"An die ferne Geliebte", Lied 4
Diese Wolken in den Höhen,
Dieser Vöglein munt´rer Zug,
Werden dich, o Huldin, sehen.
Nehmt mich mit im leichten Flug!
Diese Weste werden spielen
Scherzend dir um Wang' und Brust,
In den seid´nen Locken wühlen.
Teilt ich mit euch diese Lust!
Hin zu dir von jenen Hügeln
Emsig dieses Bächlein eilt.
Wird ihr Bild sich in dir spiegeln,
Fließ zurück dann unverweilt!
Dass die Harmonik zu dem As-Dur zurückkehrt, in dem das vorangehende Lied als Grundtonart steht, ist insofern wohl begründet, als das lyrische Ich bei diesen Versen in seiner imaginativen Grundsituation verbleibt, die ferne Geliebte über die Ansprache an naturhafte Wesen und Elemente, Wolken, Vöglein, das Bächlein und den Westwind, erreichen zu können. Und auch das Klavier behält die Begleitung mit triolischen Achtel-Figuren im Diskant fast durchgehend bei. Es sind allerdings dieses Mal vorwiegend solche, die als Auf und Ab angelegt sind, also weniger dynamisch vorwärtsdrängend, sondern eher statisch wirken. Und darin reflektiert der Klaviersatz den lyrischen Sachverhalt, dass das Ich sich nun nicht den mit den Naturbildern in die Ferne schweifenden Gedanken und Gefühlen hingibt, sondern sich in seine Situation gleichsam zurücknimmt und diese reflektiert. Und so liegt der Liedmusik nun auch kein Vierviertel-, sondern ein Sechsachteltakt zugrunde und die Vortragsanweisung lautet: „Nicht zu geschwind, angenehm und mit viel Empfindung“.
Der Klaviersatz bleibt freilich nicht konstant, sondern wandelt sich von Strophe zu Strophe. Damit nutzt Beethoven wieder die Möglichkeit, bei strukturell in allen Strophen identischer Melodik die lyrische Aussage und die sie konstituierenden Bilder in der Liedmusik angemessenen Niederschlag finden zu lassen. So begleitet das Klavier die Worte „Diese Wolken in den Höhen, / Dieser Vöglein munt´rer Zug“ statt mit den ansonsten eingesetzten triolischen Figuren nun mit Trillern, das Bild von den „Wolken“ und den „Vöglein“ in den Höhen klanglich imaginierend. Der Bitte „Nehmt mich mit im leichten Flug“, verleiht das Klavier, da es sich hierbei ja um eine wesentliche, den Willen zum Ausbruch aus seiner Situation bekundende Aussage des lyrischen Ichs handelt, Nachdruck dadurch, dass es die Bewegung der melodischen Linie in Gestalt von Akkorden mitvollzieht.
Die luftige Leichtigkeit des im Zentrum der zweiten Strophe stehenden Bildes („Diese Weste werden spielen…“) reflektiert der Klaviersatz mit einem Zusammenspiel von triolischen Achtelfiguren in Diskant und Bass, und das Wieder-Aufgreifen des Bildes vom Bächlein in der dritten Strophe führt dazu, dass das Klavier im Diskant (im Bass aber zunächst nicht) nun von seinen Triolen ablässt und die melodische Linie mit fließend fallenden und sich zu bitonalen Akkorden erweiternden Achteln begleitet, die diese fließende Bewegung dann in unterer Lage des Diskants mit einem Auf und Ab in Terzen und Sekunden fortsetzen. Und am Schluss, wenn es wieder um Nachdruck geht, weil das lyrische Ich mit den – sogar wiederholten - Worten „fließ zurück dann unverweilt“ erneut eine ihm wichtige Bitte zum Ausdruck bringt, bringt das Klavier wieder akkordisch geprägte Figuren zum Einsatz, die der melodischen Linie teilweise folgen.
