiert wird er durch das Viertel im Bass, dem tänzerisch zwei Achtel gleichsam aufsitzen. Und als sei dieser überaus rasanten, gleichsam davonstürmenden Walzer-Rhythmik nicht genug, werden unablässig noch zusätzliche dynamische Akzente gesetzt, - in Gestalt eines schroffen Forte-Pianos.


    Man empfindet das so, als würde die melodische Linie der Singstimme von diesem Klaviersatz nicht nur klanglich umschlungen, weil er nämlich permanent zwischen hohem und tiefen Lagen hin und her vagabundiert; man kann sich auch des Eindrucks nicht erwehren, er treibe die Singstimme unablässig vor sich her, dränge sie in ihrer Bewegung voran, so dass sie sich die Ruhe der zweiten und der vierten Strophe regelrecht ertrotzen muss. Auch das macht die Genialität dieser Komposition aus: Dass Melodik und Klaviersatz in einem dialogischen Verhältnis stehen, auf das der lyrische Text in seiner genuinen Aussage maßgeblichen Einfluss nimmt. Ein typisches Schubertlied eben!


    Auf eine detaillierte Beschreibung der Faktur soll verzichtet werden. Nur auf einige spezifische, seinen Charakter prägende Strukturelemente soll hingewiesen werden. So besticht zum Beispiel die melodische Linie der Singstimme durch den volksliedhaften Geist, der sie beflügelt. Die beiden Melodiezeilen, aus denen sich die erste (und somit auch die dritte und fünfte) Strophe zusammensetzt, sind zwar in ihrem Aufbau verschieden, ähneln einander aber in ihrer Grundstruktur: In der syllabisch exakten Deklamation, der Art der Bewegung der Singstimme und darin, dass die Vokallinie jeweils auf der Terz einsetzt und auf dem Grundton endet.


    Zur inneren Beschwingtheit der melodischen Linie trägt nicht nur der Einfluss bei, der von der Rhythmik des Klaviersatzes auf sie ausgeht, auch die Akzente der variablen Dynamik leisten einen maßgeblichen Beitrag. Und schließlich gibt es da noch dieses – fast schon kompositorisch raffiniert anmutende – retardierende Moment bei dem Wort „beweget“, das seinerseits der Melodik das ihr eigene Leben einhaucht. Es erschient einem fast zwingend, dass Schubert beim dritten Vers und beim letzten Verspaar zum kompositorischen Mittel der Wiederholung greift. Die Beschwingtheit dieser Melodik muss sich ausleben können.


    Bei den Strophen zwei und vier ist sowohl in die Bewegung der Vokallinie, wie auch in den Klaviersatz eine gewisse Ruhe eingekehrt. Zwar ist letzterer immer noch rhythmisch von dem Wechsel von Vierteln und Achteln geprägt, aber die Doppel-Achtel-Akkorde verbleiben jetzt auf einer tonalen Ebene und beschreiben keine Steig- und Fallbewegungen mehr, wie das in der ersten Strophe der Fall ist. Auch die melodische Linie der Singstimme bewegt sich jetzt vorwiegend in mittlerer Lage und meidet größere Intervalle. Zudem weist sie mehr Dehnungen in Gestalt von punktierten Vierteln auf (bei „erwarten“, „Garten“, „Baum“), so dass sich der Eindruck ruhiger, besinnlicher Entfaltung der Melodik einstellt.


    Gegen Ende kommt freilich wieder der alte Schwung in sie. Beim dritten Vers beschreibt sie ein Melisma (Bei „grüßen meine Lieder“), und bei der Wiederholung des letzten Verses gipfelt sie wieder in der beschwingten Weise auf, wie man das von der ersten Strophe her kennt. Hingewiesen sein noch auf das Ritardando, das Schubert in der letzten Strophe bei dem Wort „Busen“ in die Bewegung der melodischen Linie der Singstimme bringt. Es lässt wieder einmal seine kompositorische Nähe zur Semantik des lyrischen Textes auf eine beindruckende Weise erkennen.


    (Zu diesem Lied liegt oben unter Ziffer 40 ein Beitrag von zweiterbass vor)

  • Dass Schubert von der sich durch die Gestalt des Gedichtes eigentlich anbietenden Form des reinen Strophenliedes abwich und jenen komplexeren Aufbau des Liedes wählte, zeigt wieder, wie sehr seine Liedkomposition von der für ihn so typischen Orientierung sowohl an der sprachlichen Gestalt des lyrischen Textes, wie auch an seiner Semantik und dem Gehalt der lyrischen Bilder geprägt ist. Die zweite und die vierte Strophe bringen in das Gedicht die Dimension der Reflexion des lyrischen Ichs auf das Wesen seiner Tätigkeit als Sänger und Musiker ein.


    Damit ist der Kern des Selbstverständnisses des Musikers Schubert angesprochen, der, neben dem Motiv des Wanderers, den anderen Pol des Goethe-Gedichts darstellt. Und beide Pole verlangen ihren je eigenen musikalischen Ton. Eben darin unterscheidet sich der Liedkomponist Schubert vom Liedkomponisten Zelter: Er gibt der lyrischen Sprache musikalisch das, was sie von ihrem dichterischen Gehalt her verlangt.


    Bei der Vertonung von Carl Friedrich Zelter handelt es sich um ein reines Strophenlied. Es steht in F-Dur und weist einen Zweivierteltakt auf. Die Strophe ist zweigliedrig angelegt. Je drei Verse bilden eine melodische Einheit. Die beiden ersten Verse weisen die gleiche melodische Struktur auf, und die Vokallinie, die sich anschließt, mündet in ein „c“ in mittlerer Lage, die Quart also, die nach einer Weiterführung der melodischen Linie verlangt. Nach einer Achtelpause geht es dann in munterem Auf und Ab von Achteln weiter, und am Ende steigt die Vokallinie zum Grundton in hoher Lage auf. Das Klavier begleitet die erste Dreiergruppe mit einfachen Akkorden, die zweite hingegen mit einem klanglich lebhaft wirkenden Wechsel von Sechzehnteln in Gestalt von Einzeltönen und Terzen.


    Die Vertonung von Zelter stellt das dar, was dieser Name im Grunde beinhaltet: Dem lyrischen Text wird eine singbare Melodie unterlegt, die auf einen rein begleitenden und relativ einfach angelegt Klaviersatz stützen kann. In der munteren Bewegung der Vokallinie fängt das Lied durchaus den lyrischen Geist des Gedichtes ein. Das tut es aber in einer gleichsam plakativen Weise. Es erfolgt kein Sich-Einlassen auf die lyrisch-sprachliche Binnenstruktur und die Aussage der lyrischen Bilder, wie man dies bei Schubert vernehmen und erkennen kann.

  • So hab ich wirklich dich verloren?
    Bist du, o Schöne, mir entflohn?
    Noch klingt in den gewohnten Ohren
    Ein jedes Wort, ein jeder Ton.


    So wie des Wandrers Blick am Morgen
    Vergebens in die Lüfte dringt,
    Wenn in dem blauen Raum verborgen
    Hoch über ihm die Lerche singt:


    So dringet ängstlich hin und wieder
    Durch Feld und Busch und Wald mein Blick;
    Dich rufen alle meine Lieder;
    O komm, Geliebte, mir zurück!


    Das Gedicht ist nicht genau zu datieren. Vermutlich entstand es um 1775 herum. Man hat es auch schon einmal als dichterischen Reflex der Beendigung von Goethes Beziehung zu Charlotte von Stein gelesen. Dann könnte es freilich nicht vor 1788/89 entstanden sein. Ohnehin gibt es keinen zwingenden Grund, einen solchen Bezug herzustellen, war es doch Goethe selbst, der die Trennung wollte


    Wie dem nun auch sei, ob es denn ein poetischer Nachklang dieser Liebe ist, oder auch nicht, - es ist eine dichterisch großartige, weil in schlichter Sprache und klaren Bildern erfolgende lyrische Evokation der Situation des Verlassen-Seins von jenem Menschen, der zum das eigene Sein ganz und gar ausfüllenden Inhalt des eigenen Lebens wurde. In den Ohren klingen dessen Worte noch nach, aber er ist nicht mehr gegenwärtig.


    Der erste Vers ist in seiner lyrischen Aussage auf eigentümliche Weise verschwimmend. Er ist eine schmerzlich artikulierte Frage, die zugleich Klage ist und nicht recht wahrhaben möchte, dass der Verlust der Geliebten ein wirklich unausweichliches Faktum ist. Die zweite Strophe verstärkt mit ihren Bildern diese innere Haltung des lyrischen Ichs noch: Der „Wandrer“ hört am Morgen eine Lerche singen, aber sein suchender Blick ist „vergebens“; er vermag sie nicht auszumachen.


