Franz Schubert, „Die schöne Müllerin“. Der Liederzyklus als musikalisches Selbstbekenntnis

  • „Am Feierabend“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
    (Vorstellung des Liedes am Ende der vorangehenden Seite)


    Schon in diesem, erst fünften Lied deutet sich das Schicksal des Müllergesellen bereits an. Indem Schubert aus dem zweistrophigen Müller-Text ein dreistrophiges Lied nach dem Schema A-B-A´ macht, geht er weit über dessen lyrische Aussage hinaus. Ein Sechsachteltakt liegt ihm zugrunde, als Grundtonart ist a-Moll vorgegeben, und es soll „ziemlich geschwind“ vorgetragen werden. Wieder setzt die Liedmusik mit einem relativ langen, sieben Takte in Anspruch nehmenden Vorspiel ein. Nach sechs, forte angeschlagenen und von Pausen unterbrochenen Achtelakkordpaaren setzt im Diskant piano eine erst ansteigende und dann in Basstiefe fallende Kette von Sechzehnteln ein, wobei die Harmonik, die bei den Akkorden Rückungen von a-Moll über de-Moll, E-Dur und H-Dur vollzogen, nun im E-Dur-Bereich bleibt um als Dominante den Einsatz der melodischen Linie in a-Moll vorzubereiten.

    Diese beiden Figuren, die als Repetitionen angelegten Achtelakkordpaare und die im Auf und An sich entfaltenden Sechzehntel stellen, neben den ein Schreiten suggerierenden Achtel-Oktavsprüngen im Bass, die man aus den ersten beiden Liedern kennt, die Substanz des nun als Begleitung fungierenden Klaviersatzes dar. Auf klangmalerische Weise verkörpert sich darin das Mühlrad, der im lyrischen Ich fortlebende Geist der Wanderschaft und, wie sich in der zweiten Strophe erweisen wird, der bis zum Rezitativ reichende rhetorisch-deklamatorische Gestus, in den sich die Melodik dieses Liedes steigert.

    In welch großer Nähe zum lyrischen Text sich Schuberts Melodik entfaltet, so dass sich, wie für ihn typisch, ein regelrechter Umschlag von lyrischer Sprache in musikalische Sprache ereignet, wird bei den ersten acht Versen der ersten Strophe vernehmlich. Die melodische Linie bewegt sich darin in lebhafter, von Sprüngen geprägter Bewegung voran, und das in weitreichender, tatsächlich alle diese Verse umfassender Entfaltung.
    Darin greift sie die kurzversig-trochäische Hektik des lyrischen Textes auf. Und der sie dabei begleitende Klaviersatz erweist sich mit seinen Mühlenrad-Sechzehntelfiguren im Diskant und den Achteloktav-Schreitfiguren im Bass als regelrecht vorantreibender musikalischer Faktor.
    Fast ist man versucht zu sagen: Hier, bei Schubert, geht diesem lyrischen Ich ein Mühlrad im Kopf herum. Erst bei den Worten „Daß die schöne Müllerin / Merkte meinen treuen Sinn!“ tritt, auch darin die Prosodie und die Semantik des lyrischen Textes reflektierend, ein kurzes Innehalten in sie.

    Nach einer, nun als solche vernehmlichen, Dreiachtelpause geht die melodische Linie zu einer bei beiden Versen identischen, ruhiger wirkenden, weil sich in oberer Mittellage entfaltenden, dabei größere Sprünge meidenden, am Ende in einen doppelten Terzfall mündenden und ganz und gar im Tongeschlecht Dur ( A-Dur / E-Dur) harmonisierten Bewegung über. Das lyrische Ich ist zum Bekenntnis seines tiefen seelischen Anliegens übergegangen, und deshalb setzt Schubert seine Worte nicht nur in diese Melodik, er wiederholt sie sogar noch und bringt dabei, wie das ja ein Zweck dieses kompositorischen Prinzips bei ihm ist, das Mittel der Variation zum Einsatz.

    Sie ist vielsagend. Nun geht die melodische Linie bei den Worten „daß die schöne Müllerin“ in volltaktiger Deklamation zu einem Sprung erst über eine Quinte über und steigert sich danach über einen weiteren Sprung bis hin zu einem hohen „Fis“, wobei die Harmonik eine Rückung von dem vorangehenden a-Moll nach H-Dur vollzieht. Und aus der noch relativ schlicht anmutenden Fallbewegung auf „treuen Sinn“ wird nun eine, die in langer Dehnung auf dem Wort „treuen“ einen ganzen Takt in Anspruch nimmt und mit einem Sekundfall in einer Dehnung bei „Sinn“ endet.
    Schubert stellt, darin über Müller weit hinausgehend, dieses lyrische Ich als einen Menschen dar, für den es mehr als ein Herzensanliegen ist, sein „treues Wesen“ zu bekunden: Es ist eines von existenzieller Bedeutung.

    Weil dieses lyrische Ich, so wie Schubert es sieht, seine Wanderer-Existenz hinter sich lassen und einen Ort der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft und der existenziellen Erfüllung in der Liebe finden will, wird den Klagerufen, wie sie sich in den ersten vier Versen der zweiten Strophe ereignen, liedmusikalisch ein deutlich stärkeres Gewicht verliehen, als sie es lyrisch-sprachlich bei Müller aufweisen. In ihnen drückt sich die Erkenntnis aus, dass dem lyrischen Ich die physischen Voraussetzungen dafür fehlen, in der Betätigung als Müller-Geselle aus der Schar der einfachen Knappen herausragen und auf diese Weise die „schöne Müllerin“ beeindrucken und sich ihrer Liebe als würdig erweisen zu können. Also legt Schubert auf diese vier Verse eine Liedmusik, die eine hohe Expressivität aufweist.

    Dazu werden mehrere liedkompositorische Mittel eingesetzt:
    --- Eine Melodik, die nach dem ersten Vers in eine sich ohne weitere Pause ereignende Entfaltung übergeht, in der sie durch die wie insistierend wirkende Wiederholung von deklamatorischen Figuren eine hohe Eindringlichkeit aufweist;
    --- einen sie begleitender Klaviersatz, der aus einer von Achtelpausen unterbrochenen Folge von Diskant und Bass übergreifenden repetierenden Achtelakkord-Paaren besteht, die statt des treibenden Fließens des Mühlenrad-Motivs und der Oktav-Schritte nun regelrecht statisch anmuten und auf diese Weise die Aussage der melodischen Linie mit starken Akzenten versehen;
    --- und eine Harmonik, die sich zunächst im Bereich der Dur-Parallele der Grundtonart, C-Dur also, bewegt, dann aber, um die Schmerzlichkeit der Klage zum Ausdruck zu bringen, vom dritten Vers an immer wieder ins Tongeschlecht Moll (a-Moll und d-Moll) ausbricht.

    Die melodische Linie selbst verleiht der lyrischen Aussage dadurch starken Nachdruck, dass sie bei den Worten „was ich hebe, was ich trage“ erst zweimal die gleiche Anstiegsbewegung über eine Quinte und eine Terz beschreibt, dann bei „was ich schneide, was ich schlage“ zu einer wellenartigen Bewegung in oberer Mittellage übergeht, um dann – und dies in Wiederholung des lyrischen Textes – bei „jeder Knappe tut mir´s nach“ eine partiell repetierende Folge von Sprung- und Fallbewegungen über große Intervalle (Sexten, Quinten und Quarten) zu beschreiben. Den Worten „tut mir´s nach“ wird dabei in der Wiederholung dadurch ein abschließender Nachdruck verliehen, dass aus der anfänglichen, in a-Moll mit Rückung nach E-Dur harmonisierten Kombination aus Quartfall und Sekundsprung nun eine aus in höherer Lage ansetzende aus Quintfall und Sekundsprung wird, die in einer Rückung von G-Dur nach C-Dur harmonisiert ist.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Am Feierabend“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Mit dem fünften Vers der zweiten Strophe geht das lyrische Ich aus dem Klage-Gestus zu dem des Berichterstatters über. Darin nimmt es eine sich von der eigenen existenziellen Befindlichkeit distanzierende Haltung ein, was sich lyrisch-sprachlich darin niederschlägt, dass das Personalpronomen „ich“ nur noch einmal, nämlich im einleitenden Vers „Und da sitz' ich in der großen Runde“ auftaucht. Dieser semantische und auch prosodische Umschlag in der Lyrik führt auch zu einem solchen in der Liedmusik, und dies auf noch stärker ausgeprägte und damit aussagekräftigere, den lyrischen Text in seiner Semantik vertiefend erschließende Art und Weise.

    Nun treten nach der weit ausgreifend angelegten Phrasierung der Melodik in der ersten Gedichtstrophe und den ersten vier Versen der zweiten mit einem Mal lange Pausen in sie, um die Aussage der einzelnen Verse in ihrem deskriptiven Gehalt zur Wirkung kommen zu lassen. Die melodische Linie entfaltet sich in ruhigen, stark von Tonrepetitionen geprägten deklamatorischen Schritten, wobei sie das Klavier darin in der Weise unterstützt, dass es im Diskant mit Figuren aus lang gehaltenen bitonalen Akkorden und daraus hervorgehenden Achteln und Sechzehnteln begleitet, denen im Bass schlichte Oktaven mit nachfolgenden Vierteln zugordnet sind.

    Das alles gilt bis hin zu den Worten „Und der Meister spricht zu allen…“. Mit ihnen kommt wieder ein neuer Ton in diese darin so reiche Liedmusik: Ein eminent rezitativischer, von generalbassartiger Begleitung getragener, bei dem die Harmonik entsprechend eindeutige und klare Rückungen von einem als Tonika fungierenden F-Dur zur in Septimakkord-Variante auftretenden Dominante beschreibt. Auf diese Weise fängt Schubert die Szene des den Arbeitstag beschließenden Beisammenseins der die Mühle bewohnenden und in ihr arbeitenden Menschen ein, in die das lyrische Ich nun geraten ist und die es – die einzige Spur von Subjektivität, die Müller hier einfließen lässt – als „kühle Feierstunde“ erfährt und erlebt.

    Schubert geht da schon ein wenig weiter, und das mit Blick auf die von ihm hinzufügte und gleichsam das hier noch verdrängte Seelenleben des lyrischen Ichs voll zum Ausdruck bringende dritte Strophe. Schließlich kommt in den beiden letzten Versen auch das „liebe Mädchen“ zu Wort. Müller lässt das lyrische Ich auch hier seine Haltung lyrisch-sprachlichen Berichtens beibehalten.
    Nicht so Schubert. Während die melodische Linie auf den Worten „Und der Meister spricht zu allen: Euer Werk hat mir gefallen“ in rezitativischem und vom Klavier mit den ganzen Takt ausfüllenden Akkorden begleitetem Gestus aus einer sechsfachen Tonrepetition auf der Ebene eines „F“ in tiefer Lage in ein sich wiederholendes Auf und Ab über Terz- und Sekundintervalle übergeht, das am Ende, und das ja gleich zwei Mal, bei „gefallen“ in einen im tiefsten Ton des Liedes (einem „C“) endenden Quartfall mündet, setzt sie bei den Worten „und das Mädchen sagt“ mit einer Tonrepetition auf der Ebene eine „C“ in oberer Mittellage ein, die mit einer Rückung nach B-Dur, der Tonart der Liebe in diesem Lied, einhergeht.

    Und dann schwingt sie sich, und das sogar zweimal, auf geradezu emphatische, aber im Ton zugleich liebliche Weise in hohe Lage empor. Auf den Worten „allen eine gute Nacht“ beschreibt die melodische Linie eine gestaffelte Fallbewegung, die bei „allen“ erst auf einem gedehnten hohen „G“ einsetzt und sich nach einem Terzsprung bei „gute“ auf einem „F“, also eine Sekunde tiefer, fortsetzt.
    Dabei ereignet sich liedmusikalisch Bemerkenswertes. Das Wort „allen“ erfährt allein schon durch die melodische Dehnung in hoher Lage eine markante Hervorhebung. Harmonisiert ist sie mit einem Dominantseptakkord in der Tonart „C“, der auf der nachfolgenden Fallbewegung eine harmonische Rückung nach d-Moll über die Zwischenstufe A-Dur nachfolgt.


    Darin drückt sich aus, dass das lyrische Ich den Vorgang ambivalent erfährt: Einerseits positiv, andererseits aber auch als schmerzlich, weil es in diesen „allen“ gleichsam untergeht, für das Mädchen also keine Sonderstellung einnimmt. In der Wiederholung erfährt diese Schmerzlichkeit suggerierende harmonische Komponente sogar noch eine Verstärkung. Nun geht ein in der Pause angeschlagener Es-Dur-Akkord durch eine Legato-Rückung in diesen aus den Tönen „G-B-E“ gebildeten Akkord auf der „allen“-Dehnung über. Die Wirkung ist, obgleich dieser Akkord als solcher kein dissonanter ist, gleichwohl die einer Dissonanz.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Am Feierabend“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Mit kompositorisch höchst subtilen Mitteln interpretiert Schubert hier, darin sein Verständnis der seelischen Befindlichkeit des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringend, Müllers lyrischen Text. Das reicht ihm aber noch nicht, diesen Müller-Gesellen an dieser Stelle des Liederzyklus musikalisch so zu konkretisieren, wie das im Hinblick auf das Ende und damit die musikalische Gesamtaussage erforderlich ist: Als ein Mensch, der schon in den Anfängen seines Versuchs, einen Ort existenzieller Heimat in Gestalt von liebeerfüllter Zugehörigkeit zu einer Mühlen-Lebenswelt zu finden, die Erfahrung macht, dass er darin vermutlich scheitern wird. Also muss er seiner Musik auf Müllers zwei Gedichtstrophen noch eine dritte hinzufügen, in der eben dieses hinreichend zum Ausdruck kommt. Und das geschieht auf eine durchaus kunstvolle Weise: Durch eine identische Wiederholung der ganz und gar vom konjunktivisch-sehnlichen „Könnt´ich“ geprägten Liedmusik der ersten Strophe, die dann aber beim letzten Verspaar eine markante, eben diese Erfahrung in der „kühlen Feierstunde“ reflektierende Variation umschlägt.

    Bei den Worten „daß die schöne Müllerin“ geht die melodische Linie nun in eine zweifache, in der tonalen Ebene bei zweiten Mal auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene ansetzende und mit einer Rückung von a-Moll nach G-Dur verbundene Fallbewegung über, die einen deutlich höheren affektiven Gehalt aufweist, als dies in der ersten Strophe der Fall war. Das setzt sich in der Melodik auf den Worten „merkte meinen treuen Sinn“ fort und steigert sich noch in der Wiederholung der beiden Verse. Bei den Worten „merkte meinen treuen Sinn“ wird das Wort „meinen“ mit einem Umschlag der vorangehenden Fallbewegung in einen Anstieg wiederholt und die melodische Linie geht danach bei „treuen Sinn“ in eine so starke Dehnung in hoher Lage mit sich anschließendem vermindertem Sextfall und Sekundanstieg über, dass diese Bewegung den Takt übergreift und der zu einem „A“ in mittlerer Lage führende Sekundsprung auf „Sinn“ in den nachfolgenden Takt führt. Harmonisiert ist sie in a-Moll mit kurzer Zwischenrückung in die Dominante E-Dur, und all das lässt vernehmen, wie viel Seele das lyrische Ich hier in die Artikulation dieses Wunsches legt.

    Bei der Wiederholung liegt auf den Worten „treuen Sinn“ zwar die gleiche extrem gedehnte melodische Bewegung, den vorangehenden Worten wird aber stärkerer Nachdruck dadurch verliehen, dass die melodische Linie bei „daß die“ nun in auftaktiger Deklamation mit einem Sekundfall von einem Viertel zu einem Achtel einsetzt und bei „merkte meinen“ einen auf einem hohen „G“ ansetzenden Fall in Sekundschritten beschreibt, der dem nachfolgenden Sekundanstieg auf der Wiederholung von „meinen“ eine gesteigerte Ausdruckskraft verleiht. Hinzu kommt, dass das Klavier, das bei ersten Mal mit seinen bogenförmigen Mühlrad-Sechzehnteln im Diskant in den Oktavschritten im Bass begleitete, nun mit einem markanten Auf und Ab von Sechzehnteln im Diskant und einer ansteigenden und wieder fallenden Folge von Oktaven begleitet.

    Das ist Schubert aber immer noch nicht genug, um die Seelenlage des lyrischen Ichs nach dessen Erfahrung der „kühlen Feierstunde“ vollumfänglich musikalisch auszuloten. Also lässt er, unterbrochen von mehr als eintaktigen und Pausen gerahmt von den darin erklingenden und sich ins Forte steigernden Mühlenrad-Figuren, die Worte „daß die schöne Müllerin“ und „merkte meinen treuen Sinn“ noch einmal deklamieren. Und dies auf einer nun ganz und gar in Sekundschritten fallend angelegten Bewegung, die vom Klavier mit lang gehaltenen, sogar zwei Takte einnehmenden Akkorden begleitet wird, die eine harmonische Rückung von der Dominantseptversion der Tonart „E“ nach a-Moll beschreiben. Und weil dem nicht genug ist an melodischem Ausdruck von aus Hoffen und Zweifeln hervorgehender Melancholie, setzt das Klavier diesen Fall im viertaktigen Nachspiel mit Vierteln bis in tiefe Basslage fort.

    Am Ende erklingen, forte angeschlagen und zwei Takte beanspruchend, dieses aber keineswegs ausfüllend, erst ein Dominantseptakkord in „E“ und dann ein sechsstimmiger a-Moll-Akkord.
    Ausdruck von trotzigem Dennoch? Dagegen spricht das a-Moll ganz am Ende. Eher bringt das Klavier hier auf heftige Weise den seelischen Schmerz eines Menschen zum Ausdruck, der fürchtet, dass sein Wunsch, die Müllerin möge ihn in seinen liebevollen Gefühlen wahrnehmen und sie erwidern, nicht in Erfüllung gehen könnte.

  • Lied 6: „Der Neugierige“

    Ich frage keine Blume,
    Ich frage keinen Stern,
    Sie können mir alle nicht sagen,
    Was ich erführ' so gern.

    Ich bin ja auch kein Gärtner,
    Die Sterne stehn zu hoch;
    Mein Bächlein will ich fragen,
    Ob mich mein Herz belog.

    O Bächlein meiner Liebe,
    Wie bist du heut so stumm!
    Will ja nur Eines wissen,
    Ein Wörtchen um und um.

    Ja, heißt das eine Wörtchen,
    Das andre heißet Nein,
    Die beiden Wörtchen schließen
    Die ganze Welt mir ein.