Die Melodik ist, wie Beethoven im Rahmen des Strophenlied-Konzeptes dieses Zyklus ja grundsätzlich verfährt, in ihrer Struktur darauf ausgerichtet, die seelische Grundbefindlichkeit des lyrischen Ichs zu reflektieren, aus der heraus es die lyrischen Aussagen in den einzelnen Strophen tätigt. Hier wäre es die Haltung eines gedanklichen und emotionalen Sich-Einfindens in die Situation des Sich-Sehnens nach der Geliebten und des imaginativen Spielens mit den Möglichkeiten, sie in ihrer Ferne wenn nicht wirklich zu erreichen, so doch ansprechen zu können. Und tatsächlich meint man, das in der Melodik dieses Liedes vernehmen zu können. Wieder ist ihr ein schweifender Gestus inne. Bei den ersten beiden Versen entfaltet sie sich durchgehend in Gestalt von syllabisch exakt aufeinanderfolgenden Fallbewegungen über jeweils eine Terz. Auf der Grundlage des Sechsachteltaktes stellt sich dabei geradezu unwiderstehlich der Eindruck eines leicht beschwingten Schwebens ein. Und die Harmonik bestärkt das, indem sie den Raum von Tonika und Ober- und Unterdominante nicht verlässt, vielmehr ebenfalls darin herumschweift.
Aber es ist eine leicht fallende melodische Linie, die sich in diesem deklamatorischen Gestus auf den Worten des ersten Verspaares herausbildet. Der Spitzenton des Terzfalls senkt sich wellenartig seinerseits um eine Terz ab, um am Ende, bei dem Wort „Zug“, einen Sekundsprung zu beschreiben, der die Basis dafür liefert, dass die melodische Linie nun beim dritten Vers in einen direkten, nämlich über Sekundschritte erfolgenden Fall übergeht, der bei den Worten „o Huldin“ zwar noch einmal eine melismatische Unterbrechung in Gestalt einer Kombination aus Quartsprung und Terzfall erfährt, was die melodische Linie aber nicht wirklich daran hindert, ihre abwärts gerichtete Bewegung mit einem über einen Sekundsprung erfolgenden und in As-Dur harmonisierten Quartfall fortzusetzen, den das Klavier mit einer aus Quartsprung und Terzfall gebildeten triolischen Figur kommentiert. Sie mündet in einen siebenstimmigen As-Dur-Akkord, der wie ein Portal für das wirkt, was die Melodik mit den Worten des letzten Verses zu sagen hat, - bei der ersten Strophe beinhalten sie die appellative Bitte: „Nehmt mich mit im leichten Flug“.
Man kann die der Melodik auf den ersten drei Versen innewohnende Tendenz des Fallen-Wollens durchaus als Ausdruck der Grundhaltung des lyrischen Ichs auffassen und verstehen, - dieses Sich-Versenkens in die um die ferne Geliebte kreisenden Gedanken, Emotionen und Bilder. Aber in dieser Grundhaltung gibt es ja auch noch eine gleichsam gegenläufige Komponente: Die des Ausbrechen-Wollens aus der gegenwärtigen existenziellen Situation. Und alle drei letzten Verse bringen sie mehr oder weniger explizit zum Ausdruck. Nicht ohne Grund hat Jeitteles alle mit einem Ausrufezeichen versehen.
Beethoven hat diesen lyrischen Sachverhalt dergestalt liedmusikalisch aufgriffen, dass er die melodische Linie nun zwar erneut eine Fallbewegung beschreiben lässt, dies aber, in Abkehr von ihrem vorangehenden Gestus, in Gestalt einer wellenartigen, also aus dem Fall in einen neuerlichen Aufstieg übergehenden Bewegung, die am Ende dann über einen Quartfall auf dem Grundton „As“ enden darf. Und der Klaviersatz wird dem in allen drei Fällen in der Weise gerecht, dass er nach den jeweils vorangehenden, mehr oder weniger stark filigranen Figuren nun die melodische Linie mit stärker akkordisch geprägten begleitet.
Bei der Wiederholung des letzten Verses in Gestalt der Worte „Fließ zurück dann unverweilt, ja unverweilt!“ setzt die melodische Linie nicht mehr mit einer kleinen Dehnung auf „fließ“ ein, sondern geht unmittelbar in einen Terzfall über und setzt ihre Bewegung in identischer Weise bis zum Wort „unverweilt fort. Allerdings tritt hier schon ein „Sempre più allegro“ in sie, und so wird denn die Tonrepetition auf der Wiederholung von „unverweilt“ in leicht erhöhtem Tempo deklamiert. Die Harmonik hat hier eine geradezu kühne Rückung vom vorangehenden As-Dur nach D-Dur vollzogen, und beim Sekundfall auf der letzten Silbe von „unverweilt“ rückt sie nach G-Dur. Die Überleitung zum fünften Lied ist damit harmonisch vollzogen.