Gustav Mahler. Seine Lieder, vorgestellt und besprochen in der Reihenfolge ihrer Entstehung und Publikation

  • In einem kurzen Zwischenspiel wiederholt das Klavier die Grundfigur der melodischen Linie auf den Worten „Und sollt´ ich nicht weinen“ in gleichsam komprimierter Form noch einmal und verschafft der Aussage dadurch zusätzlichen Nachdruck. In der sinfonischen Fassung macht das der Kinderchor, der der Altstimme gleichsam ins Wort fällt. Überaus klageerfüllt mutet die Fallbewegung an, die die melodische bei den Worten „Ich hab´ übertreten die zehn Gebot“ beschreibt. Sie setzt mit einem Sextsprung in hoher Lage (einem „F“) an, und sinkt wie von bleierner Müdigkeit beschwert in fünf Fallbewegungen, darunter eine Quarte und eine Quinte, zu einem tiefen „D“ ab, auf dem in Gestalt von Dehnungen und mit Portati versehen die Worte „zehn Gebot“ deklamiert werden.


    Noch stärkeres Gewicht wird der melodischen Linie bei den Worten „Ich gehe und weine ja bitterlich“ dadurch verliehen, dass alle semantisch relevanten Worte in silbengetreuer und gedehnter Form deklamiert werden. Auf dem Wort „weine“ liegt dabei ein gedehnter Sekundfall, und das Wort „bitterlich“ erhält einen starken schmerzlich-melodischen Akzent dadurch, dass die Fallbewegung darauf in hoher Lage (einem „Es“) ansetzt und über zwei verminderte Sekunden auf den beiden ersten Silben zu einem „A“ in mittlerer Lage absinkt, das eine Dehnung trägt, die ihrerseits noch einmal einem Sekundfall beschreibt. Und wieder lässt das Klavier, dieses Mal aber in dissonanter, harmonisch verminderter Weise die melodische Grundfigur auf den Worten „Und soll´ ich weinen“ erklingen. Zuvor begleitet es die Singstimme wieder mit den expressiv nach oben laufenden Sechzehntel-Ketten über den dreistimmigen Akkordfolgen im Bass. Die Worte „Ach komm und erbarme dich!“ werden wiederholt. Die melodische Linie wiederholt sich in ihrer Grundstruktur anfänglich auch. Aber während sie, in hoher Lage ansetzend, beim ersten Mal nach einer bogenförmigen Abwärtsbewegung dorthin wieder zurückkehrt, sinkt sie bei der Wiederholung am Ende über einen Quintfall zu dem tiefen „D“ ab, auf dem sie (bei den Worten „zehn Gebot“) schon einmal endete. Das Klavier begleitet diese letzte Melodiezeile der Strophe mit sechsstimmigen (vierstimmigen im Diskant, Oktaven im Bass) und zwischen d-Moll und a-Moll modulierenden Akkorden.


    Dieses tiefe „D“ dominiert in markanter Weise das nachfolgende achtzehntaktige Zwischenspiel, und das in der Weise, dass sich von ihm im Diskant über einer permanenten Abfolge der das Lied so stark prägenden rhythmisierten Achtel-Vierergruppen langsam eine Ablösung von Moll-Akkorden Akkorden ereignet, die in ihrem Aufstieg eine melodische Linie bilden, die aber alsbald wieder in chromatischer Tiefe versinkt. Im Bass steigen die Achtel-Gruppen nun in oktavischer Form immer weiter in diese Tiefe hinab, bis sich dann am Ende sehr sanft und lese wieder eine melodische Linie im Diskant abzeichnet, die an die Grundfigur erinnert, mit der alle Strophen außer der vierten einsetzen. Und so geschieht das nun auch wieder bei den Worten „Hast du übertreten die zehen Gebot“. Noch verbleibt die – in ihrer Struktur ja bekannte - melodische Linie in g-Moll-Harmonisierung, aber am Ende der beiden Zeilen ereignet sich eine Rückung in die Dur-Parallele „B“, - Vorzeichen für das, was sich nun in der letzten Strophe ereignet.


    Es ist der Lobgesang der Engel auf die „himmlische Freud“, die „Petro bereitet“ wurde. Hier ganz besonders wird das klangliche Plus sinnfällig, das die sinfonische Fassung der für Singstimme und Klavier voraus hat: Der Lobgesang wird dort von einem dreistimmigen Frauenchor angestimmt, zu dem sich das ganze Orchester hinzugesellt. Die melodische Linie setzt zwar noch einmal mit den tänzerisch rhythmisierten Achtel-Figuren ein, wie sie das durchweg bei fast allen Strophen getan hat, aber die Worte „himmlische Freud“ scheint eine magische Wirkung auf sie auszuüben: Sie gehen immer wieder, wenn sie wiederholt werden – und Mahler setzt hier das Prinzip Wiederholung sehr effektvoll ein – in eine Bogenbewegung in hoher Lage über.


    Die Harmonik ist hier in den Dur-Bereich von „F“ und die Dominante und Subdominante zurückgekehrt, nicht allerdings durchgängig: Mehrfach erfolgt eine kurze Rückung nach a-Moll oder d-Moll. Man empfindet das so, als würden die Engel in alle ihrem Jubelgesang doch nicht vergessen, dass das Sündenbekenntnis Petri – und des Menschen ganz allgemein – und die Bitte um Vergebung unter Weinen erfolgte. Bei den Worten „durch Jesum und Allen zur Seligkeit“ bewegt sich die melodische Linie in silbengetreuer und mit Portati versehener Deklamation langsam aus der hohen Lage eines „F“ hinunter zu einem „A“, wobei auf der ersten Silbe von Jesum“ und Allen“ jeweils eine Dehnung liegt.


    Das Wort Seligkeit erhält zum Abschluss einen ganz besonderen melodischen Akzent. Es wird ja ebenfalls wiederholt. Das Klavier verstärkt ihn noch, indem es – wie es das schon bei den Worten „himmlische Freude“ getan hat - von seinen Achtelfiguren zur Artikulation von Akkorden übergeht. Bei ersten Mal liegt auf den drei Silben ein in gedehnten Schritten erfolgender Sekundfall mit nachfolgendem Quartanstieg. Im zweiten findet dann aber die melodische Linie nach einem in hoher Lage in gedehnter Form erfolgenden Sekundfall über das Intervall einer Quinte Ruhe auf dem Grundton „F“. Wie ein nachklingender Jubelruf wirkt das kurze viertaktaktige Nachspiel mit seinen aufsteigenden dreistimmigen Akkorden, die über eine bogenförmige Achtelfigur in einen lang gehaltenen vierstimmigen F-Dur-Akkord übergehen.

  • Dieses Lied bildet den fünften Satz von Mahlers dritter Symphonie, die in den Jahren 1895/96 entstand. Es folgt darin auf den vierten Satz, dem ebenfalls ein Text zugrunde liegt: „O Mensch gib Acht“ aus Nietzsches „Zarathustra“, und aus diesem Kontext bezieht es seine spezifische musikalische Aussage. Man muss nicht nur dieses beachten, um diese voll erfassen zu können, es ist wohl auch die kompositorische Intention zu bedenken, die der ganzen Sinfonie zugrundeliegt. Ihr Gegenstand ist die Stufenleiter des Seins, von der unbelebten über die belebte Natur bis hinauf zum göttlichen Sein. In Mahlers Worten:
    Erster Satz: „Pan erwacht – Der Sommer marschiert ein (Bacchuszug)“;
    Zweiter Satz: „Was mir die Blumen auf den Wiesen erzählen“;
    Dritter Satz: „Was mir die Tiere im Walde erzählen“;
    Vierter Satz: „Was mir der Mensch erzählt“;
    Fünfter Satz: „Was mir die Engel erzählen“;
    Sechster Satz: „Was mir die Liebe erzählt“.


    In der Musik auf Nietzsches Worte verkörpert sich also das, „was mir der Mensch erzählt“. Und die Musik auf die Verse aus dem „Wunderhorn“ sollen dann also, gemäß Mahlers kompositorischem Konzept, als das verstanden werden, was „die Engel“ zum Wesen und Sinn des weltlichen Seins, also auch das des Menschen, zu sagen haben. In Mahlers Welt- und Menschenbild steht der Mensch als Teil der Schöpfung in der Bipolarität von Lust und Leid. In der anderen Welt, der der „Ewigkeit“ ist diese aufgehoben. Nietzsches Verse sprechen vom „Weh“ der Welt und fügen hinzu, dass es „tief“ sei. Die „Welt“, das menschliche Sein darin will, dass dieses Weh“ vergehe, „Welt spricht: Vergeh“. Aber der Mensch will nicht Vergänglichkeit. Sein existenzielles Wesen, die „Lust“ am Leben, ist die Sehnsucht nach Ewigkeit. Alle Lust will „tiefe, tiefe Ewigkeit“. Die aber ist allein in der Nacht zu finden, - nicht wirklich freilich, nur in Ahnung davon, wie die Romantik das wusste. Erlösung aus dem „Weh“ der Existenz ist in der realen Welt nicht möglich.


    Auf das, was im vierten Satz aus gleichsam existenzphilosophischer Perspektive im Mittelpunkt steht, antwortet der fünfte mit der naiven Gläubigkeit des Kindermundes. Der Unvollkommenheit der realen Welt wird die Vollkommenheit jener „eigentlichen“ Welt gegenüber gestellt, von der allein die Kunst zu sprechen vermag. In den Worten der Kinder ist das die „selige Stadt“ der „himmlischen Freude“, die „kein Ende mehr hat“ und zu der jeder Zugang findet, der „auf die Knie fällt“ und Buße tut.


    Wie sehr der fünfte Satz in einem kontrastiven Dialog zum vierten steht, lässt der klangliche Charakter der beiden in geradezu exzessiver Weise vernehmen. Auf die nächtlich dunkle Klanglichkeit des vierten Satzes mit seinem diffusen Metrum, dem unverbundenen Nebeneinander von Cello- und Kontrabass-Stimmen und dem geradezu exaltiert wirkenden Violin-Solo antwortet der fünfte Satz mit seiner, im einleitenden und die Musik begleitenden „Bimm-Bamm“ des Knabenchors sich gleichsam verdichtenden hellen Klanglichkeit, seiner klaren architektonischen Binnengliederung im Zusammenwirken von Singstimmen und Orchester und der dimensionalen Eindeutigkeit seiner musikalischen Aussage.


    Diese manifestiert sich in der Orchesterfassung des Liedes substanziell reicher und vielfältiger als in der für Singstimme und Klavier. Das ist hier noch stärker der Fall als bei den anderen bereits besprochenen „Wunderhorn“-Liedern, ganz einfach deshalb, weil zu dem klanglichen Aussage-Plus, das die instrumentalen Orchestergruppen einbringen, auch noch die Polyphonie von Alt-Solo, Knabenchor und dreistimmigem Frauenchors hinzukommt. In der Aussage des lyrischen Textes können damit zusätzliche semantische Dimensionen erschlossen werden. Allein schon das helle und klare, von vier abgestimmten Glocken begleitete Bimm-Bamm der Knabenstimmen, mit dem der fünfte Satz unvermittelt einsetzt, bringt diesen in einen starken Kontrast zum vorangegangenen vierten und konstituiert auf diese Weise gleichsam einen klanglichen Rahmen, in den sich seine musikalische Aussage gestellt sieht und durch den sie ihre maßgebliche Akzentuierung erfährt. Dieser Rahmen bleibt dem Lied ja dann auch – mit nur unwesentlichen Unterbrechungen - nicht nur erhalten, er weitet sich sogar noch aus und gewinnt an klanglicher Relevanz dadurch, dass der Frauenchor mittendrin und am Ende in ihn einstimmt. Die Annahme, dass hier bei Mahler irgendeine Art von scherzhaftem Humor im Spiel gewesen sein könnte, würde die der dritten Sinfonie zugrunde liegende kompositorische Intention völlig verkennen. In diesem fünften Satz imaginiert – und evoziert – das Bimm-Bamm das Wesen der „eigentlichen Welt“ der „himmlischen Freude, die der irdischen Realwelt gleichsam musikalisch kontrafaktisch gegenübertritt.


    Das tiefer reichende Erschließen der Semantik des lyrischen Textes durch den Orchestersatz kann hier nicht in detaillierter Weise aufgezeigt werden. Exemplarische Hinweise sollten genügen. So erhält etwa die zentrale Aussage „Sie jauchzten fröhlich auch dabei,/ Daß Petrus sei von Sünden frei“ das ihr zukommende musikalische Gewicht erst dadurch, dass die zunächst unisono auftretenden Stimmen des Frauenchors bei den Worten „Petrus ei von Sünden frei in“ polyphoner Weise auseinandertreten, in zweistimmiger Weise dann die Worte „von Sünden frei“ drei Mal wiederholen und dann die melodische Linie ohne Worte in bogenförmiger, die Aussage gleichsam bejubelnder Weise ausklingen lassen, - wobei das Bimm-Bamm der Knabenstimmen, das bislang den Frauenchor begleitete, an dieser Stelle verstummt.


    Wenn „Herr Jesus“ erstmals spricht (Takt 27f.), ereignet sich wieder eine solche Akzentuierung der lyrischen Aussage durch stimmliche Polyphonie. Die mittleren und tiefen Frauenstimmen wiederholen die Worte „sprach der Jesus“ in Gestalt einer Abfolge von Sexten, Terzen und Oktaven. Und während sie dann bei der Wiederholung zu langen Dehnungen übergehen, fallen die hohen Frauenstimmen forte mit dem melodisch lebhaften „Was stehst du denn hier?“ ein, was dem Fragecharakter dieser Worte einen starken musikalischen Nachdruck verleiht, zumal hier die Fagotte sich mit lebhaften Achtelfiguren artikulieren. Mit den Worten „Wenn ich dich anseh…“ kommen die drei Chorstimmen dann wieder zusammen und verleihen den Worten Jesu einen beeindruckend sanften Klang.


    Schließlich lässt auch das mit Takt 38 einsetzende Alt-Solo vernehmen, in welcher Weise der Orchestersatz im lyrischen Text semantische Dimensionen zu erschließen vermag, die der Klavierfassung nicht zugänglich sind. Das fängt damit an, dass mit Takt 35 die Violen, die Celli und die Kontrabässe ein klanglich überaus zartes und harmonisch-modulatorisch reiches Zwischenspiel erklingen lassen, das zu der Aussage dieses Solos hinführt und es gleichsam vorbereitend charakterisiert. Während die Alt-Stimme die melodische Linie auf den Worten „Und sollt´ ich nicht weinen, du gütiger Gott“ vorträgt, artikulieren die Klarinetten aufsteigende Sechzehntel-Figuren und die Oboen mit Vorschlag versehene Sekundfälle, die auf die betrübte Seelenlage dieses Menschen verweisen, der die „zehn Gebot“ übertreten hat und sich seiner Sündhaftigkeit voll bewusst ist Und während der Knabenchor und die mittlere und tiefe Stimme des Frauenchors unverdrossen ihr „Bimm-Bamm“ erklingen lassen, ereignet sich mit einem Mal Unerwartetes: Die Sopranstimmen des Frauenchors deklamieren pianissimo in raschen Achtel- und Sechzehntel-Figuren die Worte „Du sollst ja nicht weinen, sollst ja nicht weinen“, was der nachfolgenden, überaus schmerzlichen und von den Piccolo-Flöten, der Harfe, den Violen, Celli und Kontrabässen mitvollzogenen Fallbewegung der melodischen Linie der Singstimme auf den Worten „Ich hab´ übertreten die zehn Gebot“ einen Akzent verleiht, der die Sündenvergebung gleichsam antizipiert, von der später die Rede sein wird.


    Es ist eine klanglich wahrlich betörende musikalische Imagination der „himmlichen Freud´“, die Mahler im fünften Satz seiner „Dritten Symphonie“ präsentiert. Man kann sehr gut verstehen und nachvollziehen, dass sein Biograph Jens Malte Fischer diese Musik mit den Worten charakterisiert:
    „Mahler wußte sehr genau, daß dieser Satz keine Minute länger hätte dauern dürfen, sonst hätte er sich den Vorwurf des >Kitsches< auf Goldgrund eingehandelt, aber das Spiel mit der Naivität und abgefeimte Dramaturgie sind bei ihm untrennbar miteinander verbunden.“

  • Da ich für jeden Beitrag zu diesem Thread dankbar bin und ihn ernst nehme, hatte ich mir auf die Noten zu diesem Lied notiert: "Beitrag 93 beachten!". Der stammt von dr. pingel und lautet:
    "Zu "Es sungen drei Engel" habe ich noch eine spezielle Bitte. Dieses Lied ist das Hauptthema von Regina in "Mathis der Maler" von Hindemith. Regina ist die Tochter des Bauernführers Schwalb. Das Lied kommt im ersten Bild gleich vor. Nach dem Tode ihres Vaters findet Regina Zuflucht bei Mathis, aber sie stirbt auch. In dieser Szene erklingt das Lied noch einmal. Meine Lieblingssopranistin rührt mich in dieser Szene immer wieder zu Tränen: es ist Ursula Koszut in der Kubelik-Aufnahme. Vielleicht vergleichst du einfach die beiden Fassungen."