    O Bächlein meiner Liebe,
    Was bist du wunderlich!
    Will's ja nicht weitersagen,
    Sag', Bächlein, liebt sie mich?

    Die fünf metrisch nicht ganz regelmäßig angelegten Verse (nicht durchgehaltener, weil daktylisch durchsetzter Jambus) laufen auf die zwar ganz am Ende, aber doch im Zentrum der lyrischen Aussage stehende Frage zu: „Liebt sie mich?“. Im Narrativ des Zyklus klafft hier eine Lücke, denn dies ist nach der Aussage des vorangehenden Gedichts „Am Feierabend“ vom lyrischen Ich eigentlich nicht zu erwarten.

    Bezeichnenderweise richtet er sie in der Einsamkeit seiner wesenhaft monologischen Existenz an das „Bächlein“, das ihm bislang noch nie eine Antwort auf seine Fragen gegeben hat und es auch in diesem Fall nicht tut. Der Vorwurf „Wie bist du heut so stumm“ lässt in geradezu bedrückender Weise eben dieses Zurückgeworfen-Sein des lyrischen Ichs auf sich selbst erkennen: „Stumm“ ist das „Bächlein“ bislang immer geblieben, nicht erst „heut“.

    Vom sprachlichen Verhalten des lyrischen Ichs her ist das Gedicht zweigliedrig angelegt: Auf die beiden ersten, sich in monologisch an sich selbst richtender Sprachlichkeit ergehenden Strophen folgen die drei restlichen, in denen das lyrische Ich in den an das „Bächlein“ gerichteten Anrede-Gestus verfällt, wobei die vierte Strophe eine Sonderstellung insofern einnimmt, als sie im sprachlichen Gestus eine Ambivalenz zwischen Monolog und Anrede einnimmt.

    Das alles, die innere Unruhe reflektierende prosodische Unregelmäßigkeit, die Zweigliedrigkeit im sprachlichen Gestus und die diesbezügliche Ambivalenz der vierten Strophe schlägt sich nicht nur in Schuberts Liedmusik nieder, es erfährt in ihr sogar noch eine Potenzierung, und dies in der – ja dem ganzen Zyklus zugrundeliegenden - liedkompositorischen Absicht, die Komplexität der existenziellen Situation des lyrischen Ichs in allen ihren Dimensionen zu erfassen und den Menschen musikalisch manifest werden zu lassen, den Schubert aus den Versen Müllers herausgelesen hat: Den in seiner Suche nach liebeerfüllter Heimat zum Scheitern verurteilten Wanderer.

    Tatsächlich präsentiert sich die Musik dieses Liedes als eine faktisch zweiteilige Komposition, bei der über eine markante Pause nach der zweiten Gedichtstrophe auf eine in der Melodik eher rhetorisch-deklamatorisch geprägte Liedmusik eine folgt, die in hohem Grad lyrisch angelegt ist. Und nicht nur darin reflektiert sie die dem lyrischen Text immanente Zweigliedrigkeit, sie hebt auch Singularität der vierten Strophe dadurch hervor, dass sie in einen rezitativischen Gestus verfällt, der mit einem Verlassen des dem zweiten Lied-Teil zugrundeliegenden Dreivierteltakts einhergeht, ja mit einer regelrechten Destruktion desselben.

    Auch das zugrundeliegende Metrum und die Vortragsanweisungen unterscheiden sich. Dem ersten Teil liegt ein Zweivierteltakt zugrunde, und hier soll die Liedmusik „langsam“ vorgetragen werden. Mit den Worten „O Bächlein meiner Liebe“ entfaltet sich die Melodik, um ihren – in diesem Zyklus wahrlich singulären – lyrischen Zauber entfalten zu können, auf der Grundlage eines Dreivierteltakts, und die Vortragsanweisung lautet nun, ganz dementsprechend, „sehr langsam“. Schließlich heben sich die beiden Teile auch im Klaviersatz voneinander ab: Auf einen, der in seiner klanglich wie hingetupft wirkenden Anlage wie Lautenbegleitung anmutet, folgt einer, der von fließend aufeinanderfolgenden Sechzehntel-Quartolen im Diskant geprägt ist.

    So stellt sich diese Liedkomposition in ihrer Grundanlage dar und reflektiert darin auf viel stärker und differenzierter ausgeprägte Weise die mit dem Titel „Der Neugierige“ eigentlich sprachlich unzulänglich erfasste Fragehaltung des lyrischen Ichs in ihrer existenziellen Relevanz.


    Da ist keiner „neugierig“, da ringt einer um eine Antwort auf eine Frage, bei der das potentielle „Ja“ oder „Nein“ für ihn die „ganze Welt einschließt“. Und weil sie an das einzige Wesen gerichtet ist, das dieses Ich auf seinem bisherigen Weg begleitet und in seiner Einsamkeit als einziger Gesprächspartner infrage kommt, das „Bächlein“ nämlich, verfällt es, so wie Schubert es in seinem Wesen versteht, nach der einleitenden monologischen Selbstreflexion in einen Anrede-Gestus von geradezu schmeichelnd-lieblicher Melodik, der mit den Worten der vierten Strophe wie in einer Art Erschrecken über die real-mögliche Antwort unterbrochen wird, sich dann aber in denen letzten Strophe fortsetzt, um freilich in der Offenheit, eben diese Antwort betreffend, zu enden.


  • Lieber Helmut Hofmann, ich bin froh das du für dieses Lied, eines meiner liebsten aus der Müllerin, gerade Ian Bostridge ausgewählt hast und dazu noch die zweite Aufnahme von 2003 mit Mitsuko Uchida (die ich pers.sehr gut kenne), die erste entstand 1995.

    Was mir besonders gut gefällt wie Bostridge die letzte Strophe interpretiert, dieses zartliche fast flüstern damit es ja sonst keiner mitbekommt und er nur leicht die Stimme hebt bei, "sag, Bächlein, liebt sie mich?".


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • . . . ich bin froh das du für dieses Lied, eines meiner liebsten aus der Müllerin, gerade Ian Bostridge ausgewählt hast und dazu noch die zweite Aufnahme von 2003 mit Mitsuko Uchida (die ich pers.sehr gut kenne), die erste entstand 1995.

    Was mir besonders gut gefällt wie Bostridge die letzte Strophe interpretiert, dieses zartliche fast flüstern damit es ja sonst keiner mitbekommt und er nur leicht die Stimme hebt bei, "sag, Bächlein, liebt sie mich?".

    Ich höre mir immer, bevor ich einen Link herstelle, alle bei YouTube verfügbaren Aufnahmen an und wähle dann die aus, in der ich auf markanteste Weise das gesanglich zum Ausdruck gebracht vernehme, was ich in der Liedbesprechung hinsichtlich der Faktur der Liedmusik und ihrer Aussage ausgeführt habe.

    Das war in diesem Fall die Aufnahme mit Ian Bostridge.

    Sie hat mich - das gebe ich gerne zu - sehr stark beeindruckt. Da fand ich auf vollkommenste Weise meinen Müllergesellen vor, so wie ich ihn hier auf der Grundlage von Schuberts Liedmusik, und diese dabei natürlich auch interpretierend, beschreibe (und inzwischen regelrecht liebgewonnen habe).

  • Ich hoffe, ich werde jetzt nicht gelyncht, aber ich werde mit der Interpretation von Ian Bostridge leider nicht warm. Die richtigen Gründe dafür kann ich nicht benennen. Mir gehen andere Interpretationen direkt ins Herz, so von Walther Ludwig, Fritz Wunderlich, Peter Schreier (meine Erstbegegnungen mit den Schubert – Liedern, an denen hängt man eben). Auch das hier eingesgtellte Beispiel von Fischer-Dieskau sagt mir mehr zu. Aber wie gesagt, der Eindruck von Stimmen und Interpretationen ist eben doch sehr subjektiv. Ich freue mich auf die weiter folgenden Beiträge von dir, lieber Helmut Hofmann.


    Mit besten Grüßen

    Ramona1956

  • Ich hoffe, ich werde jetzt nicht gelyncht, aber ich werde mit der Interpretation von Ian Bostridge leider nicht warm.

    Um Himmels willen! Wo wären wir denn hier, wenn ein Tamino-Mitglied wegen seines Urteils über einen Sänger oder einer Sängerin "gelyncht" würde. Du räumst ja selbst ein, liebe Ramona, dass "der Eindruck von Stimmen und Interpretationen eben doch sehr subjektiv" ist.

    Ich selbst habe mich früher an anderer Stelle höchst kritisch über die gesangliche Interpretation von Ian Bostridge geäußert. Zu seiner Interpretation des Winterreise-Liedes "Die Nebensonnen" meinte ich einmal:

    Das, was Schubert mit diesem Lied sagen will, spricht sich in der Struktur der Gesangsmelodie in ihrer Einheit mit Text und Klavierbegleitung aus. Der Sänger muss nur diesem unabwendbaren, die Umkehr ausschließenden "Herbsteigen" folgen und auf diese Weise die musikalische Struktur zum Sprechen bringen.
    Besondere Akzentuierungen von Teilen des Textes sind nicht nur überflüssig, sie stören sogar diesen von Schubert gewollten "Effekt" des weiterschreitenden Sagens.

    Genau diesen Fehler macht aber Bostridge. Schon bei den ersten Takten seiner Interpretation fällt das starke Vibrato in der Stimme und der larmoyante Grundton auf, der das ganze Lied hindurch beibehalten wird. Bei einzelnen Wörtern wird viel zu stark akzentuiert: "weg(!) von mir", "seid(!) ihr nicht", "Ja neulich(!) hat ich".
    Bei "Nun sind hinab die besten zwei" versinkt die Stimme in eine Art weinerliche Fast-Tonlosigkeit. (Beim Video übrigens noch stärker ausgeprägt!).
    Vom ersten bis zum letzten Ton ist die Interpretation in einem sentimentalen, regelrecht larmoyanten Ton gehalten. Damit wird der musikalischen Struktur etwas aufgepfropft, was nicht nur überflüssig ist, sondern diese sogar in ihrer Aussage stört und verfremdet.

    Inzwischen sehe ich die Art und Weise, wie Bostridge Liedmusik gesanglich darstellt, ein wenig differenzierter. Und im Fall dieses Liedes "Der Neugierige" lag tatsächlich ein Fall von Beeindruckt-Sein vor.


    Aber nun möchte ich mit diesen Äußerungen nicht Anlass geben, den Aspekt "Gesangliche Interpretation der Schönen Müllerin" in diesen Thread hereinzuholen. Das läge weitab von seiner Zielsetzung und würde ihn sprengen.

  • Lieber Helmut Hofmann,

    als eifriger Leser deiner fundierten Liedbeschreibungen will ich dir einfach mal DANKE sagen. Dein Fleiß, deine Leidenschaft fürs Lied und deine Sachkenntnis, gepaart mit einer äußerst angenehm zu lesenden Schreibweise ist etwas Einmaliges. :hail:

    Freundliche Grüße Siegfried

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  • „Der Neugierige“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Kann man das viertaktige Vorspiel, bei dem es sich um ein ansonsten nicht mehr auftauchendes und deshalb als ein solches zu rezipierendes und zu wertendes musikalisches Einzelgebilde handelt, als programmatischen Einblick in die Seelenlage dieses lyrischen Ichs auffassen und verstehen?
    Das ist sehr wohl möglich. Aufsteigende Achtel und Sechzehntel münden, dabei eine harmonische Rückung von H-Dur zu einem als Dominante auftretenden verminderten „Gis“ beschreibend, in einen von einer Viertelpause gefolgten und wie eine Frage wirkenden fünfstimmigen Viertelakkord, und dann folgt eine in hohe Lage aufgreifende, wieder fallende und in Fis-Dur harmonisierte Figur aus Achteln, Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln nach, die in einen H-Dur-Akkord, die Grundtonart dieses Liedes, mündet und darin wie ein Antwort wirkt.

    Die Melodik der ersten beiden Strophen reflektiert in ihrer von kurzschrittigen, immer wieder zu bogenförmigen und partiell repetierenden Bewegungen geprägten Anlage die monologisch zum Ausdruck gebrachte Grundhaltung des lyrischen Ichs. Und weil es die auf das an das „Bächlein“ gerichtete Frage ist, wie es die beiden letzten Verse der zweiten Strophe zum Ausdruck bringen, wirkt diese Melodik so, als wäre sie ganz und gar auf eben diese Worte ausgerichtet. Sie wiederholt sich ja auf den beiden ersten Versen der zweiten Strophe in unveränderter Weise, und das Klavier begleitet sie darin mit seiner klanglich äußerst sparsamen und darin wie lautenmäßig angeschlagen wirkenden Folge von Einzeltönen im Bass und bitonalen Akkorden im Diskant, wobei die Harmonik Rückungen von der Tonika H-Dur zur Dominante Fis-Dur beschreibt. Nur bei den Worten „was ich erführ so gern“ geht die melodische Linie, den affektiven Gehalt dieser Worte aufgreifend, in eine in hoher Lage ansetzenden und sich über eine ganze Oktave erstreckenden Fall über, das Klavier begleitet nun, abweichend von seiner bisherigen Verfahrensweise mit einer Folge von vier Achtelakkorden, und die Harmonik geht in Fis-Dur mit Zwischenrückung nach Cis Dur über.

    Bei den Worten „mein Bächlein will ich fragen“ ist aber Ende mit Wiederholung in der Melodik. Der lyrische Perspektivwechsel wird mit ihnen eingeleitet, und dementsprechend geht die melodische Linie zu expressiveren und mit einer in den Bereich von Fis-Dur übergehenden Harmonisierung verbundenen Bewegungen über: Das Wort „Bächlein“ wird durch eine in Cis-Dur harmonisierte Kombination aus vermindertem Septfall und –sprung mit einem markanten melodisch Akzent versehen, und der hohe affektive Gehalt der Worte „ob mich mein Herz belog“ findet darin Ausdruck, dass die melodische Linie, nun in Fis-Dur mit Zwischenrückung nach gis-Moll harmonisiert, hier einen wieder mit einem Septsprung einsetzenden Fall in Sekund- und Terzschritten über eine ganze Oktave beschreibt.

    Es folgt ein zweitaktiges Zwischenspiel in dem Sechzehntel-Quartolen mit einem Oktavsprung aus mittlerer in hohe tonale Lage aufsteigen und danach in eine Fallbewegung übergehen, die eine Wiederkehr jener darstellt, die die melodische Linie auf den Worten „mich mein Herz belog“ gerade beschrieben hat. Allerdings keine vollständige: Der Sekundfall auf der zweiten Silbe von „belog“ fehlt hier. Das Klavier hält in seinem, in Rückung von E-Dur über H-Dur nach Fis-Dur harmonisierten Sechzehntel-Fall auf der Quinte zur Tonika des als Dominante fungierenden Fis-Dur inne. Die nachfolgende eintaktige Pause, in der die Singstimme dann auftaktig einsetzt, mutet deshalb als eine eminent emphatische an, und sie verleiht auf diese Weise gleichsam vorab dem, was liedmusikalisch nachfolgt, eine große Bedeutsamkeit.

    Und diesen damit gesetzten Anspruch löst sie auch ein. Mit den einleitenden Worten „O Bächlein meiner Liebe, wie bist du heut so stumm“ setzt eine Melodik ein, die in ihrer weit ausgreifenden Phrasierung und ihrer ruhigen, sich auf sanfte Weise Aufgipfelungen hingebenden Entfaltung einen Zauber an Lieblichkeit entfaltet, wie er sich in diesem Zyklus nicht noch einmal ereignet.

    Die Ruhe, die sie ausströmt, geht aus den vielen Dehnungen hervor, denen sie sich in mittlerer tonaler Lage überlässt. Nicht nur dass sie auf den für das lyrische Ich so bedeutsamen Worten „Bächlein“ (eine gedehnte Tonrepetition) und „Liebe“ (ein gedehnter Terzfall mit Sekundanstieg) liegen, selbst das Verb „bist“ trägt eine solche, und die das lyrische Ich so bedrückende Erfahrung der Stummheit des Bächleins erfährt geradezu berührenden Ausdruck dadurch, dass die melodische Linie, in ihrer Harmonisierung nun mit einem Mal von H-Dur in h-Moll verfallend, nach dieser Dehnung auf „bist“ auf den Worten „heut so stumm“ mit einem Terzsprung in einen gedehnten triolischen Fall aus hoher Lage übergeht, der in eine lange Dehnung auf einem „Cis“ mündet, das in der Dominante harmonisiert ist.

    Das Klavier begleitet diese „sehr langsam“ vorzutragende Melodik mit einer Folge von als Auf und Ab angelegten Sechzehntel-Quartolen im Diskant und taktlang gehaltenen dreistimmigen Akkorden im Bass, und die Harmonik entfaltet sich im Bereich der Tonika H-Dur und ihrer Dominante Fis-Dur, - wenn sich affektiv nichts Tiefgreifendes ereignet. Das ist bei der Erfahrung der Stummheit des Bächleins der Fall, und es ereignet sich noch einmal bei den auf die zentrale Frage Bezug nehmenden und deshalb von Schubert wiederholten Worten „ein Wörtchen um und um“.

    Hier lässt die melodische Linie von ihrem Gestus der ruhigen Entfaltung in mittlerer tonaler Lage ab und geht in eine auf einem hohen Fis ansetzenden Fall über, bei dem die Harmonik eine expressive Rückung von der Subdominante E-Dur zur Dominante Fis-Dur beschreibt. Die Dehnung in hoher Fis-Lage auf dem Wort „ein“ ist mit einem Portamento versehen, wird vom Klavier mit einer durch einen verminderten Sekundanstieg harmonisch gebrochenen Quartole begleitet und erhält auf diese Weise einen starken musikalischen Akzent. Bei der Wiederholung beschreibt die melodische Linie diese Bewegung zwar noch einmal, nun aber mit einem Achtel-Vorschlag vor der Fallbewegung auf „ein Wörtchen“. Und vor allem ist nun die Dehnung auf „ein“ in fis-Moll gebettet.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Der Neugierige“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Mit den Worten der vierten Strophe ereignet sich eine sie liedmusikalisch auf markante Weise exponierende Irritation im Bereich von Metrik, Melodik, Klaviersatz und Harmonik. Eingeleitet wird sie durch eine nach dem Quartolenanstieg in der langen Pause am Ende der melodischen Linie auf der Wiederholung des letzten Verses der dritten Strophe verspätet einsetzende Melodik auf dem ersten Vers der vierten.