    In diesem Bild von der Lerche wird auf lyrisch höchst dezente Weise eine Verbindung zwischen der ersten und der letzten Strophe hergestellt: Auf akustischer Ebene sozusagen. Der letzte Vers spricht von dem „Ton“, der in den Ohren nachklingt, und in den beiden letzten Versen der dritten Strophe bekennt das sich in seiner Grundhaltung als „ängstlich“ empfindende lyrische Ich, dass alle seine „Lieder“ nichts anderes sind als ein einziger Ruf des „Komm zurück!“

  • Das Lied steht in G-Dur und ist mit der Anweisung „Langsam“ versehen. Aber schon das harmonisch verstörte Vorspiel und die später hinzukommenden Vortragsanweisungen „etwas langsamer“ und „geschwinder“ deuten darauf hin, dass hier eine vieldimensionale lyrische Aussage die ihr adäquate Musik gefunden hat. Das Vorspiel setzt zwar mit in G-Dur fallenden Akkorden ein, aber im zweiten Takt schleicht sich ein klanglich störendes „es“ hinein, und am Ende mündest es, nach einem neuerlichen Anlauf in G-Dur, in einen wiederum verstörenden verminderten Septakkord.


    Auch die Harmonisierung der melodischen Linie der Singstimme ist bei der ersten Strophe vieldeutig: Sie pendelt zwischen G-Dur und g-Moll hin und her und mündet am Ende in ein F-Dur, mit dem die Überleitung in das f-Moll geschaffen wird, in dem die zweite Strophe steht. Wunderbar hat Schubert die Wehmut melodisch eingefangen, die im ersten Vers aufklingt: „So hab ich wirklich dich verloren?“ Die Vokallinie fällt, auf einem hohen „g“ ansetzend, in Sekundschritten ab, weist aber bei dem Wort „wirklich“ eine melodische Dehnung in Gestalt eines punktierten Viertels auf, die ihm das musikalische Gewicht verleiht, das im lyrisch zukommt. Das Wort „verloren“ wird hingegen nicht in fallenden Sekunden, sondern mit einem Terzfall deklamiert. Es ist das wichtigste dieser Frage, und Schubert muss dies bei der engen Anbindung seiner Musik an den lyrischen Text entsprechend berücksichtigen.


    Die Eindringlichkeit der Frage „Bist du, o Schöne, mir entflohn?“ wird musikalisch dadurch gesteigert, dass die am Ende in eine Dehnung mündende aufsteigende melodische Linie auf hoher tonaler Ebene wiederholt wird, verbunden mit einer harmonischen Rückung. Immer wieder drängen sich Moll-Klänge in die melodische Linie und verleihen ihr, die sich in einem lebhaften, auf innere Erregung hinweisenden Auf und Ab bewegt, einen schmerzlich wirkenden Klangcharakter. Besonders expressiv ist dabei der mit einer Dehnung versehene große Quintfall bei dem Worten „Ohren“.


    Klanglich überaus eindringlich wirkt auch die Melodik der zweiten Strophe. Die Singstimme deklamiert zunächst einmal in insistierender Weise auf einem „c“, bevor sie bei dem Wort „Morgen“ einen mit einer Dehnung versehenen kleinen Sekundsprung macht, dem ein Abfallen in wiederum kleinen Sekunden folgt. Auch die folgenden melodischen Schritte erfolgen in kleinen Terzen oder Quarten, ganz dem diese Strophe klanglich beherrschenden f-Moll entsprechend. Das ist Winterreise-Musik, die man hier vernimmt. Während die Melodik wie in Chroma gebannt wirkt, erklingt im Klavierbass ein beharrlich angeschlagenes „f“, das an ein Totengeläute gemahnt. Und am Ende, beim letzten Bild der Strophe, dem von der „singenden Lerche“, rückt die Harmonik in ein seltsam kühl wirkendes As-Dur hinüber.


    Die dritte Strophe schließt, nur über eine Achtelpause von der zweiten abgesetzt, melodisch bruchlos an die zweite an. Schubert setzt sich hier wieder einmal über die formalen Vorgaben Goethes hinweg, weil die intendierte musikalische Aussage dies für ihn zwingend fordert. Das Wort „so“, mit dem diese dritte Strophe einsetzt, löst hier gleichsam diesen musikalischen Schub aus. Und das lyrische Schlüsselwort ist für Schubert ganz offensichtlich „ängstlich“. Die melodische Linie scheint sich bei den ersten beiden Versen dieser dritten Strophe regelrecht zu quälen: Immer wieder rennt sie gegen einen Ton in hoher Lage an, der sich dabei in Sekunden nach oben schiebt, bis endlich die Erlösung in Gestalt einer langen Dehnung auf einem hohen „f“ bei dem Wort „Blick“ kommt. Ein heller C-Dur-Akkord begleitet dies.


    Bei dem letzten Verspaar der dritten Strophe ist die melodische Linie der Singstimme mit der des Liedanfangs zwar identisch, aber der Klaviersatz wirkt auffällig ausgedünnt. Er besteht nur noch aus zwischen Bass und Diskant alternierenden zweistimmigen Akkorden. Man empfindet dies als musikalischen Ausdruck der Entschiedenheit und Klarheit, womit diese Bitte an die Geliebte geäußert wird. Und dazu passt auch, dass Schubert hier das kompositorische Prinzip der Wiederholung in geradezu exzessiver Weise einsetzt. Hierbei wandelt er allerdings die Vokallinie im Sinne einer Steigerung ihrer Expressivität ab. Auf den Worten „rufen“ und „komm“ liegen Dehnungen in hoher Lage, das Wort „Geliebte“ wird mit einem Sextsprung und einem nachfolgenden triolischen Terzfall deklamiert, auf dem Wort „mir“ liegt eine volle ganze Note, und bei dem letzten Wort, eben jenem lyrisch zentralen „zurück“, macht die melodische Linie einen Sekundsprung hin zum Grundton, der mit einer Fermate versehen ist.


    Das Nachspiel ist klanglicher Widerhall des Vorspiels, - wieder mit diesen klanglichen Verstörungen des „es“ und des verminderten Septakkords, die den Seelenschmerz des lyrischen Ichs reflektieren. Aber am Ende erklingt dann doch ein lang gehaltener sechsstimmiger g-Dur-Akkord.

  • Dies ist eines der Lieder Schuberts, bei dem der – wohl geringe - Grad seiner Bekanntheit in einem auffälligen Missverhältnis zu seiner kompositorischen Größe steht. Es fängt in einer klanglich faszinierenden, weil von einer kantabel phrasierten Melodik und einer zwischen Dur und Moll pendelnden Harmonik geprägten Weise die Gedanken und Empfindungen des lyrischen Ichs in der Situation des Verlassen-Seins von der Geliebten ein. Man macht beim Hören die – für das Schubertlied typische! – Erfahrung: Die Musik ist unmittelbarer und in ihrer strukturellen Einfachheit den Kern treffender Ausdruck der Befindlichkeit des lyrischen Ichs.


    Und darin reflektiert sie ja auch die lyrische Sprache Goethes und verweist darin – wieder einmal – auf die tiefinnerliche Verwandtschaft der beiden Künstler. Kann man die Situation, in der dieses lyrische Ich sich befindet, in einfacheren Worten lyrisch skizzieren, als mit dem ersten Vers, der in überaus eindringlicher Weise zwischen Klage und Frage schwebt? Und empfindet man diese in ihrer Fallbewegung wie in tiefer Schmerzlichkeit gleichsam versinkende melodische Linie nicht wie den vollkommenen musikalischen Ausdruck eben dieses Schwebens?

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  • Lieber Helmut,


    bemerkenswert an Schuberts Vertonung finde ich, wie er hier die musikalische Form der dichterischen gleichsam überstülpt: ABA. Es gibt im Geist des Sonatensatzes einen dramatisch-bewegten "Durchführungs"-Teil in der Mitte von zwei eher in sich ruhenden Polen umgeben. Anfang und Ende sind lyrisch-emphatisch und innig, wo in der 2. Strophe von der Wanderschaft die Rede ist drängt die Musik förmlich weiter. Bei Goethe blickt der Wanderer nur in die Ferne, bei Schubert meint man, er wandert sehnsuchtsvoll die Geliebte suchend umher. Das kann man ja auch bei anderen Schubert-Liedern beobachten, daß das Problem entsteht, musikalische und dichterische Form, die durchaus divergieren, in Einklang zubringen! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Über allen Gipfeln
    Ist Ruh,
    In allen Wipfeln
    Spürest du
    Kaum einen Hauch;
    Die Vögelein schweigen im Walde.
    Warte nur, balde
    Ruhest du auch.