    Nun habe ich damit freilich ein kleines Problem: Es ist das der Vergleichbarkeit. Zwischen Mahler und Hindemith liegen, was den musikalischen Umgang mit dem lyrischen Wort liegt, ganze Welten. Einmal abgesehen davon, dass hier ja zwei wesensverschiedene kompositorische Absichten vorliegen, d.h. die Text-Vertonungen in einen unterschiedlichen musikalischen Kontext (Sinfonie-Oper) gestellt sind, - Hindemith setzt liedkompositorisch grundsätzlich, darin sich bewusst vom Expressionismus der Zweiten Wiener Schule distanzierend, an der sprachlichen Struktur des lyrischen Textes und seiner Semantik an.
    Sollte aber dieses Anliegen weiter bestehen, werde ich mich natürlich daran versuchen.

  • Rasch eine Zwischenantwort: mein Schweigen hatte verschiedene persönliche Gründe, ich werde deine Texte aber alle noch aufarbeiten, vor allem, weil mir die Lieder jetzt alle sehr bekannt sind, was bei den frühen Liedern nicht der Fall war; gib mir noch etwas Zeit, vergessen habe ich deinen Mahler auf keinen Fall. Bei der Sache mit der Gnosis muss ich mich noch mal informieren, denn mein Studium ist schon ein wenig lange her. Ich muss dazu noch einmal Bultmanns "Theologie des Neuen Testaments" heranziehen. Auch den Hindemith habe ich nicht mehr so gut im Kopf. Ich bin aber sehr zufrieden, dass du meine Vorschläge aufgegriffen hast.

    Manchmal ist wenig immer viel! (Thorsten Legat)

  • Zit: "...dass du meine Vorschläge aufgegriffen hast. "


    Das hat sich als höchst nützlich für mich selbst erwiesen, lieber dr. pingel. Wie Du dich erinnern wirst, hatte ich ja ursprünglich vor, die in die Sinfonien als eigenständige Sätze eingegangenen Lieder auszuklammern, bin dann aber davon abgegangen, weil Du diese Lieder gleichsam darum bittend reklamiert hast. Das war gut so! Ich habe auf diese Weise eine ganze Menge über Mahler gelernt, - vor allem weil ich mich nun auch mit seiner Sinfonik beschäftigen musste.

  • Wir genießen die himmlischen Freuden,
    Drum tun wir das Irdische meiden,
    Kein weltlich Getümmel
    Hört man nicht im Himmel!
    Lebt alles in sanftester Ruh´!
    Wir führen ein englisches Leben,
    Sind dennoch ganz lustig daneben,
    Wir tanzen und springen,
    Wir hüpfen und singen!
    Sankt Peter im Himmel sieht zu!


    Johannes das Lämmlein auslasset,
    Der Metzger Herodes drauf passet!
    Wir führen ein geduldig´s,
    Unschuldig´s, geduldig´s,,
    Ein Liebliches Lämmlein zu Tod!
    Sankt Lucas den Ochsen tut schlachten
    Ohn´ einig´s Bedenken und Achten,
    Der Wein kost´ kein Heller
    Im himmlischen Keller,
    Die Englein, die backen das Brot!


    Gut´ Kräuter von allerhand Arten,
    Die wachsen im himmlischen Garten.
    Gut´ Spargel, Fisolen
    Und was wir nur wollen!
    Ganze Schüsseln voll sind uns bereit!
    Gut´ Äpfel, gut´ Birn' und gut´ Trauben!
    Die Gärtner, die alles erlauben!
    Willst Rehbock, willst Hasen,
    Auf offener Straßen
    Sie laufen herbei!


    Sollt´ ein Fasttag etwa kommen,
    Alle Fische gleich mit Freuden angeschwommen!
    Dort läuft schon Sankt Peter
    Mit Netz und mit Köder
    Zum himmlischen Weiher hinein.
    Sankt Martha die Köchin muß sein!


    Kein´ Musik ist ja nicht auf Erden,
    Die uns'rer verglichen kann werden.
    Elftausend Jungfrauen
    Zu tanzen sich trauen!
    Sankt Ursula selbst dazu lacht!
    Kein´ Musik ist ja nicht auf Erden,
    die unsrer verglichen kann werden.
    Cäcilia mit ihren Verwandten
    Sind treffliche Hofmusikanten!
    Die englischen Stimmen
    Ermuntern die Sinnen,
    Daß alles für Freuden erwacht.


    Dieses Lied entstand am 10. Februar 1892 und wurde am 27. Oktober 1893 in Hamburg uraufgeführt. Die Klavierliedfassung ist früher entstanden, sie erlebte ihre Uraufführung bereits am 20. Juni 1891 in Wien. Mahler nahm diese Komposition als Finale in seine Vierte Symphonie auf. So war das aber wohl nicht wirklich. Eher so: Er komponierte, wie zu vermuten, aber nicht nachzuweisen ist, zu diesem Lied drei weitere Sätze. Denn es stellt eigentlich das Zentrum der Vierten dar, die man, worauf schon Paul Bekker hinwies, „vom Finale her ansehen und zu erfassen suchen“ muss.


    Zugrunde liegt ihr ein Text aus „Des Knaben Wunderhorn“ mit dem Titel „Der Himmel hängt voll Geigen“. In ihm wird in einfachen, schlichten, manchmal die sprachliche Unbeholfenheit streifenden Worten das Leben im Himmel geschildert, das in allen Bereichen das Gegenbild vom Irdischen ist: Alles lebt „in sanftester Ruh´“, es gibt kein „weltlich Getümmel“ keinen Hunger, man „tanzt und springt“, und „Petrus sieht zu“. Und vor allem: Die Musik, die es dort gibt, übertrifft die auf Erden bei weitem in der „Ermunterung der Sinne“. Dieses Paradies ist ein doch stark in irdischen Schlaraffenland-Bildern imaginiertes. In sehr treffender Weise nannte Goethe deshalb das Wunderhorn-Gedicht „eine christliche Cocagne, nicht ohne Geist“. Das Seltsame und höchst Verwunderliche ist dabei freilich: Dieses „himmlische Leben“ präsentiert sich als eine Art Travestie des irdischen.


    Da wird munter geschlachtet, und der Schlächter der Kinder von Bethlehem, Herodes also, agiert hier als Metzger. Man verspeist hier im Himmel nicht Nektar und Ambrosia, sondern unschuldige Tiere, die sich bereitwillig dafür anbieten. Johannes der Täufer lässt das Lamm schlachten, das er als „Lamm Gottes“ mit sich führt, Lukas opfert den Stier, das Symbol für den Opfertod Christi, und die Fischer kommen fröhlich geschwommen, um sich vom Menschen-Fischer Petrus an die Angel nehmen zu lassen. Kein Wunder, dass Th. W. Adorno in dieser Textpassage des „Wunderhorn“-Textes die Kulmination einer aberwitzigen Christologie sah.
    Mahlers Musik auf diesen Text wirft einige Fragen hinsichtlich ihrer musikalischen Aussage auf. Wie ist sie zu verstehen? Als mit untergründigem Humor ironisch verfremdete Umsetzung einer sich als „himmlisches Leben“ ausgebende Travestie irdischen Lebens? Oder - die Tatsache berücksichtigend, dass der ursprüngliche Untertitel des Liedes lautete „Was mir das Kind erzählt“ – als tatsächliche musikalische Imagination einer kindlichen, die irdische Welt auf naive Weise in den Himmel projizierenden Vorstellung von „himmlischem Leben“?
    Darauf wird in der Nachbetrachtung noch einzugehen sein. Zunächst steht aber erst einmal die Vorstellung des Liedes in seiner spezifischen kompositorischen Faktur an.


    In G-Dur setzt das Lied ein, ein Viervierteltakt liegt zugrunde. „Sehr behaglich“ lautet die Anweisung für die Realisation des dreizehntaktigen Vorspiels, in dem die Singstimme am Ende ihren Einsatz hat. Mit einem triolischen Auftakt beginnt die B-Klarinette und lässt eine melodische Linie erklingen, mit der sie die der Singstimme auf dem ersten Vers vorwegnimmt. Das F-Horn begleitet mit lang gehaltenen Tönen und die Harfe lässt ein Auf und Ab von Einzeltönen erklingen. Die Flöten fallen mit einer Abfolge von lebhaften Sechzehntel-Figuren ein, und durch das Hinzutreten der Hörner, des Englisch-Horns und der Streicher wird das Klangbild, das wie eine musikalische Evokation von ländlich-friedlichem Leben anmutet, immer voller. Die melodische Linie der Singstimme setzt mit einer schwungvoll wirkenden Kombination aus Sext- und Quintsprung ein und verleiht dem Wort „himmlischen“ durch eine lang gehaltene Dehnung in Gestalt einer alterierenden Sekund-Bewegung auf der ersten Silbe einen starken Akzent. Es geht hier um den Himmel, und der wird gleich in der ersten Melodiezeile mit großem Jubel besungen. Zu dem Wort „Freuden“ hin beschreibt die melodische Linie eine triolische Fallbewegung, setzt sich aber alsbald wieder nach oben in Bewegung und verleiht den Worten „das Irdische meiden“ durch ein Melisma in hoher Lage einen Akzent. Für die Singstimme gibt Mahler die mit Ausrufezeichen versehene Anweisung: „Singstimme mit kindlich heiterem Ausdruck; durchaus ohne Parodie!“


    Modulierte die Harmonik hier bei den beiden ersten Versen zwischen G-Dur und der Dominante, so rückt sie bei den beiden nächsten Versen nach a-Moll und der Dominante dazu. Auch hier steigt die melodische Linie wieder mit einer Sprungbewegung an und akzentuiert das Wort „Himmel“ mit einem in eine Dehnung mündenden kleinen Sekundanstieg in hoher Lage. In noch stärkerer Weise werden die Worte „Lebt alles in sanftester Ruh´“ liedmusikalisch hervorgehoben. Die melodische Linie steigt aus tiefer Lage über eine Septe in hohe auf und vollzieht dort bei „sanftester“ eine doppelte, in eine Dehnung mündende Sprungbewegung. Die Worte „in sanftester Ruh´“ werden dann auf einer an diesem Ton ansetzenden und lang gedehnten Fallbewegung zu einem „A“ in mittlerer Lage hin wiederholt. Erst begleiten die Flöten und die Oboen das mit Sechzehntel-Figuren, dann treten die zweiten Violinen mit eben solchen hinzu und vollziehen die Fallbewegung der melodischen Linie mit. Das tun auch die Klarinetten und die Fagotte, so dass diese lyrische Aussage über die „sanfteste Ruhe“ des himmlischen Lebens die ihr gebührende klanglich-musikalische Hervorhebung erfährt.


    Bei den Worten „Wir führen ein englisches Leben“, nimmt die melodische Linie, nun wieder in G-Dur harmonisiert, eine lebhaftere Bewegung an. Die Flöten unterstützen das mit in hohe Lage steigenden Sechzehnteln, die stufenweise wieder abfallen. Auf dem Wort „Leben“ liegt ein gedehnter Sekundfall, und bei den Worten „sind dennoch ganz lustig“, die wiederholt werden, geht die melodische Linie zu einer tatsächlich lustig anmutenden Tanzbewegung über, Auch die Worte „wir führen ein englisches Leben“ erfahren eine Wiederholung, nur um der melodischen Linie nun eine größere Expressivität der verleihen und aus dem Sekundfall auf „leben“ nun einen gedehnten Quartfall zu machen. Immer noch dominieren die Flöten und die Piccolos mit ihren Sechzehntel-Figuren das Orchester-Klangbild. Bei der neuerlichen Mitteilung, dass Bewohner dieses Himmelreiches „tanzen und springen, hüpfen und singen“, die wieder mit einem lebhaft-tänzerischen Auf und Ab von Achteln in der melodischen Linie erfolgt, tritt die Solo-Violine mit ebenfalls lebhaft sich bewegenden Sechzehnteln hinzu, um dem Wort „singen“ einen deutlichen musikalischen Akzent zu verleihen. Das wird dann auch von der Singstimme noch einmal auf einer Kombination von Quintsprung und Sekundfall in einer gedehnten melodischen Legato-Bewegung wiederholt. Die Flöten lassen danach aufsteigende und wieder fallende Sechzehntel erklingen.


    Bemerkenswert ist, dass die Harmonik in dieser Passage von G-Dur nach e-Moll gerückt ist. In dieser Tonart setzt auch der klanglich überaus lieblich, wie Engelsgesang anmutende, mit einem Sextsprung in hohe Lage einsetzende und von dort sich in langsamen Sekund-Schritten absenkende und wieder steigende melodische Bogen ein, auf dem die Worte „Sankt Peter im Himmel sieht zu“ deklamiert werden. Dieser melodischen Bewegung folgen nicht nur die Flöten, sondern auch die Hörner mit Terzen und die Harfe mit Oktaven und steigern auf diese Weise die Expressivität dieser melodischen Passage. Die Harmonik moduliert hier von e-Moll nach a-Moll und wieder zurück, mündet aber dann am Ende in A-Dur.


    Dann aber, nach diesem in so großer und beeindruckender klanglicher Lieblichkeit musikalisch gemalten ersten Bild des himmlischen Lebens, ereignet sich Überraschendes. Staccato artikulierte, auf einer tonalen Ebene repetierende Achtel mit Vorschlag erklingen bei den Oboen, den Klarinetten und den Hörnern. Lautes Schellengerassel liegt zugrunde. „Plötzlich frisch bewegt“ lautet hier die Anweisung. Das Orchester tritt schlagartig auf, fortissimo, mit allen Instrumentengruppen, und was es musikalisch zum Ausdruck bringt, wirkt auf dem Hintergrund dessen, was ist bislang zur Begleitung der Singstimme beitrug, geradezu verstörend laut, ja lärmend und schrill. Die Flöten, die Oboen, die Englisch-Hörner, die Klarinetten und die Streicher entfalten einen wahren Wirbel von z.T. abstürzenden und wieder nach oben schießenden Sechzehntel-Figuren, in die immer die Hörner und die Fagotte mit wie stampfend wirkenden Quinten-Folgen mit Vorschlag hineindrängen. Moll-Harmonik herrscht vor, die zwischen h-Moll und e-Moll moduliert. Schneidend wie klangliche Messer wirken die Wirbel, die die ersten Violinen erklingen lassen. Ein wenig nur beruhigt sich dieser Wirbel, und die Englisch-Hörner lassen nun forte mit Vorschlag versehene Einzeltöne erklingen, die eine fallende melodische Linie bilden. Neuer fallender Wirbel folgt nach, die Schellen klirren wieder dazwischen, das Becken lässt einen Wirbel erklingen. Dann aber nimmt sich das Orchester doch etwas zurück, und die Singstimme setzt mit der Deklamation der melodischen Linie der zweiten Strophe ein.


    Sie beschreibt bei den ersten beiden Versen die gleiche Bewegung, beim zweiten Mal nur um eine Sekunde tiefer ansetzend: Silbengetreue Deklamation auf nur einer tonalen Ebene, Sekundfall am Ende. Durchweg moduliert die Harmonik in der weiten Strophe zwischen e-Moll und a-Moll. Bei „Wir führen ein geduldig´s, unschuldig´s, geduldig´s,“ gipfelt sie zwei Mal mit Tonwiederholungen in hoher Lage auf, um sich dann bei den Worten „liebliches Lämmlein zu Tod“ langsam in tiefe Lage abzusenken. Bei den nächsten Versen wiederholen sich diese melodischen Figuren, und wenn die Singstimme dann die Worte „die Englein, die backen das Brot“ deklamiert, löst dieses Bild wieder eine überaus liebliche, in hoher Lage ansetzende und sich langsam über das große Intervall einer None in tiefe Lage absenkende melodische Linie aus.


