Klassische Musik und "Demokratie"

  • Hallo Gino,


    Zitat

    Was schlägst Du vor, könnte ein Staat der "nicht völlig dem Neoliberalismus verschrieben ist", gegen MTV & Co. tun? Wie willst Du die jungen Menschen zu ihrem Glück zwingen?


    Es geht überhaupt nicht darum, etwas gegen Mtv & Co. zu tun. Ich spreche dem ja nicht die Berechtigung ab. Ich selber bin ja auch gelegentlicher Nutzniesser davon.
    Es geht nur darum, dass ich meine, es ist die Verantwortung der Regierenden, Alternativen zu zeigen, darauf hinzuweisen und sie dementsprechend zu fördern, anstatt (und hier sind wir beim Neoliberalismus) tatenlos zu zu sehen, wie der Markt bestimmt, was gut (=lukrativ) ist.


    mfg Raphael

  • Zitat

    Original von Mr.Conductor
    Es geht überhaupt nicht darum, etwas gegen Mtv & Co. zu tun. Ich spreche dem ja nicht die Berechtigung ab. Ich selber bin ja auch gelegentlicher Nutzniesser davon.
    Es geht nur darum, dass ich meine, es ist die Verantwortung der Regierenden, Alternativen zu zeigen, darauf hinzuweisen und sie dementsprechend zu fördern, anstatt (und hier sind wir beim Neoliberalismus) tatenlos zu zu sehen, wie der Markt bestimmt, was gut (=lukrativ) ist.


    Hallo Raphael,


    ich scheine da ein gänzlich anderes Staatsverständnis zu haben. Ich traue dem Individuum offenkundig mehr zu als Du.


    Aber noch einmal konkret: Was denkst Du, sollte der Staat denn tun, um musikalische Alternativen aufzuzeigen? Ich wußte bisher gar nicht, daß dies zu seinen Aufgaben gehört. Es sei denn Du sprichst von einem totalitären System wie der DDR.


    Grüße, Gino

    Im Verhältnis zur Musik ist alle Mitteilung durch Worte von schamloser Art.
    Friedrich Nietzsche

  • Hallo Gino,


    Ich meine hier den Staat im indirekten Sinn. Durch Bildungspolitik, die ja auch Aufgabe des selben ist. Wer macht denn die Lehrpläne?
    Im Deutschunterricht an den Schulen funktioniert es ja ganz gut, dass den Schülern die klassische Literatur und die Lust am Lesen, auch am kritischen Lesen, vermittelt wird. Auf jeden Fall wesentlich umfassender, als in anderen künstlerischen Fächern.
    Wir müssen uns die Frage stellen, warum das im Musikunterricht nicht der Fall ist. Ich glaube nicht, dass das an der Qualität des Unterrichtsstoff liegt.
    Es ist in meinem Verständnis durchaus Aufgabe des Staates, Monopolbildung entgegen zu wirken. Und wir reden hier mehr oder weniger über ein Monopol. Wenn auch ein Ästhetisches.


    Totalitär ist ein Staat erst dann, wenn er explizit etwas verbietet, nicht wenn er etwas fördert, was vielleicht im Hintergrund steht, aber ein Teil des (ich mag diesen Ausdruck eigentlich nicht) kulturellen Erbes ist.


    mfg Raphael

  • Zitat

    Original von Mr.Conductor
    Ich meine hier den Staat im indirekten Sinn. Durch Bildungspolitik, die ja auch Aufgabe des selben ist. Wer macht denn die Lehrpläne?
    Im Deutschunterricht an den Schulen funktioniert es ja ganz gut, dass den Schülern die klassische Literatur und die Lust am Lesen, auch am kritischen Lesen, vermittelt wird. Auf jeden Fall wesentlich umfassender, als in anderen künstlerischen Fächern.
    Wir müssen uns die Frage stellen, warum das im Musikunterricht nicht der Fall ist. Ich glaube nicht, dass das an der Qualität des Unterrichtsstoff liegt.
    Es ist in meinem Verständnis durchaus Aufgabe des Staates, Monopolbildung entgegen zu wirken. Und wir reden hier mehr oder weniger über ein Monopol. Wenn auch ein Ästhetisches.