    Man scheut sich, dieses Gedicht noch einmal interpretierend zu kommentieren. Dies deshalb, weil es bereits Hunderte von Interpretationen gibt und alle Welt weiß, dass es am Abend des 6. September 1780 von Goethe mit Bleistift auf eine Bretterwand des zweistöckigen Jagdhauses auf dem Kickelhahn oberhalb von Ilmenau geschrieben wurde. Es trägt in den Ausgaben von Goethes „Werken“ den von ihm gewählten Titel: „Ein Gleiches“, weil er es dem Gedicht „Wandrers Nachtlied“ folgen ließ und sagen wollte, dass es den gleichen Titel trägt. Der Herausgeber der „Hamburger Ausgabe“ kommentierte diese Aufeinanderfolge der beiden Gedichte mit den trockenen Worten: „“Drückt jenes Sehnsucht aus, so dieses Erfüllung.“ Er wird darin, wie ich meine, der Sache nur halb gerecht.


    Das höchst Verwunderliche ist ja: Hunderte von Interpretationen, neuerdings sogar ein ganze Buch darüber (von Sebastian Kiefer, erschienen 2011 im VAT Verlag Mainz) gibt es, und dabei steht doch so wenig drin, in diesem Gedicht: Es sind nur acht Verse, der kürzeste mit zwei Worten, der längste mit fünf, und insgesamt sind es nur vierundzwanzig.


    Warum ich das hier in buchhalterischer Manier aufliste? Weil das wirklich Erstaunliche an diesem Gedicht ist: Mit diesen wenigen Worten wird ein ganzer Raum entworfen, der am Ende sich auf das lyrische Ich in Gestalt einer Ansprache an sich selbst verdichtet. Man kann der lyrischen Skizzierung dieses Raumes, der ein genuin naturhafter ist, sogar in seiner perspektivischen Verengung auf dieses lyrische Ich folgen: Von der Ferne der „Gipfel“ geht es über die schon näher liegenden „Wipfel“ der Bäume hin zu den noch näheren „Vögelein“. Die „schweigen“ zwar, werden gelichwohl aber als gegenwärtig empfunden, weil sie Teil eben dieses Raumes sind, in dessen Mitte sich das lyrische Ich anwesend sieht.


    Die lyrische Sprache ist von der für Goethe so ganz typischen und ihn darin als Lyriker auszeichnenden Schlichtheit. So mancher andere, weniger begabte Dichter hätte ja vielleicht geschrieben: „Über allen Gipfeln / Waltet Ruhe“ oder „Herrscht Ruhe“ oder „Liegt Ruhe“…, wie auch immer. Goethe leistet sich stattdessen den Einsatz eines schlichten Hilfsverbs: „ist“. Sprachlich einfacher geht es wirklich nicht mehr. Und das Erstaunliche dabei ist: Dieses Hilfsverb „ist“ wird im lyrisch-sprachlichen Kontext zu einem Vollverb, dessen semantische Dimensionen die des schlichten „Seins“ weit überschreiten. Man spürt: Da tut sich etwas. Und der Grund dafür liegt darin, dass dieses an sich schlichte Hilfsverb „sein“ an den Anfang eines neues Verses gesetzt ist und in eine Korrelation mit den anderen Verben tritt: „Spüren“, „schweigen“ und „ruhen“.


    In diesem Wort „ruhen“, in das die Verse münden, entfaltet das Gedicht eine eigentümliche Ambivalenz, was seine dichterische Aussage allgemein anbelangt. Gewiss ist damit zunächst einmal die Ruhe gemeint, die von den nächtlichen Bildern des naturhaften Raumes auf den seelischen Innenraum des lyrischen Ichs ausstrahlt. Da sind aber diese Worte „Warte nur“. Und Goethe hat das nachfolgende „balde“ ihnen unmittelbar angefügt und nicht in den nächsten Vers übernommen, was eigentlich naheliegend gewesen wäre.


    Die Tatsache, dass die Worte „Ruhest du auch“ einen eigenen Vers bilden, dem das „balde“ entzogen wurde, verleiht diesen eine semantische Dimension, die über die reine Nachtruhe des Schlafes hinausweist in den Bereich des Todes. Die Notizen des Amtmanns Mahr, der den alten Goethe beim Wieder-Aufsuchen dieses Ortes auf dem Kickelhahn im September 1831 begleitete, sind – obgleich sie von der germanistischen Fachliteratur geringgeschätzt werden – aus meiner Sicht recht aufschlussreich:
    „Goethe überlas diese wenigen Verse und Thränen flossen über seine Wangen. Ganz langsam zog er sein schneeweißes Taschentuch aus seinem dunkelbraunen Tuchrock, trocknete sich die Thränen und sprach in sanftem, wehmütigem Ton: >Ja, warte nur balde ruhest du auch! <.“

  • Wenn Alfred Einstein meint, dies sei „die schönste der Hunderte von Vertonungen des Gedichts“, so kann man ihm, auch wenn man sie nicht alle, sondern nur die kompositorisch bedeutsamsten kennt, nur zustimmen. Mehr als etwa die Vertonungen durch C. F. Zelter, R. Schumann oder Franz Liszt erfasst Schuberts Lied die zentrale dichterische Aussage über die vollkommene Verschmelzung der Musik mit der lyrischen Sprache. Deren strukturelle Einfachheit hat sich unmittelbar in der Einfachheit der musikalischen Faktur niedergeschlagen: Vierzehn Takte, fünf in der Gestalt der Vokallinie einfach gebaute Melodiezeilen und eine Harmonik, die in der Manier des Volksliedes im wesentlichen zwischen Tonika, Dominante und Subdominante pendelt und die Grundtonart B-Dur nicht wirklich verlässt.


    Auf den ersten Blick wirkt dieses Lied also in seiner Faktur einfach. Aber es ist wie so oft bei Schubert: Diese Einfachheit hat es in sich, weil sich unter ihrer Oberfläche eine musikalisch-semantische Tiefendimension auftut. So weist das akkordisch um die Tonika pendelnde Vorspiel einen daktylischen Rhythmus auf, bei dem es sich um Schuberts „Todesrhythmus“ handelt: Einmal lang, zweimal kurz. Ein deutlicher Hinweis darauf, wie Schubert die semantische Ambivalenz der Schlussverse aufgefasst hat. Dieser daktylische Rhythmus setzt sich auch fort, nachdem die Singstimme eingesetzt hat, und er wirkt zweifellos dominierend. Die melodische Linie der Singstimme, die von ihrer Rhythmik her trochäisch angelegt ist, steht unüberhörbar unter dem rhythmisch-klanglichen Einfluss des Klaviersatzes, und das hat zur Folge, dass sie mehr Ruhe ausstrahlt, als ihr von ihrer Bewegungsstruktur her eigen ist. Dass sie deklamatorisch auf dem Grundton „b“, mit dem sie einsetzt, zunächst verharrt, sich nur um eine Sekunde nach oben und unten davon entfernt, um dann schließlich in eine Dehnung auf eben diesem „b“ zu münden, das wirkt, als sei es dem Klaviersatz geschuldet, - der dies auch prompt mit einem B-Dur-Akkord in Gestalt von halben Noten quittiert.


    Ganz zweifellos strahlen Melodik und Klaviersatz bei den ersten eineinhalb Takten, die die beiden ersten Verse des Gedichts umgreifen, jene Ruhe aus, die der lyrische Text evoziert. Bemerkenswert ist dabei, dass Schubert das lyrische Gewicht, das Goethe dem Hilfsverb „ist“ verleiht, indem er es an den Anfang eines neuen Verses stellt und damit zum Vollverb macht, ignoriert. Die melodischen Schwerpunkte dieser Melodiezeile sind die Worte „Gipfeln“ und „Ruh“, weil sie eine akkordisch gestützte melodische Dehnung tragen. Schubert will jenem Bild der Ruhe über den Gipfeln musikalischen Nachdruck verleihen und setzt deshalb auf das Wort „ist“ ein Achtel, das im Sekundschritt hin zu dem zentralen, ein punktiertes Viertel tragenden Wort „Ruh“ hinführt.


    Die nächste Melodiezeile umfasst die nächsten drei Verse des Gedichts und setzt sich wieder über die formalen dichterischen Vorgaben hinweg. Melodisch vernehmbar wird die vor allem an der klanglichen Exponierung des Wortes „kaum“. Dabei folgt die Melodik in der Art ihrer Bewegung in bewundernswert harmonischer Übereinstimmung der Struktur und der Semantik des lyrischen Textes, Das Wort „allen“ wird durch einen mit einer Dehnung versehenen Quartsprung musikalisch akzentuiert. Bei dem lautlich ein wenig unruhigen Wort „Wipfeln“ macht die Vokallinie eine kleine, leicht rhythmisierte Fallbewegung, hält aber danach bei den Worten „spürest du“ inne, indem die Silben auf nur einem Ton deklamiert werden. Dabei trägt das Wort „du“ eine Dehnung in Gestalt einer Viertelnote, - was eine Art Erwartungshaltung auf das hin erzeugt, was da nun zu spüren sein wird. Und da kommt, um eine kleine Sekunde melodisch angehoben und mit einem punktierten Viertel versehen, eben jenes Wort „kaum“ zu Gehör, das so auf eine bemerkenswerte Weise musikalisch akzentuiert ist. Die nachfolgenden fallenden Sechzehntel wirken dann wie eine Überleitung zu dem nächsten melodischen Schwerpunkt auf dem Wort „Hauch“.