    Und wieder verfällt das Orchester in seinen lärmenden Wirbel mit Schellenklang. Dieses Mal hält er aber nur kurz (vier Takte) vor und wird von den Hörnern mit ruhig daherkommenden Terzen beendet, auf dass die Singstimme mit der dritten Strophe einsetzen kann. Hier, wo davon geschwärmt wird, was es an Gutem in diesem himmlischen Schlaraffenland zu essen gibt, beschreibt die melodische Linie eine immer mit ruhigen Bewegungen in hoher Lage aufgipfelnde Bewegung. Die Streicher begleiten sie dabei, wobei die ersten Violinen die Bewegung der melodischen Linie teilweise mitvollziehen. Auch die Oboen tun das, und die Harfe begleitet mit Arpeggien. G-Dur herrscht wieder vor. Bei den Worten „Ganze Schüsseln voll sind uns bereit“ kommt mehr Bewegung in die melodische Linie. Die Flöten stimmen mit lebhaften Terzenfiguren ein, die Harmonik rückt nach h-Moll. Noch lebhafter geht es melodisch bei den Worten „Gut´ Äpfel, gut´ Birn' und gut´ Trauben! Die Gärtner, die alles erlauben!“ zu. Auch hier wiederholen sich die melodischen Bewegungen: Zweimal eine lebhaft aus der hohen Lage eines „G“ hinunter zu einem „Fis“ fallende und darin leicht rhythmisierte Linie. Es ist viel los in diesem Himmel, und die hurtig dahineilende, allerdings weiterhin in Moll („e-Moll, h-Moll) harmonisierte melodische Linie wird deshalb von immer neue Anläufe nehmenden Sechzehntel-Ketten bei den Flöten und den ersten und zweiten Violinen begleitet.
    (Fortsetzung folgt)

  • In der vierten Strophe („Sollt´ ein Fasttag etwa kommen…“) setzt sich diese Lebhaftigkeit in der Liedmusik weiter fort. Die melodische Linie eilt in raschen, staccatohaft wirkenden Schritten aus tiefer Lage in hohe empor, von dort wieder herab und erneut nach oben, bei den Worten „Sankt Peter“ sogar noch höher. Hier ist nun allerdings wieder Dur-Harmonik („A“, „D“) eingekehrt, die wild dahin rauschenden Sechzehntelketten erklingen zwar weiter, aber die Klarinetten lassen nun lang gehaltene zweistimme Akkorde erklingen, und die zweiten Violinen, die Violen und die Celli artikulieren mit dem Bogen gleichförmig geschlagene Einzeltöne in Gestalt von Achteln, so dass die Liedmusik stärkere rhythmische Konturen erhält. Und erneut schwingt sich die melodische Linie bei den Worten „Sanct Martha die Köchin muß sein“, die wiederholt werden, zu dem hymnisch-engelgleichen Ton auf, wie an ihn schon einmal vernommen hat: Zweimal senkt sie sich in sehr langsamen Sekund-Schritten von einem hohen „F“ zu einem „B“ ab und steigt beim ersten Mal wieder an, beim zweiten Mal aber setzt sie die Abwärtsbewegung von eben diesem hohen „F“ bis zu einem tiefen „D“ hin fort, das mit einer Dehnung versehen ist. Die Hörner folgen dieser Bewegung mit Terzparallelen, die Trompeten mit Quarten und die Harfe mit gegenläufigen Oktaven. Die Harmonik rückt dabei jeweils in ausdrucksstarker Weise von einem d-Moll zur Dur-Parallele „B“.


    Das Orchester kommentiert diese himmlische Verzückung der Liedmusik wieder mit seinem lärmenden Narrengetöse und stellt sie damit in seiner Berechtigung und seiner Sinnhaftigkeit auf geradezu grobe Weise infrage. Nach zwei von allen Streichern pianissimo artikulierten sehr tiefen und lange gehaltenen Akkorden, die legato von d-Moll nach D-Dur rücken, setzt schlagartig das mit Vorschlag versehene Hämmern der Achtel in allen Bläsergruppen (mit Ausnahme der Flöten), in der Triangel und den Schellen ein, in das die Flöten und die Streicher dann mit ihren klanglich schneidend wirkenden wirbelnden Sechzehntel-Ketten in hoher Lage einfallen. Dieses Mal währt der Schellenlärm aber etwas weniger lang, geht in eine Folge von sehr tiefen Einzeltönen bei den Hörnern und den Celli über, in die mit einem Mal, von triolischen Figuren der Harfen begleitet, mit Vorschlag versehene lang gehaltene Töne in Gestalt eines „Fis erklingen, an die sich die ersten Violinen mit einer lieblich und sanft wirkenden bogenförmig ansteigenden, wieder fallenden und erneut nach oben ansteigenden und dabei die tonale Ebene langsam nach unten verlagernden melodischen Linie anschließen. Am Ende lassen die Flöten und die Klarinetten eine Sprungbewegung erklingen, die den Auftakt der melodischen Linie der Singstimme vorwegnimmt. Himmlische Ruhe ist in die Liedmusik gekommen, und das in hell und klar wirkender E-Dur-Harmonik.


    Bei den Worten „Kein Musik ist ja nicht auf Erden“ steigt die melodische Linie mit einem Doppelsprung von einem tiefen „H“ um eine Oktave nach oben und beschreibt auf dem Wort „ja“ eine lange Dehnung in Gestalt eines Sekundfall und –sprungs auf nur einer tonalen Ebene eines hohen „D“, an die sich ein triolischer Fall anschließt. Ganz in Streicherklang ist die Melodik gebettet, die Tonart moduliert zwischen E-Dur und der Dominante. Deklamatorische entfaltet sich die melodische Linie nun in der letzten Strophe nur noch in überaus ruhigen Schritten. Bei den Worten „Elftausend Jungfrauen“ kommt fis-Moll in die Harmonik, während die melodische Linie sich langsam von einem hohen „Cis“ zu einem „Fis“ herab bewegt. Die ersten Violinen begleiten sie mit ebenfalls langsam fallen Triolen, wodurch eine leichte Anmutung von tänzerischer Rhythmik in die Liedmusik kommt. Bei den Worten „Sanct Ursula“ aber steigt die melodische Linie – weil nun wieder eine Heilige angesprochen wird – in verzückter Weise von einem tiefen „H“ aus über eine Dezime in hohe Lage empor und ergeht sich dort in einer mit einem Ritenuto versehenen lang gedehnten Fallbewegung, die am Ende aber wieder in einen Quintsprung mündet. Und als wäre das des Entzückens noch nicht genug, folgt bei den Worten „dazu lacht“ noch einmal eine gedehnte Kombination aus Sextsprung und Oktavfall nach, bei der auf der Silbe „zu“ eine Fermate liegt, und der Oktavfall mit einem Glissando deklamiert wird.


    Mit den Worten „Kein Musik ist nicht auf Erden, die uns´rer verglichen kann werden“ geht die melodische Linie bis zum Ende des Liedes zu einem in seiner klanglichen Lieblichkeit faszinierenden Schweben über. Sie imaginiert, darin von den Streichern unterstützt, die sie ganz und gar in ein weiches klangliches Bett hüllen, ihrer Bewegung teils folgen, teils mit eigener Melodik umspielen, die aller Schwere, aller Härte, aller dissonanten Schmerzlichkeit enthobene Musik der himmlischen Sphäre. Es ist wie ein melodisches Atmen, was sich hier ereignet: Ein langsames Sich-Senken aus mittlerer in tiefe Lage, ein ruhiges Sch-wieder-Erheben daraus, das die ersten Violinen mit aufsteigenden klanglichen Figuren, die Violen mit lang gehalten Tönen, die Celli mit dem Auf und Ab von Achteln im Viervierteltakt und die Harfen mir Arpeggien begleiten.


    Einmal noch tritt Moll-Harmonik in diese engelhafte Sphärenmusik: Die melodische Linie bei den Worten „Cäcilia mit ihren Verwandten / Sind treffliche Hofmusikanten!“ moduliert in ihrer Harmonisierung zwischen gis-Moll, dis-Moll und a-Moll. Aber daran ist nichts von Klage oder Schmerzlichkeit. Die melodische Linie steigt hier in emphatisch-ruhigem Aufschwung von einem „H“ zu einem hohen „E“ auf und senkt sich nach einem langen Verharren in dieser Lage bei dem Wort „Verwandten“ langsam wieder ab, nicht ohne am Ende, bei dem Wort „Hofmusikanten“ ein aus zwei triolischen Bewegungen bestehendes Melisma zu beschreiben. Wie Ausdruck von Wehmut mutet die Liedmusik in ihrer Moll-Harmonisierung hier an, - Wehmut die im Nicht-Teilhaben daran gründet. Bei den drei letzten Versen pendelt die Harmonik ausschließlich zwischen E-Dur und seiner Dominante hin und her. Bei den Worten „Daß alles für Freuden erwacht“ geht die melodische Linie zu einem langsamen Ausklingen und Verschweben im Pianissimo über. In legato ausgeführten, überaus ruhigen, weil mehrfach in Dehnungen innehaltenden Schritten senkt sie sich zunächst von einem hohen „e“ zu einem „H“ auf der letzten Silbe von „Freuden“ ab, setzt aber dann ihre Bewegung fort, weil die Worte „für Freuden“ noch einmal wiederholt werden. Das ist aber keine wirkliche Bewegung mehr. Es ist ein jeweils langes Verharren auf der sich in Sekunden absenkenden tonalen Ebene bei der Deklamation der Worte „Freuden erwacht“ und ein Ausklingen auf dem lang gehaltenen Grundton, einem tiefen E“.


    Zehn Takte lang nur noch währt das Nachspiel. Auch dieses will Nachklang und Ausklang im Pianissimo und dreifachen Piano sein. Nach einer von den Celli ausgeführten triolischen Fallbewegung artikulieren die B-Klarinetten noch einmal das melodische Eingangsmotiv, das auf den Worten „Kein Musik ist ja“ liegt, die Hörner lassen lang gehaltene leise Quinten erklingen, das Englisch-Horn fällt mit seinen wie Rufe klingenden Vorschlag-Tönen ein und hält den letzten Ton davon, bis die Musik mit dem Auf und Ab von Harfentönen und einem tiefen „E der Kontrabässe ausklingt.

  • Dieses Lied wirft, worauf bei seiner Vorstellung ja schon hingewiesen wurde, eine ganze Reihe von Fragen hinsichtlich seines Verständnisses auf, die sich nicht nur aus seiner kompositorischen Faktur ergeben, sondern auch daraus, dass es den letzen Satz der Vierten Symphonie darstellt und darin als deren musikalisches Zentrum fungiert. Im Grunde stellt es darin eine Überforderung dieses Threads dar. Es verdiente eine Betrachtung im Kontext dieser Sinfonie, die hier aber nicht zu leisten ist.


    Zunächst einmal ist wohl dieses zu bedenken:
    Gustav Mahler musste sich von dieser kindlich-naiven Vision himmlischen Lebens ( „Was mir das Kind erzählt“) stark angezogen fühlen. Sein Leiden an der Welt ist in vielfachen schriftlichen Zeugnissen belegt. In Briefen findet man Äußerungen wie diese: „Ich komme immer mehr dazu, nur die Tauben und Blinden für glücklich zu halten, denen diese elende Welt verschlossen ist“; „Ich bin so zerrissen. Aus vielen Wunden blutet mein Herz“; „In diesem entsetzlichen Stimmengewirr der Jetztzeit“; „Immer und überall dasselbe verlogene, von Grund verpestete, unehrliche Gebaren“…
    Auf das „himmlische Leben“ richtet sich mit zunehmendem Alter seine ganze Sehnsucht. Ein Hang zur Weltflucht wächst in ihm heran, und Rückerts Gedicht „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ wird in dem Lied, das er darauf komponierte, nicht ohne Grund zu einem tiefen persönlichen Bekenntnis. Höchst aufschlussreich ist seine Bemerkung über den Wunderhorn-Text „Das himmlische Leben“ Natalie Bauer-Lechner gegenüber:
    „Was für eine Schelmerei verbunden mit dem tiefsten Mystizismus steckt darin! Es ist alles auf den Kopf gestellt, die Kausalität hat ganz und gar keine Gültigkeit! Es ist, wie wenn du plötzlich auf jene uns abgewandte Seite des Mondes blicktest.“

    Alles auf den Kopf zu stellen und die Kausalität ihrer Gültigkeit zu berauben, das ist der kindliche Blick auf die Welt und das „himmlische Leben“ darüber. Bruno Walter hat – im Auftrag Mahlers - dem Musikhistoriker L. Schiedermair das Adagio der Vierten mit den Worten charakterisiert:
    „>Sankt Ursula selbst dazu lacht< könnte der dritte Satz genannt werden, die ernsteste der Heiligen lacht, so heiter ist diese Sphäre, das heißt sie lächelt nur, und zwar lächelt sie so, erzählte mir Mahler, wie die Monumente der alten Ritter oder Prälaten, die man beim Durchschreiten alter Kirchen mit über der Brust gefalteten Händen sieht und die das kaum bemerkbare friedenvolle Lächeln des zu ruhiger Seligkeit hinübergeschlummerten Menschenkindes haben; feierliche, selige Ruhe, ernste, milde Heiterkeit ist der Charakter dieses Satzes, dem auch tief schmerzliche Kontraste – wenn sie so wollen, als Reminiszenzen des Erdenlebens – sowie eine Steigerung der Heiterkeit ins Lebhafte nicht fehlen.“
    Das bezieht auch auf den diesem Lied vorausgehenden dritten Satz. Man könnte Mahlers Vierte Symphonie durchaus als ein stufenweises Herausschreiten aus der irdischen Welt in die des „himmlischen Lebens“ hören und verstehen, wobei diese dann musikalisch aus der Perspektive kindlicher Imagination vergegenwärtigt wird. Man hat es ohnehin bei ihr mit einer Thematik zu tun, die auch schon Gegenstand seiner „Dritten“ war und ist. Er hatte ja vor, dieses Lied als siebten Satz in diese aufzunehmen, ließ aber aus architektonischen Gründen davon ab. Und es gibt in ihm sogar ein regelrechtes Zitat aus der Dritten: Die melodische Linie auf den Worten „Ach komm und erbarme dich! Ach komm und erbarme dich über mich“ weist eine große Ähnlichkeit mit der auf die Worte „Ich hab´ übertreten die zehn Gebot“ aus der dritten Sinfonie auf.


    Der vierte Satz als kindlich-schlichte musikalische Imagination himmlischen Lebens? Mahler wäre nicht der sich in hochgradig reflektierter Weise mit dem Wesen des In-der-Welt-Seins auseinandersetzende Mensch, als der er uns begegnet, überließe er sich in dieser Komposition einer ganz und gar ungebrochenen musikalischen Schwärmerei. Der aufmerksame Hörer kommt jedenfalls zu der Auffassung: Die kompositorische Bedeutung des Liedes und die Faszination, die von ihm ausgeht, gründen ganz wesentlich in dem sich in der Rezeption ereignenden Erlebnis und der Erfahrung des Zerbrechens oder zumindest des Infrage-Stellens der Neigung, sich der schwärmerischen Vision vom himmlischen Leben hinzugeben. Am Ende scheint diese Neigung zwar tatsächlich den Sieg davongetragen zu haben, das Schwelgen in den Wohlklängen eines gar und gar ungebrochenen E-Durs, das sich da ereignet, wirkt aber auf dem Hintergrund dessen, was vorausgegangen ist, wie ein bewusst postuliertes Dennoch.


    Die Grundlage dafür, dass sich am Ende des Liedes dieses Gefühl des „Dennoch“ einstellt, sind die inneren Brüche, die es in seiner kompositorischen Faktur aufweist. Drei Mal ereignet sich, wie das ja in der obigen Vorstellung des Liedes aufgezeigt und beschrieben wurde, der geradezu brutal wirkende Einbruch schroff-schriller Klanglichkeit in diese musikalisch oft engelsgleich wirkende Imagination himmlischen Lebens. Dies in den Takten 40-56, 76-79 und 115-21. Und immer geht eine sanft fallende, im Tempo zurückgenommene und von den Flöten, den Hörnern und einmal zusätzlich von allen Streichern begleitete und getragene fallende melodische Linie voraus, dem ein akkordisches Ritardando des Orchesters folgt, was den klanglichen Kontrast dessen, was nachfolgt, umso härter werden lässt.


    Diese drei Zwischenspiele werden von lautem Schellengerassel eingeleitet. Die Schelle ist das Instrument, mit dem in volkstümlicher Weise der Narr auftritt. Das aber könnte nun in zweierlei Weise interpretiert werden:
    - Der Narr reißt den Hörer aus dem Sich-Hingeben an die klangliche Imagination himmlischen Lebens heraus; oder:
    - Der Narr ist hier selbst der Erzähler; er ist es, der hier himmlisches Leben imaginiert und drei Mal als närrisches Getue entlarvt.
    Ein analytischer Betrachter dieser Sinfonie (Wolfram Steinbeck) fühlt sich bei diesem Hereinbrechen schroffer Klanglichkeit in das Lied an die ironischen Brüche in Heines Lyrik erinnert und hält, wenn ich ihn richtig verstanden habe, wohl eher die zweite Interpretation für angebracht.
    Das scheint mir durchaus schlüssig. Ich vergegenwärtige mir, was Mahler selbst – worauf Paul Bekker aufmerksam machte - auf einem Skizzenblatt notierte. Er nannte seine Vierte Symphonie eine „Humoreske“. Und das heißt, dass sie, nach seinem eigenen Verständnis, als ein Werk zu hören und zu verstehen ist, in dem sein Schöpfer „von überlegener Warte aus in Humor und Ironie mit ihr (er meint „die Welt“) fertig zu werden versucht.“


    So könnte man also die Vierte Symphonie als Hörer aufnehmen und verstehen, wie Mahler sie selbst charakterisiert hat: „Es ist die Heiterkeit einer höheren, uns fremden Welt darin, die für uns etwas Schauerlich-Grauenvolles hat. Im letzten Satz (im >Himmlischen Leben<) erklärt das Kind, welches im Puppenland doch dieser Welt höheren Welt angehört, wie alles gemeint sei.“
    Und „gemeint“ ist es so, wie das die Liedmusik diesseits - oder jenseits - der närrischen Einbrüche in sie zum Ausdruck bringt. Bemerkenswerterweise schwingt sie sich ja gerade nach dem dritten und letzten Hereinbrechen der Narrenschellen-Musik zu einer geradezu engelsgleich-lieblichen Klanglichkeit auf, die Mahler ausdrücklich als „sehr zart und geheimnisvoll bis zum Schluss“ haben wollte, - und die deshalb hier als ein „Dennoch“ interpretiert wurde.
    Die närrische Zwischenrede wäre dann aufzunehmen und zu verstehen unter dem schroff appellativ auftretenden Motto: Das „Himmlische Leben“ ist uns Menschen unzugänglich und letztlich unbegreiflich; wir können uns, so sehr wir uns nach einer imaginativen Vergegenwärtigung sehnen, nur - im Grunde wie Kinder - höchst unzulängliche Vorstellungen davon machen.

