Zyklus der Verzweiflung - Schuberts Winterreise

  • Hallo,


    schade, dass Helmut aus dem von ihm gestarteten Thread "Schuberts Winterreise in liedanalytischer Betrachtung" ausgestiegen ist und nun zur Winterreise nur noch im Thread "Zyklus der Verzweiflung - Schuberts Winterreise" postet. (Inwieweit sich die eingestellten Beiträge in ihrem verwertbaren Informationsinhalt überschneiden, das festzustellen sei jedem Leser anheim gestellt.)


    Wer sich nun also über die Meinungen der drei ursprünglich Beteiligten informieren will, muss nun leider in zwei Threads lesen. (Jeder Beteiligte wird, so vermute ich mal, Leser mit unterschiedlichem Informationsbedürfnis ansprechen. Und auch erreichen?)

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat zweiterbass:


    "schade, dass Helmut aus dem von ihm gestarteten Thread "Schuberts Winterreise in liedanalytischer Betrachtung" ausgestiegen ist "


    Das hat dieser "Helmut" so nicht gewollt. Schließlich hat er diesen Thread selbst initiiert. Dass ihm der Aufenhtalt dort schließlich unmöglich wurde, war nicht vorauszusehen und wird von ihm selbst sehr bedauert.

  • Wie haben die Interpreten meiner Referenzaufnahmen diese strukturellen Eigenarten der musikalischen Faktur des Liedes "im Dorfe" aufgegriffen und sängerisch umgesetzt? Zu meinem Erstaunen teilweise ganz anders, als ich mir das in meiner liedanalytischen Reflexion vorgestellt hatte. Ich gebe die Ergebnisse meines Hörvergleichs wieder.


    D. Fischer-Dieskau: Die ersten Verse werden in der Haltung des gleichsam ruhigen Feststellens eines Sachverhalts gesungen. Die melodischen Spitzen erhalten keinen sonderlichen Nachdruck. Ein deutlich affektiver Akzent ist allerdings beim dritten Vers („Träumen sich manches…“) zu hören. Noch ausgeprägter ist dieser bei der Stelle „ist alles zerflossen“. Man hört, dass Fischer-Dieskau unter ganz bewusster Einbeziehung der semantischen Ebene des lyrischen Textes interpretiert.


    Das kann man auch bei dem doppelten „je nun“ erkennen. Dieser sprachlichen Partikel wird ein deutlicher lapidar klagender Ton verliehen. Die Ansprache der „Hunde“ erfolgt in deklamatorisch akzentuiertem Ton, und das „lasst mich nicht ruhn“ wird deutlich affektbetont gesungen.


    Der Vers „Ich bin am Ende…“ bekommt dadurch einen ganz besonderen affektiven Nachdruck, dass vor dem Wort „Ende“ eine winzige Pause gemacht wird. Auch bei der Wiederholung des Verses geschieht das, und auf diese Weise kommt der musikalische Effekt, den Schubert mit dem Wechsel der Tonart auf diesem Wort erzielen wollte, sehr deutlich zur Geltung.


    M. Goerne: Der Ton, in dem die ersten beiden Verse gesungen werden, lässt innere Anteilnahme an dem hören, was über die nächtliche Welt des Dorfes lyrisch gesagt wird. Bei der melodischen Spitze auf dem Wort „ihren“ („Betten“) liegt aus deutliches Crescendo, gepaart mit einer leichten Dehnung. Beim letzten Vers der Strophe („und morgen früh…“) wird die Stimme kontinuierlich zurückgenommen und das Tempo deutlich verlangsamt. Man kann hören: Die erste Strophe wird stark affektbetont interpretiert.


    Ganz anders der Ton in der zweiten Strophe. Dem „je nun“ fehlt jeglicher Beiklang von Klage. Es wirkt wie eine nüchtern-lakonische Feststellung. Die Ansprache an die „Hunde“ erfolgt mit deklamatorischem Nachdruck, aber den Worten „lasst mich nicht ruhn“ wird kein Ton von Resignation oder Mattigkeit beigegeben.


    Auch die beiden letzten Verse werden zunächst wenig affektbetont gesungen. Das Wich bin zu Ende…“ klingt beim ersten Mal wie eine nüchtern getroffene Feststellung. Erst bei der Wiederholung wird die Stimme ins Piano zurückgenommen und mit dem Ton von Mattigkeit eingefärbt.


    Chr. Prégardien: Diese Interpretation ist ungewöhnlich sprachbetont. Auf dem Wort „bellen“ liegt eine leichte Dehnung; auch das Wort „ihren“ (Betten) wird mit einer solchen versehen. Ähnlich wie bei Fischer-Dieskau, wird beim letzten Vers der Strophe (Ist alles zerflossen“) das Tempo zurückgenommen, und zusätzlich kommt noch ein leichter Klageton in die Stimme. Nicht sonderlich affektiv betont werden die beiden „je nun“. Insgesamt wird dieser relativ „nüchterne“ Ton die ganze zweite Strophe über beibehalten.


    Sehr direkt und deklamatorisch akzentuiert wirkt die Ansprache der „Hunde“. Auch das „lasst mich nicht ruhn“ wirkt affektbetont. Bei den beiden letzten Versen („Ich bin zu Ende“) klingt hörbar starke Mattigkeit durch, ja vielleicht sogar Resignation. Das verstärkt sich noch bei der Wiederholung, weil - ähnlich wie bei Fischer-Dieskau, nur nicht so stark ausgeprägt – der Tonartwechsel auf dem Wort „Ende“ in seiner Aussagewirkung mit einem leichten Decrescendo verstärkt wird. Mit einer ausgeprägten Dehnung und einer Tempoverlangsamung wird das letzte Wort stimmlich gestaltet: „säumen“.


    Es geht mir hier wie so oft bei diesen Interpretationsvergleichen:


    Zu meinem Erstaunen klingen die einzelnen Aufnahmen anders, als ich mir das bei meinen liedanalytischen Betrachtungen so vorgestellt hatte. Sänger lesen die Noten anders als unsereiner. Und das im Grund Erstaunliche ist: In allen Fällen würde ich, jedenfalls bei diesen meinen Referenzaufnahmen, sagen: Ja, das ist durchaus notentextgemäß.


    Warum aber habe ich das beim Lesen der Noten nicht gehört?


    Ich habe einen Verdacht. Könnte es sein, dass ich beim Lesen der Noten noch viel zu wenig musikalisch dachte? Dass ich lesend mehr vom lyrischen Text ausging als von den Noten, in denen er sich – nach Schuberts Leseweise! – musikalisch materialisierte? Vielleicht sollte mir das einhämmern, denke ich, - als Richtlinie für alle meine weiteren Versuche in Sachen Liedanalyse.

  • Zwei Lieder (und Gedichte) der „Winterreise“ stellen einen vor ganz eigene Verständnisprobleme, weil sie sich auf den ersten Blick nicht so recht in den Kontext des Zyklus fügen wollen: Das Lied „Mut“ und eben dieses, „Der stürmische Morgen“.


    Wenn man bedenkt: Eben noch, im vorangegangenen Lied „Im Dorfe“, die zutiefst depressive, von Lebensmüdigkeit geprägte Feststellung: „Ich bin zu Ende mit allen Träumen“, - und nun dieses wie von Trotz und aufbegehrender Energie geprägte Lied.


    Dabei ist es ja nicht nur der von Schubert so gewollte rhythmische Grundton, der verblüfft: Viervierteltakt, zum ersten Mal einer, der wie der eines Wanderlieds empfunden wird, obwohl von Wandern überhaupt nichts im lyrischen Text steht. Und dann die Anweisung: „Ziemlich geschwind, doch kräftig“. Fischer-Dieskau weist mit Recht darauf hin, dass das „Ziemlich“ eigentlich unterstrichen gehört.


    Aber es ist ja schon der Rhythmus des lyrischen Textes, der überrascht, wenn nicht sogar verblüfft. Gerade erst, bei „Im Dorfe“ ein müdes, von Daktylen geprägtes Fließen der Verse, und jetzt diese von jambischen Akzenten fast schroff strukturierte Rhythmik. Hat dieser Wanderer wirklich wieder Mut gefasst? Suggerieren der lyrische Text und das Lied wirklich so etwas wie einen Aufbruch?


    Da will sich im Verständnis etwas nicht fügen, wenn man zurückblickt auf das, was man schon gehört hat. Aufbruch wohin denn? Und woher denn diese neue Energie? Soll man das so verstehen, dass sie aus der im vorigen Lied („Im Dorfe“) artikulierten Einsicht des Wanderers erwachsen ist, dass er definitiv und endgültig nicht mehr zu jenen gehört, die in dörflicher, oder welcher Gemeinschaft auch immer, ihr ganz normales menschliches Leben führen?


    Zwei Verse bereiten mir ganz besondere Verständnisprobleme. Sie finden sich am Ende der der dritten Strophe:


    Mein Herz sieht an dem Himmel
    Gemalt sein eig´nes Bild –
    Es ist nichts als der Winter,
    Der Winter, kalt und wild.


    Was mich stutzig macht an dieser Strophe – und damit am Verständnis des ganzen Gedichts – ist dieses:


    Bisher war es immer so, dass sich reale (winterliche) Außenwelt und seelische Innenwelt in den Aussagen des lyrischen Ichs nahezu ununterscheidbar vermischten, eine regelrechte Synthese eingingen. Und hier jetzt plötzlich? Die beiden letzten Verse können doch eigentlich nur so verstanden werden, dass der Wanderer sich von der gerade vorgenommenen Gleichsetzung dessen, was er am Himmel sieht, mit dem, was er in seinem Herzen fühlt, distanziert.


    Das scheint neu zu sein. Der Wanderer weigert sich mit einem Mal, „sein Herz“ so zu sehen, wie er das Bild am Himmel verstanden hat: „Zerrissen“ ist das das lyrische Bild vom stürmischen Morgen prägende Wort. Also doch eine für diese bisherige „Winterreise“ neue Situation? Ein wirklicher Neuaufbruch?


    Was aber, wenn man diese Schlussverse anders liest. So nämlich: Im Grunde weiß der Wanderer, dass es in seinem Herzen so aussieht, wie da droben am stürmischen Morgenhimmel. Er möchte, einen winzigen Augenblick lang, dass dies nicht so ist, wenn er sich einredet: „Es ist nichts als der Winter“. Ich Wirklichkeit weiß er es besser. Und da bestünde dann auch die gedankliche Brücke zu dem Lied „Mut“. Das muss nämlich ähnlich gelesen, gehört und verstanden werden.