    Derweilen hat der Klaviersatz eine neue Gestalt angenommen. Bestand er bislang aus ruhig angeschlagenen Akkorden, so treten jetzt, mit diesem klanglich leicht spannungsgeladenen „spurest du“, gemäßigt lebhaft wirkende Bewegungen von Vierteln im Wechsel von Bass und Diskant an ihre Stelle. Und das bleibt auch so, während die Singstimme das Bild vom „Schweigen der Vöglein im Walde“ deklamiert. Das Klavier beharrt auch hier auf seiner musikalischen Eigenständigkeit. Zwar evozieren die lyrischen Bilder Ruhe („Kaum einen Hauch“, „schweigen“), und die melodische Linie der Singstimme wird dem vollkommen gerecht. Auf der ersten Silbe des Wortes „Vöglein“ liegt eine Dehnung, und danach fällt die Vokallinie in Achteln und Sechzehnteln ab, um auf der letzten Silbe von „schweigen“ in eine Dehnung zu münden. Und ähnlich verläuft die Bewegung der melodischen Linie auch bei der Wiederholung dieses Verses, wobei dieses Mal, wie um der lyrischen Aussage einen definitiven musikalischen Abschluss zu geben, die melodische Dehnung in Gestalt einer Abwärtsbewegung auf dem Wort „Walde“ liegt.


    Aber da ist ja noch dieses „Warte nur“, das gleichsam im Hintergrund gegenwärtig ist. Genau dieses scheint der Klaviersatz gleichsam antizipiert zu haben. Daher also seine innere rhythmische Bewegtheit, - bei all der Ruhe, die die melodische Linie in ihrer Kongruenz mit den lyrischen Bildern zum Ausdruck bringt. Das Klavier weiß mehr. Und deshalb stellt sich erst mit den letzten Versen ein Einklang zwischen ihm und der Bewegung der Vokallinie ein. Jetzt folgt es diesen im Diskant, - nicht ganz parallel, sondern zuweilen gegenläufig, aber durchaus in gestischer Übereinstimmung. Das muss es nun aber auch, hat es doch gleich am Anfang mit dem „Todesrhythmus“ den gleichsam wegweisenden Akzent für die Schlussverse gesetzt.


    Dadurch, dass Schubert die beiden letzten Verse wiederholt – und innerhalb dessen auch noch wie Worte „Warte nur“ – gibt er ihnen besonderes musikalisches Gewicht. Das geschieht aber auch gleichsam immanent. Auf der ersten Silbe von „warte“ liegt jeweils eine Dehnung, die dieses Wort klanglich akzentuiert. Das Eigentümliche ist nun, dass die melodische Linie danach zwar jeweils abfällt, dass man aber dennoch den Eindruck hat, die beiden Worte würden auf einer aufsteigenden Vokallinie gesungen, die dann bei dem Wort „balde“ ihren Höhepunkt erreicht. Verantwortlich dafür ist der Klaviersatz, der anfänglich gegenläufig ausgerichtet ist und zudem – harmonisch betrachtet – ein chromatisches Fortschreiten vollzieht. Außerdem wird die musikalische Expressivität an dieser Stelle noch durch Crescendi gesteigert. Das „Warte nur“ erhält durch all diese kompositorischen Feinheiten die Eindringlichkeit, die ihm – in Schuberts Leseweise des Gedichts – zukommen muss.


    Dass er das Wort „balde“ durch eine im Sekundschritt ansteigende und mit einer Fermate auf einem hohen „f“ aufgipfelnde Vokallinie so stark akzentuiert, dass es aus dem Fluss der melodischen Linie regelrecht herausgehoben wird, ist ebenfalls musikalischer Ausdruck der ganz eigenen Leseweise des Gedichts. Wenn man sich erinnert, dass am Anfang der Todesrhythmus aufklang, so erhält dieses „balde“ hier einen mussikalisch-semantischen Beiklang, der die Verse Goethes mit einem deutlichen Akzent versieht.

  • Die Schubert-Vertonung ist natürlich toll - wie er zum Beispiel den "Hauch" von Bewegung äußerst feinsinnig musikalisch spürbar werden läßt. Trotzdem kann ich mich mit diesem Lied nicht so identifizieren wie mit anderen. Warum, habe ich mich selber gefragt. Der Ton ist choralhaft, hat etwas Sakrales. Das ist alles sehr aus einer menschlichen Perpektive geschildert - das ist das menschliche Gemüt, das Ruhe und Frieden findet, wie in einer Kirche bei der heiligen Messe. Was ich vermisse, ist das Naturerlebnis. Da liegt die Stärke von Liszts Vertonung. Er versucht die Naturerfahrung einzufangen - mit naturtönigen Quarten usw. Semantisch finde ich das Goethe näher. Von dem Spinozimsus und Pantheismus, der in diesem Gedicht steckt, spüre ich bei Schubert dagegen einfach nichts.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Dieses große und berühmte Gedicht von Goethe fand natürlich viele Komponisten, die es in Musik setzten wollten, u.a. waren das, außer Schubert, Zelter, Schumann und Franz Liszt.
    Zu Liszts Vertonung liegt eine Besprechung im Thread „Franz Liszt und seine Lieder“ vor, auf die ich hier verweisen möchte (Beitrag 18, vom 2.11.2011).


    Wenn man schon – was zweifellos problematisch ist - Vergleiche dazu anstellt, wer mit seiner Vertonung Goethes lyrischer Sprache am nächsten gekommen ist, so sind dafür allenfalls die Vertonungen von Zelter und Schumann geeignet, denn Liszt geht mit gänzlich anders gearteten kompositorischen Intentionen an Goethes Gedicht heran. Wenn im folgenden die Lieder von Zelter und Schumann kurz vorgestellt werden, so nicht, um sie in irgendeiner Weise abzuqualifizieren. Vielmehr soll deutlich werden, dass an dem oben zitierten Urteil von Alfred Einstein durchaus etwas dran ist. Niemand sonst hat sich die „ergreifende Schlichtheit“ dieser Verse Goethes musikalisch so anverwandelt, wie Schubert dies in seinem Lied gelungen ist.


    Carl Friedrich Zelter
    Das Vorspiel besteht aus lautenmäßig aufsteigenden gebrochenen Akkorden, die eine melodische Linie artikulieren. Durchweg ist die ganze Klavierbegleitung in dieser Weise strukturiert. Die Worte Über allen“ werden ruhig auf einem Ton deklamiert, einem „h“ in mittlerer Lage. Erst bei der letzten Silbe bewegt sich die melodische Linie der Singstimme langsam zu einem tiefen „d“ herab und verharrt dort. Auch die Worte „in allen Gipfeln“ werden ausschließlich auf diesem ton „h“ deklamiert, und danach erfolgt wieder diese Abwärtsbewegung der melodischen Linie zu jenem tiefen „d“, dieses Mal aber mit einer harmonischen Rückung verbunden. Bei den Worten „einen Hauch“ erklingt eine höchst kunstvolle Koloratur aus Zweiunddreißigsteln, bevor die Vokallinie bei dem Wort „Hauch“ auf einem tiefen „h“ zur Ruhe kommt.


    Eine Pause folgt. Auf volkliedhaft lieblicher melodischer Linie werden kann die Worte „Die Vöglein schweigen im Walde“ deklamiert. Die letzte Melodiezeile lautet, abweichend vom lyrischen Text, „Warte nur balde, balde, balde ruhest du auch“. Das Wort „balde“ wird drei Mal auf einer fallenden melodischen Figur aus Achteln deklamiert, bevor die melodische Line bei den Worten „ruhest du“ in tiefer Lage ein Melisma beschreibt und auf einem tiefen „e“ zur Ruhe kommt.


    Robert Schumann
    Schumann Vertonung ist Bestandteil der (drei) „Lieder und Gesänge op.96“. Es setzt mit ruhig angeschlagenen Akkorden im Vorspiel ein, und dies bleibt auch die Begleitung der melodischen Linie der Singstimme bis zum fünften Vers einschließlich. Große Ruhe geht auch von der Bewegung der Singstimme aus. Sie besteht beim ersten Vers aus einer zunächst steigenden, dann aber in ruhigen Schritten in tiefe Lage herabsteigenden und bei dem Wort „Ruh“ in eine Dehnung mündenden melodischen Linie. Bei den Worten „spürest du“ macht die Vokallinie eine Sprungbewegung in höhere Lage und vollzieht dort einen Sekundfall. Die Worte „kaum einen Hauch“ werden wieder in tiefer Lage deklamiert.