  • „Es ist die Heiterkeit einer höheren, uns fremden Welt darin, die für uns etwas Schauerlich-Grauenvolles hat. Im letzten Satz (im >Himmlischen Leben<) erklärt das Kind, welches im Puppenland doch dieser Welt höheren Welt angehört, wie alles gemeint sei.“

    Das ist ein Zitatfehler. :D Es muss heissen: Puppenstand (Quelle NBL 12.10.1901)


    Gemeint ist der "Puppenstand des Bewußtseins" - der Ausdruck Mahlers ist ein Goethe-Zitat.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit. Dr. Holger Kaletha: "Das ist ein Zitatfehler. Es muss heißen: <Puppenstand<"


    Und das ist natürlich richtig! "Puppenland" ist völliger Unsinn! Vielen Dank für diesen Korrektur-Hinweis! Ich habe mich schlicht vertippt, und das tut mir leid!
    Mahler zitiert hier Goethe, Faust II, 5.Akt, Bergschluchten: Chor seliger Knaben: "Freudig empfangen wir / Diesen im Puppenstand; / Also erlangen wir / Englisches Unterpfand." Und es geht ihm dabei, wie ja aus den Ausführungen oben und dem Zitat selbst ersichtlich wird, um einen existenziellen Status: Das Kind gehört im "Puppenstand" (noch) der "höheren Welt" an.


    Bei der Gelegenheit: Das dürfte nicht der einzige Fehler sein, der mir in meinen Beiträgen zu diesem Thread unterlaufen ist, - und noch unterlaufen wird. Ich bemühe mich zwar um Sorgfalt, aber das schließt leider nicht aus, dass ich Fehler mache. Ein gravierendes Problem, eine regelrechte Gefahr bei dieser Art des monologischen Sich-Vergrabens in das Thema und den Inhalt eines Threads ist, dass man in die Situation geraten kann, von einem "bösen Geist" "im Kreis herum" geführt zu werden und dabei Unsinn produziert, ohne es zu bemerken.
    Deshalb meine Bitte: Man möge mich direkt mit der Nase auf solche Mängel und Unzulänglichkeiten stoßen. Das gilt nicht nur für gleichsam formale Fehler, wie hier einer vorliegt, sondern auch etwa für von mir vorgebrachte Interpretationen, die als unhaltbar angesehen werden.

  • Die Lieder wurden in den Jahren 1901/02 komponiert und 1905, zusammen mit den Wunderhorn-Liedern „Revelge“ und „Der Tamboursg´sell“, unter dem Titel „Sieben Lieder aus letzter Zeit“ veröffentlicht. Mahler schuf auch hier sowohl eine Fassung für Klavier, als auch - mit Ausnahme von „Liebst du um Schönheit - eine für Singstimme mit Orchesterbegleitung. Aus den gleichen Gründen wie bei den „Wunderhorn“-Liedern stützt sich die nachfolgende Besprechung auf die Klavierlied-Fassung. Hinzu kommt in diesem Fall, dass die im Grund kammermusikalische Struktur des Orchestersatzes dem Griff zur Klavierlied-Fassung noch zusätzlich eine gewisse Berechtigung verleiht. Die für Orchester findet gleichwohl eine angemessene Berücksichtigung, - in Nachbetrachtungen zu den einzelnen Liedern, wie da ja bislang immer so gehandhabt wurde.


    Die Ausrichtung auf eine eher kammermusikalische Strukturierung der Orchestersprache ist kein Vorgang, der sich bei Mahler auf das Lied beschränkt – und sich ja dann auch in den „Kindertotenliedern“ wiederfindet -, er lässt sich auch in seinem sinfonischen Schaffen konstatieren und zeichnet sich bereits in der Vierten Symphonie ab. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Von Bedeutung ist freilich die dahinter stehende kompositorische Grundhaltung in ihrer Relevanz für die Struktur der Liedsprache.


    In seinem Tagebuch erinnert sich Anton Webern an die Bemerkung von Gustav Mahler:
    „Nach des >Knaben Wunderhorn< kann ich nur mehr Rückert machen – das ist Lyrik aus erster Hand, alles andere ist Lyrik aus zweiter Hand.“
    Nun hat schon Goethe, der Friedrich Rückert zunächst förderte, den im Grunde epigonalen Charakter von dessen Lyrik erkannt, wenn er über die „Erschöpfung des Zeitgehalts und der Sprache“ sinnierte. Auch wenn man das in der Literaturwissenschaft ein wenig differenzierter, weil aus historischer Distanz sieht, der wesenhaft artifizielle Charakter von Rückerts Lyrik ist ein offenkundiger Sachverhalt. Hier von „Lyrik aus erster Hand“, dies im Sinne von Originalität, zu sprechen, mutet auf den ersten Blick unsinnig an.


    Nun war Mahler aber alles andere als ein literarisch ungebildeter Mensch. Wie also ist dieses Fehlurteil, denn als solches mutet es zunächst einmal an, zu erklären? Und wie überhaupt die Tatsache, dass er nach der von ihm so verstandenen und rezipierten „Naturpoesie“ des „Wunderhorns“ zu der lyrisch-sprachlich wesenhaft artifiziellen Lyrik Rückerts griff? Dies mit der Folge, dass auf die objektivierend balladenhafte, das romantische Klavierlied weit hinter sich lassende Liedsprache der „Wunderhorn“-Lieder solche folgen, die ihren „kunstmäßigen Bau“, wie man das genannt hat, in gar keiner Weise verbergen wollen. Und das können sie ja auch gar nicht, reflektieren sie ja doch keine lyrischen Texte, die, wie das bei denen des „Wunderhorns“ der Fall ist, balladenhaft-narrativ, dramatisch und dialogisch angelegt sind, sondern als postromantisch-epigonale Ich-Lyrik daherkommen.


    Vielleicht, so denke ich, ist die Antwort auf all diese Fragen in Mahlers Selbstverständnis zu finden, was seine grundlegende Intention, seinen Auftrag anbelangt, - denn dieses Wort ist wohl bei ihm angebracht. Er speist sich in einer fast schon elementaren Weise aus seiner Erfahrung als Mensch in einer Welt der Moderne, die ihn auf der Suche nach gesicherten identitätsstiftenden und richtungweisenden Werten allein lässt, was bei ihm selbst ein tief reichende innere Zerrissenheit zur Folge hat. Diese Erfahrung wird für ihn als Künstler aber zu einer exemplarischen, das Signum der historischen Zeit verkörpernden, und als solche ist sie der Quellgrund seines künstlerischen Schaffens und liefert zugleich die Zielsetzung dafür.


    Hinter Mahlers Ablehnung von „Kunstpoesie“ und seiner Bevorzugung von – vermeintlicher – „Naturpoesie“ als Grundlage für Liedkomposition steht das für seine Rezeption von Lyrik ganz typische Prinzip des Sich-Wiederfindens im eigenen Lebensgefühl, der eigenen Ich-Identität und der daraus hervorgehenden künstlerischen Aussage-Intention. Und genau darin musste er sich von Friedrich Rückerts Lyrik angesprochen fühlen. Daher also sein Urteil über diese. „Lyrik von erster Hand“ ist für ihn eine, die er als subjektiv wahr rezipiert. Und „wahr“ ist sie, weil er sich in seiner als lebenszeitlich typisch und exemplarisch verstandenen existenziellen Befindlichkeit darin wiederfindet. In einem Brief an seine Frau bezeichnete sich Rückert als „höchst zerrissener unglücklicher Mensch“. Wenn er sich als einen Menschen und Dichter empfand, der „der Welt abhanden gekommen“ ist, dann konnte sich Mahler darin ganz unmittelbar wiederfinden. Eine zentrale Erfahrung, die zwischen Mahler und Rückert Gemeinsamkeit stiften konnte, war die des Verlusts der Einheit von Ich und Welt: Die fünf Rückert-Gedichte, die er vertonte, gingen alle aus dieser existenziellen Grunderfahrung hervor.
    Diese lassen im übrigen noch einen weiteren Aspekt erkennen, der Mahler dazu bewegen vermochte, sie zur Grundlage von Liedkomposition zu machen: Es ist die ihnen innewohnende lyrisch-sprachliche Musikalität.


    Aber es gibt noch einen weiteren Sachverhalt, in dem Mahler Rückert als ihm nahe stehend sehen konnte. Er betrifft das Wesen des künstlerischen Schaffens. Rückerts Gedichte wollen Erlebnislyrik sein, aber dem genauen analytischen Blick offenbaren sie sich als Gedankenlyrik. Der große Sprachforscher, der eine große Zahl von Sprachen – darunter Persisch und Sanskrit – beherrschte, ging eben von der Sprache her an Lyrik heran und entwickelte eine hochgradige Kunstfertigkeit im Umgang mit ihr im Akt der Gestaltung von lyrischem Text. Am Beispiel von „Ich atmet´ einen linden Duft“ wird darauf später noch einzugehen sein. Der nicht nur gefühlte, sondern auch rational konstatierte Verlust der Einheit von Ich und Welt hatte im Bereich des lyrischen Schaffens ein Abreißen der Unmittelbarkeit der Expression von Emotion im lyrischen Schaffensprozess zur Folge. Man ist sogar so weit gegangen, mit Blick auf Rückerts Lyrik – so wie bei Platen –von einer „Sinngebung durch artistische Form“ (J. Link) zu sprechen.


    Es gibt, so denke ich, gute Gründe, von einer Verwandtschaft zwischen Mahler und Rückert in dieser künstlerischen Grundhaltung sprechen. Im kompositorischen Schöpfungsakt bringt Mahler ganz bewusst musikalische „Vokabeln“ zum Einsatz, wie H. H. Eggebrecht in sehr detaillierter Weise aufgezeigt hat. Das ist ein ähnlicher Umgang mit dem elementaren künstlerischen Material, wie man ihn auch bei Rückert beobachten kann. Und in beiden Fällen wird mit künstlerischen Mitteln, in einem wesenhaft artifiziellen Akt also, die verlorene gegangene Unmittelbarkeit des Erlebens und der Empfindung als mittelbare wieder hergestellt. Ähnlich wie Rückert mit den Mitteln sprachlicher Kunstfertigkeit das Artifizielle als das Naive auftreten zu lassen vermag, so vermag auch Mahler in einem bewussten kompositorischen Akt mit den Vokabeln der musikalischen den Volkliedton zu generieren.


    Anmerkung:
    Auch bei Rückert hat Mahler – man möchte hinzufügen „selbstverständlich“ – in den lyrischen Text eingegriffen. Es wird, was den dem Lied jeweils zugrundeliegenden Text anbelangt, auch hier so verfahren wie bei den Wunderhorn-Vertonungen: Die von Mahler verwendete Fassung wird abgedruckt, und die Änderungen, die er vorgenommen hat, werden aufgezeigt.

  • Deshalb meine Bitte: Man möge mich direkt mit der Nase auf solche Mängel und Unzulänglichkeiten stoßen. Das gilt nicht nur für gleichsam formale Fehler, wie hier einer vorliegt, sondern auch etwa für von mir vorgebrachte Interpretationen, die als unhaltbar angesehen werden.

    Das kann ja passieren! (In meinen eigenen Texten kenne ich solche lustigen Sachen zu Genüge!) Ich hätte natürlich an vielen Stellen Deiner ungemein sachkundigen Analysen etwas zur Interpretation anzumerken - wie sollte es bei Mahler ausgerechnet auch anders sein, dass es ungemein viel Interpretationsmöglichkeiten und -bedarf gibt. Aber das würde dann vielleicht zu sehr ins Philosophische abgleiten. In meinem Kopf habe ich, zu einem speziellen Problem bei Mahler (was Adorno die "Durchbrüche" nennt), einen Kolumnenartikel zu schreiben. Mal sehen. Ich lese jedenfalls Deine Beiträge mit höchstem Interesse weiter! Weiter so!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Freut mich, dass ein Mahler-Kenner dem, was ich hier zu seinen Liedern ausführe, etwas abgewinnen kann.
    Apropos Adorno. Er hat wie kaum ein anderer das Wesen von Mahlers Musik erfasst und sprachlich auf den Punkt gebracht. In seiner Wiener Rede 1960 zum Beispiel:
    „Die Objektivität seiner Lieder und Symphonien, die ihn so radikal von aller Kunst unterscheidet, die in der Privatperson häuslich und zufrieden sich einrichtet, ist, als Gleichnis der Unerreichbarkeit des versöhnten Ganzen, negativ. Seine Symphonien und Märsche sind keine des disziplinierenden Wesens, das triumphal alles Einzelne und alle Einzelnen sich unterjocht, sondern sammeln sie ein in einem Zug der Befreiten, der inmitten von Unfreiheit anders nicht zu tönen vermag denn als Geisterzug. Alle Musik Mahlers ist, wie die Volksetymologie eines seiner Liedtitel das Erweckende nennt, eine Rewelge.“


    Ich kannte Mahlers Musik zwar schon vor dem Mich-Einlassen auf seine Lieder, dessen Ergebnisse ich hier in diesem Thread gleichsam zu Protokoll gebe. Aber wirklich gründlich kannte ich seine Lieder nicht, und das ist auch bei seiner Sinfonik zum Teil noch so. Aber als ich nun, da sich dieser Thread langsam seinem Ende nähert – jetzt stehen ja, siehe oben, die fünf Rückert-Lieder an, danach noch die „Kindertotenlieder“, und dann ist Schluss – zufällig auf die Rede Adornos gestoßen bin, hatte ich schlagartig das Gefühl, irgendwie hellsichtig geworden zu sein, was eben das Wesen, den Charakter und die künstlerische Aussage von Mahlers Musik allgemein und seinen Liedern im Besonderen anbelangt.

  • Friedrich Rückert: „Verbotener Blick“


    Blicke mir nicht in die Lieder!
    Meine Augen schlag´ ich nieder,
    Wie ertappt auf böser Tat; (Mahler „Tat!“)
    Selber darf ich nicht getrauen,
    Ihrem Wachsen zuzuschauen: (Mahler: „zuzuschauen!“)
    Deine Neugier ist Verrat!


    (Mahler: Blicke mir nicht in die Lieder!
    Deine Neugier ist Verrat, ist Verrat!)


    Bienen, wenn sie Zellen bauen,
    Lassen auch nicht zu sich schauen,
    Schauen selbst sich auch nicht zu.
    (Mahler: Schauen selbst auch nicht zu!)
    Wann die reifen Honigwaben
    (Mahler: Wenn die reichen Honigwaben)
    Sie zu Tag gefördert haben,
    Dann vor allem nasche du!


    (Mahler: Dann vor Allen nasche du,
    Dann vor Allen nasche du! Nasche du!)



    Rückerts Gedicht kreist in seinen lyrischen Aussagen um die Genese von Lyrik, die hier stellvertretend für das künstlerische Werk allgemein steht. Er greift dabei auf antike Vorstellungen zurück: Honig und Biene als Metaphern für Dichtung und ihren Schöpfer. Man kann dergleichen bei Platon, bei Vergil und bei Horaz finden. Bei Platon findet sich vor allem jene Vorstellung vom Wesen des künstlerischen Schaffensprozesses, die dann viel später im Genie-Kult des Sturm und Drang und in der Romantik zu ihrem Höhepunkt gelangte und auch hier von Rückert wieder aufgegriffen und lyrisch thematisiert wurde: „So schaffen auch die lyrischen Dichter“, so heißt es bei Platon, „ihre schönen Lieder nicht bei klarer Besinnung, sondern wenn sie sich einmal der Macht der Harmonie und des Rhythmus überlassen haben, dann geraten sie in eine Art bacchantischer Schwärmerei und Entzückung…“.