    Das Klavier schlägt einen lang gehaltenen Fis-Dur-Akkord an, aber das hohe „Fis“ auf dem Wort „Ja“ erklingt erst nach einer Viertelpause. Und nun geht die melodische Linie, ganz und gar abweichend vom bisherigen Gestus ihrer Entfaltung und in geradezu schroffem Kontrast zur der so ausgeprägt lyrischen in der dritten Strophe in einen deklamatorischen Rezitativ-Gestus über:
    Ein Auf und uns Ab in Sechzehntel-Sekundschritten bei den Worten „heißt das eine Wörtchen“, eine Achtelpause, und dann eine in verminderte Cis-Harmonik gebettete Sechzehntel-Tonrepetition auf den Worten „das andre heißet“, der ein großer und in eine Dehnung mündender Sekundsprung bei dem Wort „Nein“ nachfolgt, der dieses mit einem starken Akzent versieht. Und er erfährt eine große Steigerung dadurch, dass die Harmonik an dieser Stelle die geradezu schroffe Rückung aus der verminderten Cis-Harmonik nach einem an dieser Stelle auf markante Weise rein anmutenden G-Dur vollzieht. Der Dreivierteltakt bleibt in dieser rezitativischen Phase der Liedmusik stillgelegt.

    Mit diesem – von ihm in all seinen Kompositionen immer wieder einmal eingesetzten – Prinzip des Bruchs in der musikalischen Grundstruktur hat Schubert die hohe existenzielle Relevanz der erst am Ende der letzten Strophe lyrisch artikulierten Frage „liebt sie mich?“ auf liedmusikalisch höchst beeindruckende Weise zum Ausdruck gebracht. Mit den Worten „Die beiden Wörtchen schließen die ganze Welt mir ein“ will die Liedmusik zwar wieder zum Gestus ihrer Entfaltung in den dieser vierten vorangehenden Strophe übergehen. Das gelingt ihr aber nicht ganz. Zu mächtig wirkt ihr expressiver Ausbruch in das Rezitativ nach.

    Die melodische Linie geht zu deklamatorisch markanter Entfaltung in Gestalt einer wellenartigen Bewegung in hoher Lage über, die sich am Ende zum Grundton „G“ absenkt, und sie wird in diesem Gestus durch jeden Schritt akzentuierende sechsstimmige Akkorde begleitet, wobei die Harmonik permanente Rückungen von G-Dur nach C-Dur beschreibt. Bei der Wiederholung dieser Worte erfolgt eine Steigerung dieser für das lyrische Ich so bedeutsamen Aussage dadurch, dass die melodische Linie nun bei „Wörtchen“ keinen einfachen Sekundfall in hoher Lage, sondern stattdessen eine um eine Sekunde höher ansetzende Kombination aus Sechzehntel- und Achtel-Sekundfall vollzieht und sich bei „schließen“ kein Sekundanstieg, sondern einer über eine große Terz ereignet.


    Bei den Worten der letzten Strophe findet die Melodik aber wieder voll und ganz zu dem zarten und lieblichen Ton zurück, den sie in der dritten Strophe angeschlagen hat. Schließlich kehrt das lyrische Ich ja nach dieser selbstreflexiven Phase zur unmittelbaren Ansprache an sein „liebes Bächlein“ zurück. Eingeleitet wird das durch eine Wiederkehr der im Auf und Ab sich entfaltenden Sechzehntelfiguren im Diskant, die in Gestalt einer Modulation über den Quartsextakkord einen harmonischen Übergang vom vorangehenden G-Dur nach H-Dur vollziehen.

    Bis einschließlich des dritten Verses erklingt die melodische Linie in identischer Gestalt und Harmonisierung, und auch mit dem gleichen Klaviersatz begleitet, noch einmal so wie dort. Erst mit der Frage, auf die lyrisch hier alles zuläuft, den, deshalb wiederholten, Worten „Sag', Bächlein, liebt sie mich?“ nimmt sie eine neue Gestalt an. Sie ist auf nachdrückliche Weise von dem Gewicht und der Bedeutung geprägt, die diese Frage für das lyrische Ich hat. Das Wort „sag`“ erhält starkes Gewicht dadurch, dass auf ihm ein deklamatorischer Schritt im Wert eines ganzen Viertels liegt, bei dem die melodische Linie einen leiterfremden und in verminderte C-Harmonik gebetteten Schritt nach einem „His“ beschreibt. Auf „Bächlein“ liegt ein zärtlich anmutender Sechzehntelbogen, der bei dem Wort „liebt“ unvermittelt und deshalb so ausdrucksstark in einen mit einer Rückung von Cis-Dur nach H-Dur einhergehenden und in hohe „Fis“-Lage führenden Legato-Sexsprung übergeht.

    Dem folgt bei den Worten „sie mich“ ein in Rückung von Fis- nach Dis-Dur harmonisierter und in eine Dehnung mundender Sekundfall nach, der eben wegen dieses Schrittes der Harmonik in den Doppeldominantbereich wie ein Auftakt zur Wiederholung der melodischen Aussage wirkt. Sie erfolgt nicht in identischer, vielmehr, die innere Haltung des lyrischen Ichs auf vielsagende Weise zum Ausdruck bringender modifizierter Gestalt. Auf „sag´Bächlein“ liegt noch die gleiche melodische Figur. Bei den Worten „liebt sie mich“ geht der emphatische Aufschwung in die hohe „Fis“-Lage nun aber über in einen schlichten, in der Dominante Fis-Dur harmonisierten Terzsprung, dem ein Sekundfall mit Tonrepetition hin zum Grundton „H“ nachfolgt.

    Das lyrische Ich hat aus diesem an das „Bächlein“ gerichteten emphatisch-fragenden Ansprache-Gestus zur Einkehr in sich selbst gefunden. Ist es eine, die mit Zweifeln an der Möglichkeit eines „Ja“ einhergeht?
    Die Liedmusik lässt das offen. Auch das Nachspiel tut das, indem es sich drei Takte lang über den Sechzehntel-Quartelen im Bass im Diskant in einer Folge von bitonalen Akkorden ergeht, die eine aus H- und Fis-Dur eine kurze, vielleicht diese Zweifel zum Ausdruck bringende harmonische Rückung nach cis-Moll beschreibt, dann aber in einem sechsstimmigen H-Dur-Akkord endet.

  • Lied 7: „Ungeduld“

    Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein,
    Ich grüb' es gern in jeden Kieselstein,
    Ich möcht' es sä'n auf jedes frische Beet
    Mit Kressensamen, der es schnell verrät,
    Auf jeden weißen Zettel möcht' ich's schreiben:
    Dein ist mein Herz, und soll es ewig bleiben.

    Ich möcht' mir ziehen einen jungen Star,
    Bis daß er spräch' die Worte rein und klar,
    Bis er sie spräch' mit meines Mundes Klang,
    Mit meines Herzens vollem, heißen Drang;
    Dann säng' er hell durch ihre Fensterscheiben:
    Dein ist mein Herz, und soll es ewig bleiben.

    Den Morgenwinden möcht' ich's hauchen ein,
    Ich möcht' es säuseln durch den regen Hain;
    O, leuchtet' es aus jedem Blumenstern!
    Trüg' es der Duft zu ihr von nah' und fern!
    Ihr Wogen, könnt ihr nichts als Räder treiben?
    Dein ist mein Herz, und soll es ewig bleiben.

    Ich meint', es müßt' in meinen Augen stehn,
    Auf meinen Wangen müßt' man's brennen sehn,
    Zu lesen wär's auf meinem stummen Mund,
    Ein jeder Atemzug gäb's laut ihr kund;
    Und sie merkt nichts von all' dem bangen Treiben:
    Dein ist mein Herz, und soll es ewig bleiben!

    Vier regelmäßig aus fünffüßigen Jamben aufgebaute Strophen, bei denen die ersten vier Verse eine stumpfe, die beiden letzten aber eine klingende Kadenz aufweisen. Das lyrische Ich steigert sich darin in sprachlich konjunktivischem Gestus auf geradezu rauschhaft anmutende Weise in eine nicht abreißen wollende Folge von Wunschvorstellungen hinein, in denen wie wahllos herausgegriffen wirkende Dinge dem geliebten Du das verkünden sollen, was der refrainartig auftretende letzte Vers zum Ausdruck bringt. Den Steigerungseffekt hat Müller auf höchst geschickte Weise dadurch in diese Lyrik gebracht, dass er in den wie atemlos dahinfließenden Jamben permanent mit dem personalpronomischen Neutrum „es“ operiert, das erst am Ende zu einer Auflösung kommt.

    Bezeichnend ist, dass dieses lyrische Ich nicht selbst zur Geliebten spricht, sondern für sich sprechen lassen will. Darin drückt sich, was ja konstitutiv für das Geschehen in diesem Zyklus ist, seine zum lyrischen Monolog verdammte existenzielle Einsamkeit aus. Und auf höchst markante Weise manifestiert diese sich darin, dass nach all den vielen konjunktivischen und auch im monologischen Frage-Gestus („Ihr Wogen, könnt ihr nichts als Räder treiben?“) vorgebrachten lyrischen Aussagen im zweitletzten Vers auf sprachlich indikativische Weise die Realität in diesen Wünsche-Rausch hereinbricht, - in Gestalt der geradezu prosaisch-nüchtern anmutenden Feststellung: „Und sie merkt nichts von all' dem bangen Treiben“.

    Dieser Müllergeselle ist Gefangener in seiner seelischen Innenwelt, aus der er nicht wirklich herausfindet, aus der er allenfalls einen Ausgang sucht, indem er in imaginären antwortlosen Dialog mit dem „Bächlein“ tritt oder, wie hier, alle Welt beauftragt, ersatzweise den Dialog mit der geliebten „schönen Müllerin“ zu führen. Und genauso hat Schubert ihn aufgefasst und, wie dieses Lied erkennen lässt, eben diesen Sachverhalt mit seinen musikalischen Mitteln nicht nur zum Ausdruck gebracht, sondern, den lyrischen Text darin interpretierend, in all ihren seelischen und existenzielle Dimensionen ausgelotet.

    Dass er dies hier im Unterschied zu den vorangehenden Gedichten in Gestalt eines reinen Strophenliedes durchführt, zeigt, dass es ihm nicht um das Erfassen der lyrischen Aussage in den einzelnen Versen geht, vielmehr darum, die Haltung des lyrischen Ichs, dieses in der Abfolge der Verse sich ereignende Sich-Hineinsteigern in die Emphase des als Ausruf angelegten Verses der Strophen liedmusikalisch nachzuvollziehen und durch die dreimalige unveränderte Wiederholung die darin sich manifestierende „Ungeduld“ auf eindringliche Weise nachvollziehbar werden zu lassen.


  • „Ungeduld“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein Dreivierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, und sie soll „etwas geschwind“ vorgetragen werden. A-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, und es stellt mitsamt seinen beiden Dominanten auch die die Liedmusik prägende Tonart dar. Bezeichnend ist aber, dass die Harmonik im für ein Strophenlied ungewöhnlich langen, nämlich acht von den insgesamt sechsundzwanzig Takten des Liedes in Anspruch nehmenden Vorspiel in der Moll-Parallele, also fis-Moll einsetzt. Dass sieben Takte davon drei Mal als Zwischenspiel wieder erklingen, lässt erkennen, dass Schubert ihm eine bedeutende Funktion in der Liedmusik zugemessen hat. Es ist die einer klanglichen Evokation der Grundhaltung des lyrischen Ichs: Der drängenden, von tiefer innerer Unruhe angetriebenen Ungeduld.

    Vielsagend ist schon, dass dieses Vorspiel in seinen acht Takten asymmetrisch, nämlich nach dem Schema „Drei – Drei – Zwei“ angelegt ist. Im Diskant erklingen zweistimmige, am Ende in dreistimmige übergehende, im Intervall von der anfänglichen Terz zur Sexte sich erweiternde und zuweilen mit einem Sechzehntelvorschlag versehene Achteltriolen. Sie allein schon imaginieren klanglich unruhige Getriebenheit. Verstärkt wird diese Anmutung durch die harmonischen tonartlich und tongeschlechtlich unruhigen harmonischen Rückungen von fis-Moll über E-Dur, h-Moll, D-Dur und ein neuerliches h-Moll hin zur Dominante E-Dur. Aber ein noch stärker beunruhigender Faktor stellt der Klavierbass dar. Denn dort erklingt an taktmäßig wechselnder Stelle und von Pausen unterbrochen mal eine Folge von ansteigend angelegten Achteltriolen, mal eine Oktave oder ein Einzelton, die wie in die Akkordrepetitionen einbrechend wirken.

    Auch die melodische Linie mutet in der Art ihrer Entfaltung wie von innerer Unruhe, ja fast schon Atemlosigkeit getrieben an. Dies allerdings nur bei den dem letzten vorangehenden fünf Versen. Der sechste Vers ist, weil semantischer Ziel- und Angelpunkt der lyrischen Aussagen aller Strophen, schon bei Müller mehr als ein einfacher Refrain, Schubert aber potenziert ihn, indem er ihn mit dem Mitteln der Liedmusik, darunter der Wiederholung, zum eigentlichen Zentrum der Liedmusik macht, darin seiner liedkompositorischen, auf das Erfassen der Haltung des lyrischen Ichs ausgerichteten Intention folgend. Wie das Vorspiel nimmt die Liedmusik bei diesem letzten Vers der Strophen acht Takte in Anspruch. Und an die Stelle melodisch-deklamatorischer Unruhe, wie sie in den allemal auftaktig einsetzenden Melodiezeilen auf den ersten fünf Versen herrscht, tritt nun eine mit den Worten „dein ist mein Herz“ erstmals volltaktig einsetzende und sich in schwärmerischer, weil in Dehnungen und Aufgipfelungen in hoher Lage sich entfaltende Melodik.

    Bis zum letzten Vers hin entfaltet sich die Melodik in einer permanenten Steigerung ihrer Expressivität. Fünf Melodiezeilen, jeweils einen Vers beinhaltend und von Achtelpausen voneinander abgehoben, folgen in raschem Tempo (Vortragsanweisung „etwas geschwind) aufeinander. Bei allen setzt die melodische Linie auftaktig ein, bei den beiden ersten mit einem Sextsprung, die dritte mit einem über eine Terz, die fünfte beschreibt erneut einen Anstieg über eine Sexte, und nur die vierte setzt mit einer Tonrepetition in hoher Lage ein, der allerdings noch unmittelbar auf dem Wort „Kressensamen“ ein gedehnter Terzsprung nachfolgt.
    Das allein schon, diese Art des Einsatzes der Melodiezeilen, generiert den Eindruck einer inneren Getriebenheit. Es kommen aber noch weitere, diesen verstärkende Faktoren hinzu: Die fortschreitende Anhebung der tonalen Ebene und die damit einhergehende mehrfache harmonische Rückung in Richtung der Dominante E-Dur und der Doppeldominante h-Moll.

    Der melodischen Linie liegt der immer gleiche deklamatorische Gestus zugrunde: Eine auftaktigen Geist atmende Aufeinanderfolge von deklamatorischem Kurzschritt (Achtel oder Sechzehntel) und gewichtigem Langschritt (punktiertes Achtel). Dieser rhythmisch gleichförmige Verlauf der melodischen Bewegung, in dem es keinerlei Ruhephasen gibt, mutet als Ausdruck ungeduldigen Vorandrängens an. Hinzukommt, dass die wellenförmige Gestalt (zweimaliger Anstieg und Fall), in der die Entfaltung jeweils erfolgt, von Zeile zu Zeile eine Anhebung in der tonalen Ebene erfährt, und darüber hinaus auch noch eine Ausweitung in ihrem Ambitus. Bei den Worten „Ich möcht' es sä'n auf jedes frische Beet“ nimmt diese wellenartige melodische Bewegung den tonalen Raum einer Septe ein, hat damit in diesem deklamatorischen Gestus ihren Höhepunkt erreich und geht bei den Worten „Mit Kressensamen, der es schnell verrät“ zu einem stärker vom Fall geprägten deklamatorischen Gestus über.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Ungeduld“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Die fünfte Melodiezeile, jene auf den Worten in der ersten Strophe „Auf jeden weißen Zettel möcht' ich's schreiben“ also, setzt mit einem auftaktigen Sekundfall mit nachfolgendem Sextsprung in hohe Lage ein und geht danach in einen kontinuierlichen Sekundfall in repetierenden, in der üblichen Weise rhythmisierten Schritten über, der am Ende bei dem Wort „schreiben“ in einen leicht gedehnten Doppelsekundfall mündet, der in A-Dur harmonisiert ist und von einer Achtelpause gefolgt wird. Die Bässe, mit denen das Klavier in Kombination mit repetierenden Achtelakkorden die melodische Linie in allen fünf Melodiezeilen begleitete, beschreiben hier eine Anstiegsbewegung, so dass die Liedmusik an dieser Stelle so wirkt, als halte sie kurz inne, um sich für ihre weitere Entfaltung zu öffnen.
    Es ist die der emphatischen Aufgipfelung auf den Worten des letzten Verses, mit denen das lyrische Ich immer wieder wie in einem Gestus des Beschwörens verkündet, dass es „sein Herz“ dem geliebten Du übereignen will, und das für alle Ewigkeit. Nur erfährt dieses davon nichts, denn all das, die Beauftragung des ganzen Kosmos mit der Übermittlung dieser Botschaft, ereignet sich in der Einsamkeit des Monologs.

    So wie Schubert diese Worte liest, steht das lyrische Ich aber tatsächlich mit seinem ganzen Herzen dahinter. Und so geht denn die melodische Linie, nun nicht mehr begleitet mit der klanglich gleichsam mageren Folge von Einzelton im Bass und Achtelakkord-Repetition im Diskant, vielmehr mit den ganzen Takt ausfüllenden dreistimmigen Achtelakkord-Repetitionen und triolisch ansteigenden Figuren im Bass, bei dem Wort „dein“ („ist mein Herz“) in einen auf einem hohen „Fis“ ansetzenden und stark gedehnten Sextfall über, der ihm einen sehr starken Akzent verleiht. Und dies auch deshalb, weil er nicht etwa in der Tonika A-Dur harmonisiert ist, auch nicht in der Dominante, sondern in der Doppeldominante H-Dur und auf deren Grundton „H“ endet, um dort bei den Worten „ist mein Herz“ in eine deklamatorische Repetition überzugehen, die in eine lange Dehnung (punktierte halbe Note) auf dem Wort „Herz“ mündet und dieses, wie zuvor schon „dein“, in musikalisch markanter Weise hervorhebt.