    Bei dem Vers „Die Vögelein schweigen im Walde“ kommt leichte Bewegung in die melodische Linie und den Klaviersatz. Die Singstimme deklamiert in hoher Lage und macht bei „Walde“ einen ausdrucksstarken Quintfall. Das Klavier begleitet mit aufwärtsgerichteten akkordischen Bewegungen, hält aber darin bei eben diesem Quintfall inne, um danach ein eintaktiges Zwischenspiel erklingen zu lassen.


    Das „Warte nur“ wird in Gestalt eines hin hoher Lage ansetzenden Sextfalls deklamiert, der in eine Dehnung und eine nachfolgende kurze Pause mündet. Diese beiden Worte erhalten auf diese Weise einen starken musikalischen Akzent. Auch das Wort „balde“ ist durch Pausen gleichsam klanglich isoliert und dadurch hervorgehoben. Es wird auf einem Sekundfall in mittlerer Lage deklamiert. Danach erklingen im Klavier noch einmal zwei Akkorde, bevor die Singstimme in tiefer Lage, wiederum in ruhigen Schritten und auf fallender melodischer Linie das „Ruhest du auch“ deklamiert. Auf dem Wort „auch“ liegt dabei ein Sekundfall mit harmonischer Rückung. Die Worte „Ruhest du auch“ werden noch einmal auf noch tiefer und zunächst auch fallender Linie wiederholt. Dieses Mal aber erfolgt bei dem Wort „auch“ ein – überraschender – Oktavsprung.

  • Während Schubert kompositorisch eng dem lyrischen Text folgt, ihn gleichsam unmittelbar in musikalischen Text verwandelt, geht es Liszt um die musikalische Suggestion von Ruhe. Es geht ihm in erster Linie nicht darum, die lyrische Sprache Goethes als solche musikalisch aufgreifen und kompositorisch umsetzen, sondern vielmehr darum, die „poetische Botschaft“, die er dieser lesend entnimmt, mit den kompositorischen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, so umfassend und so intensiv wie möglich musikalisch zum Erklingen bringen. Gefühle will er mit kompositorischen Mitteln evozieren. Das ist sein zentrales Anliegen.


    Schubert will den lyrischen Text in die Bewegung einer melodischen Linie einbetten und ihn in der Aussage der lyrischen Sprache musikstrukturell abbilden. Liszt geht es nicht um die Entfaltung einer zusammenhängenden melodischen Linie, sondern um die kompositorische Gestaltung melodiöser Inseln, die musikalisch Ruhe suggerieren.


    Bei Schubert bewegt sich die melodische Linie der Singstimme, durchweg getragen von Achteln und nachschlagenden Synkopen im Klavier, langsam nach oben hin zu dem Punkt, der auch im lyrischen Text eine Art innehaltendes Ruhen bildet: Zu dem Wort „kaum“. Dieses Wort wird durch den dreifachen „Anlauf“ auf der gleichen Note bei „spürest du“, die nachfolgende kleine Sekunde und die punktierte Viertelnote die auf ihm liegt, musikalisch deutlich hervorgehoben.


    Liszt verfährt völlig anders. Man kann es hören, und ein Blick in die Noten lässt es einem unmittelbar ins Auge springen. Die einzelnen lyrischen Wortgruppen sind gleichsam in Klavierklänge „eingepackt“ die zusätzlich den klanglichen Ausdruck verstärken und akzentuieren sollen, der ihnen an sich schon innewohnt.


    Nach dem Vorspiel mit den aufsteigenden und im letzten Schritt wieder fallend Akkorden im Klavier erklingt die melodische Linie auf den Worten „Über allen Gipfeln / Ist Ruh“. Und danach setzt das Klavier seine akkordische Bewegung aus dem Vorspiel fort. Auch auf die nächste Wortgruppe „In allen Wipfeln spürest du / Kaum einen Hauch“ folgt wieder ein Klavierzwischenspiel, bei dem im Diskant die melodische Bewegung der Singstimme in den beiden davorliegenden Takten wiederholt und damit in ihrem Ausdruck verstärkt wird.


    In dieser Weise, in der Bildung von gleichsam insularen Klangstrukturen, die mit musikalischen Mitteln Ruhe evozieren – zumal ja die Singstimme sich äußerst langsam und mit geringen Tonintervallen bewegt – ist das ganz Lied kompositorisch angelegt. Und alles ist in dieser Form auf das „Warte nur“ ausgerichtet, das das eigentliche Ziel darstellt.

  • Mit „Wandrers Nachtlied“ endet die intensive kompositorische Auseinandersetzung Schuberts mit Goethes Lyrik zwar nicht ganz, sie hat aber einen vorläufigen Endpunkt erreicht, dem gleichsam ein Nachklang folgt, - allerdings ein bedeutsamer. Nach einer Pause von zwei Jahren wendet er sich noch einmal dem „Wilhelm Meister“ zu, der ihn in den Gestalten des „Harfners“ und der „Mignon“ praktisch sein ganzes liedkompositorisches Leben begleitet hat, nämlich seit 1815. Damals entstanden die (hier besprochenen) Lieder „Der Sänger“ und „An Mignon“. Im gleichen Jahr noch kam es zur Komposition von drei weiteren Liedern auf Gesänge aus dem Wilhelm Meister, darunter der erste Entwurf zu „Nur wer die Sehnsucht kennt“ und das (hier ebenfalls besprochene) Lied „An Mignon“. Weitere Phasen der intensiven Zuwendung diesem Roman Goethes gegenüber waren die Jahre 1816 (fünf Lieder) und 1821 mit zwei Mignon-Liedern.


    Auf diese griff er dann 1826 zurück, mit dem Ziel einer liedkompositorisch neuen Fassung. Offensichtlich war er mit ihnen nicht ganz zufrieden, wohl weil sie musikalisch das Wesen dieser geheimnisvollen Gestalt nicht ganz trafen. Auch das zentrale Thema „Sehnsucht“, das für Schubert von hoher existenzieller Bedeutung war und deshalb in seinen Liedern immer wieder aufgegriffen wurde, dürfte bei dieser erneuten Hinwendung zu den Mignon-Gesängen eine große Rolle gespielt haben.


    Nun entstehen zwei Neufassungen von „Nur wer die Sehnsucht kennt“, eine als Duett und eine für Singstimme mit Klavierbegleitung (es lagen hierzu aber ebenfalls drei und vier Bearbeitungen vor). Diese rahmen dann im Opus 62, das den Titel trägt „Gesänge aus Wilhelm Meister“, die beiden Lieder:
    „Heiß mich nicht reden“ (zweite Bearbeitung) und
    „So laßt mich scheinen“ (dritte Bearbeitung).


    Es ist mir nicht möglich, mich hier auf diesen Komplex der Mignon-Vertonungen in detaillierter Weise einzulassen und herauszuarbeiten, worin sie sich in ihrer Faktur unterschieden und welche Rückschlüsse sich daraus auf Schuberts liedkompositorische Entwicklung ziehen lassen. Das wäre zwar durchaus reizvoll, erforderte aber einen eigenen Thread. Hier soll nur eines von den vier Liedern Gegenstand einer näheren Betrachtung sein, nämlich die letzte Fassung von „Nur wer die Sehnsucht kennt“. Dies aus zwei Gründen: Einmal deshalb, weil es das letzte Lied Schuberts auf ein Gedicht Goethes ist, und zum anderen, weil es noch einmal den spezifischen Ton des Schubertliedes in gleichsam vollendeter Form vernehmen lässt.

  • Nur wer die Sehnsucht kennt,
    Weiß, was ich leide!
    Allein und abgetrennt
    Von aller Freude,
    Seh ich ans Firmament
    Nach jener Seite.
    Ach! Der mich liebt und kennt,
    Ist in der Weite.
    Es schwindelt mir, es brennt
    Mein Eingeweide.
    Nur wer die Sehnsucht kennt
    Weiß was ich leide!


    Diese Verse, sie entstanden im Jahr 1785, finden sich am Ende des elften Kapitels im vierten Buch des Romans „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Es heißt dort:
    „Er (Wilhelm) verfiel in eine träumende Sehnsucht, und wie einstimmend mit seinen Empfindungen war das Lied, das eben in dieser Stunde Mignon und der Harfner als ein unregelmäßiges Duett mit dem herzlichsten Ausdruck sangen.“
    Es handelt sich also um ein Duett, und aus diesem Grund hat Schubert unter den insgesamt sieben Kompositionen darauf auch eine Fassung für Duett geschaffen. In der Ausgabe seiner Werke hat Goethe die Verse dann allein Mignon zugeordnet.


    Das ist eines der bekanntesten Gedichte deutscher Sprache. Warum aber? Schaut man genau hin, so sind die Verse recht unklar und in ihrer lyrischen Aussage schwer zu fassen. Sie wirken wie das Bekenntnis eines Menschen, der zutiefst verstört, ja verwirrt wirkt. Er kann nicht wirklich sprachlich zum Ausdruck bringen, worunter er leidet, verweist nur darauf, dass der, der die Sehnsucht kennt, ihn wohl verstehen werde.