    Die Entstehung von Lyrik, Dichtung, Musik und Kunstwerken, der künstlerisch kreative Akt ganz allgemein wird als ein aus dem Unterbewusstsein des Schöpfers als gleichsam naturhafter Prozess verstanden. Es ist ungehörig, weil diesen Prozess störend, ja ihn verhindernd, ihm dabei gleichsam von außen zuzuschauen, mit den Mitteln der Ratio in die Sphäre des Kreativ-Irrationalen einzudringen. Der Künstler selbst muss sich dagegen zur Wehr setzen. Er empfindet ein solches Verhalten als „Verrat“ an dem, was seine höchste Aufgabe ist, und damit als Verrat an ihm selbst.


    Nun gehört Rückert freilich einer Zeit an, in der die Unmittelbarkeit der Begegnung mit Welt und Natur, wie sie diesem theoretischen Modell des unbewusst schaffenden Genies zugrundeliegt, längst verloren gegangen ist. Sein Gedicht stellt ja selbst eine lyrisch-rationale Auseinandersetzung mit diesem Modell dar. Insofern verkörpert es als künstlerisches Produkt einen Widerspruch in sich selbst. Indiz dafür ist die ironische Brechung, die sich in den Versen ereignet: „Meine Augen schlag´ ich nieder, Wie ertappt auf böser Tat“. Der Dichter wehrt sich gegen den Blick in den Schaffensprozess seiner Lieder durch einen Außenstehenden, - aber er hat ihn selbst ebenfalls getätigt, hat sich selbst in die rationale Distanz des Beobachters begeben.


    Es ist dieses, was Mahler bewogen haben muss, zu diesem Gedicht Rückerts zu greifen. Er selbst, das ist vielfach zu belegen, vertrat ebenfalls das „Organismus-Theorem“ des künstlerischen Schaffensprozesses, war ein später Vertreter der romantischen Inspirationsästhetik und fühlte sich tatsächlich auch gestört, wenn ein Außenstehender den Raum betrat, in dem er komponierte. Natalie Bauer-Lechner berichtet, dass er außer sich geriet, wenn ihn einer beim Komponieren belauschte, und er soll in diesem Zusammenhang geäußert haben: „Könnt ihr es nicht begreifen, wie einen das stört, jede Möglichkeit des Schaffens benimmt? Welche Indiskretion und Unzartheit, die jede innere Scham verletzt, liegt darin, noch Ungewordenes, erst im Entstehen Begriffenes fremden Ohren preiszugeben?"


    Das liest sich wie eine Paraphrase der Verse Rückerts. Und insofern wundert es nicht, dass eben diese Natalie Bauer-Lechner der Meinung war, diese Verse Rückerts brächten so sehr das innerste Wesen Mahlers zum Ausdruck, dass er sie selbst gedichtet haben könnte. Aber aus unserer heutigen Sicht möchte man noch hinzufügen: Sie sprachen ihn auch in ihrer ironischen Brechung an. Denn Mahler war Rückert darin tief verwandt, dass er unter derselben Urerfahrung des Abrisses von Unmittelbarkeit der Welt- und Naturerfahrung litt. Er war ein innerlich gebrochener Mensch wie dieser. Und von daher verwundert es nicht, dass er sich von seiner künstlerischen Grundhaltung her von diesem Gedicht Rückerts in doppelter Weise angesprochen fühlte: Sowohl von dem ihm zugrundliegenden Organismus-Theorem des künstlerischen Schaffensprozesses, als auch von dem inneren Bruch, in dem Rückert sich darin mit diesem auseinandersetzt. Seine Komposition darauf reflektiert beides.


    Das Lied steht in As-Dur als Grundtonart, ein Vierviertelakt liegt ihm zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet „molto vivo“. Der klangliche Eindruck, den es macht, ist tatsächlich der von lebhafter Bewegung. Nicht die melodische Linie der Singstimme ist es, die diesen Eindruck verursacht, sie bewegt sich Großen und Ganzen recht ruhig. Es ist der Klaviersatz, der durchgängig von lebhaften Achtel-Bewegungen geprägt ist. Man liegt wohl mit der Vermutung nicht falsch, dass Mahler sich von dem Bild der emsig schaffenden Bienen dazu hat bewegen lassen, den Klaviersatz in dieser Weise anzulegen. Das Klavier steht ja in einem permanenten Dialog mit der Singstimme. Mal gibt es deren deklamatorische Schritte vor, mal wieder holt es sie, und man gewinnt dabei den Eindruck, dass es die Singstimme antreiben möchte, ohne dass ihm dies freilich gelingt. Diese behält ihren Gestus des zwar entschiedenen, aber doch ruhigen Voranschreitend durchweg bei. Und nicht nur das: Sie geht auch in der zweite Strophe nicht davon ab und wiederholt die melodische Linie sogar getreulich noch einmal, was das Klavier zu noch heftigeren Reaktionen darauf zu reizen scheint.


    Mit in immer neuem Ansatz dreischrittig nach oben laufenden Achteln im Klavierbass setzt das Vorspiel ein. Mit Vorschlag versehene Einzeltöne im Diskant gesellen sich dazu, und diese gehen dann mit einem Triller im vierten Takt in eine melodische Bewegung über, die wirkt, als würde das Klavier der Singstimme das Stichwort geben für das, was sie beim ersten Vers melodisch zu deklamieren hat. Es ist eine Linie, die aus tiefer Lage in einer ruhigen Abfolge von silbengetreuen Einzelschritten um eine Quarte in mittlere Lage emporsteigt, danach aber, bei dem Wort „Lieder“ über einen gedehnten Quartfall wieder zum Ausgangston zurückkehrt. Obwohl der lyrische Text in diesem Vers in imperativischer Gestalt eine Abwehrhaltung des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringt, geht von der melodischen Linie darauf der Eindruck von Ruhe und Gelassenheit aus. Das Klavier begleitet dies freilich mit dem lebhaften Auf und Ab von Achteln im Diskant und in großen Intervallen aufeinander folgenden, staccato angeschlagenen Vierteln im Bass.


    Die melodische Linie auf den Worten „meine Augen schlag´ ich nieder“ mutet dann allerdings schon etwas expressiver an, - schließlich bringt dieser Vers Scheu oder gar Scham zum Ausdruck. Entsprechend müssen die Sprung- und Fallbewegungen der melodischen Linie, die fast ausschließlich nur über Sekunden erfolgen, legato deklamiert werden. Auch hier mündet die melodische Linie wieder in eine Dehnung in Gestalt eines Sekundfalls bei dem Wort “nieder“. Das Klavier folgt ihren Bewegungen mit Achteln im Diskant, die sich z.T. zu Sexten und Terzen erweitern. Für dieses Lied geradezu Ungewöhnliches ereignet sich melodisch bei den Worten „wie ertappt auf böser Tat“, und auch hier ist natürlich die Aussage des lyrischen Textes dafür verantwortlich. Die Vokallinie beschreibt zwei Sprungbewegungen über ein großes Intervall, zunächst eine Oktave, dann eine Sexte, dazwischen ereignet sich ein Septfall und am Ende ein in eine Dehnung mündender Sekundabstieg. Auch hier folgt das Klavier wieder der melodischen Linie und vollzieht die Sprungbewegungen mit. Die Harmonik rückt dabei nach Des-Dur. Es ist nur ein kurzer tiefer reichender Blick in die Seele des lyrischen Ichs, den sich die Liedmusik hier erlaubt. Bezeichnenderweise ist für die Sprungbewegungen der melodischen Linie ausdrücklich ein Pianissimo vorgeschrieben, - bei einer Dynamik, die sich ansonsten im Piano-Bereich bewegt.


    Ganz von verminderten Sekundfall-Bewegungen ist die melodische Linie bei der Zeile geprägt, die die beiden nächsten Verse (drei und vier) umfasst. Hier rückt die Harmonik in den Moll-Bereich (ges-Moll, des-Moll), und man empfindet beides, die Struktur der melodischen Linie und ihre Harmonisierung, als Ausdruck einer Haltung des Beklagens, die das lyrische Ich hier einnimmt: Es möchte dem Wachsen des Liedes eigentlich zuschauen, darf aber nicht. Die in oberer Mittellage ansetzende Fallbewegung der melodischen Linie in kleinen und großen Sekunden bei den Worten „selber darf ich“ und „ihrem Wachsen“ mutet klanglich ein wenig kläglich an, und sie gewinnt darin besonderes Gewicht dadurch, dass das Klavier sie im Diskant gleichsam vorgibt. Sie erklingt in der eintaktigen Pause für die Singstimme am Ende des zweiten Verses und danach, während die melodische Linie auf den Worten „nicht getrauen“ deklamiert wird. Die wiederum in Sekunden und einer Terz sich ereignende Fallbewegung auf dem Wort „zuzuschauen“ wird am Ende vom Klavier mitvollzogen, und danach artikuliert es, während die Singstimme schweigt, zwei Takte lang Achtelfiguren, die in der Moll-Harmonik, wie sie sich aus verminderten Intervallen der bitonalen Akkorde ergibt, so anmutet, als würde das Klavier im Ausdruck des klagenden Tones fortfahren.
    (Fortsetzung folgt)

  • Wie ist die Liedmusik auf diese Verse in ihrer ausgeprägten Moll-Harmonisierung zu verstehen? Wenn man bedenkt, dass sich im lyrischen Text ein dieser Stelle ein ironischer Bruch ereignet, insofern das lyrische Ich etwas bedauert, was es dem Anderen als unzulässig, ja als „Verrat“ vorhält, dann muss man eigentlich den klanglichen Akzent, den Mahler dem Lied an dieser Stelle verleiht, als Verstärkung dieser Ironie auffassen, denn die semantische Dimension der Klage ist von ihm ja im Sinne einer kompositorischen Interpretation dem lyrischen Text beigegeben worden.


    Am End der ersten Strophe hat Mahler in den Text Rückerts eingegriffen. Vor den letzten Vers setzt er noch einmal das „Blicke mir nicht in die Lieder“, und bei letzten Vers wiederholt er das Wort „ist Verrat“. Auch bei der zweiten Strophe setzt er dieses Prinzip der Wiederholung ein, - hier den ganzen letzten Vers betreffend und die Worte „nasche du“. Dahinter steht bei ihm die Absicht, bestimmte Aussagen des lyrischen Textes, eben die, die sich im Sinne der Abwehr und der Aufforderung an das imaginäre Du richten, zu verstärken. Dasselbe Motiv steht hinter dem mehrfachen Anbringen von Ausrufezeichen in Rückerts Text. Nur an zwei Stellen nimmt er eine wirkliche Textänderung vor, in der zweiten Strophe nämlich. Dort schauen sich bei ihm die Bienen nicht selbst zu, sondern dem Bauen der „reichen“ (nicht „reifen“, wie bei Rückert) Honigwaben. Vermutlich wollte er auf diese Weise den Wert des „Produkts“, des künstlerischen Werkes also, noch stärker hervorheben.


    Bei der Wiederholung des „Blicke mir nicht in die Lieder“ nimmt die melodische Linie einen deutlich anderen Charakter an. Dadurch, dass sie nicht in mittlerer Lage verbleibt und gar am Ende einen gedehnten Quartfall beschreibt, wie beim ersten Mal, sondern nun in eine Aufwärtsbewegung übergeht, die am Ende in einen verminderten gedehnten Terzsprung zu einem hohen „Ges“ mündet, nimmt sie einen imperativischen Ton an. Auch die Harmonisierung ist nun eine andere. Sie rückt nach Ces-Dur. Und überdies wiederholt das Klavier die Sprungbewegung der melodischen Linie in der zweitaktigen Pause für die Singstimme in ebenfalls gedehnter Weise noch einmal. Es wird vernehmlich: Das lyrische Ich meint es ernst mit dieser Aufforderung und der Abwehrhaltung, die dahintersteht. Ganz dem entsprechend wiederholt es auch die Kombination aus Sekundsprung und –fall bei den „orten „ist Verrat“ noch einmal, - sogar, um sie zu akzentuieren, um eine Sekunde angehoben und mit einer Rückung von As-Dur nach Ges-Dur verbunden.


    Die melodische Linie der zweiten Strophe ist mit der der ersten fast ganz identisch. Als melodische Figur neu ist lediglich die auf den Worten „Lassen auch nicht zu sich schauen“: Eine anfänglich wellenartige Aufstiegsbewegung der melodischen Linie über eine Oktave mit gedehntem Sekundfall am Ende. Die Wiederholung des Schlussverses und der beiden letzten Worte wird auf melodischen Linien deklamiert, die man schon kennt. Bemerkenswert ist allerdings, dass der Vers „Dann vor allem nasche du“ beim erstmaligen Auftritt auf der melodischen Linie des ersten „Blicke mir nicht in die Lieder“ deklamiert wird, - nun allerdings nicht in As- , sondern in Ces-Dur harmonisiert. Mahler will auf diese Weise den Gedankengang, der der lyrischen Aussage zugrundeliegt, liedmusikalisch im Sinne einer Herstellung von innerer Geschlossenheit akzentuieren: Dem „Du“, dem verwehrt wird, dem Schaffensprozess sich rational als „Zuschauer“ zu nähern, wird sehr wohl erlaubt, ja es wird sogar dazu aufgefordert, das fertige Produkt zu genießen. Aus diesem Grund also die Identität der melodischen Linien, - freilich nicht die der expressiv imperativischen Variante.


    Abweichend von der ersten Strophe ist der Klaviersatz der zweiten in einigen Passagen gestaltet, dies zur Erzielung größerer Expressivität im Sinne der klanglichen Akzentuierung der lyrischen Aussage. So lässt das Klavier zum Beispiel bei den Worten „Bienen, wenn sie Zellen bauen“ eine diese Aktivität gleichsam sinnfällig werden lassende lange Kette von sich abwärts und danach wieder über ein großes Intervall aufwärts bewegenden Achteln erklingen. Und bei den Worten „zu sich schauen“ folgt es der Aufwärtsbewegung der melodischen Linie mit Terzen im Diskant. Auch bei dem Bild von den „reichen Honigwaben“ ist der Klaviersatz komplexer als in der ersten Strophe an dieser Stelle der melodischen Linie. Er nimmt die melodische Fallbewegung bei „wenn die reichen Honigwaben“ wieder vorweg, entfaltet dann aber durch akkordische Anreicherung stärkere klangliche Lebhaftigkeit.


    Im Nachspiel artikuliert das Klavier anfänglich eine melodische Linie im Diskant, die in ihrer wellenartig fallenden Struktur wie ein nachklang der melodischen Grundfigur des Liedes wirkt. Danach ergeht es sich ausklingend in zwei Triller-Figuren in tiefer Lage, die in über einen Anlauf von aufsteigenden Achteln in einen As-Dur-Akkord münden.

  • Mahler verstand, es wurde ja schon darauf hingewiesen, das produktiv-künstlerische Schaffen als einen von der Inspiration aus dem Unbewussten her initiierten Prozess. Darin steht er, was Hermann Danuser in detaillierter Weise aufgezeigt hat („Mahler und seine Zeit“, 1991) „im Einklang mit der romantischen Inspirationsästhetik“ und vertritt auch das dieser zugehörige „Organismus-Theorem“. Nun sollte man meinen, die Tatsache, dass - was im Verlauf der Vorstellung seiner Lieder in diesem Thread immer wieder einmal aufgezeigt werden konnte - die Anmutung von schlichter Volkliedhaftigkeit in Mahlers Liedmusik das Ergebnis eines hochgradig artifiziellen kompositorischen Aktes ist, widerspreche diesem genuin romantischen Theorem. Dem ist aber keineswegs so. Geradezu konstitutiv für die romantische Ästhetik ist das theoretische Konzept der künstlerischen Wiederherstellung verlorengegangener naturhafter Ursprünglichkeit. Damit soll nun freilich nicht behauptet werden, dass Mahler in seinem kompositorischen Werk ein „Spätromantiker“ war. Kurt Blaukopf hat schon recht, wenn er darauf hinweist, dass er „kein Nachzügler jener Truppe (war), die einst Berlioz, Liszt und Wagner angeführt hatten, sondern ein Neuerer schlechthin, eine Gestalt, die sich anschickte, das zwanzigste Jahrhundert zu erobern.“


    Gleichwohl ist sein Selbstverständnis als Künstler sehr stark von einer von der Genie-Ästhetik inspirierten Vorstellung eines im Unterbewussten wurzelnden Schaffensprozesses geprägt. Als Natalie Bauer-Lechner ihn fragte, wie es denn gekommen sei, dass er den ersten Satz seiner Dritten Symphonie so rasch fertigstellen konnte, soll er geantwortet haben: „Das weiß ich selbst nicht; die Steine waren ja freilich vorhanden, aber daß mit eins ein Ganzes daraus wurde, muß ähnlich wie bei einem Zusammenlegspiel gekommen sein, dessen Zeichnung man lange vergeblich aus dem Wirrwarr einzelner Würfel herauszubekommen sucht, bis sich auf einmal, durch die richtige Gruppierung von ein paar Hauptsteinen, eins ans andre reiht, sich eins aus dem andern ergibt: das Bild ist da!“.
    Und dieselbe Bauer-Lechner zitiert Mahler mit den Worten:
    „Das Schaffen und die Entstehung eines Werkes sind mystisch vom Anfang bis zum Ende, da man, sich selbst unbewußt, wie durch fremde Eingebung etwas machen muß, von dem man nachher kaum begreift, wie es geworden ist.“


    Von all dem her wird verständlich, warum Mahler zu diesem Gedicht Rückerts griff, in dem „die Lieder“ als etwas verstanden und charakterisiert werden, das in ihrem Schöpfer ein sich aus sich selbst sich generierendes „Wachstum“ durchlaufen, dem keiner „zuschauen“ darf, nicht einmal der Künstler selbst, weil dadurch eben dieses Wachstum gestört oder gar ausgelöscht werden könnte. Und „zuschauen“, das heißt: In eine kognitive Distanz zu diesem Wachstumsprozess zu treten, um ihn in seinem Wesen zu erfassen. Nun schaut das lyrische Ich diesem Prozess allerdings zu und fühlt sich darin „wie ertappt auf böser Tat“. Und dieses Gedicht ist ja das Produkt einer solchen kognitiven Distanzierung vom unterbewussten Schaffensprozess seines Autors. Das ist das Grund-Dilemma Rückerts: Seine Lyrik ist in ihrem tiefsten Wesen eine sich als Erlebnis-Lyrik präsentierende Gedanken-Lyrik. Sie ist eine, deren Quelle durchaus die Emotion ist. Nur dass diese Emotion nicht in ihrer Ursprünglichkeit in den Schaffensprozess einzufließen vermag, sondern gleichsam artifiziell reproduziert werden muss.