    Es ist für denjenigen, der sich um ein Verständnis der Gedichte Müllers und der Musik Schuberts bemüht, immer von höchstem Interesse, sich die musikalischer Faktur der Lieder der „Winterreise“ unter der Fragestellung anzusehen: Wie hat Schubert denn die Verse Müllers gelesen?


    Und da fällt mir in bezug auf meine Fragestellung, das Verständnis der letzten Strophe betreffend, folgendes auf, - und das ist überaus bemerkenswert, weil es eine Antwort enthält:


    Die beiden ersten Verse der letzten Strophe werden von Schubert in Form einer sich im Unisono von Singstimme und Klavier sich entfaltenden melodischen Linie gestaltet, die sich in Achteln und Sechzehnteln aufgeregt auf und ab bewegt. (Takte 12f.). Dann aber geschieht etwas für die „Winterreise“ gänzlich Ungewöhnliches: Das „Es ist nichts als der Winter“ wird im Fortissimo gesungen und auch noch wiederholt. Das ist nicht die Lautstärke der übrigen Lieder der „Winterreise“! Dieser Zyklus ist in seinem tonalen Grundcharakter ein leises Werk!


    Wie ist das zu verstehen? Nun, ich glaube, eben so: Da redet sich einer etwas ein, mit aller Kraft sozusagen, musikalisch fortissimo eben. Er will sich einreden, dass es in seinem „Herzen“ eben nicht so aussehe wie da oben am Himmel. Und er weiß es im Grunde eben dieses Herzens doch besser.

  • Zu meinem Erstaunen teilweise ganz anders, als ich mir das in meiner liedanalytischen Reflexion vorgestellt hatte.


    Ich habe einen Verdacht. Könnte es sein, dass ich beim Lesen der Noten noch viel zu wenig musikalisch dachte? Dass ich lesend mehr vom lyrischen Text ausging als von den Noten, in denen er sich – nach Schuberts Leseweise! – musikalisch materialisierte?


    Danke. Ich bin sicher, es wird wieder eine Annäherung in der Sache geben.


    Viele Grüße und weiterhin viel Freude mit Schubert und dem Lied im allgemeinen.
    Wolfram

  • Wolfram meint:


    "Danke. Ich bin sicher, es wird wieder eine Annäherung in der Sache geben."


    Eine "Entzweiung" ausgerechnet über eine so schöne Sache wie das Lied wäre ja nun wirklich eine betrübliche Angelegenheit. Es hat sie aber nie wirklich gegeben.


    Wir unterscheiden uns hier im Liedforum darin, dass wir unerschiedliche Zugänge zu unserem gemeinsamen Gegenstand haben. Manchmal kann es geschehen, dass man eine bestimmte Methode des Umgangs mit dem Lied verabsolutiert und den Blick für die Vielfalt der Möglichkeiten verliert, die diesbezüglich bestehen.


    Aus vielerlei Gründen sah ich mich genötigt, meine Art des Umgangs mit dem Lied hier im Forum in Frage zu stellen und einer kritischen Prüfung zu unterwerfen. An meiner Grundhaltung hat sich eigentlich nichts geändert. Nach wie vor meine ich, dass der lyrische Text ein wesentlicher Gegenstand der Reflexion sein muss, wenn man sich mit dem Lied beschäftigt. Ganz einfach deshalb, weil dem lyrischen Text der Primat zukommt. Er lag schließlich schon vor, als ein Komponist sich von ihm angesprochen und zu einer Komposition inspiriert fühlte. Bei Schuberts "Winterreise" ist dieses "Angesprochen-Werden" durch die Gedichte Müllers ja bezeugt.


    Was mir ganz besondere Sorge machte und macht, ist die Tatsache, dass das Praktizieren der liedanalytischen Methode dazu führte, dass alle die Liedfreunde nach und nach verstummten, die hier im Forum ganz einfach ihre Freude über das zum Ausdruck bringen wollten, was sie bei der Begegnung mit diesem oder jenem Lied, mit diesem oder jenem Komponisten empfunden haben. Die Dimension des Hörens verkümmerte mehr und mehr. Ich fühle mich diesbezüglich schuldig. Ziemlich erschrocken bin ich auch über den hochgeschraubten intellektuellen Anspruch, der im Zuge der Liedanalyse in das Forum mehr und mehr Einzug nahm. Das widerspricht meiner Grundhaltung, was den diskursiven Umgang miteinander betrifft.


    Es besteht ganz sicher die Gefahr, dass man bei dem Versuch, den Gehalt eines Liedes im ersten Schritt vom lyrischen Text her zu erschließen, einer perspektivischen Verengung zum Opfer fällt: Man verliert die "Offenheit des Ohres" ( möchte ich das mal nennen), weil man befangen ist in dem, was man selber meint gehört zu haben. Ich denke aber, dass man mit einemen angemessenen Grad an Selbstkontrolle einer solchen Gefahr entgegensteuern kann.

  • Da will sich im Verständnis etwas nicht fügen, wenn man zurückblickt auf das, was man schon gehört hat. Aufbruch wohin denn? Und woher denn diese neue Energie? Soll man das so verstehen, dass sie aus der im vorigen Lied („Im Dorfe“) artikulierten Einsicht des Wanderers erwachsen ist, dass er definitiv und endgültig nicht mehr zu jenen gehört, die in dörflicher, oder welcher Gemeinschaft auch immer, ihr ganz normales menschliches Leben führen?


    Lieber Helmut,
    m. E. ja - das erste ..."Träumen..." steht in Moll, das zweite in Dur und beide "...Schläfer säumen" auch in Dur, das Lied endet auch in Dur, wenn auch in pp. "...welcher Gemeinschaft...normales menschliches Leben...". Eine provokante Frage (ohne Erwartung einer Antwort!) : Willst Du Dich zu den ...% der jetzigen "normalen" deutschen Gesellschaft zählen? Ich nicht! Da fällt mir nämlich sofort ..."denk' ich an Deutschland..." ein.


    Die drei Strophen von "Der stürmische Morgen" sehe ich für mich nicht so auseinander fallend. Strophe 1 + 2 zeigen die innere Zerrissenheit, der Beginn der 3. Strophe wird von der enttäuschten Wut des "Verletzten"in den letzten Verszeilen übertönt.

    Es besteht ganz sicher die Gefahr, dass man bei dem Versuch, den Gehalt eines Liedes im ersten Schritt vom lyrischen Text her zu erschließen, einer perspektivischen Verengung zum Opfer fällt: Man verliert die "Offenheit des Ohres" ( möchte ich das mal nennen), weil man befangen ist in dem, was man selber meint gehört zu haben. Ich denke aber, dass man mit einemen angemessenen Grad an Selbstkontrolle einer solchen Gefahr entgegensteuern kann.


    Wie sonst ist ein Lied zu verstehen, wenn man nicht anfangs nach dem Text fragt? Allerdings ist m. E. das Problem: Kann ich nachvollziehen, wie Schubert den Text verstanden/gedeutet hat und dementsprechend in Musiksprache verwandelt hat im Vergleich dazu, wie ich das rund 180 Jahre später tue? Manche Grundproblematik ist unverändert, aber sonst...


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zweiterbass hat an dem Begriff "normales menschliches Leben" Anstoß genommen, den ich in meiner Deutung des Liedes "Der stürmische Morgen" verwendet hatte. Dieser Begriff wurde von mir - wie nachzulesen ist - ganz bewusst unter Bezugnahme auf das Lied "Im Dorfe" verwendet. Gemeint ist das Leben, das Müller mit den Bildern von den "Schläfern" skizziert.


    Im Thread "Winterreise in liedanalytischer Betrachtung" wurde allerlei in die diesbezüglichen Verse Müller hineingeheimnist. Das soll hier nicht wiedergegeben oder kommentiert werden. Interessant ist aber, dass man offensichtlich selbst zum Opfer derartiger Überinterpretation werden kann. Die lyrischen Bilder, die Müller für die nächtlichen Schläfer verwendet, sind als lyrische Skizze eines Lebens zu lesen, das das Gegenteil von dem darstellt, das dem Wanderer auferlegt ist (wie er meint). Das ist ihre Funktion. Darin erschöpfen sie sich aber auch! Man muss nicht lange darin interpretierend herumrühren.


    Der Begriff der "Normalität" ist also in Relation zum Leben des Wanderers zu sehen, das dieser ja selbst als Leben in einer existenziellen Grenzsituation, als eben nicht "normal", empfindet. Die Menschen im Dorf tun das, was Menschen eben so tun, wenn sie ihr Leben leben: Sie wachen und schlafen. Und wenn sie schlafen, träumen sie von diesem und jenem, von dem, was sie nicht haben vor allem. Sie erlaben sich im Guten, aber auch im Argen, und wenn dann der Morgen kommt, ist alles zerflossen. Aber natürlich ist auch Hoffnung Bestandteil dieses Lebens. Wie anders sollte man sonst mit der Vergänglichkeit innerlich fertig werden können? Diese Schläfer verhalten sich eben so, wie Menschen dies nun einmal tun.


    Noch einmal: Diese lyrischen Bilder von den Schläfern im Dorf sind kontrafaktisch zu lesen. Es sind Bilder eines Lebens, das - in Relation zum Leben des Wanderers - insofern als "normal menschlich" gesehen wird, als es der Mensch eben so lebt. Insofern tragen wir alle etwas von dieser existenziellen Normalität in uns. Was da die Frage von zweiterbass soll: "Willst Du Dich zu den ...% der jetzigen "normalen" deutschen Gesellschaft zählen? Ich nicht! Da fällt mir nämlich sofort ..."denk' ich an Deutschland..." ein.", - das ist mir nicht erfindlich.


    Zu der Frage: "Kann ich nachvollziehen, wie Schubert den Text verstanden/gedeutet hat und dementsprechend in Musiksprache verwandelt hat im Vergleich dazu, wie ich das rund 180 Jahre später tue?"


    Selbstverständlich kann ich das nachvollziehen. Ich brauche mir nur die Lieder der "Winterreise" anzuhören. Die Sprache der Musik bleibt über den Wandel der Zeiten hinaus verständlich. Mich wundert, dass jemand diese Frage stellt, der doch gerade in den Liedern der "Winterreise" hören und emotional nachvollziehen kann, wie ein Mensch denkt und fühlt, der, selbst in einer Grenzsituation, eben deshalb zutiefst Menschliches erlebt, durchleidet und reflektiert.