    Sehnsucht also ist das zentrale Thema. Und diese rätselhafte Gestalt „Mignon“, gezeugt in einer inzestuösen Beziehung des „Harfners“ mit seiner Schwester, ist Inbegriff dieser rational nicht fassbaren, weil wesenhaft schweifend-unbestimmten seelischen Befindlichkeit „Sehnsucht“. Sie schlägt sich nieder in gleichsam symptomatischen Äußerungen und Verhaltensweisen, bei denen die Ziele, auf die sie ausgerichtet sind, unbestimmt bleiben, - das Wesen dieser „Sehnsucht“ eben.


    Mignon „sieht ans Firmament nach jener Seite“. Welche Richtung, welcher Ort ist damit gemeint? Der Süden, aus dem sie kommt? Jenes Land, wo die Zitronen blühn? Man erfährt es nicht. Und auch der „in der Weite“, der sie liebt, bleibt in rätselhafter Weise unbestimmt. Im Roman gibt es dafür keine Bezugsperson.


    Was aber höchst konkret wird, das sind die gleichsam psychosomatischen Folgen dieser ins völlig Unbestimmte weisenden und reichenden „Sehnsucht“. Die Worte „Es brennt mein Eingeweide“ haben alttestamentarische Plastizität, sind laut Grimmschem Wörterbuch Ausdruck für das „innerste Herz“. Im Kontext der ansonsten so eigentümlich vagen lyrischen Aussagen nehmen sie sich höchst befremdlich aus.


    Sind das die Gründe dafür, dass diese Verse so berühmt wurden und weltweit bekannt? So wird es wohl sein. „Sehnsucht“ ist eine seelische Regung von rätselhaft schweifender Unbestimmtheit, - so wie diese Verse. Kein Wunder, dass sie über fünfzig Mal vertont wurden, - u.a. auch von Tschaikowsky.

  • Das Lied steht in a-Moll, weist einen Sechsachteltakt auf und ist mit der Anweisung „Langsam“ versehen. Es ist eines von jenen Liedern, die, wie es so typisch für Schubert ist, eine einfache Faktur aufweisen, die gerade infolge dieser Schlichtheit hohe klangliche Faszination auszuüben vermögen. Ein elegischer Ton, stark von Moll-Harmonisierung und der Dominanz von Fallbewegungen in der Melodik geprägt, wohnt ihm inne. Und dies, obgleich es auch eine durchaus leicht dramatisch eingefärbte Passage aufweist. Sie wirkt aber wie ein Zwischenspiel, weil die Melodiezeile, die auf den ersten beiden Versen liegt und eben jenen Inbegriff von melodischer Wehmut verkörpert, am Ende des Liedes in identischer Form wiederholt wird.


    Auch das Vorspiel setzt klangliche Akzente im Sinne dieser dominanten Melodiezeile. Es nimmt in Gestalt von im Sinne des Sechsachteltaktes leicht rhythmisiert ansteigenden und danach wieder fallenden Oktaven die Grundstruktur von deren Bewegung voraus. Lautenmäßig klingende Klangfiguren aus aufsteigenden Achteln begleiten dies.


    Die ersten beiden Verse erklingen in Wiederholung auf melodischen Linien, die ähnlich strukturiert sind, wobei die zweite allerdings – im Sinne einer Steigerung ihrer Expressivität – eine Terz höher ansetzt: Die Vokallinie steigt mit Achteln im Sekundschritt an, hält in Gestalt einer Viertelnote kurz inne und fällt danach – wieder in Achteln – ab, um in eine melodische Dehnung zu münden. Erst im zweiten Fall ist das der Grundton als vorläufiger Abschluss der Bewegung. Das alles ereignet sich pianissimo. Und als wäre es der tiefen Innerlichkeit nicht genug, wird für die Verse „Ach, der mich liebt und kennt, / Ist in der Weite“ noch die Anweisung „sehr leise“ gegeben.


    In diesem Teil des Liedes, der mit dem Vers „Allein und abgetrennt“ einsetzt, bewegt sich die melodische Linie der Singstimme zunächst in etwas größeren Intervallschritten und wirkt dadurch weniger klagend. Bei den Worten „Nach jener Seite“ macht sie allerdings eine mit einem Terzsprung einsetzende und in Achteln sich vollziehende Fallbewegung, in die am Ende ein kleines Melisma eingelagert ist. Nun vernimmt man wieder Schmerzlichkeit und Klage in ihr, und das ist ja auch durch das nachfolgende „Ach“ gleichsam lyrisch gefordert. Hier, bei diesen beiden Versen, macht die Vokallinie „sehr leise“ äußerst expressive Sprungbewegungen in hohe Lagen mit nachfolgendem Fallen in Achteln, das wie ein melodisches Erschlaffen wirkt.


    Mit den Worten „Es schwindelt mir“ kommt Dramatik in das Lied. Schon vom Klaviersatz geht sie aus, der nun aus Sechzehntel-Akkord-Repetitionen besteht, die über Oktavsprüngen im Bass dahinstürmen. Die Singstimme deklamiert, von Pausen unterbrochen, die nächsten beiden Verse auf jeweils nur einer tonalen Ebene, wobei die eingelagerten Sechzehntel der Vokallinie eine Bewegtheit verleihen, die in starkem Kontrast zu den vorangehenden Passagen des Liedes steht. Und diese Passage des Liedes wird sogar noch einmal wiederholt, wobei dann die Worte „Es brennt mein Eingeweide“ melodische Dehnungen tragen, was wie eine Steigerung ihrer Expressivität wirkt.


    Danach erklingt die melodische Linie der ersten beiden Verse noch einmal. Und auch das Nachspiel greift melodische Figuren des Vorspiels noch einmal auf.

  • Dieses Gedicht wurde auch von Hugo Wolf und Carl Loewe vertont. Im Unterschied zu Schubert, dessen Lied stille Ergebung des lyrischen Ichs in sein Schicksal atmet, hat Hugo Wolf seine Komposition darauf angelegt, alle Winkel des seelischen Leidens dieses geheimnisvollen Wesens Mignon musikalisch auszuleuchten, und dies unter Einsatz kompositorischer Mittel, die weit über das hinausgehen, was man bei Schubert findet. Allein schon die jegliche harmonische Fixierung meidende „unendliche Melodie“ der chromatisch fallenden Oktaven im Diskant weisen Wolf als modernen Liedkomponisten aus. Eine ausführliche analytische Betrachtung dieser Vertonung ist hier, wo es um Schubert geht, aber nicht angebracht.


    Was die Vertonung durch Carl Loewe anbelangt, so habe ich eine Besprechung derselben in den Thread „Carl Loewe. Meister des Liedes und der Ballade“ eingestellt.
    Loewe geht mit einer anderen kompositorischen Grundhaltung und damit auch einer anderen Intention an Goethes Gedicht heran. Auf einen Nenner gebracht, könnte man sagen: Er bringt eine musikalische Dramatisierung in das Lied, die den Text seinem Wesen als lyrisches Gedicht entfremdet.


    Dessen zentrales Thema ist ja das „Leiden“, das sich für das lyrische Ich aus dem „Abgetrenntsein“ von der Person ergibt, der es in Liebe verbunden ist und nach der es „Sehnsucht“ verspürt. Dieses „Leiden“ wird durch einzelne lyrische Bilder in seinen emotionalen Dimensionen ausgelotet. Der Blick in die Weite des Firmaments konkretisiert lyrisch den Schmerz des Alleinseins. Dieser wiederum wird seinerseits mit den Bildern des „Schwindelns“ und des „Brennens des Eingeweides“ lyrisch evokativ verdichtet.


    Alle diese Bilder sind also der zentralen Aussage des Leidens in und an der Sehnsucht zugeordnet. Ein Komponist, der sprachlich-lyrisch denkt, sollte dies eigentlich beachten und nicht der Versuchung erliegen, die besonders expressiven Bilder mit einem musikalischen Übergewicht zu versehen, weil andernfalls das Zentrum der lyrischen Aussage verloren geht. Genau dieses ist aber aus meiner Sicht bei der Vertonung Loewes der Fall.


    Dieses Urteil über Loewes Vertonung sagt nichts über ihre musikalische Qualität an sich und den Höreidruck aus, den sie zu vermitteln vermag. Es ist aus dem liedanalytischen Vergleich mit dem Lied Schuberts hervorgegangen.