    Ich denke, dass der Komponist Mahler sich eben darin, in diesem im Grunde epigonal-artistischen künstlerischen Selbstverständnis, für das Kunst zu „Sinngebung durch künstlerische Form“ werden muss, dem Lyriker Rückert zutiefst innerlich verwandt gefühlt haben dürfte. Daher die, nach der so intensiven Auseinandersetzung und Identifikation mit der „Wunderhorn“-Lyrik auf den ersten Blick wunderlich anmutende Hinwendung zur dessen Lyrik. Auch Mahlers Musik ist wesenhaft geprägt von diesem Grund-Dilemma von Ursprünglichkeit ihrer Genese und artifiziellem Akt ihrer Realisierung. Nicht ohne Grund bezieht seine Sinfonik ihr Wesen, ihren Charakter und ihre so bedeutsame musikalische Aussage aus einer hochgradig artifiziellen Montage von Vokabeln und Zitaten.


    Unter diesem Blickwinkel kann das Lied „Blicke mir nicht in die Lieder“ als musikalische Konkretion des künstlerischen Schöpfungsakts bei gleichzeitiger reflexiver Distanzierung davon verstanden und gehört werden. Die Orchester-Fassung lässt dies noch deutlicher sinnfällig werden, als dies die für Singstimme und Klavier vermag. Dies deshalb, weil die Doppelfunktion von Begleitung der melodischen Linie und Kommentierung der Aussage derselben durch die Zuweisung an die einzelnen Instrumentengruppen und –stimmen klanglich ungleich differenzierter und damit in der musikalischen Aussage vielfältiger zu gestalten ist.


    Der gleichsam generative Quell des Schöpfungsaktes - das „Zellen-Bauen“ der Bienen und das Summen, das es begleitet – können, wie das gleich am Anfang geschieht, die erste Klarinette und die Celli klanglich ungleich stärker zu konkretisieren, als das Klavier dies vermag. Und noch etwas ereignet sich am Liedanfang bei der Orchesterfassung in klanglich differenzierterer Weise: Die musikalische Evokation des Beginns des künstlerischen Schöpfungsaktes. Klarinette und Celli (mit Dämpfer) beginnen mit ihrem Achtel-Wirbel, Flöte und Oboe setzen wie Rufe ihre Vorschlags-Figuren hinein, die ersten und zweiten Violinen lassen, ebenfalls mit Dämpfer, eine melodische Linie erklingen, die wie eine Auftakt- und Wortgebung für die melodische Linie der Singstimme wirkt, und das Fagott ermuntert diese dann mit einem in hoher Lage einsetzenden und vom Forte ins Pianissimo sich zurücknehmenden Fall von Achteln zu ihrem Einsatz. Das ist liedmusikalische Ouvertüre, die ihren klanglichen Reiz aus dem Zugleich von Zögerlichkeit und Bewegtheit bezieht, und eben darin musikalisch die Situation evoziert, in der der künstlerische Schöpfungsakt einsetzt.


    Nicht so sehr die Begleitung und Akzentuierung der melodischen Linie der Singstimme durch die einzelnen Orchesterstimmen macht deren Relevanz sinnfällig, es ist vielmehr ihre kommentierende Funktion. Und die zeigt sich besonders in den kurzen Pausen für die Singstimme. Nach den höchst bedeutsamen, und deshalb in expressiven melodischen Sprungbewegungen deklamierten Worten „Wie ertappt auf böser Tat“ lassen die ersten und zweiten Violinen eine melodische Fallbewegung erklingen, die die Problematik und die Fragwürdigkeit des gerade gestandenen Fehltritts unterstreicht. Nach den Worten „Selber darf ich nicht getrauen, ihrem Wachstum zuzuschauen“ melden sich in der nachfolgenden zweitaktigen Pause für die Singstimme die Flöte und die Oboe mit einer rufartigen Fall-und Sprungfigur und das Fagott und die Violen mit einem Achtel-Wirbel zu Wort und unterstreichen damit in klanglich bedeutsamer Weise, was die Singstimme gerade eingestanden hat.


    Wie überaus kunstvoll Mahler das klangliche Potential des Orchestersatzes in seinen Liedkompositionen einzusetzen vermochte, wird ganz besonders in der Pause nach dem zweiten appellativen „Blicke mir nicht in die Lieder“ (Takt 27/28) sinnfällig. Das, was sich hier im Orchester ereignet, wiederholt sich ja in ähnlicher Form noch einmal nach der erstmaligen Deklamation der melodischen Linie auf den Worten „Dann vor allem nasche du“ (Takt 54/55). Das ganze (kleine) Orchester ist daran beteiligt, mit Ausnahme der Hörner. Und das ist es, was den Beitrag der einzelnen Instrumentengruppen anbelangt, in dynamisch und artikulatorisch höchst differenzierter Weise, - einer Stimmenführung, die gerade vollkommen kammermusikalisch anmutet und darin typisch ist für den liedmusikalischen Geist dieser Rückert-Lieder und der „Kindertotenlieder“.


    Die melodische Linie steigt im ersten Fall von einem tiefen „Es“ über eine Oktave zu einem hohen empor, wobei der letzte deklamatorische Schritt (bei „Lieder“) ein verminderter Terzsprung ist. Den vollziehen nun die Flöten und die Oboen zunächst einmal nach, wobei die Dynamik mit einem Crescendo von „p“ zu „sf“ ansteigt. Die Klarinette, das Fagott, die zweiten Violinen und die Celli tragen dazu einen Sforzato-Akzent in Gestalt eines einzelnen Tons, bzw. bitonalen Akkords bei, die Harfe fortissimo und die Violen sforzato eine ansteigende und wieder fallende Achtelfigur. Im zweiten Takt dieses Zwischenspiels weiten aber die Flöten und die Oboen den kleinen Terzsprung, den sie von der melodischen Linie der Singstimme übernommen haben, wiederum „p“>“sfz“ zu einem großen Quartsprung aus und muten darin an, als würden sie die Singstimme dazu treiben, zur Deklamation der melodischen Linie auf den Worten „Deine Neugier ist Verrat“ antreiben.
    Das Orchester greift also hier die melodische Linie der Singstimme auf, kommentiert sie in ihrer vorangehenden Aussage und leitet sie, mit einem Akzent versehen, zur Fortsetzung ihrer Aussage an.
    Und hier wird in exemplarischer Weise deutlich: Mahler hat zu einer neuen liedmusikalischen Sprache gefunden. Es ist eine der vollkommenen Emanzipation vom Klavierlied im Sinne einer Integration der melodischen Linie der Singstimme in einen kammermusikalischen Orchestersatz.

  • Friedrich Rückert: „Dank für den Lindenzweig“


    Ich atmet´ einen linden Duft!
    Im Zimmer stand
    ein Zweig der Linde,
    ein Angebinde
    von lieber Hand.
    Wie lieblich war der Lindenduft!


    Wie lieblich ist der Lindenduft!
    Das Lindenreis
    brachst du gelinde!
    Ich atme leis
    im Duft der Linde
    der Liebe linden Duft.



    In den unbestimmten Schweben der lyrischen Aussagen zwischen zwei temporalen Ebenen und dem geradezu raffinierten Spiel mit den Worten „Linde“, „lind“ und „Duft“ erweist sich dieses Gedicht als ein typisches Rückert-Produkt, bei dem sich Gedankenlyrik ins Gewand von Erlebnislyrik hüllt. Vergangenheit, der von der Hand der Geliebten stammende und einst im Zimmer stehende Lindenzweig, wird als Erinnerung gegenwärtig in der neuerlichen Erfahrung von Lindenduft, in dessen „linder“ Süße sich mit einem Mal für das lyrische Ich das Wesen der Liebe, so wie er es erfahren hat, enthüllt. Im ungehemmten, die Versenden überströmenden Fluss der Jamben gehen das temporale Präsens und das Präteritum mühelos ineinander über, und alle lyrischen Aussagen verdichten sich in dem lyrischen Bild vom „Lindenduft“, der in seiner „Lindheit“ die der Vergangenheit angehörende Begegnung mit der Geliebten gegenwärtig werden lässt und damit zur Metapher für Liebe wird.


    Mahlers Vertonung dieser Verse Rückerts greift deren eigentümlich unbestimmtes Schweben der lyrischen Aussagen zwischen den temporalen Ebenen mit einer Liedmusik auf, in der die melodische Linie der Singstimme in einen Klaviersatz eingebunden ist, der sich auf der Grundlage eines Sechsachtel-, bzw. Dreivierteltaktes in Gestalt von Achtel-Sextolen im Diskant in wellenartigem Strömen entfaltet und auf diese Weise die Singstimme in einen gleichsam schwebenden Klangraum bettet. Dabei ist es nicht so, dass die melodische Linie zum Bestandteil des Klaviersatzes würde und in ihm aufginge. Dadurch, dass sie in einzelne von Pausen eingegrenzte Zeilen gegliedert ist, gewinnt sie durchaus ein ausgeprägtes Eigensein, in dem sie die sprachliche Struktur und die Semantik des lyrischen Textes zu reflektieren vermag. Da aber die Achtelketten auch über die Pausen der Singstimme hinweglaufen, generieren sie einen kontinuierlichen klanglichen Strom, der die eingelagerten Melodiezeilen gleichsam mit sich führt.


    Aber der Klaviersatz, der sich im wesentlichen in seiner klanglichen Substanz auf den Diskant beschränkt, während im Bass bis auf wenige Stellen nur einzelne Töne oder lang gehaltene bitonale Akkorde erklingen, leistet im Zusammenspiel mit der melodischen Linie noch mehr. Es ist ein im Grunde hochkomplexer Vorgang, der sich hier ereignet, sich dem Hörer aber, wie das so typisch für Mahler ist, in gar keiner Weise als solcher aufdrängt. Das Klavier umspielt mit seinen Achtelketten nicht nur die einzelnen deklamatorischen Schritte der melodischen Linie, es nimmt sie auch immer wieder einmal vorweg oder vollzieht sie wie ein kurzes Echo nach. Mehrmals werden melodische Bewegungen aber auch mitvollzogen, dies aber nicht im Fluss der Achtelketten, sondern mittels Einzeltönen oder bitonalen Akkorden, die den Ketten beigegeben oder zu denen sie ausgebaut werden. Und bemerkenswert ist nun, wo das geschieht: In der Liedmusik der letzten drei Verse, dort, wo sich gleichsam die lyrische Kulmination ereignet, wo das lyrische Ich den Duft der Linde einatmet, vergangene Erfahrungen mit denen der Gegenwart verschmelzen und auf diese Weise die Liebe in ihrem innersten Wesen erfühlt wird.


    „Lento, con molta tenerezza e fervore“ ist dieses Lied vorzutragen. Mit einem lang gehaltenen „C“ im Bass setzt es ein. Ein arpeggierter F-Dur-Akkord in hoher Diskantlage folgt, und gleichzeitig erklingt im hohen Bass eine bogenförmige Fallbewegung von Achteln. Während der arpeggierte Akkord nun als achtstimmiger noch einmal angeschlagen wird, setzt die Singstimme ein. Die erste Melodiezeile umfasst den ersten Vers und ist ebenfalls bogenförmig angelegt. In ihrem behutsam und in ruhigen kleinen Schritten erfolgenden Abstieg zu dem Wort „linden“ und dem nachfolgenden Absinken zu einem „C“ in mittlerer Lage wohnt ihr ein lieblicher, gar schwärmerischer Ton inne. Eine Pause im Wert von fünf Vierteln folgt, in der das Klavier nun mit der Artikulation seiner wellenartigen Achtelketten einsetzt.


    Mit dieser ersten Melodiezeile reflektiert die Liedmusik den Charakter des ersten Verses als Exposition der lyrischen Aussagen. Mahler hat ihn ja auch zum Titel seines Liedes gemacht, darin von Rückert abweichend. Die Ruhe, die vom Bild der nächsten beiden Verse ausgeht, bringt die melodische Linie in ihren nächsten beiden Zeilen mit ruhigen, von mehreren Dehnungen klanglich geprägten Bewegungen in mittlerer Lage zum Ausdruck. In dem Gewicht, das Mahler dem Bild verleiht, geht er über Rückert hinaus. Eine fast den ganzen Takt ausfüllende Dehnung liegt auf dem Wort „stand“, sowohl „Zweig“ als auch „Linde“ tragen eine, sogar dem Wort „ein“ wird ein besonderer melodischer Akzent verliehen in Gestalt eines in eine Dehnung mündenden Terzsprungs. Vorübergehend wechselt hier der Takt auch von sechs zu drei Vierteln und verstärkt damit auf rhythmischem Wege den Akzent auf diesem Wort.


    Die Steigerung des affektiven Potentials, die mit dem Bewusstsein verbunden ist, dass der „Zweig der Linde“ von „lieber Hand“ ins Zimmer kam, führt in der Liedmusik zu einer harmonischen Modulation von dem bislang dominierenden F-Dur und C-Dur hin zu A-Dur. Bezeichnenderweise ereignet sie sich bei den Worten „lieber Hand“. Hier kommt auch wieder deutlich mehr Emphase in die melodische Linie. Sie steigt in Sekundschritten in höhere Lage empor, überlässt sich bei dem Wort „lieber“ einer langen Dehnung und kommt danach „poco crescendo“ zu einer ausgeprägten Steigerung ihrer Expressivität dadurch, dass sie bei dem Wort „Hand“ aus einer Dehnung heraus einen Quintsprung zum höchsten Ton des Liedes vollzieht, der im Wert einer ganzen Note gehalten wird.


    Mit den Worten „Wie lieblich war der Lindenduft“ kehren Gedanken und Gefühle des lyrischen Ichs wieder zur Vergangenheit zurück, und in der Harmonisierung der melodischen Linie ereignet sich dabei eine Rückkehr zur Grundtonart F-Dur, die mit ihrer Dominante moduliert. In die melodische Linie kehrt so etwas wie Entspannung und ein Zur-Ruhe-Finden ein. In Gestalt von zwei Fallbewegungen, in die bei dem Wort „war“ eine Dehnung eingelagert ist, kehrt sie zum Grundton zurück. Diese Dehnung auf einem „C“ in mittlerer Lage verleiht der Erfahrung, die das lyrische Ich damals machte und die nun als Erinnerung wiederkommt, ein Gewicht, das wieder über das hinausgeht, was der lyrische Text zum Ausdruck bringt. Versteht man Rückerts Gedicht als Hereinholen von Vergangenheit in die Gegenwart, um sich ihrer zu vergewissern und sie als seelische Erfahrung zu sichern, so mutet Mahlers Komposition darauf an, als würde sie das lyrische Ich in eben dieser Intention bestärken, indem es all diesen Elementen der Erinnerung starke musikalische Akzente verleiht.


    Eine wesentliche Rolle spielt bei dieser kompositorischen Intention, die Mahlers Vertonung zugrundeliegt, die Harmonik. In der Art, wie sie moduliert, reflektiert sie die beiden temporalen Ebenen des lyrischen Textes. Immer dann, wenn sich im Hereinholen vergangener Erfahrungen in die Gegenwart starke Emotionen einstellen, moduliert die Harmonik der melodischen Linie von der Grundtonart F-Dur weg in ferne Bereiche des Quintenzirkels, was eine große Steigerung der musikalischen Expressivität mit sich bringt. War es in der ersten Strophe die Rückung nach A-Dur, so ereignet sich in der zweiten eine noch expressivere: Sie führt in den Bereich von Des-Dur und Ges-Dur.