    Wenn er singt: "Ich bin zu Ende mit allen Träumen", dann versteht man, wenn man sich hörend der melodischen Linie dieses Verses überlässt, auf der Stelle, was in diesem Menschen vorgeht. Es ist einem zutiefst vertraut und man erkennt sich darin wieder. Als Schubert diese Musik schrieb, befand er sich, wie wir wissen, in einer ähnlichen Situation. Zwar können wir heute nicht mehr nachvollziehen, welcher Art nun diese Träume bei ihm gewesen sein könnten, aber die existenzielle Grunderfahrung, die sich in der Musik dieses Verses aus dem Lied "Im Dorfe" musikalisch artikuliert, die verstehen wir auch heute auf Anhieb.

  • Zweiterbass hat an dem Begriff "normales menschliches Leben" Anstoß genommen


    Ich wüsste nicht wo?

    Dieser Begriff wurde von mir - wie nachzulesen ist - ganz bewusst unter Bezugnahme auf das Lied "Im Dorfe" verwendet. Gemeint ist das Leben, das Müller mit den Bildern von den "Schläfern" skizziert.


    Ich war der irrigen Meinung, mit dem Bezug auf die "Gulda/Golowin-Lieder" und das Zitat von "Heine" genügend Anhaltspunkte geliefert zu haben, was ich unter "normal" verstehe - nicht auf die menschl. Grundbedürfnisse beschränkt.

    Selbstverständlich kann ich das nachvollziehen. Ich brauche mir nur die Lieder der "Winterreise" anzuhören. Die Sprache der Musik bleibt über den Wandel der Zeiten hinaus verständlich.


    Und ich dachte bislang, zum Lied gehört ein Text (von den "Liedern ohne Worte" abgesehen). Die Musiksprache bleibt verständlich, bei textbasierter Musik aber doch einschl. Text. M. E. würde es zu weit gehen, ein Schubertlied ohne Text interpretieren zu wollen; das würde in Konsequenz fortgedacht bedeuten, der Liedsänger könnte, nur bedacht darauf den Artikulationsausdruck und das Versmass beizubehalten, irgendwelche Kombinationen aus Vokalen und Konsonaten zu singen.Ein nicht veränderbarer Ausgangspunkt für ein Liedverständnis bleibt für mich der Text, der vom Komponisten im Idealfall in Musik besser, umfassender, eingänglicher, aber auch tiefer verständlich gemacht wird als ohne Musik.

    aber die existenzielle Grunderfahrung, die sich in der Musik dieses Verses aus dem Lied "Im Dorfe" musikalisch artikuliert, die verstehen wir auch heute auf Anhieb.


    Ich zitiere mich selbst: "Manche Grundproblematik bleibt unverändert, aber sonst..." Sind wohl manche Sorgen, Ängste und Nöte von Heute mit denen vor 180 Jahren nicht vergleichbar und deshalb weiss ich - von den z. T. unveränderten Grundproblemen abgesehen nicht, wie Schubert manchen Text, unter Beachtung der damaligen Umstände, verstanden hat.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • D. Fischer-Dieskau versteht dieses Lied so, als ob in ihm die im Lied „Im Dorfe“ „unterdrückten Leidenschaften“ jetzt „ausbrechen“ würden. Thr. Georgiades verweist auf die Tatsache, dass dieses Lied als einziges der „Winterreise“ durchgehend mit „forte“ (bzw. „fortissimo“) zu singen sei, und er meint, es hebe sich – zusammen mit „Mut“ – als „andersartig“ aus der Reihe der übrigen Lieder heraus.


    Ich kann diesen Deutungen nicht ganz folgen, weil ich dieses Lied anders höre: Für mich will Schubert mit der Steigerung des „forte“ zum „fortissimo“ hörbar werden lassen, dass sich dieser Wanderer einen Augenblick lang, eben nur in dieser letzten Strophe, gegen ein Schicksal aufzulehnen versucht, das er im Grunde längst akzeptiert hat.


    Es ist ja gar keine wirkliche „Auflehnung“. Nur so etwas wie das Anschreien dagegen. Man darf nicht vergessen: Dieses Lied ist sozusagen „eingerahmt“ von „Im Dorfe“ und „Täuschung“. Beide Lieder artikulieren das Wissen um die nicht mehr überwindbare, weil aus der existenziellen Grenzsituation resultierende Einsamkeit.


    Gewiss, die Klaviereinleitung des Liedes mit ihren in d-Moll sozusagen in zwei Stufen aufwärtsstrebenden Sechzehnteln suggeriert Dynamik und Energie, aber sie mündet in einen verminderten Septimakkord. Und merkwürdig: Dieser verminderte Septimakkord spielt in diesem Lied eine auffällige Rolle. Er taucht immer wieder auf, in den Takten 3, 6, 14 und 16 nämlich. Und ganz besonders dort, wo es um die entscheidende Aussage des Liedes geht, in Takt 16 nämlich („Es ist nichts als der Winter“) bringt er einen deutliche Misston in die sich so laut artikulierende melodische Linie der Singstimme.


    Auch dieser Sachverhalt der melodischen Faktur bestärkt mich in meiner Deutung des Liedes: Dieser energische Ton, der da gerade erklingt, ist nicht von Bestand. Die verminderten Septimakkorde des Liedes stellen ihn schon im Ansatz in Frage.


    Und noch etwas ist bei der Frage, wie dieses Lied zu deuten ist, zu beachten: In der letzten Strophe wird seine musikalische Substanz sozusagen „zerrissen“, - ganz so, wie es das zentrale poetische Stichwort der ersten Strophe für Schubert gleichsam programmatisch vorgab.


    Die dritte Strophe greift nämlich auf die musikalische Faktur der beiden letzten Verse der ersten Strophe zurück („Die Wolkenfetzen flattern…“), und der Schluss des Liedes wiederholt die musikalische Faktur der Worte „in mattem Streit“ vom Ende der ersten Strophe. Insofern bietet das Lied am Ende tatsächlich ein Bild der musikalischen Zerrissenheit.


    Und so sieht es ja auch „im Herzen“ des Wanderers aus, auch wenn er lauthals verkündet, dass dem nicht so sei. Dass es keine Korrespondenz zwischen dem Bild am Himmel und jenem gebe, das sein Herz bietet. Dabei weiß er es nun wirklich besser, - nach der inzwischen nun schon „langen Reise“ von inzwischen siebzehn Liedern.

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  • Und wie wird dieses Lied nun in meinen Referenzaufnahmen gesanglich interpretiert? Der Höreindruck auf einen Nenner gebracht: Es bestehen keine irgendwie herausragenden Unterschiede. Und das ist auch nicht verwunderlich. Schließlich bietet die auf ein durchgehendes Forte abgestellte musikalische Faktur dem Sänger wenig Raum für dynamische Differenzierung.


    Dennoch sind kleine Unterschiede auszumachen. Sie ergeben sich aus der Intensität, mit der auf die semantische Ebene der lyrischen Bilder und auf die Expressivität der zentralen lyrischen Wörter reagiert wird: „zerrissen“, „Wolkenfetzen“, „flattern“, „Feuerflammen“. Und außerdem daraus, wie stark der Wechsel der lyrischen Perspektive sängerisch reflektiert wird. Das gilt vor allem für die Wendung nach innen: „Mein Herz sieht an dem Himmel …“.
    Man kann es kurz machen:


    Fischer-Dieskau setzt bei den lyrischen Bildern keine besonderen Akzente. Immer dann aber, wenn das lyrische Ich sich selbst anspricht, ist das in Form einer leichten Veränderung im stimmlichen Ton zu hören. Vor allem wird der Vers „Mein Herz sieht…“ deutlich hörbar abgehoben.


    Chr. Prégardien reagiert nur wenig, aber doch durchaus wahrnehmbar auf die Expressivität der lyrischen Bilder. „Des Himmels blaues Kleid“ hat es ihm hörbar angetan. Erstaunlicherweise reagiert er wenig auf den Wechsel der lyrischen Perspektive: Über das „Mein Herz sieht…“ singt er in gleichbleibendem Ton hinweg. Das hat mich ein wenig überrascht.


    M. Goerne ist derjenige von den dreien, der sängerisch am stärksten auf die semantische Ebene des lyrischen Textes reagiert. Bei ihm hört man die „Wolkenfetzen flattern“, und auch die „roten Feuerflammen“ bekommen einen deutlichen Akzent. Beim Wechsel der lyrischen Perspektive („Mein Herz sieht…) wird die Stimme stark zurückgenommen und das Timbre verändert. Aber auch bei ihm verblüfft mich etwas: Die fast flüchtige Art, wie er den letzten Takt singt. Das „kalt und wild“ huscht einfach so dahin.


    Völlig klar ist aber: Dieses Lied lebt sängerisch von seiner großen Emphase und der sich im Viervierteltakt entfaltenden energischen Rhythmik. Und ich meine bei allen drei Aufnahmen zu hören, dass da am Ende der Wanderer regelrecht in sich hineinschreit: Das da oben ist nur der Winter, nicht dein Herz. Oder doch?

  • „Des Himmels blaues Kleid“ hat es ihm hörbar angetan.


    Es war aber doch eher grau?


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Du bist ein echter Kenner, lieber farinelli ...


    Wie hat der Sturm zerrissen
    Des Himmels graues Kleid!
    Die Wolkenfetzen flattern
    Umher in mattem Streit.

  • Farinelli merkt an und ist (vermutlich) zu Recht verwundert:


    "Es war aber doch eher grau?"


    Völlig richtig! Ich habe mich schlicht vertippt. Wahrscheinlich hat mich die unterschwellige Assoziation von "Himmel" und "blau" voll im Griff gehabt. Wunderlich für jemanden, der sich gerade mit der Winterreise beschäftigt. Ist das eine Art unbewusste Flucht aus dem schrecklich winterlichen Grau gewesen, das einen dabei immerzu und durchweg umgibt? Einen Monat "Winterreise", und man hat nur noch einen Wunsch: "In Grün will ich mich kleiden... Will suchen einen Zypressenhain, eine Heide von grünem Rosmarein..."


    Ich bitte um Entschuldigung!


    Gleichwohl bleibt die Feststellung, die ich zu Prégardiens Gesang an dieser Stelle gemacht habe, zutreffend. Er hebt diesen Vers sehr deutlich innerhalb seiner gesanglichen Linie hervor. Und das ist, wenn ich das richtig sehe, auch ganz typisch für seinen sehr stark an der Expressivität des lyrischen Worts ausgerichteten Interpretationsstil.