    Und nun bringt Schubert wieder, dieses Mal aber auf potenzierte Weise, den Faktor Steigerung der liedmusikalischen Expressivität zum Einsatz. Das beschwörend vorgebrachte Bekenntnis „dein ist mein Herz“ wird wiederholt, und das nun in Gestalt eines auf einem hohen „A“, der Oktave des Grundtons der als Tonika fungierenden Tonart A-Dur also einsetzenden und wiederum stark gedehnten Quintfalls. Der aber entfaltet deshalb eine so starke Expressivität, weil es sich dabei um einen verminderten handelt und er keineswegs in reinem A-Dur, vielmehr in einer verminderten Variante dieser Tonart harmonisiert ist.
    Der verminderte Septimakkord ist nun in die Liedmusik eingebrochen und herrscht bei den permanent auf der Ebene eines hohen „Dis“ erfolgenden Tonrepetitionen auf den Worten „ist mein Herz und soll es“ so andauernd vor, dass er der Liedmusik eine starke Eindringlichkeit verleiht. Erst bei dem Wort „ewig“ erfolgt mit einem melodischen Quintsprung wieder hoch zu dem erneut gedehnten hohen „A“ ein Ausbruch daraus: In Gestalt des geradezu strahlend rein wirkenden Erklingens der Grundtonart A-Dur.

    Ein sich über eine ganze Oktave erstreckender, in einen doppelten Terzfall übergehender gedehnter Quartfall liegt auf diesem Wort „ewig“ und verleiht ihm, auch wegen dieser Einbettung in eine aus harmonischer Verminderung hervorgehende tonartliche Reinheit, eine hochgradige liedmusikalische Hervorhebung. Schubert lässt es wiederholen, und die Art und Weise, wie er das tut, zeigt, wie höchst kunstvoll und reflektiert er dieses Prinzip der Wiederholung handhabt. Der so ausdrucksstarke melodische Fall kehrt nämlich nicht auf identische Weise wieder, er setzt sich vielmehr auf in der tonalen Ebene abgesenkte und im Intervall sich nur noch über eine Septe erstreckende Weise fort und wirkt deshalb wie ein Sich-Zurücknehmen des lyrischen Ichs aus extrovertierter Expressivität in seelische Innigkeit. Die Melodik auf den Worten „ewig bleiben“ wirkt dadurch in ihrer Aussage umso glaubwürdiger.

    Sie setzt sich aus dem sich auf der zweiten Silbe von „ewig“ ereignenden und in E-Dur harmonisierten Terzfall in tiefer Lage dergestalt fort, dass sich die melodische Linie aus dem tiefen „E“, in das er mündet, mit einem höchst ausdrucksstarken Oktavsprung in hohe Lage aufschwingt, um von dort auf dem Wort „bleiben“ in einen vierfachen , mit einem Sechzehntel-Sekundvorschlag melismatisch versehenen und auf dem Grundton „A“ endenden Sekundfall überzugehen.

    Er ist in die klassische Kadenz-Rückung Tonika, Dominante, Tonika gebettet und wirkt als überzeugendes Bekenntnis des lyrischen Ichs in seiner Liebe zu einem Du, das, weil dieses auf monologische Weise erfolgt, davon gar nichts wissen kann. Und seine dreimalige Wiederholung lässt diesen Sachverhalt umso trauriger erscheinen.

  • Lied 8: „Morgengruß“

    Guten Morgen, schöne Müllerin!
    Wo steckst du gleich das Köpfchen hin,
    Als wär' dir was geschehen?
    Verdrießt dich denn mein Gruß so schwer?
    Verstört dich denn mein Blick so sehr?
    So muß ich wieder gehen.


    O laß mich nur von ferne stehn,
    Nach deinem lieben Fenster sehn,
    Von ferne, ganz von ferne!
    Du blondes Köpfchen, komm hervor!
    Hervor aus eurem runden Thor,
    Ihr blauen Morgensterne!

    Ihr schlummertrunknen Äugelein,
    Ihr taubetrübten Blümelein,
    Was scheuet ihr die Sonne?
    Hat es die Nacht so gut gemeint,
    Daß ihr euch schließt und bückt und weint
    Nach ihrer stillen Wonne?

    Nun schüttelt ab der Träume Flor,
    Und hebt euch frisch und frei empor
    In Gottes hellen Morgen!
    Die Lerche wirbelt in der Luft,
    Und aus dem tiefen Herzen ruft
    Die Liebe Leid und Sorgen.

    In diesen Versen ereignet sich zwar unter formal lyrisch-sprachlichem Aspekt ein Ausbruch aus dem bislang vorherrschenden monologischen Gestus der Artikulation des lyrischen Ichs, insofern das lyrische Ich zum Gestus der Ansprache in Gestalt eines an die geliebte Müllerin sich richtenden Morgenrußes übergeht. Und die lyrischen Worte sind so angelegt, dass sie die reale Situation eines Aufenthalts vor deren Haus reflektieren können.
    Nur: An dessen Fenster zeigt sich niemand, der auf das Grüßen reagieren und möglicherweise gar antworten könnte. Und das heißt: Ein wirklicher Ausbruch aus der die Existenz des lyrischen Ichs so maßgeblich prägenden Zurückgeworfenheit auf sich selbst findet auch hier nicht statt.

    Der Ausruf „Du blondes Köpfchen, komm hervor!“ bleibt folgenlos, was dem Gedicht in all seinen durchaus lieblichen, sich sogar in den Diminutiv steigernden lyrischen Bildern einen Anflug von Betrübnis, ja Traurigkeit verleiht. Das lyrische Ich wendet all seine sprachlichen Künste auf, unter Zuhilfenahme von aus der Natur genommener Metaphorik die „schöne Müllerin“ ans morgendliche Fenster zu locken und steigert sich dabei in der letzten Strophe in lyrische Bilder von hochgradig evokativem Morgen-Potential. Aber der Ruf aus seinem „tiefen“ Herzen ist einer von „der Liebe Leid und Sorgen“.

    Schubert hat wie aus dem vorangehenden so auch aus diesem Gedicht ein reines Strophenlied gemacht. Und wie dort möchte man die zugrunde liegende kompositorische Intention so verstehen, dass es ihm nicht um das liedmusikalische Erfassen der lyrischen Aussage und der Metaphorik in den vier Strophen ging, sondern um die Grundhaltung des lyrischen Ichs, die sich darin ausdrückt. Ihn interessiert das in dem Gedicht-Zyklus Müllers in der Gestalt des Müller-Gesellen die existenzielle Wanderschaft verkörpernde lyrische Ich. Und wenn es, um dessen innere Haltung und das daraus hervorgehende Lebensschicksal erfordert, einen lyrischen Text in durchkomponierte Liedmusik umzuwandeln, dann setzt er das auch so um. Bringt aber das Strophenlied-Konzept zustande, diese innere Haltung durch die permanente Wiederholung der Liedmusik mit der an dieser Stelle des Zyklus gebotenen Eindringlichkeit vernehmlich werden zu lassen, dann ist es, so bei der Liedergruppe sieben bis neun, sinnvoll, dieses der Komposition zugrunde zu legen.

    In dieser Phase befindet man sich als Hörer und Betrachter dieses Liederzyklus gerade. Die Fixierung auf die aufgeflammte Liebe zur „schönen Müllerin“ hat das „Bächlein“ als imaginativer Gesprächspartner in den Hintergrund treten lassen. Nun ist diese an seine Stelle getreten. Und die wesenhaft hoffnungslose Situation dieses lyrischen Ichs wird durch Schuberts Liedmusik deshalb zu einer so tief berührenden Erfahrung, weil er dessen existenzielle, nach einem liebevolle Zuhause sich sehnende, darin aber keine Erfüllung findende Einsamkeit in Gestalt eines geradezu exzessiven, weil strophenliedartig sich wiederholenden Monologs erlebbar werden lässt.


  • „Morgengruß“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Der Liedmusik steht in C-Dur als Grundtonart, ihr liegt ein Dreivierteltakt zugrunde, und sie soll „mässig“ vorgetragen werden. Von der Melodik, ihrer Harmonisierung und vom Klaviersatz her lässt sich eine Dreigliedrigkeit ausmachen. Die ersten drei Verse bilden eine Melodiezeile, auf eine mehr als eintaktige (sieben Achtel) Pause folgt die zweite, die die Verse vier und fünf umfasst. Der dritte Liedteil, mit seinen sechs Takten sogar umfangreicher als der zweite (vier Takte) und dem ersten (sechs Takte) entsprechend, beinhaltet die Worte des letzten Verses, die nicht nur in Gänze wiederholt werden, sondern auch noch einmal in ihrem semantischen Kern, dem „wieder gehen“.

    Schubert hat, wie nicht nur diese Anlage, sondern vor allem die Struktur der melodischen Linie und ihre Harmonisierung erkennen lassen, die Liedmusik auf der Grundlage der ersten Strophe entwickelt, gleichwohl zeigt aber die mit dem Mittel der Wiederholung erfolgende Steigerung des Gewichts der lyrischen Aussage des letzten Verses, dass er dabei sehr wohl alle Strophen im Auge hatte. Denn bei allen vieren ereignet sich in diesem eine gleichsam bilanzierende Kulmination des jeweiligen Strophen-Gehalts, und neben der ersten ist diese vor allem auch bei der letzten von hoher Relevanz, was die Grundhaltung des lyrischen Ichs anbelangt.

    Ein viertaktiges Vorspiel, das auch als Zwischenspiel fungiert, geht dem in markant auftaktiger, weil mit einer Achtel-Tonrepetition erfolgenden Einsatz der Melodik voraus. Es weist – im Gegensatz zu dieser – einen Abschluss durch eine formale Kadenz auf, und das ist ein bemerkenswerter Sachverhalt. Nicht nur dass ihm dadurch eine bedeutsame, weil die Liedmusik in ihrer Aussage gleichsam auf den Punkt bringende Funktion zukommt, es lässt das wesenhaft offene, über einen stark gedehnten Terzfall auf der Terz zum Grundton erfolgende Enden der Melodik umso vielsagender Werden, - dergestalt, dass auf höchst eindringliche Weise vernehmlich wird, dass dieses lyrische Ich in seinen hiesigen Aussagen ein von großer Hoffnung erfülltes ist,- freilich einer, die möglicherweise ins Leere gehen kann.

    Das Vorspiel mutet mit seinen abschließenden, in der Grundtonart und ihren Dominanten harmonisierten und in einen C-Dur-Akkord mündenden Achtel-Sprungfiguren im Diskant zwar so an, als sähe es die Sache anders. Fasst man es in seiner Aussage so auf, dann hat man diese wohl missverstanden. Denn voraus geht in den ersten beiden Takten eine Doppelfigur, die aus einem über einen Sprung aus einem gehaltenen C-, bzw G-Dur Akkord hervorgehenden triolischen Achtel- und Sechzehntel-Fall besteht. Und diese erweist sich alsbald als Vorausnahme der melodischen Linie, die auf den Worten „Guten Morgen, schöne Müllerin“ liegt. Der auf kadenzmäßige Weise über die Tonika G-Dur in den gehaltenen C-Dur-Akkord mündende Fall der Legato-Achtel-Sprungfiguren erweist sich nun als nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Bekräftigung dieser Gruß-Haltung, mit der das lyrische Ich hier auftritt.

    Angesichts dieser am Ende in die Offenheit mündenden Melodik kommt der Tatsache, dass sie in ihrer Struktur, wie das auch im vorangehenden Lied der Fall ist, stark von der sprungmäßig auftretenden Sexte geprägt ist, große Bedeutung zu. Das gilt allerdings nur für die erste und die dritte Melodiezeile. In der zweiten wirkt sich die Tatsache, dass das lyrische Ich in der ersten Strophe mit aus einem tiefen inneren Anliegen kommenden Fragen an das Du herantritt, stark auf die Art und Weise aus, wie sich die melodische Linie entfaltet und wie sie harmonisiert ist. Die erste setzt demgegenüber mit einem durchaus munter und fröhlich gemeinten Morgengruß ein, und die melodische Linie bringt das dergestalt zum Ausdruck, dass sie nach einer auftaktigen Tonrepetition auf dem Wort „guten“ bei „Morgen“ in einen Sextsprung übergeht, dem ein zweifacher Sekundfall nachfolgt. Die so wichtige Anrede „schöne Müllerin“ erfährt dadurch eine besondere Akzentuierung, dass die melodische Linie ihren Sekundfall auf „schöne“ nicht einfach fortsetzt, sondern nach einem Quartfall zu einer neuen, leicht melismatisch geprägten Figur aus gedehntem Terzsprung mit nachfolgendem Sechzehntel-Sekundfall übergeht. Hinzukommt, dass die Harmonik hier eine Rückung von der Tonika zur Dominante G-Dur beschreibt.

    Das Klavier begleitet hier mit lang gehaltenen, den ganzen Takt ausfüllenden und Bass und Diskant übergreifenden vierstimmigen Akkorden. Und diese Art der höchst schlichten, der melodischen Linie nur ein klangliches Bett bereitenden Begleitung behält es auch im weiteren Verlauf dieser ersten Melodiezeile bei, - aber nicht bis zu deren Ende. Denn hier schon geht das lyrische Ich mit den nächsten beiden Versen zu seinem Frage-Gestus über. Allerdings hat die Frage „wo steckst du gleich das Köpfchen hin?“ noch nicht den hohen affektiven Gehalt, wie die der zweiten Melodiezeile, weil sie gleichsam sachlicher Art ist und die Emotionen des lyrischen Ichs nicht involviert sind. Also behält die melodische Linie erst einmal ihren Sextsprung-Gestus bei, geht bei „wo steckst du“ nach einer neuerlichen Tonrepetition auf dem anfänglich „G“ wieder zu einem hohen „E“ über, steigert sich sogar noch mit einem nachfolgenden Sekundsprung zur tonalen Ebene eines hohen „F“,, um danach die Fallbewegung in einer gleichsam gesteigerten, nämlich in einer vierfachen, über Sechzehntel erfolgenden Bewegung abwärts zu vollziehen.

    Noch immer begleitet das Klavier hier mit seinen lang gehaltenen Akkorden, einem in C-Dur nämlich. Bei der melodischen Anstiegsbewegung auf „das Köpfchen hin“ ereignet sich aber ein verminderter Terzsprung, und der sie begleitende lang gehaltene Akkord ist mit einem Mal einer in d-Moll. Der Kern der Frage, das „als wär´ dir was geschehen?“ wirkt gleichsam zurück. Und die melodische Linie, die auf diesen Worten liegt, ist nun von einer Fall-Tendenz geprägt: Einem Quintfall zu dem Wort „dir“ hin, einer zwischengelagerten und mit einem Vorschlag versehenen triolischen Achtelfigur, die Zuneigung und innere Anteilnahme suggeriert, und einem leicht gedehnten, die Melodik beschließenden, auf der tonalen Ebene eines hohen „E“ ansetzenden Sekundfall . Hier lässt das Klavier, eben weil die Melodik innere Anteilahme des lyrischen Ichs am morgendlich begrüßten Du zum Ausdruck bringt, von seinen lang gehaltenen Akkorden ab und geht zur Begleitung mit partiell akkordischen Vierteln und Achteln über.

    Und nicht nur darin weicht die Liedmusik vom Charakter ihrer bisherigen Entfaltung ab: Die Harmonik geht nach einer Rückung von d-Moll und eine dem in hoher Lage deklamierten Wort „wär´` einen starken Nachdruck verleihende verminderte F-Tonalität zu einem a-Moll über. Erst bei dem Sekundfall in hoher Lage auf der zweiten und dritten Silbe von „geschehen“ findet sie wieder zu ihrer Grundtonart zurück, freilich nur zu deren Dominante G-Dur. Zum Abschluss verleiht das Klavier dieser ersten Frage Nachdruck dadurch, dass es die Kombination aus triolischem Achtelsprung und gedehntem Sekundfall, in dem die melodische Linie endet, nicht nur mit einer entsprechenden Achtelfigur, sondern den Sekundfall gar in akkordischer Gestalt nachvollzieht.
    Es ist nicht nur ein schlichter morgendlicher Gruß, was sich hier ereignet, es ist das Bemühen, mit Worten der emotionalen Zuwendung dem geliebten, freilich sich nicht zeigenden Du innerlich näher zu kommen.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Morgengruß“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Dieses einen ganzen Takt in Anspruch nehmende und nicht nur dadurch gewichtige Zwischenspiel leitet zur zweiten, die Verse vier und fünf beinhaltenden Melodiezeile über. Sie hebt sich nicht nur durch die Struktur ihrer Melodik, sondern auch durch deren Harmonisierung und den sie begleitenden Klaviersatz deutlich von der ersten ab, obgleich diese am Ende den Eindruck macht, als würde sie sich ihr gleichsam zuneigen. Und tatsächlich setzt sie mit den Worten „verdrießt dich denn mein Gruß so schwer?“ auf dem hohen „D“ ein, auf dem der Sekundfall auf „geschehen“ endet. Aber sie ist nun nicht in G-Dur, sondern in g-Moll harmonisiert, und in der Art ihrer Entfaltung ist sie von anderem Geist. Es ist der des bekümmerten, von Ungewissheit bedrückten Fragens, wie es das lyrische Ich in diesen beiden Versen an den Tag legt. Sie lässt deshalb von ihrem in der ersten Melodiezeile praktizierten Gestus der sprunghaften Aufwärtsbewegung ab und geht zu die Eindringlichkeit des Fragens zum Ausdruck bringenden Tonrepetitionen über, die am Ende mit einem Terzsprung zu einer höheren tonalen Ebene übergehen, um dort erneut eine deklamatorische Tonrepetition zu vollziehen.

    Das ereignet sich bei beiden Versen in strukturell gleicher, aber keineswegs identischer Weise. Den hohen affektiven Gehalt dieses Fragens bringt Schubert dadurch zum Ausdruck, dass er die melodische Linie bei den Worten „mein Gruß so schwer“ einen mit einer Rückung von g-Moll nach A-Dur einhergehenden verminderten Terzsprung vollziehen lässt. Bei den Worten „Verstört dich denn mein Blick so sehr?“ ereignet sich die deklamatorische Tonrepetition hingegen auf einer um eine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene, sie ist jetzt in f-Moll harmonisiert, und der Terzsprung am Ende ist nun ein großer, mit einer Rückung nach G-Dur verbundener und in eine lange, weil fermatierte Dehnung mündender.

    Die Rückungen, die die Harmonik hier beschreibt, also die von g-Moll über A-Dur und f-Moll nach G-Dur, hat Elmar Budde in einer subtilen Untersuchung als „pathopoetische Figur“ ausgewiesen, wie sie in der Musik des Barock, besonders ausgeprägt bei Gesualdo und bei Monteverdi, als musikalisches Äquivalent für seelischen Schmerz Verwendung fand. Ihm ging es dabei darum, zu zeigen, wie stark Schubert auch in seiner Liedmusik kompositorisch in der Tradition stand.