    Bevor die Singstimme jedoch zur Deklamation der melodischen Linie dieser zweiten Strophe übergeht, macht sie eine Pause (wieder im Wert von fünf Vierteln), in der das Klavier im Diskant einen nach unten gerichteten Bogen von Achtel-Folgen erklingen lässt, über dem sich eine aus vier Tönen gebildete kleine Melodie erhebt, die eine Figur aufgreift, die zum melodischen Grundbestand des Liedes gehört. Man vernimmt sie zum ersten Mal bei den Worten „im Zimmer stand“. Das ereignet sich gleich danach noch zwei Mal. Bei den Worten des ersten Verses der zweiten Strophe (Wie lieblich ist der Lindenduft“), die wieder auf einer sich ruhig in mittlerer Lage bewegenden melodischen Linie deklamiert werden, artikuliert das Klavier über den Achtelketten eine wellenartige Folge von Einzeltönen, die der melodischen Figur ähnelt, die auf den Worten „wie lieblich war“ liegt.


    Die Melodik auf dem ersten Vers der zweiten Strophe verleiht der lyrischen Aussage wieder einen starken Akzent dadurch, dass einzelne Worte mittels Dehnungen hervorgehoben werden: „ist“, „der“ und „Lindenduft“. Hier auf der ersten und der letzten Silbe mit zwischengelagertem Sekundfall und –sprung. Bei den Worten „Das Lindenreis brachst du gelinde“ kommt ein leichter Steigerungseffekt in die melodische Linie. In zwei Anläufen steigt sie – freilich wie immer in diesem Lied mit ruhigen deklamatorischen Schritten – zunächst bis zu einer Dehnung auf der Silbe „-reis“ in mittlere Lage auf, danach setzt sie diese Aufwärtsbewegung fort und gipfelt dann mit einer langen Dehnung auf dem Wort „gelinde“ auf. Auch die Achtelketten im Klaviersatz beschreiben eine Aufwärtsbewegung, die dieses Mal sogar im Bereich des Basses ansetzt. Die Harmonik moduliert dabei in geradezu kühner Weise von D-Dur nach Des-Dur.


    Großen klanglichen Zauber entfalten danach die beiden kleinen Melodiezeilen auf den Worten „Ich atme leis im Duft der Linde“. Bei der ersten verharrt die Vokallinie nach einem Quintsprung in Gestalt von zwei Dehnungen, von denen aus sie sich nur zwei Mal in Gestalt eines Sekundfalls nach unten bewegt, lange auf einem „As“ in mittlerer Lage. Die zweite besteht aus einer bogenförmigen Aufgipfelung der Vokallinie auf einem „Es“ in hoher Lage, von dem aus sie sich bei dem Wort „Linde“ zu einem „A“ absenkt, das über ein „B“ zu einem „As“ moduliert. Beide melodischen Bewegungen werden vom Klavier in Gestalt von Einzeltönen über den Achtelketten mitvollzogen, und die Harmonik rückt dabei von Des- nach Ges-Dur.


    Ges-Dur ist auch die Harmonik, in der sich die letzte Melodiezeile entfaltet. Sie umfasst den letzten Vers, und man empfindet sie als den Höhepunkt des klanglichen Zaubers, der von dem Lied ausgeht. Wieder vollzieht das Klavier die Bewegungen der melodischen Linie mit, wobei es das in diesem Fall sogar mittels seiner Achtelketten tut, - auch dies eine die bestechende Schönheit dieser Schlusspassage bedingendes Element. Die melodische Linie steigt mit einem Quartsprung zu einem hohen „Des“ auf und überlässt sich bei dem Wort „Liebe“ einer sehr langen Dehnung, die aus einem kleinen Terzsprung zu einem „Fes“ in hoher Lage besteht, das in taktübergreifender Weise gehalten wird.


    Und danach ereignet sich melodisch und harmonisch Ungewöhnliches. Über einem doppelten Sekundfall senkt sich die Vokallinie über eine große Septe zu einem tiefen „E“ ab und vollzieht von dort aus einen Sekundsprung zu einem „F“ bei dem Wort „Duft“. Harmonisch hat sich hierbei eine – klanglich beeindruckende – Modulation von Ges-Dur über C-Dur als Dominante nach F-Dur ereignet. Dieses insbesondere bewirkt im Zusammenspiel mit dem Septfall der Melodik, dass man das Ankommen der melodischen Linie auf dem Grundton als ein großes Zur-Ruhe-Kommen derselben empfindet.
    Im viertaktigen Nachspiel lässt das Klavier noch einmal über seinen Achtelketten die melodische Figur erklingen, die es in der Begleitung der Singstimme bei den Worten „Wie lieblich ist der Lindenduft“ artikulierte.

  • Die Nachbetrachtung zu dem Lied „Blicke mir nicht in die Lieder“ schloss mit der Feststellung: Mahler hat zu einer neuen liedmusikalischen Sprache gefunden. Es ist eine der vollkommenen Emanzipation vom Klavierlied im Sinne einer Integration der melodischen Linie der Singstimme in einen kammermusikalischen Orchestersatz. Für dieses Lied gilt das umso mehr, weil diese neue Liedsprache hier in noch konsequenterer und markanterer Weise realisiert ist. Das Orchester – das man kaum als ein solches bezeichnen möchte – ist nicht nur im Umfang der Orchesterstimmen aus kammermusikalische Dimensionen reduziert, indem alle Blechbläser mit Ausnahme der Hörner eliminiert sind und bei den Streichern die Celli und die Kontrabässe herausgenommen wurden, die einzelnen Instrumente, bzw. Instrumentengruppen werden auch in kammermusikalischer Weise als Einzelstimmen eingesetzt. Mahler will einen klanglich milden, weichen, ja zarten Klangkörper zum Einsatz bringen, und dies nicht in toto, sondern in Gestalt eines Auftretens seiner einzelnen stimmlichen Faktoren. Und – das ist bemerkenswert: Die Singstimme ist einer davon.


    Zwar spielt diese als wortgebender Faktor eine durchaus dominante Rolle. Gleichwohl wird die melodische Linie als integraler Bestandteil des Orchestersatzes behandelt und die Singstimme in diesem Sinne eingesetzt. Das wird schon gleich am Anfang deutlich. Die melodische Figur, die auf den Worten „Ich atmet´ einen linden Duft“ liegt, wiederholt in Gestalt von Vierteln, also in gleichsam gedehnter Klanglichkeit, das, was die Celesta und die Harfe mit ihren aufsteigenden Zweiunddreißigsteln und die Klarinette mit ihren fallenden Achteln vorgegeben haben. Und nicht nur das bindet die Singstimme in die Stimmen des Orchesters ein: Die nachfolgende, am Ende der ersten Melodiezeile einsetzende und die melodische Linie nun bis zum Ende permanent begleitende Achtelkette der Violinen stellt in der Bewegung, mit der sie einsetzt, gleichsam eine Umkehrung dieser Melodiezeile dar.


    Der letzte Grund, das Motiv also für diese radikale Reduktion des Orchestersatzes und die Stimmführung darin ist ganz offensichtlich im lyrischen Text zu suchen und in Mahlers Intention, diesen in seiner Aussage in adäquate Klanglichkeit umzusetzen. Und Adäquatheit beinhaltet für ihn ganz offensichtlich die Eliminierung aller klanglichen Bewegungen und Prozesse, die nicht in einem unmittelbaren Bezug zur lyrischen Aussage stehen, wie sie sich in der melodischen Linie der Singstimme artikuliert. Wobei diese dabei zwar auch wie eine eben dieser Orchesterstimmen fungiert, die alle zusammen die lyrische Aussage reflektieren, nur eben in führender, gleichsam wortgebender Weise. Man hat unter Bezugnahme auf die Rückert-Lieder zu Recht darauf hingewiesen, dass Mahler mit dieser weiterentwickelten Liedsprache in avantgardistischer Weise die kompositorisch-reduktionistische Vokalkomposition vorausnimmt, wie sie später etwa von Ravel, Schönberg oder Strawinsky realisiert wurde.


    Zentrales Bild des lyrischen Textes und die es prägenden lyrischen Worte sind „Lindenduft“ und das sprachliche Spiel, das im Zusammenhang damit mit den Worten „lind“ und „Duft“ getrieben wird. Letzteres dient Rückert ja nur dazu, die Atmosphäre, in der sich hier die Vergegenwärtigung von Vergangenheit ereignet, lyrisch-sprachlich zu evozieren. Und diese ist geprägt von der letztlichen Unbestimmtheit und Unfasslichkeit, wie sie dem „Duft“ , der hier im Zentrum steht und alles umhüllt, nun einmal eigen ist. Das lyrische Ich „atmet leis im Duft der Linde“. Das ist im Grunde alles, was es zu sagen hat und weiß. Und die Liedmusik muss – nach dem Verständnis, wie es Mahler zu dieser Zeit gewonnen hat – dies nun so zum Ausdruck bringen, dass es musikalisch vernehmlich wird.


    Vernehmlich werden muss das Atmen des lyrischen Ichs in der Aura eines den Raum schwebend erfüllenden und darin liebevolle Vergangenheit vergegenwärtigenden Lindendufts. Die Stimmen des Orchesters leisten das – im Einklang mit der Singstimme – in der Entfaltung des klanglichen Potentials, das ihnen eigen ist. Schon das Vorspiel lässt das vernehmlich werden: Es evoziert klanglich duftende Aura in Gestalt des Pianissimo-Auftritts einzelner Orchesterstimmen. Erst lassen die Fagotte und das F-Horn einen einzelnen Ton erklingen, dann die Oboe. Die Klarinette artikuliert eine fallende Achtelfigur, der die Celesta und die Harfe eine nach oben steigende Zweiunddreißigstel-Figur entgegensetzen. Die Violen lassen ein Flageolett erklingen, und nun setzt die Singstimme ein, die das gleichsam melodisch fortsetzt, was die einzelnen Orchesterstimmen punktuell-evokativ zum Ausdruck gebracht haben. Und darin sind sie ja auch Stimmgeber gewesen für das, womit die mit Dämpfer versehenen Violinen nun am Ende der ersten Melodiezeile beginnen: Ihrer nicht enden wollenden, die melodische Linie der Singstimme nicht nur in ihren Bewegungen begleitenden, sondern diese auch klanglich akzentuierenden und diese Bewegungen vorausnehmenden oder echohaft nachklingen lassenden Kette von fließenden Achteln.


    In der ganzen ersten Strophe ereignet sich eben nur dieses: Das Zusammen- und Wechselspiel der melodischen Linie von Singstimme und Violinen. Nur das Fagott liefert ein Mal und das Horn zwei Mal (mit einer bitonalen Sexte) dazu einen kurzen Beitrag, und die Violen verleihen dem Wort „Linde“ mit einer lang gehaltenen Sexte einen warmen klanglichen Akzent. Erst mit der zweiten Strophe setzt die Oboe ein und folgt der melodischen Linie bei den Worten „Wie lieblich ist der Lindenduft“ nicht nur, sondern verleiht ihr, indem sie deren von Dehnungen geprägte Bewegung mit einer Folge von Viertel-Tönen umspielt, eine hohe klangliche Lieblichkeit. Und nun lassen auch das Fagott und das Horn (jetzt ohne Dämpfer) eine fallende melodische Linie erklingen, und das Horn folgt („weich und ausdrucksvoll) auch der melodischen Linie bei den Worten „ich atme leis im Duft der Linde“.


    Gerade hier, beim Piano- und Pianissimo-Auftritt beider Hörner an dieser Stelle, lässt sich in besonders beeindruckender Weise Mahlers liedkompositorisches Konzept des Arbeitens mit der einzelnen Orchester-Stimme erleben und erfassen. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich – darin die lyrische Aussage „ich atme leis“ und das klanglich tiefe offene „a“ darin reflektierend – ruhig in gedehnter Form auf einem „F“ in tiefer Lage. Und genau dieses Atmen der melodischen Linie in Gestalt von Dehnungen auf nur einer tonalen Ebene unterstützt und akzentuiert das erste Horn, indem es deren Bewegungen mit seiner ihm eigenen weichen und zugleich vollen Klanglichkeit mitvollzieht, während das zweite Horn dazu, zusammen mit der Harfe, einen lang gehaltenen Basis-Ton beiträgt. Und die Violinen reflektieren ihrerseits die lyrische Aussage, indem sie hier von ihrem sich über ein größeres Intervall erstreckenden Auf und Ab der fließenden Achtel ablassen und dieses Intervall nicht nur auf eine Terz verkleinern, sondern überdies, wie die melodische Linie der Singstimme auch, auf einer tonal tiefen Lage verbleiben.

  • Ich komme noch einmal auf das "Urlicht" zurück. In meinem thread "Supernovae" in der Musik habe ich musikalische Explosionen beschrieben, wie man sie etwa in Mahlers 10. oder in der 5. Tür von Bartoks "Herzog Blaubart" findet. Am "Urlicht" ist mir klar geworden, dass es auch diese "stillen Supernovae" gibt; das sind Stücke, deren Reiz nicht die Gewalt der Musik ist, sondern ihre ungeheure stille Intensität. Ein solches Stück ist das "Urlicht". Als ich das zum ersten Mal gehört habe, war ich fassungslos - und bin es immer wieder, obwohl ich weiß, was kommt.
    Zu deiner umfassenden musikalischen Analyse, lieber Helmut, die ich aber noch mal ausgedruckt lesen muss, kann ich natürlich nichts beitragen. Aber zum Inhalt möchte ich einige Gedanken machen. Du schreibst zu Recht, dass Mahler wahrscheinlich die Religionsphilosophie der Gnosis nicht kannte. Das musste er auch nicht. Ich sehe im "Urlicht" eine in den Volksglauben herabgesunkene Erzählung des gnostischen Mythos, wie ihn Rudolf Bultmann in seiner "Theologie des Neuen Testaments" beschrieben hat. Solche zu volkstümlichen Texten herabgesunkenen Philosophien und Theologien gibt es reichlich. Im evangelischen Bereich findet sich etwa die von Paulus formulierte und von Luther wiederentdeckte Rechtfertigungslehre in den vielen Strophen des oft gesungenen Kirchenliedes "Nun freut euch, lieben Christen g´mein") und Luthers Kirchentheologie in "Ein feste Burg ist unser Gott"!
    Bultmann war es auch, der uns klar gemacht hat, dass das Johannesevangelium reine Gnosis in "getaufter Form" ist; d.h. der gnostische Erlöser wird mit Jesus gleichgesetzt. Der gnostische Mythos lautet etwa so (es gibt natürlich viele Varianten): der Schöpfergott schuf den Lichtmenschen, die Dämonen zertrümmerten ihn; die einzelnen Lichtfunken wurde auf jeden einzelnen Menschen verteilt, die Heimat ist die Erde. Die Lichtfunken sind im Körper des Menschen gefangen. Nur der Mensch, der seinen Lichtfunken erkennt (Erkenntnis=Gnosis), kann zu Gott zurück. Dieser Dualismus, nämlich göttliche Seele und "teuflischer Körper" ist nicht auf die Gnosis beschränkt, aber er findet in ihr seinen markantesten Ausdruck. Viele Religionen verwenden ihn. In der katholischen Kirche ist es das Zölibat und die Beichte, in der alle Sünden geoffenbart werden müssen. Auch die Abwertung des Weiblichen in der katholischen Kirche erklärt sich hier, denn die Frau wird mit der Körperlichkeit schlechthin identifiziert, vor allem da sie für die Sexualität und in deren Folge für das Gebären zuständig ist. Als Gegenpol gibt es die göttliche Figur der Maria, die immer Jungfrau blieb trotz ihrer Geburten. Dies ist eine Kunstfigur aus dem Arsenal der Religionen und besonders aus der Gnosis, denn im Neuen Testament steht nichts davon. Ich finde es immer wieder überraschend, dass sich die großartigste Kirchenmusik der katholischen Kirche mit Maria beschäftigt; ich nenne nur Palestrina, Tomàs Luís de Victoria und herausragend die Marienvesper von Monteverdi. Aber auch die lutherische Orthodoxie (Luther selbst nicht, das beweist seine Heirat mit einer Nonne) kannte diesen Dualismus von der feindlichen Welt mit ihren Gelüsten und Sinnenfreuden und der Sehnsucht nach dem himmlischen Leben. Fast jede Kantate von Bach zeugt davon (z.B. "Ich freue mich auf meinen Tod").
    In einem zweiten Beitrag werde ich versuchen, das "Urlicht" im Lichte des gnostischen Mythos zu verstehen.

    Manchmal ist wenig immer viel! (Thorsten Legat)

  • Herzlichen Dank für Deinen Beitrag, lieber dr. pingel. Jetzt erst verstehe ich voll und ganz, warum Du am Anfang dieses Threads das „Urlicht“ mit der Gnosis in Verbindung brachtest.