    Es wäre interessant, in dem von Alfred Schmidt neu eingerichteten Thread "Die neuen Liedinterpreten" einmal auf solche Fragen einzugehen und insbesondere die These von hart zu reflektieren, dass man im Liedgesang eine Epoche vor und eine nach Fischer-Dieskau unterscheiden könne und müsse. Ich glaube nämlich, dass man nämlich heute im Liedgesang zwar einen gewissen Grundtrend feststellen kann, aber der ist keineswegs einheitlich und auf einen einfachen Nenner zu bringen. Leider verstehe ich nicht genug davon.

  • In meinem Beitrag zu dem Lied „Der stürmische Morgen“ (Nr. 604) hatte ich die Frage gestellt: Wie hat wohl Schubert den Text Müllers gelesen? Da ich diese Frage schon öfter gestellt habe und sie dieses Mal offensichtlich auf Missverständnisse gestoßen ist, möchte ich erläutern, wie ich sie verstehe.


    Natürlich richtet sie sich nicht auf den Prozess der Textrezeption als historisches Ereignis. Wir können selbstverständlich nicht wissen, was sich in Schubert kognitiv und emotional in dem Augenblick abspielte, als er das Gedicht„Der stürmische Morgen“ oder das nachfolgende„Täuschung“ las.


    Wohl aber können wir aus der musikalischen Faktur der jeweiligen Lieder Rückschlüsse ziehen, wie Schubert den jeweiligen lyrischen Text wohl gelesen haben muss, wie also die ganz subjektive Textrezeption bei ihm ausgesehen hat.


    Ablesbar ist das aus der musikalischen Faktur des Liedes insofern, als man sehen kann, welches Gewicht er einem bestimmten Bild oder einem Vers dadurch gab, dass er dieses oder diesen besonders hervorhob oder mit einer seiner für ihn typischen musikalischen Figur belegte. Schubert verwendet für bestimmte emotionale Regungen (Freude, Trauer, Schmerz u.a.) häufig bestimmte musikalischen Grundfiguren oder Tonarten. Immer wieder dient auch die Wiederholung eines Verses oder Versteils als Mittel der musikalischen Expression des jeweiligen Textverständnisses.


    Damit das nicht so theoretisch bleibt, was ich sagen will, möchte ich es an zwei Beispielen konkretisieren. Das eine ist bereits hier erwähnt worden. Schubert musste den Schlussvers von „Der stürmische Morgen“ keineswegs wiederholen und mit einem Fortissimo versehen. Er musste auch nicht eine melodische Linie unterlegen, bei der sechs Mal penetrant auf einem Ton deklamiert wird: Auf jeder Silbe von „Es ist nichts als der Win- (ter)“ liegt jeweils nur ein Ton und danach erfolgt ein Abfall um eine Oktave. Wenn er all dies aber getan hat, so musste er einen Grund dafür haben, der sich aus seiner ganz subjektiven Rezeption des Gedichtes ergab.


    Aus diesen Gegebenheiten der musikalischen Faktur wird also eine liedanalytische Betrachtung, die sich nicht in einer einfachen Beschreibung des Notenbildes erschöpft, sondern sich um eine Interpretation des Analyseergebnisses bemüht, zu ganz bestimmten Rückschlüssen hinsichtlich der Art und Weise kommen, wie Schubert das Gedicht gelesen und verstanden hat.


    Im Falle von „Der stürmische Morgen“ liegt folgende Schlussfolgerung nahe:


    Schubert hat Müllers Gedicht so verstanden, dass das lyrische Ich bei seiner Wanderung seinen inneren seelischen Zustand für einen Augenblick lang im Bild gespiegelt sieht, das ihm der morgendlich-winterliche Himmel bietet. Dass es aber schon kurz danach in einer Aufwallung von (letzter) Lebenskraft sich von dieser selbstzerstörerischen Identifikation seines Inneren mit dem winterlichen Draußen gewaltsam loszureißen versucht. Die musikalische Faktur des letzten Verses bringt genau dieses zum Ausdruck.


    An einem weiteren Beispiel, der spezifischen musikalischen Faktur des Liedes „Täuschung“ nämlich, soll noch einmal aufgezeigt werden, was ich mit der These meine, dass man aus dem Notentext erschließen könne, wie Schubert die Gedichte der „Winterreise“ gelesen hat.
    Das Schlüsselwort, an dem sich Schubert bei diesem Lied orientiert hat, ist das Thema des Gedichts: „Täuschung“. Er hat es buchstäblich in die musikalische Faktur eingearbeitet, sozusagen musikalisch „materialisiert“.


    Im übrigen: Allein schon aus der Tatsache, dass Schubert die Reihenfolge der Gedichte, wie Müller sie vorgelegt hat, nicht übernahm, ist zu schließen, wie er sie im einzelnen gelesen hat und von daher in einen inneren Kontext brachte.


    Ich darf erinnern: Die Reihenfolge der letzten zehn Gedichte sieht bei Müller so aus:


    Täuschung
    Der Wegweiser
    Das Wirtshaus
    Das Irrlicht
    Rast
    Die Nebensonnen
    Frühlingstraum
    Einsamkeit
    Mut!
    Der Leiermann


    Man sollte denken, dass Schubert, wenn er das Lied „Täuschung“ im Unterschied zu Müller in deutlichem Abstand zu dem thematisch verwandten Lied „Irrlicht“ folgen lässt, dies in der musikalischen Faktur von „Täuschung“ zum Ausdruck gebracht haben dürfte. Und so ist das auch!


    Aus der Tatsache, dass wir heute in einer anderen Welt leben als der Schuberts, ergibt sich zwar, dass wir substantiell nicht mehr in völliger Identität so denken und fühlen können wie er. Aber im Hören seiner Lieder vollzieht sich das, was die Hermeneutik eine Horizontverschmelzung zwischen unserer und seiner Welt nennt. Und in dieser ereignet sich das, was man bei einem Lied hörendes Verstehen nennt. Schuberts Denken und Fühlen verschmilzt da, wenn wir uns dafür öffnen, mit dem von uns heute.


    Man muss nicht irgendwelche modernen Psychologismen bemühen, um ein Lied wie „Täuschung“ verstehen zu können. Dergleichen führt eher in die Irre und versperrt sogar den Zugang zu ihm. Die Art, wie Schubert den letzten Vers des Liedes „Täuschung“ musikalisch gestaltet hat, spricht ganz aus sich selbst, und ein Blick in die Noten lässt auch erkennen, warum das so ist.

  • Bei diesem Lied hat Schubert den Titel und den Gehalt des lyrisches Textes sozusagen substantiell in Musik umgesetzt: Das Lied greift nicht nur die Struktur und den lyrischen Gehalt der einzelnen Verse des Gedichts auf, - es ist selbst eine musikalische Täuschung.


    Mit einem punktiert-tänzerischen Rhythmus im Sechsachteltakt setzt es ein und suggeriert damit heitere Unbeschwertheit, vor allem auch wegen des melodischen Bogens, in dem die Klaviereinleitung ausläuft. Davon auf den ganzen Charakter des Liedes zu schließen und es infolgedessen für ein harmloses musikalische Gebilde im Volksliedton zu halten, zeugt von schlichter Unkenntnis dessen, was musikalisch nachfolgt. Im Grunde ist einer, der das Lied so beurteilt, der "Täuschung" aufgesessen, die Schubert hier komponiert hat. Nur dass dieser eine solch arglos naive Rezeption dieses Liedes natürlich nicht wollte.


    Man kann die Klaviereinleitung durchaus so hören, dass das liegende „e“ im Klavierdiskant das permanente Leuchten des „Lichts“ musikalisch verkörpert, während die triolisch aufsteigenden und in einen Viertelnotenakkord mündenden Sechzehntel im Bass die tänzerisch gaukelnde Bewegung dieses Lichts suggerieren.


    Welch suggestive Kraft Schubert schon von Anfang an dem „Licht“ verleiht, kann man daran erkennen (und hören!), dass dieses Wort musikalisch gedehnt wird: Es nimmt mit zwei Viertelnoten, von denen eine sogar noch punktiert ist, fast den ganzen Takt sechs ein.


    Die verführerische Kraft, die von ihm ausgeht, wird musikalisch noch dadurch unterstrichen, dass am Ende der beiden Verspaare der ersten Strophe, auf denen jeweils die gleiche Melodiezeile liegt, eine Art triumphierender melodischer Bogen aus Oktaven im Klavierdiskant aufklingt.


    Mit der zweiten Strophe ändert sich der Ton des Liedes: Das A-Dur dunkelt sich zu einem a-Moll ein. Wie eng Schubert mit seiner musikalischen Faktur am lyrischen Text bleibt, kann man am Einsatz der melodischen Linie bei dem Wort „Ach“ in Takt 24 sehen. Müller hat hier eine kunstvolle metrisch-rhythmische Spannung aufgebaut, weil man beim Lesen des Verses („Ach, wer ich so elend ist…“) einen Akzent auf das „Ach“ legt, obwohl vom jambischen Metrum des Gedichts her der Ton auf dem „wer“ liegen müsste.


    Schubert reagiert darauf in der Weise, dass er die melodische Linie volltaktig beginnen und danach zwei Achtelpausen folgen lässt, bevor das Wort „wer“ gesungen werden kann. Auf diese Weise bekommt dieses Wort „Ach“ musikalisch ein ganz besonderes Gewicht. Typisch Schubert: Er verwandelt lyrischen ganz unmittelbar in musikalischen Text!


    In ähnlicher Weise musikalisch textverwandelnd und dabei akzentuierend verfährt er bei der Heraushebung des verlockenden Bildes vom „hellen Haus“. Er unterlegt dem Vers „Die hinter Nacht und Graus" in der Klavierbegleitung eine spannungserzeugende Chromatik, die in eine lange Dehnung auf dem Wort „Graus“ mündet (zwei Viertelnoten plus Punktierung). Die melodische Linie hält gleichsam den Atem an, bevor dann die schöne Täuschung vom „hellen Haus“ vorübergehend aufleuchten kann.


    Aber es ist ja tatsächlich nur eine Täuschung. Schubert hat Müllers Gedicht so gelesen und die musikalische Faktur des Liedes voll darauf abgestellt. Es wurde gesagt, dass dieses Lied eine komponierte Täuschung sei. Wieso?


    Schubert nimmt am Gedicht Müllers eine ganz wesentliche Veränderung vor, die ihm einen Akzent verleiht, den das Gedicht in dieser krassen Form gar nicht aufweist. Schubert isoliert musikalisch den letzten Vers und hebt ihn in seiner Aussage stärker hervor, als das Gedicht das tut.