    Ich bin ganz Deiner Meinung. Der Staat hat (auch im eigenen Interesse) der Volksverdummung durch gewisse Massenmedien entgegenzuwirken, langfristig ist sonst nämlich die Demokratie ingsgesamt in Gefahr.(Offensichtlich profitiern gewisse Kreise natürlich massiv von Verdummung und mangelnder Denkfähigkeit.)
    Außerdem haben die öffentlichen Rundfunk- und Fernsehsender jedenfalls in D eine festgeschriebenen Kulturauftrag (der sie u.a. legitimiert Zwangsgebühren einzutreiben), der sie zur Kulturförderung verpflichtet. Leider kommen sie dem m.E. nur noch sehr eingeschränkt nach: Anstatt eine Alternative zu bieten, werden im TV zunehmend die Verblödungssender nachgeäfft, in den Hauptnachrichten muß ich mehrere Minuten über die schwachsinnigen MTV-awards ertragen usw.
    Der Einfluß der Unterhaltungsindustrie mag technisch/rechtlich gesehen kein Monopol sein, er ist überwältigend und hat definitiv totalitäre Züge, wenn nämlich immer weniger Leuten klar ist, dass es Alternativen gibt, weil sie derart mit Mist vollgedröhnt werden.


    Man sollte nicht so tun, als ob keine staatliche Einmischung nicht auch eine politische Entscheidung und Lenkung wäre. Selbstverständlich ist sie es, genauso wie ich, wenn ich nicht versuche, den Ertrinkenden zu retten, die Straftat der unterlassenen Hilfeleistung begehe.


    Zitat


    Totalitär ist ein Staat erst dann, wenn er explizit etwas verbietet, nicht wenn er etwas fördert, was vielleicht im Hintergrund steht, aber ein Teil des (ich mag diesen Ausdruck eigentlich nicht) kulturellen Erbes ist.


    Ich finde den Ausdruck o.k., wobei Musik (und andere Teile des Kulturellen Erbes) ja nicht nur deswegen wertvoll sind, weil sie ein Bestandteil des kulturellen Erbes sind, sondern sie sind erhaltenswert, weil sie per se wertvoll sind.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • hallo,


    zu dem schon öfter angesprochenen Gedanken, dass der Musikunterricht in den Schulen bei den Schülern Interesse an der klassischen Musik hervorrufen solle, folgendes:


    Im Prinzip bin ich als angehender Musiklehrer ja auch dieser Meinung, allerdings scheinen das die Lehrplanautoren etwas anders zu sehen. Die "Lebensweltorientierung" ist eins der ganz großen Schlagwörter der aktuellen Diskussion, heißt also, Bezug nehmen auf die Erfahrungen der Schüler (also meistens mit U-musik) und von diesen Erfahrungen ausgehend musikalische Gesetze usw. erarbeiten. Nun gibt es in der Mittelstufe (8-10) in Bayern jeweils eine Stunde Musikunterricht pro Woche, was ja schon nicht allzuviel ist. Wenn dann der Lehrplan noch mehr als eine Hälfte Pop/Rockmusik beinhaltet, bleibt relativ wenig Raum, eine Begeisterung für E-Musik zu erwecken.


    "Die Schüler sollen ihre Hörerfahrungen mit Rockmusik erweitern und lernen, das aktuelle Medienangebot kritisch zu durchschauen. Beim Singen und Spielen einfacher Pop-/Rock-Modelle erleben sie die emotionale und gemeinschaftsbildende Wirkungs dieser Musik."


    (LP für Jahrgansstufe 8 )


    Solche und ähnliche Anweisungen finden sich zuhauf im Lehrplan. Meiner Meinung nach relativ nahe an bloßer Beschäftigungstherapie, die Chancen des Lehrers sehe ich sehr gering, bei den Schülern (ausser eventuell in Schulchor/ Orchester) "Werbung" für die Klassik zu betreiben.


