Wir sind heute dank Welte Mignon - in der Lage einige Komponisten des späten 19. Jahrhunderts am Flügel zu hören - und wir werden oft bemerken, daß sich viele nicht an ihre eigenen Tempo- und Dynamikvorschriften hielten. Allerdings scheint das heut niemanden wirklich zu interessieren, denn Tonaufnahmen mit Welte Mignon - Vorsetzen werden offenbar selten verkauft.
Lieber Alfred,
es gibt ja auch nicht so viele CDs mit Welte-Mignon-Aufnahmen - die Spielgeräte waren einst sehr verbreitet und wurden in großen Stückzahlen verkauft! Die wenigen Welte-Mignon- und auch Ampico-CDs (die US-amerikanische Konkurrenz) sind aber bezeichnend fast alle vergriffen. Und, es ist sehr bemerkenswert: Ganz junge, aufstrebende Pianisten hören vor allem ganz alte, historische Aufnahmen!
Wie Sinnvoll ist es Interpretationen zu vergleichen und zu besprechen ?
Du hast Recht. Früher konnte man nur Konzerte vergleichen. Heute hat man die Tonträger. Ich analysiere und vergleiche übrigens auch nicht immer und finde ebenfalls, dass man nicht unbedingt alles erklären muss, was einem gefällt. Nur die Möglichkeit des Interpretationsvergleish gibt einem die Gelegenheit, tiefer in die Musik einzudringen, sie doch zu verstehen suchen. Wenn man Jahrzehnte immer - was ziemlich verrückt ist - dieselben Stücke hört, möchte man doch irgendwann wissen, warum sie einen denn so magisch anziehen. Und durch den Interpretationsvergleich hört man bewusster. Das intensiviert das Erlebnis - was Analyse-Muffel gerne unterschätzen! Interpreten machen es ja fast zwangsläufig!
Wissenschaftliche Analysen ? Sie werden hochgejubelt, solange der Stern des Rezensenten am Zenit steht und anschliessend als subjektive Modeerscheinung abgetan. Siehe Joachim Kaiser, der in den 60er Jahren bemüht war ein modernes zeitgemäßes Abbild des aktuellen Klavierspiels zu bieten um Gerechtigkeit bemüht, aber oft irren (wie er in einem Vorwort der Vielen Auflagen selbstkritisch betont) und allmählich zum Denkmal seiner selbst wurde - und in letzter Konsequenz sogar Gefallen daran fand
Wissenschaftliche Analysen sind erst einmal für die Wissenschaft, würde ich sagen. Das sind keine Musikkritiken, die für den Konzertbesucher geschrieben sind. Kaiser hat damals Maßstäbe gesetzt, was den Anspruch von Musikkritik angeht. Dahinter sollte man nicht mehr zurückfallen.
Man kann Interpretationsvergleiche auf sehr unterschiedliche Arten machen. Ich probiere gerade eine betont unspießige, humoristisch-unterhaltsame Variante aus - die ausdrücklich Klischees ausspricht und aufspießt. Man muss also keine Wissenschaft aus einem Interpretationsvergleich machen. Da finde ich die Orientierung an den Interpreten hilfreich. Interpretationsvergleiche sollten eine Vermittlungsfunktion haben zwischen Sachverstand und der Erlebnissphäre des Musikers und Hörers. Das macht ihren Reiz aus. Das habe ich auch im Eröffnungsbeitrag zu meinem Waldsteinsonaten-Thread ausgeführt.
Ein anderes Beispiel ist mein Liszt-Thread - Ungarische Rhapsodie Nr. 2. Das Stück ist oft als Virtuosennummer verhunzt worden. Hier kann ein Vergleich auf die "Substanz" zielen, um das Stück endlich Ernst zu nehmen, was es verdient.
Schöne Grüße
Holger