    Im Gedicht Müllers bilden die beiden letzten Verse dadurch eine Einheit, dass sie ein Reimpaar bilden ( „drin“ – „Gewinn“ ). Schubert schlägt aber musikalisch den ersten Vers davon dem vorangehenden Vers dem vorangehenden Vers zu („Ihm weist ein helles warmes Haus“). Danach hat die Singstimme eine relativ lange Pause von einem Viertel und einem Achtel, während im Klavierdiskant wieder der aufsteigende Oktavbogen erklingt.


    Danach erst erklingt der Schlussvers. Und des ist unüberhörbar, weil deutlich abgesetzt und hervorgehoben, weil in der musikalischen Faktur anders gestaltet, als man das erwarten würde: Die „Täuschung“ ist das zentrale Wort des Liedes.


    Und es ist die menschliche Erfahrung, die dem Leben des Wanderers die inzwischen einzig gemäße ist. Schubert hat das Gedicht Müllers so gelesen und in Musik gesetzt. Er hat damit kompositorisch seinen Geist erfasst.

  • Ich möchte, anknüpfend an meine Überlegungen im Beitrag „Schubert als Leser der Gedichte Müllers“ noch einmal auf den Schluss des Liedes „Täuschung“ eingehen. Ich hatte in meiner Besprechung desselben darauf hingewiesen, dass Schubert in der musikalischen Faktur dieses Liedes den letzten Vers Müllers in auffälliger Weise isoliert und dadurch herausgehoben hat. Er muss ihm also sehr wichtig gewesen sein, - offensichtlich für ihn die zentrale Aussage des Gedichts.


    Und das ist ja auch gar nicht verwunderlich. Denn bedenkt man es recht, dann handelt es sich dabei doch um eine ganz ungeheuerliche Aussage, die viel über die Seelenlage des Wanderers auf dieser Station seiner „Winterreise“ verrät. „Täuschung“ gehört zu den schlimmen existenziellen Erfahrungen des Menschen. Eine Erwartung, auf die man gebaut und sein eigenes Denken und Verhalten gestützt und gegründet hat, wird nicht eingelöst, erweist sich als Trug.


    Ausgerechnet eine solche extrem negative Existenzerfahrung bezeichnet dieser Wanderer nun als „Gewinn“, und das auch noch mit dem Ausschließlichkeitszusatz „nur“. So „elend“ ist dieser Mensch inzwischen, dass er sich gern einer „bunten List“ hingibt, die ihm in der eisigen Einsamkeit, in der er inzwischen zu leben gezwungen ist, ein „helles warmes Haus“ vorgaukelt, - und das auch noch mit einer „lieben Seele drin“.


    Es ist tatsächlich eine Ungeheuerlichkeit, dass ein Mensch in eine solch extreme existenzielle Grenzsituation geraten kann, in der ihm nichts mehr bleibt als die reine Illusion, von der er im selben Augenblick, in dem er sich ihr hingibt, sehr wohl weiß, dass sie eine „Täuschung“ ist.


    Schubert muss das auch so empfunden haben. Nur so ist erklärlich, dass er diesem Vers einen solchen Ausnahmerang in der musikalischen Faktur des Liedes zugewiesen hat. Eigentlich hätte er für die Kadenz doch das Prinzip anwenden können, das allenthalben in der „Winterreise“ Verwendung findet: Die Wiederholung nämlich. Die Vorlage dafür hätte es gegeben: Die melodische Linie nämlich, die sich in den Takten vierzehn bis einundzwanzig findet („Ich folg ihm nach und seh´s ihm an…“).


    Und was macht Schubert statt dessen? Die melodische Linie, die auf diesem letzten Vers liegt, ist eine wunderliche Montage aus zwei anderen kleinen Melodiezeilenteilen. Auf „Nur Täu“ („schung“) liegt die melodische Linie von „Ein Licht“; und auf „-schung ist für mich Gewinn“ die von „verlockt den Wandersmann“.


    Man wundert sich zunächst. Sieht man sich aber das Lied unter diesem Aspekt der tonalen Montage noch ein wenig näher an, dann stellt man fest: Bei „Ich folg ihm nach die Kreuz und Quer“ und bei „Und eine liebe Seele drin“ liegt wieder ein Fall von Identität der melodischen Linie vor.


    Man sieht: Wie alle Lieder der „Winterreise“ ist auch dieses bei aller scheinbaren äußeren Schlichtheit in seiner Struktur hochkomplex. Der „Volksliedton“ ist nur seine – täuschende – Oberfläche. Und einer Liedanalyse, die sich um eine Erschließung der Tiefendimension und des Gehalts der Lieder der „Winterreise“ bemüht, sollte dies eigentlich nicht entgehen.


    Mit der Akzentuierung des Schlussverses durch Isolation und der Arbeit mit dem Prinzip der melodischen Montage, die die von der strophischen Gliederung des Gedichts eigentlich erwartete musikalische Struktur zerstört, will Schubert mit musikalischen Mitteln sagen: „Täuschung“ ist das einige, was diesem Wanderer an Lebensinhalt noch geblieben ist.

  • Ich habe dieses Mal, abweichend von meinem sonstigen Verfahren, einen Hörvergleich zwischen Hermann Prey und Matthias Goerne angestellt, und zwar deshalb weil ich auf die Thesen reagieren wollte, die im Thread "Die neuen Liedinterpreten" geäußert wurden.


    Ich war dort der Meinung, dass man neuerdings dazu tendiere, die "Winterreise" stärker affektbetont zu singen. Das hat sich in diesem Fall bestätigt. Hermann Prey (in der Aufnahme mit Wolfgang Sawallisch von 1973) singt dieses Lied aus einer relativ "neutralen" Haltung heraus, also nicht der einen starken "Betroffenheit" in der sängerischen Verkörperung des Protagonisten. Die diesbezüglich "neuralgischen Stellen" ("Ich folg ihm gern", "Ach, wer wie ich so elend ist" und das "helle warme Haus"), die dazu herausfordern könnten, Affekte in die sängerische Gestaltzung einfließen zu lassen, bekommen bei Prey keine sonderlichen Akzente. Der Schlussvers wird aus meiner Sicht eher sogar ein wenig zu "neutral", fast wie beiläufig gesungen.


    Ganz anders ist das bei Matthias Goerne. Schon das "Licht" wird deutlicher hervorgehoben. Das "Ich folg ihm nach" wird vom ersten Vers leicht abgehoben, weil ja ein lyrischer Perspektivenwechsel stattgefunden hat. Über dem Wort "Kreuz" liegt ein ganz leichter Bogen, und das "Ach" wird aus einer deutlichen Haltung der inneren Betroffenheit gesungen. Die stärkere Affektetontheit der Interpretation ist zum Beispiel auch daran zu hören, dass auf dem Wort "Graus" eine lange Dehnung liegt, und dass dem Schlussvers in seiner zentralen Bedeutung ein Gewicht gegeben wird, wie es bei Prey nicht zu hören ist.

  • Meine Ausführungen zum Lied „Täuschung“ wurden im Thread „Liedanalytische Betrachtung“ einer, wie ich meine, wenig fundierten Kritik unterzogen. Das kenne ich zwar alles schon bis zum Überdruss und habe aus diesem Grund diesen Thread - im Eigensinn des Wortes - „fluchtartig“ verlassen. Aber man scheint mir auch hier nicht Raum für die ruhig-reflexive Betrachtung der „Winterreise“ lassen zu wollen. Deshalb die folgenden Anmerkungen.


    Meine hier vorgelegte Interpretation der Winterreise“ ist aus dem ausführlichen Hören jedes einzelnen Liedes auf dem Hintergrund eines sorgfältigen analytischen Studiums des Notentextes hervorgegangen. Die liedanalytischen Erkenntnisse lasse ich freilich nur dort einfließen, wo es mir zur Begründung meiner jeweiligen Interpretation eines ganzen Liedes oder bestimmter Stellen daraus erforderlich erscheint. Sie sind für mich kein Selbstzweck. Und schon gar nicht geht es mir darum, meine analytische - oder sonstwie geartete - Kompetenz hier zur Schau zu stellen.


    Natürlich steckt hinter allen Einzelaussagen ein bestimmtes Grundverständnis dieses Liederzyklus, das sich aus dem Blick auf die Gesamtheit aller Lieder und das Ineinandergreifen ihrer einzelnen Aussagen ergeben hat. Ich habe dieses Grundverständnis am Anfang des Threads „Liedanalytische Betrachtung“ ausführlich dargestellt und begründet. Im Kern ist es ein sozusagen existenzontologischer Interpretationsansatz, mit dem ich an die „Winterreise“ herangehe.


    Für mich macht Schubert – auf der Basis der Gedichte Müllers – in seinen Liedern Aussagen über das Denken und Fühlen eines Menschen, der in eine für die menschliche Existenz charakteristische Grenzsituation geraten ist, in der eben typische Wesensmerkmale dieser Existenz wie in schlaglichtartig punktueller Beleuchtung sichtbar und nachvollziehbar werden. Im Zentrum steht menschliches Leid. Es wird an einzelnen Stationen einer Wanderschaft ins Nichts im Grunde durchweg sehr leise und still musikalisch-lyrisch artikuliert. Mit Heroismus hat das dieses stille Leiden und Erdulden nun wahrlich überhaupt nichts zu tun.


    Natürlich muss kein Mensch meinen Interpretationsansatz in dieser Form übernehmen. Aber er bietet aus meiner Sicht eine durchaus tragfähige und durchweg werkadäquate Grundlage für das Verständnis dieses Zyklus. Bei diesem Verständnis behilflich zu sein, das ist für mich Sinn und Zweck all meiner Ausführungen zur „Winterreise“ hier und im Thread „Liedanalytische Betrachtung“ (ehedem).


    Hier, bei dem Lied „Täuschung“, habe ich ganz genau – unter Bezugnahme auf spezifische Strukturmerkmale des Notentextes – begründet, weshalb ich der Meinung bin, dass der volksliedhafte – und natürlich typisch schubertsche - Ländlerton eine bewusst komponierte „Täuschung“ ist. Schubert nutzt die von ihm angelegte Periodenstruktur des Liedes, um eine Erwartungshaltung beim Hörer aufzubauen, die am Ende nicht eingelöst wird. Diese Periodenstruktur erweist sich, wie eine Interpretin das genannt hat, „an essentieller Stelle der Liedes als unverlässlich“ (E. Schwarmath).


    Dies bedeutet aber: Schubert hat – und das bestätigt eben meinen zentralen, auf die menschliche Existenz ausgerichteten Interpretationsansatz – das Wort „Täuschung“ in seinem fundamental existenziellen Bedeutungsgehalt verstanden und es kompositorisch ins Zentrum und in die musikalische Struktur des Liedes „hineinkomponiert“.