    Das Klavier, das sich bei der ersten Melodiezeile weitgehend und erst am Ende davon ablassend, damit genügte, der melodischen Linie mit lang gehaltenen Akkorden ein klangliches Bett zu bereiten, geht bei der zweiten zu einer Figur über, die man als klangliche Evokation der Innigkeit auffassen kann, mit der das lyrische Ich dem sich nicht zeigenden Du fragend zuwendet. Sie besteht aus einem taktlang gehaltenen Ton im Bass, aus dem im Diskant eine bogenförmig angelegte, über ein großes Intervall ansteigende und wieder fallende Folge von Achteln hervorgeht. In der dritten Melodiezeile geht das Klavier in seiner Begleitung der Singstimme zu einer ganz neuen Figur über, die geradezu überraschend anmutet: Aufsteigend angelegte Achtel-Triolen im Bass, die man – so Fischer-Dieskau - so vernehmen und auffassen kann, als würde dieses lyrische Ich nun dazu übergehen, sich in seinem Singen mit einer Laute zu begleiten.

    Das ist aber wohl von Schubert so nicht gemeint. Vor allem spricht gegen ein solches Verständnis das, was das Klavier im Diskant zu sagen hat. Dort nämlich wiederholt es im Nachklang die Bewegung der melodischen Linie und verschafft ihr auf diese Weise Nachdruck in dem, was sie zu sagen hat. Und das ist in der Rückkehr des sich sogar im Intervall zu einer Septe weitenden Sextsprungs der Ausdruck tiefer innerer Bedrängnis durch die Ungewissheit der für das lyrische Ich existenziell so fundamental wichtigen Hoffnung auf die Erwiderung seiner liebevollen Empfindungen der „schönen Müllerin“ gegenüber.

    Für Schuberts Rezeption dieses lyrischen Textes auf dem Hintergrund seines Grundverständnisses des lyrischen Ichs ist das ein so wichtiger Aspekt, dass er dem letzten Vers einen im Rahmen des Strophenlied-Konzepts ungewöhnlich großen liedmusikalischen Raum einräumt: Sechs Takte von den insgesamt dreiundzwanzig. Und er greift dabei in der Melodik auf den Gestus der ersten Melodiezeile zurück. Bei den Worten „So muß ich wieder gehen“ setzt die melodische Linie, in C-Dur mit Zwischenrückung über die Dominante harmonisiert, mit einem Sextsprung ein, geht dann in eine gedehnte Tonrepetition in hoher Lage über und senkt sich danach in einer ausdrucksstarken, durch einen auf Sekundschritte in einem Neuansatz erfolgende Fallbewegung zur tonalen Ausgangsebene wieder ab. Diese Worte werden, darin der Aussage des lyrischen Ichs Nachdruck verleihend, auf identischer melodischer Linie noch einmal wiederholt, wobei die Achteltriolen, mit denen das Klavier sie begleitet, auf das Basis eines taktlang gehaltenen C-Orgelpunkts erklingen und bei den Worten „wieder gehen“ die melodische Linie im Klavierdiskant wie ein Echo noch einmal erklingt.
    All das sind subtile, aber höchst eindringliche kompositorische Mittel, die Bedeutung dessen musikalisch zu unterstreichen, was das lyrische Ich hier vor dem Fenster der Geliebten morgendlich zu sagen hat.

    Auf den noch einmal wiederholten Worten „wieder gehen“ ereignet sich dann der die melodische Expressivität steigernde anfängliche Septsprung, dem wieder, wie auch in den beiden Fällen zuvor, ein triolischer Sekundfall nachfolgt, der sich nun aber nicht weiter in die tonale Tiefe hin fortsetzt, sondern, um das so inhaltsschwere Wort „gehen“ mit dem ihm gebührenden Akzent zu versehen, mit einem Terzsprung in einen lang gedehnten Terzfall in hoher Lage übergeht.

    Das Klavier begleitet ihn, um ihm Nachdruck zu verleihen, mit einem kontrastiven Anstieg von eine Rückung von der Dominante zur Tonika vollziehenden fünf- und sechsstimmigen Akkorden und schlägt im drei Takte einnehmenden Nachspiel diese Kadenzrückung in sechs- und siebenstimmiger Akkordvariante am Ende noch einmal an , - nicht aber, ohne zuvor noch die so wehmütig-liebliche Triole auf dem Wort „wieder“ in Terzgestalt noch einmal erklingen zu lassen.
    Das „Wieder-gehen-Müssen“ ist, so wie Schubert das sieht, eine Angst-Vision dieses lyrischen Ichs.

  • Lied 9: „Des Müllers Blumen“

    Am Bach viel kleine Blumen stehn,
    Aus hellen blauen Augen sehn;
    Der Bach der ist des Müllers Freund,
    Und hellblau Liebchens Auge scheint,
    Drum sind es meine Blumen.

    Dicht unter ihrem Fensterlein
    Da will ich pflanzen die Blumen ein,
    Da ruft ihr zu, wenn alles schweigt,
    Wenn sich ihr Haupt zum Schlummer neigt,
    Ihr wißt ja, was ich meine.

    Und wenn sie tät die Äuglein zu,
    Und schläft in süßer, süßer Ruh,
    Dann lispelt als ein Traumgesicht
    Ihr zu: Vergiß, vergiß mein nicht!
    Das ist es, was ich meine.

    Und schließt sie früh die Laden auf,
    Dann schaut mit Liebesblick hinauf:
    Der Tau in euren Äugelein,
    Das sollen meine Tränen sein,
    Die will ich auf euch weinen.

    Das ist wieder ein Text, der die existenziell wesenhaft monologische Situation des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringt: In diesem „Wenn-Dann“, wie es sich sprachlich von Strophe zu Strophe immer wieder aufs Neue ereignet. Naturbilder, ja die Natur selbst in Gestalt von Blumen dienen als Grundlage für einen imaginierten, höchst ersehnten, aber nicht wirklich sich ereignenden Ausbruch aus der Einsamkeit des Zurückgeworfen-Seins auf sich selbst hin zu einem dialogischen Verkehr mit dem geliebten Du. Weil sie an seinem Freund, dem „Bach“ stehen, sind die „kleinen Blumen“ ebenfalls „des Müllers Freund“, und in ihrer Blüten-Bläue begegnet ihm „Liebchens Auge“.

    In der zweiten Hälfte der Strophen wird aus dem vorangehenden konditionalen „wenn“ ein handlungsorientiertes „dann“, das aber, weil im Raum reiner Metaphorik angesiedelt, gleichwohl ein imaginatives bleiben muss. Darin sind diese Verse bei all der Lieblichkeit ihrer lyrischen Bilder, und eigentlich gerade deshalb, im Grunde bedrückend. Schlägt sich in ihnen doch die Tatsache nieder, dass dieses lyrische Ich an dieser Station des narrativen Prozesses der Lied-Novelle immer noch nicht aus seiner existenziellen Einsamkeit herauszufinden vermochte. Das verdoppelte „Vergiß mein nicht“ und die „Tränen“, von denen die letzten Verse sprechen, sind diesbezüglich vielsagend.

    Das, was Schubert aus diesen Versen liedmusikalisch gemacht hat, dürfte aus rein klanglicher Perspektive das liedmusikalisch Schlichteste und Einfachste sein, was man in diesem Zyklus vorfindet: Ein reines Strophenlied in A-Dur als Grundtonart, einem Sechsachteltakt als zugrundliegendes Metrum und versehen mit der Vortragsanweisung „mässig“. Fast volksliedhaft einfach tritt die Liedmusik hier in der Tat auf, - aber sie ist es nicht wirklich. Diese Einfachheit ist eine äußerliche, und das ist – so darf man vermuten – von Schubert ganz bewusst so gewollt. Denn nur auf diese Weise, in dieser permanenten Wiederholung der immer gleichen einfach-schlichten liedmusikalischen Aussage wird die innere seelische Not des lyrischen Ichs auf eindringliche Weise vernehmlich.


  • „Des Müllers Blumen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Schon das sechstaktige Vorspiel lässt, wenn man genau hinhört, den Eindruck von der Einfachheit dieser Liedmusik obsolet werden. Es fungiert, dies allerdings unter Ausklammerung des ersten Taktes, auch als Zwischenspiel, nicht aber auch noch als Nachspiel. Denn ein solches gibt es nicht, - ein einziges Mal unter allen Liedern dieses Zyklus.
    Und auch das kann man als Indiz für die kompositorische Hintergründigkeit dieser Liedmusik verstehen. Ihr gleichsam lapidares Münden in eine fermatierten A-Dur-Akkord, der das „A“ begleitet, auf dem die melodische Linie mit ihrem Sekundsprung auf dem letzten, allemal zweisilbigen Wort der vier Strophen endet, lässt sich als musikalischer Niederschlag der Tatsache auffassen, dass deren lyrische Aussage am Ende in allen Fällen in einen gleichsam definitiven, von voluntaristischer Entschiedenheit geprägten sprachlichen Gestus übergeht.

    Aber zurück zum Vorspiel. Es besteht aus einem einleitenden, zunächst als Oktave auftretenden, dann in einen Einzelton übergehenden und am Ende sich zu einem dreistimmigen Akkord anreichernden tiefen „A“ im Klavierbass, der wie eine Art Generalbass fungiert. Über ihm ereignet sich im Diskant ein in hohe Lage führender Achtelanstieg, dem ein über vier Takte sich erstreckender Fall von Figuren aus akkordischen Legato-Sprung- und Fallfiguren nachfolgt.

    Dieses Vorspiel lässt sich als eine klangliche Imagination der in diesem Lied ihren Ausdruck suchenden Seelenlage des lyrischen Ichs vernehmen und auffassen: Ein aus der Ansprache der Geliebten hervorgehender innerer Aufschwung, der durch die Vergegenwärtigung der realen Situation in emotional reduzierte Nachdenklichkeit übergeht. Bezeichnend ist, dass die stark terzen- und quintenbetonte Fallbewegung der vorwiegend bitonalen, in Legato-Achtelsprünge übergehenden Akkorde in einem sechsstimmigen A-Dur-Akkord endet, der mit einer Fermate versehen ist.

    Die melodische Linie der Singstimme setzt also nicht im unmittelbaren Anschluss an das Vorspiel ein, sondern erst nach dem Ausklingen des durch seine Sechsstimmigkeit und seine Fermatierung gewichtigen Schlussakkords, der das Vorspiel als gleichsam sinnstiftenden Teil der nachfolgenden Liedmusik ausweist. Und eben deshalb erklingt es in dieser Gestalt vor jeder Strophe immer wieder und ist als Nachspiel ungeeignet. Die neue kritische Ausgabe der „Schönen Müllerin“ lässt das Lied also, darin von älteren Ausgaben abweichend, aus guten Gründen in einem lang gehaltenen und wiederum mit einer Fermate versehenen sechsstimmigen, aber tonal in der Höhe weiter ausgreifenden A-Dur-Akkord enden.

    Von der Melodik her ist das Lied zweiteilig angelegt. Und das ist der nächste strukturelle Sachverhalt, der seine Schlichtheit und Einfachheit als die kompositorische Komplexität verbergenden klanglichen Vordergrund ausweist. Denn in dieser Zweiteiligkeit reflektiert die Liedmusik die Bipolarität des „Wenn- Dann“, die dem lyrischen Text mit Ausnahme der ersten Strophe zugrunde liegt. Und selbst diese lässt ja in dem lyrisch-sprachlichen „Drum“, mit dem der letzte Vers eingeleitet wird, den sich immer wieder aufs Neue ereignenden Übergang des lyrischen Ichs aus der verzückten Imagination der „schönen Müllerin“ zur Entschiedenheit des Bekenntnisses seiner Liebe zu ihr erkennen.

    Der Umschlag der Liedmusik im deklamatorischen Gestus der melodischen Linie und in ihrer Harmonisierung ereignet sich am Ende des zweitletzten Verses. Hier tritt eine ganztaktige Pause in sie, und anschließend geht sie in zwei, wiederum durch eine, nun nur noch zwei Viertel in Anspruch nehmende Pause getrennte Zeilen über, die mit Ausnahme ihres Schlusses strukturell identisch sind und den letzten Vers beinhalten. Schubert setzt also hier wieder das kompositorische Mittel der Wiederholung ein, um der für ihn wichtigen lyrischen Aussage, und das ist eben dieses Heraustreten-Wollen des lyrischen Ichs aus der seelischen Innenwelt in die reale Welt eines Auslebens seiner Liebe zum Du den angemessenen musikalischen Nachdruck zu verleihen.
    (Fortsetzung folgt)

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  • „Des Müllers Blumen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Im ersten Teil der Liedmusik entfaltet sich die melodische Linie in einer Art schaukelndem Grund-Gestus und reflektiert darin das imaginative Sich-Einfühlen in die nächtliche Lebenswelt der Geliebten und die dabei sich ereignende Vergegenwärtigung ihrer Gestalt. Auf der Grundlage des Sechsachteltakts geht es bei den Worten „Am Bach viel kleine Blumen stehn“ erst einmal über den tonalen Raum einer ganzen Oktave ab- und wieder aufwärts, wobei das Klavier dieser Bewegung mit Achteln im Diskant folgt, während es in Bass, wie es das durchweg bis zum Ende praktiziert, lang gehaltene Oktaven erklingen lässt. Beim zweiten Vers folgt eine Fallbewegung auf die andere, wobei das Klavier nun allerdings seine Achtel gegenläufig aufsteigen lässt. Mit dem dritten Vers kehrt die melodische Linie wieder zu ihrer Schaukelbewegung zurück, und das liebliche Bild „Und hellblau Liebchens Auge scheint“ bewegt sie dazu, in dieser nun ein kleineres Intervall überspannenden Schaukelbewegung in höhere Lage aufzusteigen.

    Das ist auch der Ort, wo die Harmonik, die sich bislang in Rückungen von der Dominante A-Dur zu den beiden Dominanten entfaltete, in neue tonartliche und tongeschlechtliche Regionen vorstößt: Das melodische Auf und Ab in Sekundschritten bei dem Wort „hellblau“ ist in Cis-Dur harmonisiert und auf diese Weise mit einem starken klanglichen Akzent versehen. Die Worte „Liebchens Auge“ bringen die melodische Linie dazu, mit einem Quartsprung zu einem hohen „Fis“ aufzusteigen und die Harmonik, eine Rückung nach fis-Moll zu vollziehen, wobei die Achtel im Diskant eine Aufwärtsbewegung nach der anderen beschreiben.

    Und das setzen sie, darin in der tonalen Ebene ansteigend, auch bei den Worten „Auge scheint“ fort. Die melodische Linie geht hier aber in ein wellenartiges Verharren in oberer tonaler Lage über, und die Harmonik vollzieht eine Rückung vom vorangehenden fis-Moll über H-Dur nach E-Dur, das die Funktion einer zum zweiten Teil des Liedes hinführenden Dominante einnimmt. Das Klavier greift das in dem eintaktigen, ebenfalls eine Brückenfunktion übernehmenden Zwischenspiel auf, indem es die wellenartige Bogenbewegung auf den Worten „Liebchens Auge scheint“ mit Akkorden und Einzeltönen noch einmal nachvollzieht, und dies wieder in der harmonischen Rückung von der Doppeldominante H-Dur zur Dominante E-Dur.

    Die Melodik auf dem sich wiederholenden letzten Vers unterscheidet sich von der auf den ersten vier Versen schon allein dadurch, dass sie nicht wie diese auftaktig angelegt ist, sondern volltaktig. Das Wort „drum“ wird am Taktanfang in Gestalt eines punktierten Viertels deklamiert und ist auf diese Weise mit einem starken Akzent versehen. Das lyrische Ich hat zum Gestus der Entschiedenheit in seinen Aussagen gefunden.

    Bemerkenswert aber: Dieser durch Dehnung akzentuierte volltaktige Einsatz der melodischen Linie ist nicht mit einem dynamischen Crescendo verbunden. Pianissimo ist hier für den Vortrag ausdrücklich vorgeschrieben. Erst bei der Wiederholung dieser bis zu den Worten „meine Blumen“ identischen melodischen Bewegung soll das gedehnte „Cis“ auf dem Wort „drum“ mit einem Crescendo vorgetragen werden, und es erhält überdies eine klangliche Akzentuierung dadurch, dass nun, im Nachklang zu der harmonischen Rückung von Cis-Dur nach fis-Moll, in der das kurze Zwischenspiel harmonisiert ist, kein einfaches „A“ im Bass auf ihm liegt, sondern eine Ais-Oktave.

    Die Worte „meine Blumen“ bergen ein hohes affektives Potential in sich. Für die melodische Linie hat das zur Folge, dass sie erst einmal nach einer Aufstiegsbewegung über die Intervalle einer Terz und einer Quarte in einen wehmütig anmutenden, weil im gedehnten Legato erfolgenden zweifachen Sekundfall übergeht, der zur Folge hat, dass die aufsteigend angelegten triolischen Achtelfiguren, mit denen das Klavier hier durchweg im Diskant begleitet, in eine harmonische Rückung von Cis-Dur nach fis-Moll übergehen. Und in der Wiederholung beschreibt die melodische Linie diese Aufstiegsbewegung bei dem Wort „meine“ zwar noch einmal, geht danach aber bei „Blumen“ in einen Legato-Sextfall mit nachfolgendem, auf dem Grundton endenden Sekundanstieg über, der in der Kadenzrückung von der Dominante zur Tonika harmonisiert ist.

    Das lyrische Ich hat sich, so wie Schubert es mittels seiner Wiederholung der Worte des letzten Verses verstanden wissen will, aus dem zunächst noch zögerlichen Bekenntnis zu seiner Liebe nun zu einem mit größerer Entschiedenheit vorgebrachten durchgerungen.

  • Lied 10: „Tränenregen“

    Wir saßen so traulich beisammen
    Im kühlen Erlendach,
    Wir schauten so traulich zusammen
    Hinab in den rieselnden Bach.

    Der Mond war auch gekommen,
    Die Sternlein hinterdrein,
    Und schauten so traulich zusammen
    In den silbernen Spiegel hinein.

    Ich sah nach keinem Monde,
    Nach keinem Sternenschein,
    Ich schaute nach ihrem Bilde,
    Nach ihrem Auge (M.: ihren Augen) allein.

    Und sahe sie nicken und blicken
    Herauf aus dem seligen Bach,
    Die Blümlein am Ufer, die blauen,
    Sie nickten und blickten ihr nach.

    Und in den Bach versunken
    Der ganze Himmel schien,
    Und wollte mich mit hinunter
    In seine Tiefe ziehn.

    Und über den Wolken und Sternen
    Da rieselte munter der Bach,
    Und rief mit Singen und Klingen:
    Geselle, Geselle, mir nach!