    Gruß, flo

    "Das Leben ist zu kurz für schlechte Musik"


    Wise Guys 2000

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Hallo zusammen,


    den in Threads wie diesen geführten Diskussionen würde ich gern eine andere Richtung geben. Mir gefällt der Ansatz von vielen Beteiligten sehr, diese Fragen auf einen sachlicheren Boden zu bringen, und ich habe aus den jetzt vorliegenden Beiträgen einiges gelernt. Und doch gehen die vielen Argumente ein wenig an dem von Alfred angeschlagenen Ton vorbei. Daher droht auch diese Diskussion ähnlich zu versanden wie z.B. die über neue Opernaufführungen, auf die ich kürzlich – trotz meiner Opern-Abstinenz – gestoßen bin, und sie wird sich immer neu wiederholen in ähnlichen Threads, vielleicht mit anderen Gesprächsteilnehmern.


    Auch mir ist bislang nicht möglich, auf den Punkt zu bringen, woran das krankt. Wie ein Schock wirkte da ein Text über „Komponieren im 21. Jahrhundert“ von Sandeep Bhagwati am Institut für Elektronische Musik und Akustik (IEM) in Graz. Bitte nicht von diesem Namen schrecken lassen. Aber dort stehen die richtigen Provokationen, die zum Nachdenken anregen! Link


    Ein Beispiel: Schon die Zwischenüberschrift „Oper ist Subkultur“ trifft den Nagel auf den Kopf.


    „Warum noch die Oper angreifen, wenn die reichsten Menschen der Welt (wie z.B. Bill Gates) nicht mehr in die Oper gehen, sondern Rockmusik lieben? Warum den Protz der Altreichen anprangern, wenn die tatsächliche Gefahr für den Geist von all den Jazzanthologie-Käufern und Joe Cocker-Hörern in Chefetagen und an Börsenplätzen rund um die Welt ausgeht? Die gemütliche alte Tante Oper ist, so betrachtet, geradezu eine besonders subtile Form des gesellschaftlichen Widerstands gegen die Ex-und-Hopp Mentalität der Medien- und Wertpapierwelt.“


    „In einer Zeit, als die europäische Kultur noch dominant war, gehörte die Oper zu den Institutionen, die man mit der High Society verband. (...)Aber gerade diese Elite hat sich in den letzten Jahrzehnten von Grund auf gewandelt: Sie ist nun eine global fein verteilte, nicht mehr an ein Land und eine Kultur gebundene Schicht, die sich unter- und übereinander medial verständigt - auch in ihrem Verhältnis zur Kultur. Wenn der Besuch der Oper früher vor allem dem Sehen und Gesehenwerden diente, so kann dies in der medialen Gesellschaft viel effektiver bei anderen Gelegenheiten geschehen, die es nicht erfordern, sich drei Stunden auf unbequemen Stühlen mit kreischenden Primadonnen, einem für ein gepflegtes Geschäftsgespräch viel zu lauten Orchester und einer unverständlichen, langen Handlung auseinanderzusetzen.“


    Ich könnte mit wachsender Begeisterung immer weiter zitieren. Wen das interessiert, der lese selbst ...


    Ich will das keineswegs unterschreiben, aber so wünsche ich mir die Fragen gestellt. Eine schnelle Antwort oder Überbieten mit besseren Ideen, darum geht es nicht. Aber ich würde mich über Kommentare freuen.


    Viele Grüße,


    Walter

  • Lieber Walter T.,


    Zitat

    Original von Walter.T


    Auch mir ist bislang nicht möglich, auf den Punkt zu bringen, woran das krankt. Wie ein Schock wirkte da ein Text über „Komponieren im 21. Jahrhundert“ von Sandeep Bhagwati am Institut für Elektronische Musik und Akustik (IEM) in Graz. Bitte nicht von diesem Namen schrecken lassen. Aber dort stehen die richtigen Provokationen, die zum Nachdenken anregen! Link


    Für den Hinweis auf diese wahrhaft die rechten Provokationen formulierenden Texte sei Dir mein ausdrücklicher Dank ausgesprochen. Ja, sie passen in diesen Thread, und es ist absolut erstaunlich, was man in den Tiefen des Netzes finden kann.


    Ich werde sicher immer wieder auf das ein oder andere in diesen Texten zurückkommen - sei es explizit oder implizit.


    Beste Grüsse,


    C.

    Die wirkliche Basis eines schöpferischen Werks ist Experimentieren - kühnes Experimentieren! (Edgar Varèse)