    Es ist also keineswegs abwegig oder gar eine Fehlinterpretation, wenn man, wie ich das oben getan habe, feststellt: Es ist tatsächlich eine Ungeheuerlichkeit, dass ein Mensch in eine solch extreme existenzielle Grenzsituation geraten kann, in der ihm nichts mehr bleibt als die reine Illusion, von der er im selben Augenblick, in dem er sich ihr hingibt, sehr wohl weiß, dass sie eine „Täuschung“ ist. Schubert hat – ausweislich seines Liedes – das Gedicht Müllers genau so gelesen.


    Vielleicht ist – als Ergänzung zur obigen Betrachtung des Liedes – noch dieses interessant. Fischer-Dieskau weist darauf hin, dass „die Melodie von >Täuschung< auf ein Gedicht Schobers am Anfang des zweiten Aktes von >Alfonso und Estrella“ zurückgeht, das Lied vom Wolkenmädchen, in dem ebenfalls ein Irrlicht den Wanderer in die Illusion und damit ins Verderben führt, nun allerdings auf wesentlich verführerische Weise.“ (Franz Schubert und seine Lieder, S.464).


    „In die Illusion und ins Verderben“ – meint Fischer-Dieskau. Und da kommt mir jene Feststellung meines „Kritikers“ in den Sinn (und ich kann eigentlich nur noch verwundert den Kopf schütteln): „Das Lied handelt von überhaupt keinen "schlimmen existenziellen Erfahrungen", da es einen durchgängigen Ton von großer Leichtigkeit anschlägt.“



  • Für mich macht Schubert – auf der Basis der Gedichte Müllers – in seinen Liedern Aussagen über das Denken und Fühlen eines Menschen, der in eine für die menschliche Existenz charakteristische Grenzsituation geraten ist, in der eben typische Wesensmerkmale dieser Existenz wie in schlaglichtartig punktueller Beleuchtung sichtbar und nachvollziehbar werden. Im Zentrum steht menschliches Leid.


    Frage: Ist es möglich, die "Kritik" in Helmut Hofmanns 1. Zitat an der Aussage gem. 1. Zitat unter einen Hut zu bringen mit Helmut Hofmanns 2. Zitat?
    Konkret: Die Folgen von einer "die menschliche Existenz charakteristischen Grenzsituation", was ist das anders als (modern ausgedrückt) ein Posttraumatisches Belastungssyndrom? (Welches in den unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen vorkommt.)


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Zur Frage von zweiterbass: "Ist es möglich, die "Kritik" in Helmut Hofmanns 1. Zitat an der Aussage gem. 1. Zitat unter einen Hut zu bringen mit Helmut Hofmanns 2. Zitat?"


    Selbstverständlich ist das möglich. Wenn man die "Winterreise" in der Gesamtheit der Aussagen ihrer einzelnen Lieder als situativ sich ereignende Artikulation von typischen Wesensmerkmalen menschlichen Lebens und menschlicher Existenz versteht, wie ich das tue, dann gehört zum Menschsein natürlich auch die seelische Verletzlichkeit. Heißt: Es gehört zum Wesen des Menschen, dass er an einer PTBS leiden kann. Die Frage ist halt eben, ob der "Wanderer" der "Winterreise" dieses tut.


    Die Stoßrichtung meiner Kritik ging in eine ganz andere Richtung. Ich bringe sie mal auf einen schlichten Nenner: Ich wehre mich dagegen, dass der Protagonist der "Winterreise" zum einem Fall für die Psychiatrie gemacht wird.


    Die "Posttraumatische Belastungsstörung" (PTBS) ist ein - relativ neuer - Begriff aus der Psychiatrie und Psychotherapie. Es handelt sich also um einen medizinischen Fachterminus, der auf eine diagnostisch klar definierte seelische Erkrankung aufgrund eines traumatischen Schockerlebnisses anzuwenden ist. Wenn man den als Interpretationsansatz für die "Winterreise" verwendet, verkürzt man deren künstlerische Aussage um ganze Dimensionen. Und man verzerrt sie!, - was noch gravierender ist.


    Man möge doch bitte mal - beliebig herausgegriffenes Beispiel - das, was sich an innerem Monolog im Lied "Der greise Kopf" ereignet, aus der diagnostischen Perpektive einer Postttraumatischen Belastungsstörung erklären. Das dürfte wohl kaum möglich sein, denke ich. Und so geht das bei jedem Lied der Winterreise.


    Will sagen: Ein solcher Begriff hilft zum Verständnis der Winterreise nicht nur nicht weiter, - er verbaut sogar den Zugang dazu.


    Im übrigen: Für die Schärfe meiner damaligen Reaktion - siehe obiges Zitat Helmut Hofmann Nr.1 - entschuldige ich mich bei zweiterbass. Da war ein ironischer Ton drin, und so etwas gehört sich nicht!

  • Die "Posttraumatische Belastungsstörung" (PTBS) ist ein - relativ neuer - Begriff aus der Psychiatrie und Psychotherapie. Es handelt sich also um einen medizinischen Fachterminus, der auf eine diagnostisch klar definierte seelische Erkrankung aufgrund eines traumatischen Schockerlebnisses anzuwenden ist.


    Lieber Helmut,


    ich verweise mal einfach auf Wikipedia (ohne eine Allwissenheit anzuerkennen!)- man kann dort nachlesen, was unter "PTBS" normalerweise verstanden wird - von einer "med. klar definierten Erkrankung" kann nicht gesprochen werden. Und warum ein durch den med. Fortschritt (auch Psychiatrie usw. gehören dazu!) neuer Begriff auf Vorkommnisse vor der "Erfindung" dieses Begriffes nicht angewendet werden soll/kann, ist für mich unerfindlich.

    Der Anlass des Traumas kann z. B. der miterlebte, tödliche Unfall einer fremden Person sein oder z. B. der sexuelle (nat. nicht miterlebte) Mord an einem eigenen Kind für die Eltern - die Folgen der PTBS sind äußerst unterschiedlich. In jedem Fall handelt es sich um selbst erlebtes seelisches Leid, deren Folgen eine PTBS sein kann. Ein E-Lok-Führer wird den von ihm mit seiner E-Lok unverschuldeten z. B. dritten Suizid anders erleben und verarbeiten als den 1. Fall. Rückert hat den natürlichen Tod zwei seiner Kinder in über 400 Gedichte (zu) verarbeiten können (gelernt).


    Ich wehre mich dagegen, dass der Protagonist der "Winterreise" zum einem Fall für die Psychiatrie gemacht wird.


    Niemand macht den Wanderer zu einem Fall für den Psychiater - den es damals gar nicht gab
    Dass der Wanderer aber ein seelisch für ihn sehr schweres Erlebnis hat - die Tatsache und das Wie des Verlustes seines "Mädchen" - steht außer Frage, es ist der Ausgangspunkt des Zyklus und die beschriebenen Folgen - das ist genau ein PTBS! Wie der Wanderer mit dem PTBS umgeht wird im Zyklus "erzählt", dabei aber auch viel im übertragenen Sinn, Gleichnishaft. Der Gedichtzyklus nimmt die "Geschichte" zum Anlass, grundsätzliche Probleme gleichnishaft zu verdeutlichen. Anders ausgedrückt: Der Gedichtzyklus hat zwei Ebnen, die dicht miteinander verwoben sind und einander "bedürfen".


    Man möge doch bitte mal - beliebig herausgegriffenes Beispiel - das, was sich an innerem Monolog im Lied "Der greise Kopf" ereignet, aus der diagnostischen Perpektive einer Postttraumatischen Belastungsstörung erklären. Das dürfte wohl kaum möglich sein, denke ich.


    Was bitte soll in "Der greise Kopf" nicht posttraumatisch veranlasst sein (abstruse Gefühle/Gedanken sind geradezu typisch)? Kann der beste Psychiater in das tiefe (ste) Innere seines Klienten schauen? Nein ! Ob sich eine PTBS zu einer schwersten Depression mit Suizidgefährdung entwickelt, kann vom besten Psychiater u. U. weder vorausgesagt noch der Suizid verhindert werden.



    Wenn man den als Interpretationsansatz für die "Winterreise" verwendet, verkürzt man deren künstlerische Aussage um ganze Dimensionen. Und man verzerrt sie!, - was noch gravierender ist.


    Abschließend: Welches grundsätzliche Verständnis des Gedichtzyklus ich überhaupt habe und wie ich die einzelnen Texte des Zyklus und dazu die Schubertsche Musik verstehe, habe ich in vielen Beiträgen zu den Texten und Liedern geschrieben - und über das Irresein des Wanderers, im Sinne sich außerhalb der "üblichen" menschlichen Gesellschaft befindend, waren wir uns ja einig, was nachgelesen werden kann.


    Im übrigen: Für die Schärfe meiner damaligen Reaktion - siehe obiges Zitat Helmut Hofmann Nr.1 - entschuldige ich mich bei zweiterbass. Da war ein ironischer Ton drin, und so etwas gehört sich nicht!


    Deine Entschuldigung nehme ich selbstverständlich an, auch ohne explizite Äußerung (auch in den Müllerschen Texten steht viel zwischen den Zeilen). Viel wichtiger wäre mir, aus den Inhalten zwischen den Zeilen würden Folgen entstehen - muss ich explizit ausdrücken welche?


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ich möchte noch einmal auf das Lied „Täuschung“ zurückkommen, weil ich mich unerwartet in meiner oben dargestellten Interpretation bestätigt sehe. Sie lief im Kern ja darauf hinaus, dass es sich bei "Täuschung" um alles andere handelt als um ein Lied, dessen spezifische Eigenart und Aussage angeblich darin bestehe, dass "Schubert einen durchgängigen Ton von großer Leichtigkeit anschlägt“.


    Schubert hat nicht ohne Grund, abweichend von der von Müller in seinem Gedichtzyklus vorgegebenen Reihenfolge, dieses Lied an diese Stelle seines eigenen Werks gesetzt. Bei Müller steht das Gedicht ja an fünfzehnter Stelle, also noch weit vor dem Gedicht „Frühlingstraum“, und das ist von großer Bedeutung.