    Da gingen die Augen mir über,
    Da ward es im Spiegel so kraus;
    Sie sprach: Es kommt ein Regen,
    Ade, ich geh' nach Haus.

    Zum ersten Mal, erst im zehnten, die erste Hälfte des Zyklus beschließenden Lied, taucht das Plural-Personalpronomen „wir“ im lyrischen Text auf, und dies im Zusammenhang mit der ebenfalls erstmaligen lyrisch-narrativen Deskription realen, also nicht mehr nur imaginierten Zusammenseins mit dem geliebten Du, - dies freilich aus der Perspektive des diesen Vorgang im sprachlichen Gestus des Berichts wiedergebenden lyrischen Ichs.

    Ein „Bericht“ ist das allerdings nicht wirklich. Nicht nur das hohe emotionale Potential in Gestalt der in den Text eingehenden lyrischen Bilder steht dem entgegen, auch die permanent sich ereignende Wiederholung der Versanfänge lässt das das vollkommene, ganz und gar distanzlose Involviert-Sein des lyrischen Ichs in das Geschehen vernehmlich werden.

    Ist dies nun wirklich die narrative Wiedergabe einer Szene wirklicher innerer Verbundenheit im nächtlichen oder spätabendlichen „traulichen“ Zusammen-Seins „im kühlen Erlendach“ am Ufer des „rieselnden Baches“?
    Zusammen-Sein durchaus, innere gar liebevolle Verbundenheit aber auf keinen Fall. Denn bemerkenswert ist: Das lyrische Ich erfährt und erlebt all das in der Spiegelung durch das Wasser des „Bächleins“, das ja im siebten und achten Lied nicht präsent war und im neunten nur eine gleichsam abstrakte Rolle spielte, nun auf einmal wieder gegenwärtig ist, - und dies auf höchst bedeutsame, weil auf geradezu unheimliche, auf das das „Ende vom Lied“ verweisende Art und Weise.

    Schon in der dritten Strophe wendet das lyrische Ich seinen Blick von „Mond“ und Sternelein“ ab und richtet seinen Blick ganz und auf „ihre Augen“. Die aber sieht es „nicken und blicken“ aus dem „seligen Bach“, nicht etwa im direkten Anblick des realen Gesichts der „schönen Müllerin“.
    Und prompt gerät es wieder in den magischen Einfluss des „seligen Baches“, indem es ihn in einem surrealen Bild als „über den Wolken und Sternen“ riesend erfährt und „mit Singen und Klingen“ ihn rufen hört: „Geselle, Geselle mir nach“. In den Versen Der ganze Himmel schien, / Und wollte mich mit hinunter / In seine Tiefe ziehn“ nimmt dieser lyrische Text unmittelbar Bezug auf den letzten Vers von „Des Baches Wiegenlied“, und das verleiht diesem Gedicht – und damit auch der Liedmusik Schuberts auf ihn – eine fundamentale Bedeutung für den ganzen Zyklus und seine lyrisch-musikalische Aussage.

    Dass hier ein durchaus großer – und lange Zeit darin verkannter - Lyriker am Werk ist, einer dem Heine seinen großen Respekt gezollt hat, wird insbesondere an der letzten Strophe ersichtlich, der Schubert in seiner hochgradig entwickelten Sensibilität für lyrische Sprache prompt eine eigene Strophe gewidmet hat.
    Eigentlich ereignet sich hier Schreckliches, die vom lyrischen Ich imaginierte Liebesbeziehung betreffend: In lakonischen Worten verkündet die „schöne Müllerin“, dass sie nun „nach Haus“ gehen werde, weil angeblich „ein Regen“ komme. Müller lässt sein lyrisches Ich dies in dem gleichen narrativen Gestus referieren, in dem alles andere zuvor auch erfolgt ist. Dies aber im Kontext der Worte: „Da gingen die Augen mir über, / Da ward es im Spiegel so kraus“.

    Will heißen:
    Das lyrische Ich ist ganz und gar in seiner Fixierheit auf das „Bächlein“ befangen, auf all das ausgerichtet, was sich darin spiegelt, was sich in ihm abspielt und was es ihm vermeintlich zu sagen hat. Die in ihrer Lakonie und ihrer Ironie im Grunde völlige Teilnahmslosigkeit am anderen und Beziehungslosigkeit zu ihm zum Ausdruck bringende Bemerkung nimmt es gar nicht wirklich wahr.
    In schönster Heinescher Ironie-Manier hat Müller hier ja das Nass des Regens, das die Müllerin anspricht, indirekt zu jenem der Tränen in Bezug gesetzt, die - und das ist vielsagend – den übergehenden Augen des lyrischen Ichs nicht infolge des Zusammenseins mit der Müllerin entströmen, sondern Folge des Bach-Rufes „Geselle, mir nach“ sind.
    Die Worte der Müllerin können auch so verstanden werden, dass sie vor dem „Tränenregen“ flüchtet.


  • „Tränenregen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Schubert hat aus diesem Gedicht ein Strophenlied gemacht, in dem sich die Liedmusik auf den ersten beiden Gedichtstrophen bei den beiden nachfolgenden Strophenpaaren, verbunden durch ein dreitaktiges Zwischenspiel, auf identische Weise wiederholt und durch eine siebte Liedstrophe ergänzt wird, die die Verse der letzten lyrischen Strophe beinhaltet. Ein Zwischenspiel, das sich aus den gleichen Motiven speist, erklingt auch zwischen den Liedmusiken auf den beiden Strophenpaaren. Voran geht all dem ein auftaktig eingeleitetes viertaktiges Vorspiel, und beschlossen wird das Lied durch ein fünftaktiges Nachspiel, das wiederum Motive des Vorspiels aufgreift, diese aber auf vielsagende Weise in ihrer Gestalt und ihrer Harmonisierung variiert. Ein Sechsachteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, A-Dur ist ihr als Grundtonart vorgegeben, und sie soll „ziemlich langsam“ vorgetragen werden.

    So viel zur formalen Anlage des Liedes. Das eigentlich Bemerkenswerte daran ist freilich dieses: Die Tatsache, dass Schubert das in seiner lyrischen Aussage vielgestaltige, sich als Niederschlag von realweltlichem Leben im lyrischen Ich darstellende narrative Geschehen sechs Strophen lang in die gleiche Liedmusik gefasst hat und erst bei der letzten Strophe zu einer neuen übergegangen ist.
    Das kann doch nur so verstanden werden, dass es ihm nicht darum ging, all das, was das lyrische Ich an Einzelaussagen in sprachlich narrativer und deskriptiver Form zum Ausdruck bringt, liedmusikalisch zu berücksichtigen, er vielmehr beabsichtigte, in der Liedmusik die Grundhaltung des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Und er hatte allen Grund dazu, liedkompositorisch so zu verfahren und erst bei der letzten Gedichtstrophe von dem repetitiven Strophenlied-Konzept abzuweichen. Denn auf diese Weise konnte er diesen eigentümlichen Vorgang des sich in der Fixierung auf die Spiegelung im Wasser des Baches ereignenden Heraustretens des lyrischen Ichs aus der realen Situation des Zusammen-Seins mit der Müllerin musikalisch erlebbar werden lassen.

    Die für dieses Lied so typische und im Grunde höchst verwunderliche, weil für Schuberts Liedkomposition geradezu einmalige Unbeteiligtheit der Liedmusik am Seelenleben des lyrischen Ichs hat darin ihren tiefen Sinn. Und der wird durchgehalten bis zum Ende. Denn die tiefe Erschütterung, die das lyrische Ich angesichts der Reaktion der so sehr geliebten Müllerin in der letzten Strophe eigentlich erfassen müsste, findet in der Liedmusik Schuberts darauf keinerlei Niederschlag. Das vordergründig auffälligste Symptom dafür ist, dass er hier nicht, um die letzte Liedstrophe in ihrem Gewicht aufzuwerten, zum ansonsten so gerne gehandhabten Mittel der Wiederholung greift.

    Das Vorspiel gibt die Grundfigur vor, in der sich die melodische Linie in der ersten, der dritten und der fünften Strophe entfaltet. Es ist ein wellenartig anmutendes Auf und Ab, das sich von Vers zu Vers wiederholt und erst zum letzten hin in einen durch die Anforderung einer Kadenz bedingten Fall in Gestalt einer durch Zwischensprünge gestuften und auf dem Grundton „E“ endenden Fall übergeht. Das Klavier folgt dieser Bewegung mit aus Achteln und bitonalen Achteln gebildeten Figuren im Diskant, denen allerdings zumeist gegenläufige Bewegungen von Achteln im Bass gegenüberstehen, so dass der Klaviersatz ein relativ komplexes Bild bietet. Die Harmonik verbleibt in ihren Rückungen durchweg im Bereich der Tonika A-Dur und ihrer beider Dominanten, wäre da nicht der bereits im Auftakt und inmitten des Vorspiels erstmals erklingende und danach die sich ebenfalls ja wiederholende auftaktige melodische Tonrepetition im Einsatz der melodischen Linie auf den beiden Verspaaren begleitende Akkord.

    Es ist ein verminderter, weil aus der übermäßigen Quinte „Eis“ gebildeter und der Tonalität „Cis“ zugehöriger. Und er wirkt störend in dieser ansonsten arglosen Harmonisierung einer sich ebenso arglos entfaltenden Melodik. Man kann ihn infolgedessen durchaus als kleines, aber feines Indiz dafür auffassen, dass diese Arglosigkeit untergründig ist. Schließlich konstituiert sich in dieser sich so einfach, ja geradezu idyllisch präsentierenden und nach dem Strophenliedprinzip sich entfaltenden Melodik ja doch ein lyrisches Ich, das sich, die Gegebenheiten einer realen Situation verlassend, auf imaginative Weise in deren Spiegelung im Wasser des Baches hineinsteigert.
    Höchst bezeichnend ist diesbezüglich, dass das wiegend anmutende, weil aus bogenförmig aufeinander folgenden Legato-Achtelfiguren gebildete dreitaktige Zwischenspiel vor dem Einsatz der - sich ebenfalls wiederholenden - Liedmusik auf die Strophen zwei, vier und sechs so anmutet, als würde sich hier der Bach zu Wort melden und das bekräftigen, was das lyrische Ich gerade zu berichten hatte.

    Mit den Worten „Wir schauten so traulich zusammen / Hinab in den rieselnden Bach“ setzt der Vorgang des Hineingezogen-Werdens des lyrischen Ichs in die Wasserwelt ein. Das ereignet sich im Blick in den „silbernen Spiegel“ des Baches, der gemeinsam mit der Müllerin erfolgt und vom lyrischen Ich, zumal auf dem Hintergrund der nächtlichen Atmosphäre von „Mond und Sternlein“, als „traulich“ empfunden wird. Schuberts Liedmusik fängt das mit einer ruhig in mittlerer tonaler Lage sich entfaltenden, Sprünge über große Intervalle meidenden und häufig in den Gestus der Tonrepetition übergehenden melodischen Linie ein, die vom Klavier mit ihren Bewegungen folgenden Achtel-Dreierfiguren aus bitonalen Akkorden und Einzeltönen begleitet wird. Wie im Fall der ersten Strophe wiederholt sich die Melodik auf dem zweiten Verspaar in variierter, aber strukturell identischer Gestalt und geht am Ende, also bei den Worten „in den silbernen Spiegel hinein“, aus den Erfordernissen einer Kadenzierung zu einem vom bisherigen deklamatorischen Gestus abweichenden Fall über das große Intervall einer Sexte mit nachfolgendem, zum Grundton „A“ führenden Sekundanstieg über.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Tränenregen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Melodik, Klaviersatz und auch die Harmonik weisen in der zweiten Liedstrophe nicht den geringsten Anflug eines die musikalische Idylle störenden Faktors auf. Dem bei dem Sekundsprung am Ende der ersten Melodiezeile aus der sich ansonsten im Tonika-Dominanten-Bereich verbleibenden Harmonik kurz aufklingenden Cis-Dur kommt eine nur die melodische Aussage über doppeldominantische Rückung akzentuierende Funktion zu.

    All das ist bei der zweiten und der vierten Strophe angesichts ihrer Metaphorik durchaus angebracht, bei der sechsten aber verwundert es. Denn hier ereignet sich ja der sich am Ende des Zyklus als Vorgriff auf das narrative Geschehen und damit sich in seiner Unheimlichkeit enthüllende Ruf „Geselle, Geselle mir nach!“. Schubert legt darauf die gleiche idyllische Liedmusik wie auf die Worte „In den silbernen Spiegel hinein“ und das auf die „Blümlein am Ufer“ sich beziehenden „Sie nickten und blickten ihr nach“.

    Das ist nicht einfach die letztendlich wenig besagende Folge des der Liedmusik zugrunde liegenden Strophenlied-Prinzips, es ist von Schubert ganz bewusst so gewollt: Denn darin drückt sich das für die künstlerische Aussage des ganzen Liederzyklus konstitutive, aus der unüberwindlichen existenziellen Einsamkeit hervorgehende Gefangen-Sein des Protagonisten in der wesenhaft imaginativen seelischen Innenwelt aus, von der heraus ihm kein wirklicher Ausbruch in die reale Außenwelt zu gelingen vermag.

    Deshalb also die diese Grundhaltung des lyrischen Ichs reflektierende und in ihrer permanenten, nicht enden wollenden Wiederholung geradezu suggestive Wirkung entfaltende Liedmusik, der das Klavier auch im Übergang zu der der letzten Strophe die vom Achtel-Gestus der Melodik und ihrer Begleitung sich abhebenden und darin wiegend anmutenden Sechzehntel-Figuren nachfolgen lässt.

    Die Worte „Da gingen die Augen mir über“, mit denen die letzte Strophe einsetzt, lassen die melodische Linie in eine Fallbewegung übergehen, die mit einer Tonrepetition auf einem „C“ in oberer Mittellage einsetzt und in Sekundschritten bis zur Ebene eines „E“ in tiefer Lage führt. Das Klavier vollzieht sie mit bitonalen Achtel-Akkorden und Einzeltönen im Diskant mit. Das aber, was sie von der bisherigen Liedmusik am stärksten abhebt und ihre schmerzlich anmutende Aussage bedingt, ist ihre Harmonisierung: Mit dem einleitenden Wort „Da“ schlägt das A-Dur, in dem das Zwischenspiel endet, unvermittelt in a-Moll um, und in dieses Tongeschlecht ist auch, mit nur kurzer Zwischenrückung nach G-Dur bei dem Sekundsprung auf dem Wort „gingen“ , nicht nur die melodische Linie auf dem ersten Vers, sondern auch die auf dem Anfang des zweiten gebettet. Erst bei der Anstiegsbewegung, zu der sie bei den Worten „Da ward es im Spiegel so kraus“ übergeht, ereignet sich am Ende, bei der Tobrepetition auf „Spiegel so“ und dem Sekundsprung zu „kraus“ hin eine Rückung nach G-Dur und C-Dur, den Einbruch des nicht ganz Geheueren akzentuierend, der sich hier im lyrischen Bild ereignet.

    Noch in dem partiell in kleinen Sekundschritten erfolgenden Fall von Achteln, den das Klavier im kurzen Zwischenspiel vor dem Einsatz der Melodik auf den letzten beiden Versen erklingen lässt, schlägt die Harmonik aber wieder in die Moll-Parallele um. Auf den Worten „Sie sprach: Es kommt ein Regen“ verfällt die Melodik in einen aussageneutralen Rhetorik-Gestus: Eine mit einem verminderten Sekundfall einsetzende deklamatorische Tonrepetition, die bei „Regen“ in einen Terzsprung mit Rückfall auf die Ebene des „A“ übergeht, auf dem sich die Repetition ereignete.
    Ganz offensichtlich ist: Das lyrische Ich gibt diese Aussage auf geradezu sachliche Weise wieder. Die einzigen Indizien, die in der Liedmusik auf eine innere, den Sachverhalt schmerzlich registrierende Anteilnahme beim lyrischen Ich verweisen, sind die unruhigen steigenden und fallenden Achtelfiguren, mit denen das Klavier hier die starre Melodik begleitet, und die Harmonik, die eine Rückung von d-Moll in verminderte A-Tonalität beschreibt.

    Bei den Worten „Ade, ich geh´ nach Haus“ geht melodische Linie aus diesem vorausgehend repetitiven Gestus zu einem geradezu munter anmutenden Auf und Ab in Sekundschritten über, dem am Ende durch einen Sextfall mit Sekundanstieg zum Grundton „A“ hin Nachdruck verliehen wird, und die Harmonik verstärkt diesen Eindruck von Entschiedenheit, der hier von der Melodik ausgeht, dadurch, dass sie von dem Tongeschlecht Moll ablässt zu einer Wechselrückung Tonika-Dominante übergeht.

    Die Müllerin vollzieht einen im Grund erschreckend teilnahmslosen Abgang aus der Zweisamkeit, die nur vom Protagonisten als idyllisch empfunden und in dieser Weise musikalisch berichtend auch wiedergegeben wird, - bis hin zu einem, so wie Schubert das verstanden wissen will, Nicht-wahrnehmen-Wollen des Desinteresses, das die Müllerin in ihrem Verhalten und ihren Worten zum Ausdruck bringt.

    Und das fünftaktige Nachspiel, sich aus den Figuren des Vorspiels speisend, bekräftigt dies auch noch, indem es sich in Rückungen von der Tonika A-Dur und ihren Dominanten entfaltet, - bis es dann in den letzten beiden Takten dann doch ins Tongeschlecht Moll umschlägt und über einer Rückung von a-Moll, E-Dur und d-Moll in einem a-Moll-Akkord endet.

    Tief in den Untergründen der Seele des lyrischen Ichs meldet sich etwas, was es nicht wirklich wahrhaben will. Und wie stark es von dieser Haltung des Verdrängens beherrscht wird, lässt das nächste Lied mit seinem appellativen, die Realität auf geradezu gewaltsame und deshalb bedrückende Weise ignorierenden Titel „Mein!“ vernehmen.

  • Lied 11: „Mein!“

    Bächlein, laß dein Rauschen sein!
    Räder, stellt eu'r Brausen ein!
    All ihr muntern Waldvögelein,
    Groß und klein,
    Endet eure Melodein!
    Durch den Hain
    Aus und ein
    Schalle heut' ein Reim allein:
    Die geliebte Müllerin ist mein!
    M e i n!
    Frühling, sind das alle deine Blümelein?
    Sonne, hast du keinen hellern Schein?
    Ach, so muß ich ganz allein,
    Mit dem seligen Worte mein
    Unverstanden in der weiten Schöpfung sein!