    Du sagst „Ich sehe im "Urlicht" eine in den Volksglauben herabgesunkene Erzählung des gnostischen Mythos, wie ihn Rudolf Bultmann in seiner "Theologie des Neuen Testaments" beschrieben hat“, und darin dürftest Du, wie ich denke, durchaus richtig liegen. (Ich habe mich mit einem Griff in den von meinem Schwiegervater hinterlassenen großen „Theologie-Schrank“ inzwischen ein wenig kundig gemacht und einen Blick in den „Bultmann“ geworfen). In den Texten der „Wunderhorn“-Sammlung findet sich ja viel von solchen in den „Volksglauben herabgesunkenen“ Elementen der verschiedenen Richtungen, Strömungen und Ausprägungen des christlichen Glaubens.


    Brentano hat in einer brieflichen Äußerung als Zielsetzung für das „Wunderhorn“-Unternehmen genannt, die Sammlung solle „das platte oft unendlich gemeine Mildheimische Liederbuch unnötig machen“. Er strebte also einen Gegenentwurf zu den im Geist aufgeklärter Frömmigkeit zusammengestellten 518 Liedern an, wie sie von Rudolf Zacharias Becker vorgelegt wurden. Dies mit der durchaus anti-aufklärerischen Intention, den „wahren Volksglauben“ in Gestalt von Texten vorzulegen, die diesen wirklich repräsentieren. Das Gedicht „Urlicht“ muss ihm als in diesem Sinne höchst aussagekräftig erschienen sein. Es folgt in der Sammlung übrigens auf einen Text mit dem Titel „Augustinus und der Engel“. In sechs Strophen wird darin ein Zwiegespräch zwischen Augustinus und einem Engel wiedergegeben.


    Der einleitende Vers von „Urlicht“ („O Röschen rot“) wurde von mir als in einem mariologischen Kontext stehend gedeutet. Ich konnte dazu in der Literatur nichts finden und bin mir deshalb nicht ganz sicher, ob das Hand und Fuß hat. Auch deshalb sehe ich erwartungsvoll Deinen weiteren Ausführungen zu „Urlicht“ entgegen. Bis dahin werde ich mit der weiteren Vorstellung der Rückert-Lieder erst einmal innehalten (als zu längst vergangenen Zeiten aufgewachsener Mensch kann ich mich mit dem inhaltlichen Kunterbunt, wie es heutzutage wesenhaft zu Internet-Foren gehört, partout nicht anfreunden). Ich werde mich in der Zwischenzeit noch einmal mit der Frage nach Mahlers Haltung zum Christentum und seiner diesbezüglichen Gläubigkeit beschäftigen. Dies wird in der Mahler-Literatur durchaus kontrovers diskutiert, auch deshalb, weil es nicht ohne Belang für die künstlerische Aussage seines Werkes ist. Ein Kurzbericht darüber wird folgen.


    (Bitte fühle Dich durch mein Warten auf deinen "zweiten Beitrag" nicht bedrängt. Ich bin froh, einmal ein wenig aufatmen zu können. An solchen Beiträgen wie die zum vorangehenden Lied "Ich atmet´ einen linden Duft" schreibe ich Tage und Stunden. Und manchmal habe ich in der letzten Zeit das Gefühl, dass mir die Luft ausgeht und ich "Tamino-urlaubsreif" bin.)

  • Ich versuche hier etwas, was es bisher noch gar nicht gegeben hat, nämlich im Einzelnen zu eruieren, inwieweit das "Urlicht" dem gnostischen Mythos verpflichtet ist. Das musikalische Element ist dabei natürlich ausgespart, das muss bei Helmut nachgelesen werden.
    Urlicht
    Dieses Wort ist im Deutschen völlig ungebräuchlich. Ich habe einige Freunde gefragt, keiner kannte es. Ich sah es zum ersten Mal im Studium bei der Analyse der Gnosis - und dann, als ich das erste Mal Mahlers 2. hörte. Da verband sich plötzlich etwas!
    Im Duden kommt das Wort nicht vor. Google zeigt nur die ursprüngliche Gnosis an, dann Mahlers 2. - und moderne gnostische Bewegungen, die allesamt nach dem Krieg gegründet wurden und so eine Art moderner Gnosis bilden, mit dem bekannten esoterischen "Gesülze", den Heilsbringern und einer entsprechenden Internetseite. Die bekannten Muster der alten Gnosis feiern dort fröhliche Umstände, etwa in der website "Urlicht". Da heißt es: " Die äußeren Lehren der Kabbalah werden inzwischen den Massen offenbart, aber du musst nach den inneren Lehren suchen." Das ist die alte Unterscheidung zwischen den "Hylikern" (dem irdischen Leben und der Materie verfallen) und den Gnostikern, mit dem "Funken" oder "Samen" in sich. Das sind übrigens die alten Bezeichnungen für "Urlicht". Der Pantheist Janacek wählte als Leitwort seines Totenhauses den Spruch: "In jeder Kreatur ein Funke Gottes". In seinem Violinkonzert verkörpert die Violine die Seele bei der Seelenwanderung. Hier würde ich Helmut fragen, ob die Solovioline im "Urlicht" die gleiche Funktion hat.
    Weiter heißt es in der modernen gnostischen Sekte "Urlicht", dass man die Erkenntnis (griech. gnoosis) nur "weitergeben kann, sodass dem Würdigen die himmlischen Tore geöffnet, dem Unwürdigen aber verschlossen bleiben."
    O Röschen rot
    diese Zeile ist ein Fremdkörper, denn die Rose spielt in der Gnosis eigentlich keine Rolle. Ich glaube aber, dass Helmuts Deutung der Marienverehrung ein Ansatz ist; vielleicht aber auch ist es allgemein die Anrufung des Weiblichen, denn in allen Religionen stellt man sich die Seele als weiblich vor. Nicht umsonst wird das Lied ja von einer Altstimme gesungen.
    (Fortsetzung folgt).

    Manchmal ist wenig immer viel! (Thorsten Legat)

  • Zit.: „Urlicht. Dieses Wort ist im Deutschen völlig ungebräuchlich. Ich habe einige Freunde gefragt, keiner kannte es“.

    Wenn ich ergänzen darf:
    Das mag für den heutigen Sprachgebrauch gelten, in der Literatur war das Wort durchaus gebräuchlich. Zuerst nachweisbar ist des dort Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Bei Bürger findet sich zum Beispiel diese Passage:
    „Der eine (Thauropfen) borget seine Helle
    Von einem fremden Strahle bloß,
    der andre (Diamant) trägt an dessen Stelle
    sein Urlicht in selbsteignem Schoß“.
    Im religiösen Sinne wird das Wort „Urlicht“ (nach Mos. 1,3) im Sinne des von Gott geschaffenen Lichts verstanden. Etwa bei Michael Sachs:
    „Am ersten Tag erschuf der Herr das Licht,
    ein andres wars, als das die Sonne sendet,
    das sengt und glüht, mit heißem Strahle sticht.
    Doch jenes Urlicht milden Glanz entsendet.“
    Bei Goethe:
    „So im kleinen ewig wie im großen
    Wirkt Natur, wirkt Menschengeist, und beide
    Sind ein Abglanz jenes Urlichts.“
    Bei Lavater:
    „Ihr frommen Regungen! Ihr reinen Triebe!...
    Euch schafft im heiligsten der Heiligtümer
    Der Geister Geist, das Urlicht aller Lichter,
    Im Herzen Gott.“
    Im „Wunderhorn-Gedicht wird der Begriff ganz offensichtlich in einem ähnlichen Sinn verwendet, wie es hier bei Lavater geschieht.

  • Im "Grimmschen Wörterbuch" - in solchen Fragen immer ein zuverlässiger Ratgeber, gibt es natürlich auch einen Artikel.


    Dort heißt es: "in der literaturspr. des ausgehenden 18. jh. aufgekommen, syn. ur- oder alllicht HERDER 7, 187 S.


    unter b) nach biblisch-christlichen vorstellungen das zuerst geschaffene licht (1 Mos. 1, 3), getrennt von der sonne (1, 14 ff.)


    am ersten tag erschuf der herr das licht,
    ein andres wars, als das der sonne spendet,
    das sengt und glüht, mit heiszem strahle sticht.
    doch jenes urlicht milden glanz entsendet


    Mich. Sachs stimmen v. Jordan u. Euphrat (1868) 2, 30


    Es folgen weitere Zitate von Klopstock (Messias), Lavater, Voss, Goethe, Herder, usw.


    Das Urlicht kann auch Gott selbst bezeichnen (so bei Klopstock) - vielleicht ist das bei Mahler auch gemeint. Der Mensch will ja zurück zu Gott. Ist das Lichtlein, das ihm gegeben wird, etwas aus diesem göttlichen Urlicht? Das wäre etwas für Theologen wie Dr. Pingel. :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zu Deiner Frage, lieber dr. pingel: „…ob die Solovioline im "Urlicht" die gleiche Funktion hat.“


    Es ist aus meiner Sicht immer ein bisschen problematisch, einem Instrument oder einer Instrumentengruppe eine bestimmte Funktion im Rahmen der musikalischen Gesamt-Aussage zuzusprechen, wenn es der Komponist nicht selbst getan hat. Vielleicht hilft es ja im Falle der Solo-Violine im „Urlicht“, einmal darauf zu achten, wo und wie Mahler sie hier eingesetzt hat, um dann einige Vermutungen darauf zu gründen.


    Die (erste) Solo-Violine erklingt – laut Partitur – zum ersten Mal, in der Pause, nachdem die Singstimme die melodische Linie auf den Worten „Da kam ich auf einen breiten Weg“ deklamiert hat. Sie artikuliert da (ab Takt 40) ohne Dämpfer eine sich auf und ab bewegende Sechzehntel-Figur, und während sie dann (ab Takt 44) ein lang gehaltenes hohes „E“ erklingen lässt, setzt die Singstimme mit den Worten „Da kam ein Engelein…“ ein. In der Pause nach dieser Melodiezeile (Takte 48/49) artikuliert die Solovioline einen doppelten Glissando-Sekundfall. Und die melodische Linie auf den Worten „Ich bin von Gott und will wieder zu Gott! Der liebe Gott, der liebe Gott…“ begleitet die Solovioline vier Mal mit einer Achtel-Figur aus Sekundfall und –sprung. Bei ihren restlichen Auftritten fügt sie sich dann in die melodischen Linien der ganzen Streichergruppe ein, tritt also nicht mehr solistisch-markant hervor.


    Zunächst einmal ist man von diesem Ort des Auftritts her geneigt, die Solo-Violine mit dem „Engelein“ in Zusammenhang zu bringen. Das gibt aber keinen rechten Sinn, weil die Klanglichkeit, mit der sie auftritt, in gar keiner Weise etwas Abweisendes an sich hat. Es sind ja überaus klanglich zärtlich und lieblich anmutende Figuren, die sie artikuliert. Daher neige ich dazu – wenn ich denn schon mal spekulieren soll – die Solovioline mit dem „Urlicht“ in Zusammenhang zu bringen. Dieses „Urlicht“ verkörpert ja als Metapher das, was das lyrische Ich dem „Engelein“ entgegenhält: Die Gewissheit: „Ich bin von Gott“. Die Worte „ Der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben“ greift sogar wörtlich die Metapher vom „Urlicht“ auf. Und von daher ist es ganz stimmig, dass die erste und die zweite Solo-Violine am Ende, wenn die Singstimme die melodische Linie auf den Worten „wird leuchten mir bis in das ewig selig Leben“ deklamiert, mit den ersten und zweiten Violinen, den Violen, und den Celli z.T. unisono die Schlussbegleitung und das dreitaktige Nachspiel bestreiten.

  • zärtlich und lieblich anmutende Figuren


    Der Liedtext hat mich lange davon abgehalten das Lied zu mögen, erst Vorträge im Konzertsaal erschlossen mir die Schönheit dieses Liedes.
    Nun lese ich gerade in der Biografie eines Dirigenten, dass die Herren Reger und Strauss der Meinung waren, dass Mahler überhaupt kein Komponist, sondern nur ein großer Dirigent war ...

  • Könntest Du so freundlich sein, lieber hart, mitzuteilen, wo Du auf diese Information gestoßen bist? Ich recherchiere gerade zu diesen Fragen und werde mich noch heute dazu äußern.
    So viel vorweg: Im Falle von Strauss halte ich eine solches Urteil über Mahler für nicht möglich.

  • Ein Geburtstag und Fußball haben die Fortführung meines Beitrags verhindert, aber nur bis heute Abend. Ganz kurz zur Solovioline: sie passt auch aus inhaltlichen Gründen nicht zum "Engelein", weil in der Gnosis dieses Engelein ein "Teufelein", nämlich ein Dämon ist. Das Urlicht selber ist als Lichtfunke in der Seele und das Urlicht bedeutet auch den himmlischen Lichtmenschen, zu dem die vielen Seelen sich dereinst verbinden. Hier wird er "Gott" genannt. Somit haben wir beide Recht. Ich darf noch einmal auf das Janaceksche Violinkonzert, "Seelenwanderung", verweisen, wo der Bezug ja sehr deutlich ist.

    Manchmal ist wenig immer viel! (Thorsten Legat)

  • Fritz Busch »Aus dem Leben eines Musikers« (Seite 167)


    Der Dirigent Fritz Busch und auch sein Bruder Adolf, der Geiger, schätzten Max Reger sehr, waren mit ihm befreundet und musizierten bei Regers Totenfeier.


    Aus dem Buch zitiert:


    »...obwohl stärkere Antipoden nicht denkbar sind als der mystische Reger, voll einer religiösen Profundität, und das erdgebundene Weltkind Strauss ...«
    »Einig waren sich übrigens beide Bajuwaren in ihrer Geringschätzung der Kompositionen Gustav Mahlers, der ich in diesem Maße nicht zustimmen kann. Der Zufall wollte, daß sie mir mit fast genau den gleichen Worten und im gleichen bayrischen Dialekt aussprachen: Sö, Busch, der Mahler, dös is überhaupt gar ka Komponist. Dös is bloß a ganz großer Dirigent.«

  • Danke für diese kurze Notiz, lieber dr. pingel. Ich habe es ja auch gar nicht so verstanden, dass wir in der Deutung des "Urlichts" weit auseinander sind.

  • Ich freue mich, lieber hart, dass Du so prompt geantwortet hast!
    Was die Bemerkung von Fritz Busch anbelangt "Einig waren sich übrigens beide Bajuwaren in ihrer Geringschätzung der Kompositionen Gustav Mahlers", so weiß ich beim besten Willen nicht, wie er darauf gekommen ist. Ich halte das, wie ich schon sagte, nach all dem, was ich jetzt durch nachträgliche Recherchen herausgefunden habe, im Falle von Strauss für ganz unwahrscheinlich. Vielleicht war das eine beiläufige, aber nicht ganz ernst gemeinte Äußerung über Mahler, die nicht Straussens wirkliche Einschätzung von dessen Musik wiedergibt.


    Bei Reger ist es durchaus denkbar, dass er so über Mahler gedacht hat. Er hegte keine sonderlichen Sympathien für Mahler. Immerhin, und das hat die Fachwelt als erstaunlich betrachtet, steuerte er zur „Festschrift“, die zu Mahlers fünfzigstem Geburtstag erschien, ein Notenblatt bei.


    Dass Strauss Mahler nicht als Komponisten geschätzt und geachtet habe, halte ich für völlig ausgeschlossen. Die Fakten und die schriftlichen Zeugnisse, die einen Bezug zur Beziehung zwischen beiden haben, sprechen eine eindeutige Sprache. Es ist ein wesentliches Verdienst von Strauss, dass er die Aufführung der Symphonien Mahlers in den neunziger Jahren gefördert hat. So präsentierte er die ersten drei Sätze der Zweiten Symphonie 1895 in Berlin, und die Vierte Symphonie wurde 1901 in den Novitätenkonzerten von Strauss aufgeführt.


    Natürlich gab es auch Kritik von ihm an Mahlers Werk. So lobte er in einem an Mahler gerichteten Brief dessen Fünfte (die er in der Generalprobe 1905 unter Nikisch erlebt hatte), kritisierte aber das Adagietto. Er meinte ein wenig giftig, dass es Mahler recht geschehe, dass gerade das Adagietto dem Publikum so gut gefallen habe. In einem Brief an Bülow äußerte er sich regelrecht begeistert über den Dirigenten und den Komponisten Gustav Mahler.
    Natürlich gab es zwischen beiden auch Karriere-Rivalitäten. Und nicht nur dass: Zwischen den Beiden lagen im Grunde Welten, was ihre Grundhaltung als Menschen und Komponisten und ihre künstlerischen Intentionen betraf. Aber der gegenseitigen Achtung tat das keinen Abbruch. Der Briefwechsel zwischen beiden lässt das deutlich erkennen. Vor allem der Einsatz Mahlers für eine Aufführung der Salome an der Hofoper (er hatte selbst Bedenken, dass das Werk Anstoß erregen könnte) führte Strauss und Mahler eng zusammen.