    Schubert hat „Täuschung“ ganz bewusst in große kompositorische Nähe zu „Frühlingstraum“ gerückt, das bei ihm ja zur „Ersten Abteilung“ gehört: Die gleiche Tonart liegt vor, der gleiche Takt gilt, und große motivische Nähe herrscht. Aber jetzt, an der Station seiner Wanderschaft, die der Protagonist der „Winterreise“ inzwischen erreicht hat, ist er weit von jener Haltung entfernt, die er noch in „Frühlingstraum“ eingenommen hat:


    „Die Augen schließ´ ich wieder,
    Noch schlägt das Herz so warm…“


    Jetzt, in dem Augenblick, wo er sich in dem Lied „Täuschung“ musikalisch so artikuliert, wie Schubert das Gedicht gelesen hat und verstanden wissen wollte, gibt es kein „warmes Herz“ und keine Verführbarkeit durch „bunte Blumen“ und den Traum von „Lieb um Liebe“ und der „schönen Maid“ mehr. In einer schroffen Weise, die vorgegebene innere musikalische Struktur zerbrechend, bekennt der Wanderer im letzten Vers bitter: „Nur Täuschung ist für mich Gewinn“.


    Heute stieß ich bei der meine Betätigung hier begleitenden Lektüre auf eine Stelle in der Schubert-Biographie von Peter Gülke, die mir so interessant erscheint, dass ich hier daraus zitieren möchte. Gülke meint nämlich, das Lied „Täuschung“ betreffend, dass Schuberts Musik die lyrische Aussage des Gedichts von Müller noch deutlich verstärke, und er fährt, den Schluss des Liedes und die von mir beschriebene Eigenart der musikalischen Struktur desselben betreffend, fort:


    „“Freilich fällt der Reprisenschnitt mitten in ein Reimpaar und einen Satz; unversehens befinden wir uns am Anfang, logisch insofern, als >ein helles warmes Haus< bezeichnet, worauf das Licht den Wanderer weist. Ein übernommener Viertakter läßt eine Strophe gleich der eröffnenden erwarten; doch verkürzt Schubert schon die nächste Zeile auf einen Dreitakter, zu früh fährt >nur Täuschung ist für mich Gewinn< dazwischen und verhindert, daß eine Strophe und der Rückblick sich ausbreiten – er hat keine Chance mehr; der Wanderer versagt sich der >bunten List<. Im Gegensatz zu „Frühlingstraum“, wo er der Gaukelei sich gern überließ, beendet er sie nun selbst.“ (S.257f.)


    Das ist, mit anderen Worten ausgedrückt, genau das, was in meiner Besprechung des Liedes ausführte. Keine Rede also von einem harmlosen Lied in Schuberts „Ländlerton“.

  • Welche Aussage dieses Lied über den inneren Zustand des Wanderers und die „Station“ macht, die auf seiner „Wanderschaft“ inzwischen erreicht hat, das erschließt sich einem am besten, wenn man es mit dem ersten Lied der „Winterreise“, mit „Gute Nacht“, vergleicht.


    Es handelt sich ja auch um ein sogenanntes „Geh-Lied“ im Zweivierteltakt. Aber wie anders klingt des Rhythmus im Vergleich zu dem von „Gute Nacht“. Dort hört man rhythmisch ein zwar müdes und wie von einem resignativen Rückblick gehemmtes Schreiten. Aber es ist immerhin noch eines, weil es ein Voran kennt und weil die mechanisch pochenden Achtel im Klavier ihm einen gewissen Antrieb verleihen.


    Beim Lied „Der Wegweiser“ ist das alles nicht so. Zwar finden sich hier auch wieder diese Vierergruppen von Achteln im Klaviersatz, aber schon in der Einleitung – wie auch in den folgenden Teilen des Lieds – fällt auf, dass sie von Pausen unterbrochen werden, nach denen sie immer wieder in Form von einer Aufwärtsbewegung in zwei Sechzehnteln einen neuen Anlauf nehmen müssen.


    In diesem Geh-Rhythmus hört man so etwas wie die Zwangsläufigkeit des Schicksals aufklingen. Der Wanderer schreitet nicht mehr voran, weil in ihm ein Rest von Willen steckt, - wie in „Gute Nacht“, wo es der Wille ist, weg von diesem Haus zu kommen. Hier folgt einer wie willenlos seinem Schicksal.


    Dieser Eindruck ergibt sich nicht zuletzt auch dadurch, dass die Singstimme häufig über mehr als einen Takt auf einem Ton deklamiert, - ein musikstrukturelles Merkmal dieses Liedes, das in der letzten Strophe buchstäblich auf die Spitze getrieben wird. Zusätzlich erwächst dieser Eindruck eines willenlos müden Dahinschreitens auch noch daraus, dass die Singstimme immer wieder Pausen einlegt und in der ersten Strophe durch mehrere Tonarten wandert: Von g-Moll über F-Dur (Takt 12), b-Moll (Takt 13), f-Moll (Takt 16) und c-Moll (Takt17), um schließlich am Ende der Strophe wieder beim anfänglichen g-Moll zu landen (Takt 17f.).


    Eine erstaunliche Wandlung macht die melodische Linie der Singstimme in dem Eindruck, den sie hinterlässt, zu Beginn der zweiten Strophe durch. Erstaunlich deshalb, weil sie sich in ihrer Struktur gar nicht verändert hat, vielmehr identisch mit der ist, die auf dem ersten Verspaar der ersten Strophe liegt. Es sind allein die Veränderung des Tongeschlechts von g-Moll nach G-Dur und die modifizierte Klavierbegleitung, die jetzt den Eindruck fast volksliedhafter Schlichtheit und Naivität bewirken. Das Klavier agiert jetzt in homophonen, die Singstimme über Terzen und Sexten begleitenden und stützenden Akkorden.


    Dieser, in gleichsam homophoner Arglosigkeit erklingende Grundton bleibt jedoch nicht lange erhalten. Und das hat natürlich seine Ursache im lyrischen Text. In dem Augenblick, wo sich die monologische Perspektive des Wanderers wieder auf die gegenwärtige Situation richtet und er sich die Frage stellt, welch „törichtes Verlangen“ ihn in diese „Wüsteneien“ treibt, erklingt in der Klavierbegleitung ein H-Dur-Septakkord (Takt 27), und die melodische Linie der Singstimme bewegt sich hinüber nach D-Dur, vorübergehend im Forte sich artikulierend.


    Auch die Klavierbegleitung hat sich jetzt gewandelt: Sie ist nicht mehr homophoner Mitspieler, sondern entfaltet ein musikalisches Eigenleben, wird melodischer Gegenpart.


    Mit der vierten Strophe wird dieses Lied klanglich beängstigend. Das Prinzip der Tonrepetition wird mit solcher Konsequenz, ja penetranten Beharrlichkeit praktiziert, dass der Eindruck einer extremen klanglichen und irgendwie tödlich wirkenden Leere sich dem Hörer regelrecht aufzwingt.


    Zehn Mal, über drei Takte sich erstreckend, deklamiert die Singstimme auf einem Ton: „Einen Weiser seh ich stehen…“. Danach wiederholt sich das um einen kleine Quart höher: „Eine Straße muss ich gehen…“ Und als ob das noch nicht genug der leeren Deklamation sei, wiederholt sich das in gesteigerter Form: Siebzehn Mal wird auf einem Ton deklamiert (Takt 67f.), bevor sich die melodische Linie der Singstimme dann endlich in kleinen Intervallen hinab zu ihrem Ruhepunkt auf der Tonika bewegen kann.


    Das Klavier begleitet diesen beängstigenden Akt der penetranten Tonrepetition zunächst mit einer akkordischen Bewegung in Form einer aufsteigenden Chromatik, die die Musikwissenschaft mit dem Begriff „Teufelsmühle“ versehen hat. Danach aber, mit jenem Takt 67 beginnend, verfällt sie ebenfalls in diese starre Rhythmik der Tonrepetition in der Singstimme und verstärkt damit deren beängstigende Expressivität.


    In der tonalen Leere, in die die melodische Linie am Ende abfällt, und in den Versen, die ihr zugrundeliegen, hat dieses Lied zweifellos etwas Erschreckendes. Wegweiser sind willkommene Helfer des Menschen bei der ewigen Suche, die Wesenskern seines Lebens ist. Hier weist einer in den Tod.

  • Also mit "links" kenne ich mich überhaupt nicht aus. Keine Ahnung, wie man so etwas findet und hier implantiert. Interessant, in welch verschiedenen Welten Menschen leben, die hier im Forum miteinander dialogisch verkehren (oder zu verkehren versuchen). Es gibt einen Aufsatz von Elmar Seidel, der 1969 erschien, und den Titel hat: "Ein chromatisches Harmonisierungsmodell in Schuberts Winterreise".


    Und das ist das hier eigentlich Interessante. Diese "Teufelsmühle", also eine ansteigende chromatische Sequenz, kommt zum Beispiel schon in der Matthäuspassion vor. Sie drückt musikalisch so etwas wie tiefes Erschrecken aus. Und wenn Schubert sie in der vierten Strophe von "Der Wegweiser" verwendet, dann sagt das sehr viel darüber aus, wie er dieses Gedicht von Wilhelm Müller gelesen hat.

  • Im Thread „Die neuen Liedinterpreten“ hatte ich, beim Vergleich verschiedener Aufnahmen des Liedes „Der Wegweiser“, die Auffassung vertreten, dass die Interpretation von D. Fischer-Dieskau, die er mit G. Moore 1972 zusammen vorlegte, den kompositorischen Intentionen Schuberts am nächsten komme, weil das müde Getriebensein, das dieses Lied rhythmisch auszeichnet, dort am deutlichsten zu hören sei.


    Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Gerald Moore zu diesem Lied in seinem Buch „Schuberts Liederzyklen“ (Tübingen 1975). Dort findet man u. a. folgendes:


    „Die Tragödie unseres Freundes wird in diesem Lied versinnbildlicht. Wir spüren die unbarmherzige Macht in der harten Disziplin des Tempos, von dem man, wenn es einmal festgelegt ist, nicht mehr abweichen sollte. (…) Die Zweiunddreißigstelnoten müssen lebhaft sein, denn sie sind, bildlich gesprochen, die Peitschenschläge, welche die Bewegung vorwärtstreiben, (…) Die Sechzehntel in Takt 5 und 7 (gefolgt vom Baß im Klavier) sind schwer und müde, und obwohl man sich bewußt ist, das >Wege< und >andern< Höhepunkte sind, werde sie ohne Schattierung gesungen – nicht herausgehoben. Als würde der Mann gegen seinen Willen vorwärtsgetrieben, scheint die Bewegung unfreiwillig, sogar verdrossen zu sein.“ (S.191f.).

    Man wüsste gerne, wie weit das Einvernehmen hinsichtlich des Verständnisses dieses Liedes damals ein stilles oder ein im Dialog reflektiertes war. Jedenfalls ist es in der Aufnahme deutlich zu vernehmen. Das „Getriebensein“ ist insbesondere in der Art zu hören, wie Fischer-Dieskau die vierte Strophe singt.