    Schon von seiner formalen Anlage her bekundet dieses Gedicht ein jegliche rationale Kontrolle transzendierendes, rauschhaft-emotional expressives Sich-Hineinsteigern des lyrisches Ichs in eine einzige Empfindung, die sich in dem Wort „mein“ verdichtet, nachdem sie zuvor in elaborierter Weise in den Worten „Die geliebte Müllerin ist mein“ artikuliert wurde. Müller hat das auf durchaus gekonnte Weise dergestalt lyrisch-sprachlich zum Ausdruck gebracht, dass er das Gedicht prosodisch als eine aufeinanderfolgende Reihung von keinerlei metrische Regelmäßigkeit aufweisende Folge von Versen angelegt hat, die allesamt auf eine geradezu hypnotisch wirkende Weise auf der Silbe „ein“ enden, dem lautlichen Kern des lyrisch zentralen Wortes „mein“, dem, bis hin zum gesperrten Druckbild, ein eigener Vers-Status zugewiesen ist.

    Das lyrische Ich steigert sich in diesem Stadium seiner Beziehung zur „schönen Müllerin“ so extensiv und absolut in die Imagination einer Liebe, für die nach dem Ausgang der in „Tränenregen“ dargestellten Zweisamkeit keinerlei reale Grundlage besteht, dass es in das Zum-Ausdruck-Bringen die ganze Welt um es herum nicht nur einbezieht, sondern sogar in Anspruch nimmt, indem es fordert, sie solle in seine zentrale Aussage einstimmen. Angesichts der Tatsache, dass sie diesem Anspruch nicht genügen will, die „Blümelein“ zu wenige sind und die „Sonne“ nicht hell genug scheint, kommt ein Moment der Nachdenklichkeit in ihm auf: Es fühlt sich mit einem Mal allein und „unverstanden“ in der „weiten Schöpfung“.

    Die Art und Weise, wie Schubert diese Verse in Liedmusik gesetzt hat, lässt erkennen, dass er sie in ihrer Folge auf die von „Tränenregen“ als Höhepunkt und zugleich Umschlag im narrativen Geschehen dieses lyrischen Zyklus´ , und damit als Eröffnung und Überleitung zu seiner weiteren Entwicklung aufgefasst hat. Dass er sie in diesem Sinn, als Eingangslied zur zweiten Hälfte seines Liederzyklus´ verstanden wissen will, zeigt die Tatsache, dass sie eine auffällige Verwandtschaft zum Eingangslied desselben, „Das Wandern“ also, aufweist. Mit ihm gemeinsam hat sie den durch den Klaviersatz aus gebrochenen, Alberti-Bass-Manier aufweisenden Akkorden im Diskant und Oktavsprüngen im Bass dynamisch voran geriebenen deklamatorischen Gestus der Melodik. Bemerkenswert aber: Sowohl der Klaviersatz, wie auch die Melodik treten hier auf deutlich differenziertere Weise auf.

    Der Müllergeselle hat, so wie Schubert ihn verstanden hat, obgleich er hier auf die Anfänge seines Auftretens zurückgreift, die dortige Naivität seiner Wanderschaft-Existenz verloren. Die zwischenzeitlichen Erfahrungen, die der beim Eintritt in die Mühlenwelt gemacht hat, raubten sie ihm. Umso auffälliger – und diesem Lied seine spezifische Expressivität verleihend - ist die geradezu gewaltsam anmutende Rückkehr zu derselben. Sie drückt sich darin aus, dass Schubert dieses Lied, darin auf fundamentale Weise von Müller abweichend, als Strophenlied nach dem Muster „A-B-A“ angelegt hat. Die ersten neu Verse bilden die lyrisch-sprachliche Grundlage für die erste Liedstrophe, das Wort „mein“ bildet, in seiner melodischen Gestaltung drei Takte einnehmend, das liedmusikalische Bindeglied zur zweiten Liedstrophe, die die Verse elf bis fünfzehn beinhaltet, und danach erklingt die ganze erste Strophe in im wesentlichen unveränderter, mit Ausnahme des Schlusses jegliche Variation meidender Weise wieder. Nur die von Schubert in Abweichung von Müllers Text vorgenommene Ergänzung des neunten Verses durch die Worte „mein, ist mein“ erfährt nun eine Kadenz-Variation in Gestalt eines fünfschrittigen, partiell triolischen und am Ende in eine Kombination aus Quartsprung und Quintfall mündende Variation.


  • „Mein“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Weil das sich anschließende Nachspiel eine unveränderte Wiederkehr des Vorspiels darstellt, wird im Rezipienten dieser Liedmusik die Erwartung geweckt, dass das nun immerzu so weitergeht, dass das lyrische Ich gar nicht ablassen kann, sich in der Emphase seiner imaginierten Existenz als Liebender und Geliebter rauschhaft auszuleben, erklänge da nicht plötzlich, nach einer Viertelpause, mit einem Mal ein lang gehaltener achtstimmiger D-Dur-Akkord, - und das, was ansonsten im ganzen Zyklus nicht vorkommt, in einem Fortissimo.

    Und dieser geradezu wie gewaltsam gesetzt anmutende Schlusspunkt verrät die liedkompositorische Intention Schuberts, die dieser für seine Verhältnisse geradezu simplen, weil nicht variierten Wiederholung der Liedmusik zugrunde liegt. Er will auf möglichst eindringliche Weise vernehmlich werden lassen, was sich in diesem Augenblick des narrativen Geschehens in diesem Zyklus ereignet:
    Der in einem Akt rauschhafter Autosuggestion erfolgende Entwurf einer Welt liebeerfüllter existenzieller Zweisamkeit, der sich schon jetzt, aber erst recht in dem, was sich anschließend ereignet, als verhängnisvolle Negation von lebensweltlicher Realität erweist.

    Aber in der Liedmusik selbst deutet sich das vorab ja schon an. Dies in der Art und Weise, wie Schubert die in die sich wiederholende Emphase der A-Strophe eingelagerte B-Strophe in der Struktur und der Harmonisierung ihrer Melodik und dem ihr zugeordneten Klaviersatz von dieser absetzt und in ihrer Eigenständigkeit hervorhebt. Darin reflektiert die Liedmusik die Tatsache, dass das lyrische Ich hier in den Gestus des Fragens verfällt, der in die Erkenntnis des „Unverstanden-Seins“ mündet. Und weil sich hier, von Müller lyrisch so zum Ausdruck gebracht, indirekt diese die reale Welt transzendierende Verstiegenheit in eine imaginäre bekundet, hat Schubert dem mit seinen liedmusikalischen Mitteln den gebotenen Nachdruck verliehen. Das soll in einem vergleichenden Blick auf die kompositorische Gestaltung der beiden Liedstrophen aufgezeigt werden

    Aber zunächst zum Vorspiel. Ihm kommt allein schon durch seinen Umfang von elf Takten und sein Wieder-Erklingen im eine gewaltsame Beendigung erforderlich machenden Nachspiel eine wichtige Rolle und Funktion zu. Aber nicht nur aus diesen äußerlichen Gründen. Es ist vor allem sein musikalischer Gehalt, der diese bedingt. Vier Mal hintereinander geht im Diskant eine sprunghaft angelegte und in eine aus dem Mezzoforte ins Decrescendo übergehende Achtelfigur in eine bitonale Akkordrepetition über, und dies in der harmonischen Rückung von der Tonika D-Dur zur Dominante und im Bass begleitet von einer ebenfalls sprunghaft als Auf und Ab angelegten Figur aus einem gehaltenen Grundton und daraus hervorgehenden Sprüngen von Achteln.

    Dann, vom fünften Takt an, folgt dem eine drei Mal sich ereignende Reduktion dieser Figur und ein damit einhergehendes Sich-Absenken in tiefere Lage. Eine Anmutung von Mobilisierung, von In-Bewegung-Setzen geht von diesem Vorspiel aus, und das leichte Abklingen dieses ihm innewohnenden Geistes stellt sich nur als Sich-zurück-Nehmen für den Einsatz der melodischen Linie in eben diesem Geist heraus. Und dies nicht nur wegen der harmonischen Rückung von der Dominante zur Tonika am Ende, sondern auch deshalb, weil das Klavier hier zu der Bass-Figur übergeht, mit der sie es im folgenden permanent begleiten wird. Es ist die – zur Oktave sich ausweitende – Schreitfigur, die es auch im Eingangslied „Das Wandern“ zur Begleitung der Singstimme benutzt und die dort ganz wesentlich die Dynamik des wanderschaftlichen Voranschreitens hervorbringt.

    Die der Melodik der A-Strophe eigene Anmutung von beschwingter, geradezu sich in die Emphase steigernder Entfaltung kommt dadurch zustande, dass permanent die strukturell gleiche deklamatorische Figur aufeinanderfolgt und sich dabei in der tonalen Ebene in die Höhe steigert, um sich am Ende, wie in einer Art Ausatmen,, wieder in mittlere Lage abzusenken. Gleich auf den Worten des ersten Verses, auf „Bächlein, laß dein Rauschen sein“ also, erklingt diese Figur. Mit einer Fallbewegung einsetzend steigt die melodische Linie an, geht in eine Tonrepetition über, senkt sich danach wieder ab und endet in einer Dehnung, wobei diese anfänglich das Ende der Fallbewegung bildet, später aber, und darin eben diese der Melodik innewohnende Dynamik reflektierend, das Ende einer neuerlichen Aufwärtsbewegung darstellt. So bei den in identischer Melodik sich wiederholenden Worten „Endet eure Melodein“.

    Das Klavier begleitet die melodische Linie durchweg mit nach dem Alberti-Bass-Prinzip gebrochenen Akkorden auf der Grundlage eines gehaltenen Einzeltons im Diskant und Sprungbewegungen von Vierteln über unterschiedliche Intervalle – darunter auch Oktaven – im Bass. In „Das Wandern“ geht von diesem Klaviersatz eine schreitend vorandrängende Wirkung aus. Die Harmonik verbleibt mit ihren Rückungen zumeist im Bereich der Tonika D-Dur und ihren Dominanten, sie weicht aber dort davon ab, wo es um die Unterstützung des der Melodik innewohnenden Steigerungseffekts geht. So wiederholt sich die melodische Bewegung auf den Worten „Bächlein, laß dein Rauschen sein“ beim nachfolgenden Vers („Räder, stellt eu'r Brausen ein“) auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene, und das hat zur Folge, dass die Harmonik hier eine Rückung von e-Moll nach H-Dur beschreibt.


    Im - nach einer Dreivierteilpause - mit den Worten „Durch den Hain“ einsetzenden zweiten Teil der A-Strophe bleibt der Klaviersatz in seiner Grundstruktur erhalten, die Alberti-Figuren im Diskant, die in der A-Strophe im Intervall der Sprünge und in der tonalen Ebene vielerlei Variationen durchlaufen, neigen nun aber dazu, über längere Phasen in ihrer Gestalt und in der tonalen Ebene ihrer Bewegung konstant zu bleiben. Und auch die melodische Linie verstärkt ihre Neigung zur Wiederholung der Figuren ihrer Entfaltung. Denn die Worte der Verse sechs bis acht erklingen in unveränderter liedmusikalischer Gestalt noch einmal. Und dies ist bedingt durch das Zulaufen der lyrischen Aussage auf ihr inhaltliches Zentrum in Gestalt der Worte „Die geliebte Müllerin ist mein!“ Und hier ereignet sich nun eine markante Abkehr der melodische Linie von ihrem bisherigen deklamatorischen Gestus: Sie beschreibt, und dies wiederum auf sich wiederholende Art und Weise, eine zweimalige, sich über das große Intervall einer Septe erstreckende Fall- und Aufstiegsbewegung in Achtelschritten über Quarten und Terzen und schwingt sich bei den zweimal deklamierten Worten „ist mein“ mit einer Kombination aus Sept- und Terzsprung aus der tiefen Lage eines „E“ zur der eines hohen „Fis“ empor, um sich anschließend in einen Legato-Fall über zwei Terzen in mittlere Lage abzusenken und mit einem Quartsprung dann zur abschließenden Dehnung auf dem Wort „mein“ überzugehen.


    Der schon in seiner lyrisch-sprachlichen Gestalt hervorgehobene Ausruf des lyrischen Ichs erhält auf diese Weise eine deutliche Steigerung der ihm innewohnenden Emphase. Dies nicht allein durch die Struktur der Melodik, sondern auch dadurch, dass es sich hier um die einzige Melodiezeile in der A-Strophe handelt, die durch eine Kadenz abgeschlossen ist. Diese erfährt bei der Wiederholung eine Variation dergestalt, dass der Legato-Fall nun nur noch einer über eine Terz ist, sich danach ein Legato-Wiederaufstieg der melodischen Linie in hohe Lage ereignet und die das Wort „mein“ mit einem Akzent versehende Dehnung nun aus einem Sekundfall hervorgeht. In beiden Fällen steigert sich die Liedmusik hier dynamisch aus dem Piano, in dem sie sich bislang entfaltete, ins Forte.

    Dem liedmusikalischen Bindeglied, zu dem Schubert das singuläre – und auch drucktechnisch hervorgehobene – Wort „Mein“ Müllers gemacht hat, verleiht er das ihm gemäße Gewicht dadurch, dass das Wort wiederholt wird und die fast drei Takte einnehmende melodische Linie nach einer Pause im Wert eines ganzen Taktes eine stark gedehnte, weil in zwei deklamatorischen Schritten von - im zweiten Fall sogar punktierten - halben Noten erfolgende Kombination aus Terzsprung und Sextfall beschreibt, der bei dem zweiten „mein“ ein in eine Dehnung mündender verminderter Sekundanstieg nachfolgt, der mit einer ausdrucksstarken harmonischen Rückung vom anfänglichen d-Moll nach B-Dur verbunden ist. Und um das Gewicht noch zu steigern geht hier das Metrum vom Viervierteltakt zu einem von zwei Halben über.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Mein“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Mit der Frage „Frühling, sind das alle deine Blümelein?“, der die im gleichen sprachlichen Gestus angelegte „Sonne, hast du keinen hellern Schein?“ nachfolgt, tritt ein neuer Ton in die Liedmusik. Er reflektiert die geradezu provokativ-trotzige Haltung, zu der das lyrische Ich, seinem emphatischen Ausruf Nachdruck verleihend, hier übergeht. Aber es ist ja zugleich eine Haltung, die mit einer Bewusstwerdung der eigenen Situation einhergeht, und auch dieser Sachverhalt schlägt sich in der Liedmusik der B-Strophe nieder. Der Klaviersatz bleibt strukturell hier der gleiche, er mutet aber unruhiger an, weil die Viertelsprünge im Bass nun stärker die tonale Ebene wechseln, in den Intervallen sich zu Oktaven in tiefer Lage absenken und überdies auch noch von einfachen Viertel-Bewegungen abgelöst werden. Hinzukommt, dass sich die Alberti-Figuren im Diskant jetzt in hoher Lage bewegen und immer wieder zu reinen Sechzehntel-Quartolen ohne den tragenden, weil länger gehaltenen Grundton werden. Schon im Klaviersatz schlägt sich also die innere Unruhe nieder, von der das lyrische Ich durch das reflexive Zurückgeworfen-Sein auf seine existenzielle Situation ergriffen wird.

    Und so ist das auch bei der Melodik und ihrer Harmonisierung. Der sprachliche Gestus des provokativen Drängens, der den beiden Frage innewohnt, schlägt sich in der melodischen Linie dergestalt nieder, dass sie, nun im Mezzoforte vorgetragen, zu einer Kombination aus sprunghaften und repetitiven Bewegungen übergeht und die maßgeblichen Worte mit einem starken Akzent versieht: Die Anreden „Frühling“ und „Sonne“ dadurch, dass der Quart-, bzw. Terzsprung, der auf ihnen liegt, durch eine Viertelpause von der nachfolgenden melodischen Bewegung abgesetzt wird; und die Worte „alle“ und „keinen“ in der Weise, dass auf ihnen eine durch Punktierung gedehnte deklamatorische Tonrepetition liegt. Die Schlussworte „Blümelein“ und „Schein“ erhalten eine Akzentuierung dadurch, dass die melodische Linie einen Sprung über eine Terz beschreibt, der im ersten Fall mit einer harmonischen Rückung von dem hier als Tonika fungierenden B-Dur zur Dominante F-Dur einhergeht, im zweiten Fall aber mit einer von der nun als Dominantsepte auftretenden Tonalität „F“ zur Tonika B-Dur.

    Der Klageruf „Ach!“ ist das lyrische Wort, das die drei letzten Verse einleitet und in ihrem semantischen Gehalt maßgeblich prägt. Und auch dieser lyrische Sachverhalt findet, wie könnte es anders sein bei Schubert, den ihn nicht nur voll erfassenden, sondern auch in seinen affektiven Dimensionen vertiefenden Niederschlag in der Liedmusik.
    Dies in der Weise, dass melodische Linie nun erst zu einer den evokativen Schmerzenston des „Ach!“ mit in Moll harmonisierten und aus einer Fallbewegung hervorgehenden Sprüngen über ein großes Intervall zum Ausdruck bringenden Bewegung übergeht, sich danach aber ganz und gar dem Gestus des Falls überlässt, dabei freilich das für das Selbstverständnis des lyrischen Ichs so relevante Wort „unverstanden“ auf hochgradig expressive, die Wiederholung zu Hilfe nehmende Weise hervorhebt. Und die für dieses lyrische Ich so typische Inanspruchnahme der ganzen Schöpfung für die Belange seiner eigenen Existenz ist auch verantwortlich dafür, dass Schubert hier – wieder einmal – zum kompositorischen Mittel der Wiederholung und zum Einsatz ausdrucksstarker Mittel der Melodik greifen muss.

    Wie stark die sind, eben weil es aus der Sicht Schuberts um die existenzielle Lage dieses Müllergesellen schlimm steht, lässt die kompositorische Gestaltung der wiederholten lyrischen Schlussworte „Unverstanden in der weiten Schöpfung sein“ vernehmen und erkennen. Nachdem die melodische Linie bei den Worten „Mit dem seligen Worte mein“ noch einmal die Bewegungen in leicht variierter Gestalt wiederholt hat, die sie bereits bei „Ach, so muß ich ganz allein“ vollzogen hatte und die so zentral wichtige Wortfolge „Worte mein“ mit einer Kombination aus vermindertem Quintsprung und Legato-Sekundfall akzentuierte, geht sie bei dem Wort „unverstanden“ in einen ganze zwei Takte einnehmenden und auf der Silbe „un-“ durch einen verminderten Sekundanstieg extrem gedehnten Fall in Sekundschritten über, bei dem die Harmonik eine ausdrucksstarke Rückung von C-Dur über b-Moll nach F-Dur beschreibt. Und auch die Worte „in der weiten Schöpfung“ erfahren eine markante musikalische Hervorhebung. Dies dergestalt, dass die melodische Linie eine bogenförmige, sie in hohe Lage führende Anstiegs- und Fallbewegung in Achtel-Sekundschritten vollzieht, um dann bei „Schöpfung in einem lang gedehnten großen Sekundanstiegt zu verharren, dem bei „sein“ ein mit einem Achtelvorschlag versehener Sekundanstieg nachfolgt. Hier kehrt die Harmonik zu dem in der B-Strophe als Tonika fungierenden B-Dur zurück, dabei freilich Rückungen in beide Dominanten beschreibend.