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  • Lieber Zweiterbass,


    ich bitte um Nachsicht für die verspätete Replik. Du schriebst, den Erlkönig betreffend:


    Warum sollte in den Strophen 3 und 5 die Heimtücke des Erlkönigs bereits sichtbar, spürbar (und in der Vertonung bereits hörbar) sein? Das wäre kontraproduktiv für sein Vorhaben und der Text von Goethe ist genau darauf abgestimmt, jede Anzüglichkeit auf die wahren Absichten des Erlkönigs zu vermeiden und mit „Engelszungen“ das Vertrauen des Knaben zu gewinnen.


    Man kann das vielleicht so sehen. Ich bin indessen mittlerweile der Ansicht, daß es Schubert zumal auf das Schockmoment der nicht wirklich gesteigerten, sondern bloß in der Tonart höhergeschraubten Angstschreie des Knaben ankommt. Genauer: Auf die Leerstelle zwischen dieser ihrer Motivation nach unfaßbaren, aber ungeheuer präsenten Angst und der dazu kontrastierenden Illustration vordergründig nicht panikschwangerer Lockbilder. Denn erst nachträglich, wenn man die Reaktion des Knaben hört, verzerren sich die Klanggesten der Erlkönigmusik.


    Das Moment der Unruhe und Beunruhigung lauert dabei in der flirrenden Triolenauflösung der pianistischen Begleitung der Erlkönigstrophen und ihrer unterschwelligen Beziehung zu dem emporjagenden Triolenrasseln der Reitfigur. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man diese Beziehung in ihrer Klangpoesie neben die berühmte Stelle im zweiten Tristan-Akt (1. Sz.) stellt, wo sich das Horngeschmetter von Markes nächtlicher Jagd in "des Laubes säuselnd Getön" und damit in Nichts auflöst. Die Zweideutigkeit der Klangassoziation findet sich nicht bloß in Goethes Text dialogisch vorgebildet, sondern zumal in Schuberts Ausdeutung dieser irrlichtend flackernden Walzermusik, die die linear fortstrebende Tendenz des Galopprhythmus in eine zentrifugale Drehung umdeutet.


    Ohnedies scheint es mir bemerkenswert, wie Schubert in der Ballade vom Erlkönig eine Atmosphäre des Unheimlichen erzeugt. Vergleicht man etwa den Charakter des Vorspiels mit seinen weiträumigen Glockenbässen, so fällt auf, wie mit Einsatz der Singstimme die gehetzte Aufwärtsfigur der linken Hand ihr Baßfundament verliert und sich zur Oberfläche hin gleichsam entkörpert. Aus diesem Gegensatz ist nicht bloß die ariose Thetralik der Zeilen "Es ist der Vater" usw. entwickelt, die sozusagen in der Gefahr das nahe Rettende beschwört und damit weit über das textliche Ziel hinausschießt. Denn die darauf folgende baßlose Aufhellung der emporrieselnden Triolen zu "Siehst Vater du" usw. hat in ihrem insistenten, schwebenden Duktus eine ungemein plastische Anmutung des nicht Geheuren, der Beklommenheit, die das Bodenlose perfekt suggeriert.


    All dies nur in Parenthese ...


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Schuberts Opus 62, im Januar 1826 entstanden und der Fürstin Mathilde zu Schwarzenberg gewidmet, enthielt als Nummer 1 noch eine andere Vertonung der Verse „Nur wer die Sehnsucht kennt“, nämlich als Duett für Sopran und Tenor. Der Grund für die Entstehung ist in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre“ zu finden. Dort heißt es nämlich:
    „Er (Wilhelm) verfiel in eine träumende Sehnsucht, und wie einstimmend mit seinen Empfindungen war das Lied, das eben in dieser Stunde Mignon und der Harfner als ein unregelmäßiges Duett mit dem herzlichsten Ausdrucke sangen.“


    Nun fragt man sich natürlich, ob ein Duett musikalisch einem lyrischen Text gerecht werden kann, der – absolut genommen und abgelöst vom literarischen Kontext – das seelische Bekenntnis eines lyrischen Ichs ist, eines Individuums also, das in seinem Leiden an einer unerfüllten Sehnsucht, das sich bis zu innerer Zerrissenheit steigert, wahrlich singulär ist. Können zwei Singstimmen einem solchen lyrischen Sachverhalt gerecht werden? Ist nicht die Fassung für eine Stimme und Klavier diejenige, die dem lyrischen Text in ihrer musikalischen Grundstruktur eher gerecht zu werden vermag?


    Dietrich Fischer-Dieskau meint dazu in seinem Schubert-Buch:
    „Einiges von der Intimität seiner Mitteilung mag das Gedicht einbüßen, wenn Sopran und Tenor es singen, und sicher entstand das Gedicht, bevor Goethe es dem Roman eingliederte. Aber die Intensität der Musik dieses Zwiegesangs übertrifft alles, was Schubert sonst zu diesen Worten erfunden hat.“


    Ich gestehe, dass ich ihm in diesem Urteil nicht ganz zu folgen vermag. Die „Intensität der Musik“ ist hier zwar tatsächlich zu vernehmen, aber ich würde hier nicht nur von einer „Einbuße an Intimität“ der lyrischen Aussage sprechen, sondern von einem regelrechten Verlust derselben.


    Gewiss, es erklingt im ersten und dritten Teil des Duetts eine überaus wohlklingende, zarte, ja anheimelnde Melodik. Die Tenorstimme wiederholt die melodische Linie des Soprans nach der Art eines Kanons, also kontrapunktisch, um einen Takt versetzt, du dies im Terz- und Quintenintervall. „Sehnsucht“ wird hier auf melodisch beeindruckende Weise zum Ausdruck gebracht. Für mich ist diese Melodik aber zu schön, und in ihrer mehrfachen Wiederholung zu einschmeichelnd, wenn ich die Verse im Hinterkopf habe: „Es schwindelt mir, es brennt // Mein Eingeweide“.


    Hier ist Schubert übrigens von der Parallelführung der Stimmen abgewichen und lässt sie abwechselnd hintereinander in rezitativisch geprägtem Ton deklamieren, - über Tremoli im Klavierbass und gehaltenen Akkorden im Diskant. Sie werden übrigens, wie nahezu alle lyrischen Aussagen, wiederholt. Aber diese Passage des Duetts ist, vernimmt man sie gleichsam gerahmt und klanglich eingehüllt von jener – durch einfache akkordische Begleitung gestützten - Melodik und ihrem Wohlklang mit dem jegliche Dissonanz und jegliche harmonische Rückung meidenden Zusammenspiel der Stimmen, einfach zu schön, als dass sie aus einem zerrissenen Herzen kommen könnte.

  • D. Fischer-Dieskau meinte, Schubert habe, „vielleicht verlegerischen Überlegungen folgend“, die Fassung für Singstimme und Klavier von „Nur wer die Sehnsucht kennt“ als Nummer 4 seinem Opus 62 hinzugefügt. Das liest sich so, als sei ihm diese als Teil dieser Liedpublikation weniger wichtig gewesen als die Fassung in Duett-Form.
    Ich halte das für eine unzutreffende Vermutung. Warum? Weil sich Schubert mehrfach mit diesem Gedicht Goethes in Gestalt eines Liedes für Singstimme und Klavier auseinandergesetzt hat. Und zwar seit Oktober 1815 in insgesamt vier Fassungen:
    D 310 (Oktober 1815)
    D 359 (1816)
    D 481 (September 1816), und
    D 877 Nr.4 (Januar 1826)


    Offensichtlich waren ihm diese Verse Goethes als textliche Grundlage für eine Liedkomposition sehr wichtig. Und das verwundert nicht, steht doch ein für ihn existenziell höchst relevantes Thema im Zentrum der dichterischen Aussage: Die Sehnsucht. Die adäquate musikalische Gattung war für ihn – und das entspricht ja völlig seinen liedkompositorischen Intentionen - das Klavierlied für eine Singstimme. Es gäbe sonst keine vier Versionen davon.


    Die Fassung für zwei Stimmen scheint mir eher dem Wunsch geschuldet, dem literarischen Kontext im Roman Goethes kompositorisch gerecht zu werden. Für Schubert konnte diese Version, was das musikalische Erfassen der Aussage des lyrischen Textes anbelangt, dem kompositorischen Konzept für Solo-Singstimme und Klavier eigentlich nicht überlegen sein.


    Wenn das Duett – aus meiner Sicht – auch dem lyrischen Text weniger nahgekommen ist als die Fassung für Solo-Stimme, so ist doch noch mehr von der dichterischen Aussage darin zu vernehmen als in einer weiteren Komposition Schuberts auf dieses Gedicht:
    Einem Quintett für zwei Tenöre und drei Bässe, D 656.
    Dem vermag ich nun allerdings überhaupt nichts abzugewinnen, - als Vertonung jener Verse Goethes.