    Um der Frage nachzugehen, wie weit der Einfluss des Begleiters auf die sängerische Interpretation reicht, habe ich mir einmal zum Vergleich die Aufnahme mit Daniel Barenboim als Begleiter angehört, die 1980 bei der DG erschien. Und siehe: Hier ist dieses beinahe unbarmherzige Drängen des Klaviers in der vierten Strophe nicht in gleicher Weise ausgeprägt.


    Ich habe mich gefragt, woran das liegt, und glaube den Grund gefunden zu haben. Dieser Effekt des Drängens kommt in der musikalischen Faktur zu Beginn der vierten Strophe ja insbesondere durch die Achtel-Akkorde im Diskant zustande, die synchron mit den Achteln in der Singstimme erklingen. Und diese akzentuiert G. Moore viel deutlicher als Barenboim, während dieser die aufsteigenden halben Noten im Klavierbass markanter heraushebt. Der Unterschied ist deutlich hörbar!

  • Wenn, wie Gerald Moore dies formuliert hat, die „Bewegung“ in diesem Lied „unfreiwillig, sogar verdrossen“ ist, „als würde der Mann gegen seinen Willen vorwärtsgetrieben“, dann stellt sich die Frage, wie der Schluss zu verstehen ist, jene sechst Takte, die den Schlussvers beinhalten (einschließlich des kurzen Nachspiels aus zwei Akkorden): „Die noch keiner ging zurück“.

    Gerald Moore meint dazu: „Wir haben gesehen, daß die Achtelbewegung beinahe immer vorhanden war, entweder in der Singstimme oder im Klavierpart – ständig vorantreibend und anstachelnd; aber beim letzten >die noch keiner ging zurück< fehlt, obwohl das Tempo konstant bleibt, die Triebkraft, als sei dem Wegfahrer die Bewegung nicht bewußt.“ (S.197)


    Ich verstehe G. Moore so, als betrachte er die besagten Takte als eine Art Auslaufen der Bewegung, die diesem Lied vom ersten Takt an innewohnt. Und damit vermag ich mich nicht so recht abzufinden. Diese sechs Takte klingen mir dafür zu gewichtig.


    Schaut man sich unter dieser Fragestellung die musikalische Faktur an, dann sieht man: Die melodische Linie der Singstimme besteht aus einer Abfolge von insgesamt sechs Viertelnoten und einer nachfolgenden halben im Ausklang. Sie bewegt sich in eigenartiger, fast konstatierender Starre nur innerhalb einer Terz auf und ab. Das Klavier hat dabei mit vollen, aus dem Zusammenspiel von Bass und Diskant bestehenden Akkorden eine reine Stützfunktion. Auf jeder Note der Singstimme liegt auch ein Stützakkord im Klavier. Und das ganze erklingt im Pianissimo.


    Klanglich hat das zu viel Gewicht, als dass man von einem „Ausklang“ oder einem „Auslaufen“ der Bewegung des Liedes sprechen kann. Es ist ganz offensichtlich eine Kadenz mit Eigengewicht. Und sie muss wohl so gehört werden, dass der Wanderer leise, aber doch bedeutungsvoll in sich hineinsprechend, sich der Unabänderlichkeit des Weges bewusst wird, den der „Wegweiser“ ihm weist. Diese Kadenz hat für mich „Statement-Charakter“, der um so eindringlicher wirkt, weil er äußerst leise artikuliert wird.


    So scheint auch D. Fischer-Dieskau diesen Schluss zu verstehen, wenn er anmerkt:
    „Vom ersten, visionären >Einen Weiser seh ich stehen< an verdichtet sich im diminuendo die Erkenntnis: Diesen Weg ging >noch keiner zurück<. Die damit verbundene Erschütterung verbindet sich für Schubert mit einem choralähnlichen Schluß.“ (Schubert und seine Lieder, S.465).


    Auch wenn ich zögere, den Begriff „choralähnlich“ zu übernehmen, da die Singstimme zu sehr deklamierend, auf Einzeltönen insistierend angelegt ist und das Ganze eigentlich ein In-sich-Hineinsingen im Pianissimo sein soll, sieht Fischer-Dieskau diesen Schluss des Liedes doch richtiger als G. Moore. In der Weise nämlich, dass er ihm ein ausgeprägtes kompositorisches Eigengewicht zuspricht.


    In diese Richtung geht auch das Verständnis von Thr. Georgiades, den Schluss des Liedes betreffend. Er spricht diesbezüglich von einer „Vergrößerung und des Rhythmus“ , insofern die das Lied dominierenden Achtel und Sechzehntel zu Vierteln werden, und er fährt fort:


    „Sie (diese Vergrößerung) ist nicht bloß ein auskomponiertes Ritardando, sie ist nicht als verlangsamte Bewegung zu verstehen. Dieses letzte Gesangsglied steht für sich. Der Wanderer hat das Ziel erreicht: das Unabwendbare, Bleibende, das >Faktum<.“ (Musik und Lyrik, S.356).

  • Im Thread "Winterreise in liedanalytischer Betrachtung" wurde allerlei in die diesbezüglichen Verse Müller hineingeheimnist. Das soll hier nicht wiedergegeben oder kommentiert werden. Interessant ist aber, dass man offensichtlich selbst zum Opfer derartiger Überinterpretation werden kann. Die lyrischen Bilder, die Müller für die nächtlichen Schläfer verwendet, sind als lyrische Skizze eines Lebens zu lesen, das das Gegenteil von dem darstellt, das dem Wanderer auferlegt ist (wie er meint). Das ist ihre Funktion. Darin erschöpfen sie sich aber auch! Man muss nicht lange darin interpretierend herumrühren.


    "Der eine Hinweis möchte dem oft gehörten Einwand begegnen, daß das philologische Lesen als ein bewußtes, sich selbst stetige Rechenschaft abforderndes die unschuldige Begegnung mit den Texten genauso zerstört wie deren Integrität.


    Das sind faule Entschuldigungen solcher, die das Lesen noch nicht übers Buchstabieren hinaus gelernt haben. Goethe hat dazu in einem Brief an Knebel aus Anlaß des Lukrez Unwiderlegliches gesagt: Laß dich nicht verdrießen, den Dichter ... gleichsam zu zerstückeln; ich kenne nur diesen Weg, um aus der allgemeinen in die besondere Bewunderung zu gelangen. Dem so Lesenden wird die produktive Erfahrung nicht versagt bleiben, daß die besondere Bewunderung, welche im Detail ihren Ursprung hat, wie keine andere Geistesoperation zugleich geeignet ist, aus den Teilen das Ganze neu wiederherzustellen."


    (Walther Killy, Schreibweisen, Leseweisen, C.H. Beck 1982)

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • „Sehr langsam, mit fast feierlich anmutenden Klavierakkorden in F-Dur, setzt das Lied ein. Sie erklingen in Schuberts „Todesrhythmus“: Ein Viertel, zwei Achtel. Nicht ohne Grund wird in bezug auf dieses Lied von „Prozessionsmusik“ gesprochen, und Thr. Georgiades hört dabei sogar Anklänge an das „Kyrie“ des gregorianischen Requiems.


    Die Singstimme wirkt in diese fast orchestral sich entfaltenden Klavierklänge wie eingebettet, zumal das Klavier mit seinen Akkorden durchweg der Deklamation der Singstimme folgt. Ungewöhnlich das alles, - unter dem allgemeinen Aspekt der musikalischen Faktur der „Winterreise“ betrachtet. Dieses Lied muss für Schubert etwas Besonderes gewesen sein.


    Ganz bezeichnend der Einstieg der Singstimme: Auftaktig beginnt sie, bewegt sich dann in nur im kleinen Intervall einer Sekunde erst nach oben, dann nach unten, und auf jeder Silbe des lyrischen Textes, die einen Ton trägt, liegt auch ein Klavierakkord. Ausnahme: Die Silbe „ei“ („-nen“), die auf ein Sechzehntel gesungen wird.


    Der choralartige Klang, auf den Schubert dieses Lied, ausgehend von der zentralen Aussage des lyrischen Textes, in der musikalischen Faktur angelegt hat, tritt besonders deutlich hörbar mit dem zweiten Verspaar hervor. In Takt 13f. („…wohl die Zeichen sein“) legt sich nämlich das Klavier im Diskant über die melodische Linie der Singstimme. Choralartig sind auch die in diesem Lied mehrfach vorkommenden Abweichungen von der Haupttonart, besonders auffällig in der zweiten Strophe.


    Hier, von Takt 17 an („Sind denn in diesem Hause…“), nimmt die melodische Linie der Singstimme eine neue Gestalt an: Die Intervalle, in denen sie sich bewegt, werden größer, und sie setzt jetzt mehrfach auf einem Ton an, um sich von dort aus nach unten zu bewegen. Schubert greift auf diese Weise musikalisch die Eindringlichkeit der lyrischen Sprache auf: Der Wanderer ist an die Grenze seiner Leidensfähigkeit gelangt und sehnt die Ruhe im Tod herbei.


    Die Expressivität, mit der das Bekenntnis tiefer existenzieller Erschöpfung artikuliert wird, macht Schubert damit hörbar, dass er auf das Wort „bin“ („…tödlich schwer verletzt“, Takt 20) ein „Des“ legt. Dieser Ton wirkt hier störend, weil er, von der Grundtonart des Lieds her, „leiterfremd“ ist. Das wirkt wie ein Klageruf, der sich an dieser Stelle als Ausbruch aus dem harmonisch vorgegebenen Verlauf der melodischen Linie artikuliert.


    Dass diese dann mit dem letzten Verspaar („O unbarmherz´ge Schenke…“) in den f-Moll-Bereich absinkt, ist nur konsequent. Die Klage des „Abgewiesenseins“ kommt mit diesen Moll-Klängen zum Ausdruck. Erst mit dem letzten Vers, diesem Sich-Aufraffen mit letzter Kraft, erfolgt die Rückkehr zur Ausgangstonart F-Dur.


    Die melodische Linie schwingt sich noch einmal zu einem hohen „f“ auf (bei dem Wort „weiter“, Takt 27) und bewegt sich danach hinab zur Tonika, eine Oktave tiefer. Bemerkenswert dabei, dass mein Ansprechen des Wanderstabs dadurch eine leichte Bewegung, kommt dass zwei Mal ein Vorhalt auf dem Hauptton liegt, und zwar bei den Silben „Wan“ – „der“. Schubert will mit diesem kompositorischen Mittel wohl die Dynamik eines neuerlichen, allerdings letzten(!), Aufbruchs musikalisch zum Ausdruck bringen

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