  • Ich staune nur, lieber Farinelli. Das ist ein wahres kleines Schubert-Essay und eine Kunst hermeneutischer Entschlüsselung von Musik, wie sie nur wenige beherrschen! Ein Glanzlicht für dieses Forum! Hoffentlich wissen das auch alle zu schätzen... :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Dieser Thread, der ganz bewusst an der Fragestellung jenes anderen anknüpfte, der nach „Schuberts Ausnahmerang als Liedkomponist“ fragt, wobei diese Frage als die nach der spezifischen Eigenart von Schuberts Liedsprache verstanden wurde, ging in seiner thematischen Beschränkung auf „Schubert und Goethe“ von der in der Eröffnung formulierten These aus:
    In der Begegnung mit der Lyrik Goethes fand Schubert als Liedkomponist zu sich selbst. Sie war der gleichsam zündende Funke zur Entwicklung der für ihn so typischen und ihn liedhistorisch auszeichnenden Liedsprache.
    Oder wie Eduard von Bauernfeld es bildhaft formulierte:
    „Vorzüglich (waren) es Goethes Gedichte, welche die frische, jugendliche, noch ganz unbefangene Seele Schuberts wie Feuerfunken befielen, aber auch darin etwas antrafen, was Feuer fing“.


    Die Begegnung Schuberts mit Goethes Lyrik erfolgte auf der Grundlage einer tiefinnerlichen künstlerischen Verwandtschaft:
    Goethes lyrische Sprache zeichnet sich durch die Verdichtung und Reduktion eines hohen emotionalen Erlebnispotentials auf gleichsam elementare Sprachlichkeit und Metaphorik aus, die beide eben deshalb einfach wirken und unmittelbar anzusprechen vermögen. Und es dürfte deutlich geworden sein, dass sich Schubert gerade darin unmittelbar angesprochen fühlte. Auch seine Liedsprache weist eben diese spezifischen Merkmale auf.


    Es ist aus diesem Grunde keineswegs ein Zufall, sondern eben diesem Aufeinandertreffen von einer der lyrischen Sprache mit einer ihr innerlich und strukturell zutiefst verwandten musikalischen Sprache geschuldet, dass sich an jenem 19. Oktober 1814, am Tag der Komposition von „Gretchen am Spinnrade“ also. das ereignete, was der Schubertlied-Kenner Thr. Georgiades mit den Worten beschrieb:
    „Darin liegt das bis dahin Unerhörte dieser als unmittelbares Lodern anmutenden Vertonung: Hier wird die Synthese des vor-schubertschen Liedsingens als Gehäuse und des in musikalische Substanz verwandelten Liedes vollzogen.“


    Nicht alle Lieder auf Gedichte von Goethe konnten hier berücksichtigt werden. Bei der -unvermeidlichen - Auswahl wurde aber darauf geachtet, dass sie sich auf die gesamte historische Spanne der Beschäftigung Schuberts mit der Lyrik Goethes erstreckte – also von „Gretchen am Spinnrade“ bis zu den „Mignon-Liedern“ - und dass hierbei der Aspekt der liedkompositorischen Relevanz der maßgebliche war, das heißt also all diejenigen Lieder in die analytische Betrachtung einbezogen wurden, bei denen sich der Vorgang der Verwandlung von lyrischer Sprache in musikalische in detaillierter, das heißt die jeweiligen lyrischen und musikalischen Strukturen berücksichtigender Weise aufzeigen ließ.


    In diesem Rückblick soll nun nicht mehr aufgelistet werden, was diese liedanalytischen Betrachtungen der Goethe-Lieder im einzelnen erbrachten. Das ist ja alles hier nachlesbar. Im Sinne einer all das zusammenfassenden und auswertenden Bilanz mag aber dies als Hoffnung ausgesprochen werden:
    Deutlich sollte geworden sein, dass Schubert in der liedkompositorischen Auseinandersetzung mit Goethes Lyrik nicht nur maßgebliche, gleichsam konstitutive Impulse für sein Liedschaffen erhielt, sondern dabei auch eine Entwicklung durchlief, die sich als immer weiter fortschreitender Prozess der Emanzipation vom lyrischen Text im Sinne eines Sich-Lösens von dessen formaler Gestalt darstellt Man könnte hier durchaus von einem Prozess der liedkompositorischen Reifung sprechen.


    An Liedern wie „Auf dem See“, „Ganymed“ oder „Wandrers Nachtlied“ – um nur drei Beispiele anzuführen, ist die Souveränität , die Schubert im Verlauf seiner Auseinandersetzung mit Goethes Lyrik hinsichtlich des kompositorischen Umgangs mit dem lyrischen Text gewonnen hat, in gleichsam exemplarischer Weise hörend zu vernehmen und hier wohl auch liedanalytisch aufgezeigt worden:
    In seinem Bestreben, einerseits dem lyrischen Text zu folgen und dabei die dichterische Aussage voll zu erfassen, andererseits aber auch den Anforderungen nach innerer Einheit und Geschlossenheit des Liedes als musikalisches Werk gerecht zu werden, setzt er sich zwar über die formalen Vorgaben des Dichters hinweg, emanzipiert sich also von der Gestalt des lyrischen Textes, wie sie vom Dichter vorgegeben ist, gibt aber gleichwohl – und gerade deshalb – die dichterische Aussage mit den Mitteln der Musik in vollkommener und ganz und gar unverfälschter Weise wieder.


    Das gelingt ihm, weil er mit seiner Musik unmittelbar an der Semantik der lyrischen Sprache und ihrer Metaphorik ansetzt und den formalen Anforderungen, die die Musik dabei stellt, Priorität gegenüber der Form des sprachlichen Kunstwerks einräumt. In der Regel kommt dabei das kompositorische Mittel der Wiederholung zu Einsatz. Das kann aber auch so weit gehen, dass dabei, wie dies bei „Ganymed“ der Fall ist, die „Unordnung“ der freien Rhythmen Goethes durch die spezifische Struktur der Musik auf eine höhere Stufe formaler Ordnung gehoben wird.

  • Donnerschlach, Farinelli,


    ab und zu, auch wenn es sehr selten ist, hat man dann doch den Eindruck, daß sich Nachdenken über Musik in speziellen Fällen lohnt.


    Chapeau.

  • Einen, der mehr als drei Monate damit verbracht hat, Schuberts Goethe-Lieder hier in liedanalytischer Betrachtung vorzustellen und, damit einhergehend, natürlich auch über sie nachzudenken, stimmt eine Bemerkung wie diese:
    "Ab und zu, auch wenn es sehr selten ist, hat man dann doch den Eindruck, daß sich Nachdenken über Musik in speziellen Fällen lohnt" (Zit. m-mueller)
    überaus nachdenklich!
    Vor allem, wenn er noch den vorangehenden , den gleichen Bezug aufweisenden Beitrag von Dr. Holger Kaletha im Kopf hat


    Er wird sein "Nachdenken" nun erst einmal grundsätzlich auf die Qualität und die Sinnhaftigkeit seiner Betätigung in diesem Forum richten. Und das natürlich in der Stille seiner Kammer.

  • Gute Güte, Helmut: ignoriere meinen Beitrag, ich gehöre nicht zu Deiner Zielgruppe.


    Als Musikhedonist stehe ich jeglichen Musikanalytikern grundsätzlich skeptisch gegenüber, außerdem halte ich wenig von Goethe (Schiller ist sprachlich meilenweit vorn) und kenne von Schubert zu wenig, um mir überhaupt eine Meinung leisten zu können.


    Du hast hier Deine treue Fangemeinde (zu der ich nicht gehöre, nicht, weil ich Dich als Person ablehne, sondern, weil wir einen so ziemlich diametral entgegengesetzten Musikgeschmack und auch eine völlig unterschiedliche Herangehensweise an Musik haben).


    Ich vermute mal, daß Du auch sehr wenig davon hältst, wie ich meinen Fugen-Thread führe, was mich andererseits nun jetzt nicht bitter stimmt, weil Du auch wohl nicht zu meiner Zielgruppe gehörst.


    Farinellis Beitrag finde ich deshalb gut, weil er ohne große Vorkenntnisse und ohne, daß man sich durch einen langen Thread wühlen muß, unmittelbar einsichtig ist; das ist nun nichts, was Deine Arbeit irgendwie tangieren sollte.

  • Vor allem, wenn er noch den vorangehenden , den gleichen Bezug aufweisenden Beitrag von Dr. Holger Kaletha im Kopf hat


    Er wird sein "Nachdenken" nun erst einmal grundsätzlich auf die Qualität und die Sinnhaftigkeit seiner Betätigung in diesem Forum richten. Und das natürlich in der Stille seiner Kammer.


    Lieber Helmut,


    keine Angst, ich bleibe hier! :hello: Das war wieder einmal ein wunderbarer Thread! Was hast Du als nächstes vor? Ich höre mich z. Zt. peu a peu durch die Wolf-Box von Fidi und Barenboim. (Harfenspieler I z.B., was für eine unglaubliche Vertonung!) Wie wärs im Anschluß an Goethe und Schubert mit Goethe und Wolf? :)


    Schöne Grüße
    Holger

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