    Nach dieser in ihrer Melodik, deren Harmonisierung und auch im Klaviersatz durchaus eine durch die Reflexivität des lyrischen Ichs bedingte Abkehr von der Emphase der ersten Strophe vernehmen lassenden Liedmusik der B-Strophe sollte das Lied eigentlich zu Ende sein, - hätte Schubert nicht tiefer in die Seele dieses Müllergesellen geschaut als sein lyrischer Schöpfer.
    Die Wiederholung der A-Strophe hat, aus den hypothetisch erwogenen Gründen, für ihn einen tiefen Sinn. Auch dass sie sich ohne jegliche variierenden Eingriffe erfolgt, - mit Ausnahme der melodischen Gestaltung des letztmaligen Ausrufs „mein, ist mein“.
    Nun beschreibt die melodische Linie einen ausdrucksstarken, gleichsam Endgültigkeit verkörpernden Fall über das große Intervall einer Dezime. Freilich einen, der nicht gradlinig verläuft, sondern sich, nach dem gedehnten Einstieg aus hoher Lage, in tiefer am Ende noch einmal in einer triolischen Figur aufbäumt, um erst dann über einen Quintfall auf dem Grundton „D“ in tiefer Lage zur Ruhe zu kommen.

  • Lied 12: „Pause“

    Meine Laute hab' ich gehängt an die Wand,
    Hab' sie umschlungen mit einem grünen Band -
    Ich kann nicht mehr singen, mein Herz ist zu voll,
    Weiß nicht, wie ich's in Reime zwingen soll.
    Meiner Sehnsucht allerheißesten Schmerz
    Durft' ich aushauchen in Liederschmerz (M.: Liederscherz),
    Und wie ich klagte so süß und fein,
    Glaubt´ (M.: meint´) ich doch, mein Leiden wär' nicht klein.
    Ei, wie groß ist wohl meines Glückes Last,
    Daß kein Klang auf Erden es in sich faßt?

    Nun, liebe Laute, ruh' an dem Nagel hier!
    Und weht ein Lüftchen über die Saiten dir,
    Und streift eine Biene mit ihren Flügeln dich,
    Da wird mir so (M.: mir) bange und es durchschauert mich.
    Warum ließ ich das Band auch hängen so lang?
    Oft fliegt's um die Saiten mit seufzendem Klang.
    Ist es der Nachklang meiner Liebespein?
    Soll es das Vorspiel neuer Lieder sein?

    Nach der extrovertierten, in dynamisch gleitendem Fluss sich entfaltenden lyrischen Sprache des elften Gedichts nun hier im zwölften eine, die ins introvertierte, eher wie prosaisches Sprechen anmutende Stocken geraten ist. Das lyrische Ich sieht sich nach dem emphatischen, an die Außenwelt sich richtenden Ausruf-Gestus „Mein“ ganz und gar auf sich selbst zurückgeworfen und muss erkennen, dass es „nicht mehr singen“ kann. „Singen“, das ist hier als Sich-Aussprechen zu verstehen, als In-Worte-Fassen“ dessen, was sich im seelischen Innenraum ereignet. Und diese Erkenntnis führt zu solch großer Verunsicherung, die eigene existenzielle Situation betreffend, dass sich das lyrische nicht mehr aus und ein weiß, - die Ursachen seines augenblicklichen Verstummens als „Sänger“ und die diesbezüglichen zukünftigen Perspektiven betreffend.

    In szenischer Gestaltung, dem eindrucksvollen lyrischen Bild von der die Laute mit ihren Flügeln streifenden Biene, gewinnt dieses Zurückgeworfen-Sein auf sich selbst starken Ausdruck. Und das Durchschauern, das sich im lyrischen Ich in der Erfahrung dieser kleinen Szene ereignet, führt dazu, dass es in eine totale Ratlosigkeit des Fragens verfällt. Eine Frage folgt am Ende auf die andere. Und eine Antwort gibt es für den Müllergesellen nicht. nicht. Sie deutet sich nicht einmal an. Er kann nicht wissen, dass das Grün des Bandes, das er um seine Laute geschlungen hat, bald für ihn zur Schicksalsfarbe werden wird.

    Diesen Versen kommt in Müllers Gedicht-Zyklus eine Schlüsselfunktion zu: Sie sind ein lyrischer Aufriss der existenziellen Situation des lyrischen Ichs und seiner kognitiven und seelischen Befindlichkeit an einer Station des narrativen Geschehens, die die Frage des „Wie weiter?“ aufwirft. Und ihr daraus hervorgehendes poetisches Gewicht erfährt eine Verstärkung dadurch, dass sie die Antwort darauf auf höchst dezente Weise erahnen lassen. Dezent deshalb, weil das lyrische Ich in ihnen als noch rat- und ahnungslos dargestellt wird.

    Und Schubert?

    Er wird, wie nicht anders zu erwarten, der poetischen Schlüsselfunktion dieses Gedichts mit seiner Liedmusik nicht nur voll und ganz gerecht, indem er weiter in die seelische Innenwelt des lyrischen vordringt, er lässt sie auch in ihrer wahren Relevanz vernehmlich und erfassbar werden, indem er den Aspekt Zukunftsperspektive stärker einbringt, als dies Müller mit seinen lyrisch-sprachlichen Mitteln möglich war. Herausgekommen ist dabei das von der Komplexität seiner Faktur her gewichtigste und damit bedeutsamste Lied des ganzen Zyklus. Es ist, obgleich Schubert bei der Liedmusik der zweiten Gedichtstrophe anfänglich auf die Melodik der ersten zurückgreift, durchkomponiert, ein Viervierteltakt liegt ihm zugrunde, B-Dur ist als Tonika vorgegeben, und es soll „ziemlich geschwind“ vorgetragen werden.


  • „Pause“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Neun Takte reklamiert das Vorspiel für sich. Und schon das hebt dieses Lied aus den anderen hervor, erst recht aber das, was sich in ihm ereignet. Aus zwei Figuren besteht seine musikalische Substanz im Diskant: Einer Legato-Folge von fünf, eine zweimalige und rhythmisierte Fallbewegung beschreibenden Terzen, in die ein Sechzehntel-Vorschlag eingelagert ist, und einem Akkord im Wert einer halben Note, aus dem sich ein triolischer Achtelsekundfall löst, der zur nächsten Figur dieser Art überleitet.

    Man kann das aus diesen beiden Figuren gebildete Vorspiel als eine Imagination von Lautenmusik auffassen und verstehen, wobei vielsagend ist, dass ihr wegen der Dominanz von Fallbewegungen eine Anmutung von Wehmut innewohnt. Die kurze, im dritten Takt sich ereignende Rückung nach c-Moll in der sich ansonsten im Bereich der Tonika und ihrer beiden Dominanten bewegenden Harmonik verstärkt diesen Eindruck. Vor allem aber ist von Bedeutung, dass die erste der beiden Figuren in den die Melodik begleitenden Klaviersatz aufgenommen wird und immer dann erklingt, wenn das lyrische Ich direkt die Laute und sein „Singen“ anspricht. Das ist vom Einsatz der melodischen Linie bis zu ihrem Ende der Fall, und dieser Figur kommt gerade dort, wo das lyrische Ich die seine Zukunft betreffenden Fragen stellt, eine höchst bedeutsame Funktion zu.

    Aber der Klaviersatz besteht nicht nur aus dieser Figur. Er ist vielgestaltig, und vor allem ist er in seiner Entfaltung auf eine Weise autonom, wie das in keinem anderen Lied dieses Zyklus´ der Fall ist. Eine Begleitung der melodischen Linie in ihren Bewegungen ist nicht seine Aufgabe. Wenn überhaupt, dann tritt er in ein dialogisches Verhältnis zu ihr, und das aus einer eigenen musikalischen Aussage heraus. Das Zusammenspiel aus Melodik und Klaviersatz stellt sich – und das macht die spezifische und die herausragende Eigenart dieses Liedes aus – so dar, dass die Melodik den Eindruck macht, als wolle sie sich in gebunden linearer Gestalt entfalten, könne es aber nicht und falle sogar in einen rezitativischen Gestus zurück, der Klaviersatz aber in der Ungebrochenheit seiner eigenständigen Entfaltung so anmutet, als gelinge ihm das „Singen“, zu dem es die Melodik, darin die zentrale Aussage des lyrischen Ichs reflektierend, nicht zu bringen vermag.

    Das beharrliche, in seiner Gestalt nur leicht variierte, wohl aber unterschiedlich harmonisierte Erklingen der das Vorspiel einleitenden Figur bei immer mehr in den deklamatorisch rezitativischen Gestus verfallender melodischer Linie legt diese Interpretation der Liedmusik nahe. Und darin ist dieses Lied eine großartige, weil den lyrischen Text auf unmittelbare Weise in Musik umsetzende Evokation der situativen existenziellen Befindlichkeit des lyrischen Ichs.

    Die Liedmusik weist eine deutlich ausgeprägte Binnengliederung auf. In der ersten Gedichtstrophe bilden die Verse eins bis vier, fünf bis acht und die beiden Schlussverse durch den zugrundliegenden deklamatorischen Gestus der Melodik eine strophenartig anmutende liedmusikalische Einheit. Bei der zweiten Strophe findet die Liedmusik nur noch bei den ersten vier Versen zu solch einer Einheit. Bezeichnenderweise greift die Melodik hier ja zu einem großen Teil auf deklamatorische Figuren der ersten Vers-Vierergruppe des lyrischen Textes zurück. Dann aber zerfällt die Liedmusik in eine Folge von kleinen, nur noch jeweils einen Vers beinhaltenden Einheiten, die durch einen stark rezitativisch-deklamatorischen Gestus geprägt sind, und darin reflektiert sie die Tatsache, dass das lyrische Ich sich in der Ratlosigkeit seiner existenziellen Befindlichkeit nur noch in Gestalt von Fragen zu artikulieren vermag.

    In der – am Anfang der zweiten Gedichtstrophe sich zu einem wesentlichen Teil wiederholenden – Liedmusik der der ersten vier Verse vermag die melodische Linie in ihrer Phrasierung noch zu einer gebundenen Entfaltung zu finden. Dies auch deshalb, weil sie sich bei den ersten beiden Versen auf fast identische, bei den Versen drei und vier zumindest im deklamatorischen Grundgestus wiederholt. Und bezeichnend für diesen ist, dass er in den einzelnen Melodiezeilen mit einer Sprungbewegung einsetzt. Bei den beiden ersten Zeilen ist es eine über eine Sexte, bei der dritten schrumpft diese aber, bedingt durch die Kläglichkeit der lyrischen Aussage „Ich kann nicht mehr singen“ zu einer Terz zusammen, und bei der letzten, den Worten „Weiß nicht, wie ich's in Reime zwingen soll“, geht die melodische Linie von dem durch ihren sprunghaften Einsatz noch dynamisch wirkenden Gestus zu einem ganz und gar vom Fall geprägten über. Er ist auch ja auch schon den beiden ersten Zeilen inhärent, denn dem Sextsprung auf „meine Laute“ und „hab´ sie umschlungen“ folgen drei Fallbewegungen der melodischen Linie nach, die sich daraus erst am Ende mit einem in eine Dehnung mündenden Aufschwung in Gestalt eines Sekundschritts zu erheben vermag.

    Das geschieht auch bei der letzten Melodiezeile mit dem doppelten Sekundsprung auf den Worten „zwingen soll“. Und alle diese Aufstiegs-Gestus atmenden Enden der Melodiezeilen gehen mit einer sie darin akzentuierenden harmonischen Rückung von der Dominante zur Tonika einher. Aber das wirkt im Grunde wie ein Sich-Zusammenreißen des lyrischen Ichs. Denn voraus gehen allemal Fallbewegungen der melodischen Linie. Bei der letzten erfolgen sie in zweifacher Weise gar über die Intervalle von Terzen und einer Quarte, und bei der dritten Melodiezeile, jener auf den Worten „Ich kann nicht mehr singen, mein Herz ist zu voll“ also, bringt die melodische Linie nach dem zweimaligen, nach einem Zwischenanstieg auf identische Weise sich wiederholenden dreifachen Sekundfall gar nicht mehr die Kraft zu einem Wiederanstieg auf.
    Und bemerkenswert ist: Während bei den anderen drei Melodiezeilen das Klavier allemal mit dem drei Mal erklingenden und im Sechzehntel-Vorschlag verstärkten Lautenmotiv begleitet, lässt es hier davon ab und folgt der melodischen Linie in ihren Bewegungen synchron mit Achteln im Diskant. Das aber keineswegs in Übereinstimmung mit ihrer Linie, vielmehr, darin seine Eigenständigkeit hervorhebend, durchweg gegenläufig.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Pause“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Mit den Worten „Meiner Sehnsucht allerheißesten Schmerz / Durft' ich aushauchen in Liederschmerz“, in denen Schubert in der Distanzierung von der dem Zyklus zugrunde liegenden poetischen Aussage-Intention Müllers das Wort „Liederscherz“ durch „Liederschmerz“ ersetzt, geht das lyrische Ich zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit seiner gegenwärtigen Situation und der Beziehung zur Müllerin über und verfällt dabei in den Gestus der Klage. Die Liedmusik reagiert darauf dergestalt, dass nicht nur die Melodik, sondern auch der Klaviersatz zu immer neuen Varianten einer fallenden Linie übergeht, und die Harmonik begleitet und unterstützt beide darin, indem sie immer wieder Rückungen von der Tonika –Dur zur Moll-Parallele g-Moll vollzieht. Schon in der eintaktigen Pause für die Singstimme nach der Dehnung, in der die melodischen Linie bei den Worten „zwingen soll“ endet, lässt das Klavier einen Fall von Oktaven und Quinten erklingen, der in g-Moll harmonisiert ist. Und mit diesem begleitet es auch die in eine Tonrepetition übergehende melodische Fallbewegung in Sekundschritten auf den Worten „Meiner Sehnsucht“, derweilen im Bass die repetierenden bitonalen Quinten-Viertel weiter erklingen, die schon in der Singstimmenpause einsetzten.

    Wehmütiger Klageton herrscht hier vor. Und er setzt sich in dieser die Verse fünf bis acht beinhaltenden Liedstrophe fort, wird aber immer wieder von einem deklamatorischen Gestus der Melodik abgelöst, der wie ein trotziges Sich-Auflehnen des lyrischen Ichs gegen die augenblicklichen Gegebenheiten anmutet. Dabei schwingt sich die melodische Linie in sprunghafter Entfaltung von lebhaften Achtelschritten in hohe Lage auf, um allerdings dann am Ende dann doch wieder in einen Fall mit Dehnung am Ende überzugehen. Auch Klaviersatz und Harmonik sind in diesen beiden kleinen Melodiezeilen, die Worte „Durft' ich aushauchen in Liederschmerz“ und „Glaubt´ ich doch, mein Leiden wär' nicht klein“ beinhaltend, anders angelegt. Das Klavier begleitet hier mit mehrstimmigen, auf der tonalen Ebene verharrenden und teilweise in der Gestalt repetierenden Akkorden, und die Harmonik verbleibt ganz und gar im Tongeschlecht Dur, vollzieht dabei aber eine, darin eben diesen Gestus der inneren Auflehnung unterstützend, eine expressive Rückung. Im ersten Fall ist das eine von der Tonika weitab liegende von G-Dur nach C-Dur, im zweiten, dort, wo die melodische Linie bei dem Wort „Leiden“ in einen ebenfalls expressiven gedehnten Oktavfall verfällt, dem ein bogenförmiger Wiederanstieg mit anschließendem Fall nachfolgt ist es eine von der Doppeldominante C-Dur zur Dominante F-Dur.

    Und dann tritt eine lange Pause in die Liedmusik. Die lange, in F-Dur harmonisierte Dehnung auf dem Wort „klein“ klingt aus, das Klavier lässt über einem fermatierten C 7-Akkord im Bass einen Achtelanstieg im Diskant erklingen, und dieser endet ebenfalls in einem eine Fermate tragenden hohen „D“. Das alles mündet schließlich in einen lang gehaltenen F-Dur Akkord. Und erst dann darf die melodische Linie mit den Worten „Ei, wie groß ist wohl meines Glückes Last“ einsetzen. Schubert will mit dieser sich noch vor dem Ende der ersten Liedstrophe in die Liedmusik drängenden Pause zum Ausdruck bringen, wie tief das lyrische Ich sich inzwischen in seine seelische Innenwelt versenkt, ja geradezu in sie eingesponnen hat und darin verharrt.

    Es folgt eine Art, die beiden letzten Verse beinhaltendes und dabei den letzten wiederholendes Nachspiel, das in der der Struktur der melodischen Linie, ihrer Harmonisierung und im sie begleitenden Klaviersatz wie ein expressiver Ausbruch aus dieser Befangenheit in sich selbst anmutet.
    Aber Schubert will ihn nicht so verstanden wissen, - den lyrisch-sprachlichen Sachverhalt berücksichtigend, dass er in Gestalt einer Frage erfolgt, - und im übrigen auch gar nicht zu dem Bild passen würde, das er sich von diesem lyrischen Ich gemacht hat. Zwar setzt die melodische Linie bei den Worten „Ei, wie groß ist wohl meines Glückes Last“ mit einer von Tonrepetitionen geprägten und in eine Dehnung mündenden Aufstiegsbewegung ein, und das Klavier begleitet sie mit ausdrucksstarken, von Viertelpausen voneinander abgesetzten sieben- bis neunstimmigen Akkorden, bei denen sich eine ausdrucksstarke Rückung von F-Dur über b-Moll nach As-Dur ereignet und die lange Dehnung in Gestalt eines hohen „Des“ auf dem Wort „Last“ sogar in Des-Dur harmonisiert ist.

    Aber für den Vortrag von all dem ist ein Pianissimo vorgeschrieben. Und das ist auch für das beizubehalten, was sich auf der Grundlage des wiederholten letzten Verses liedmusikalisch noch ereignet. Es ist eine Art Sich-Aufbäumen der melodischen Linie in Gestalt eines auf einen Fall aus hoher Lage stufenweise erfolgenden Wiederanstiegs, der bei den Worten „in sich faßt“ nach einem Sekundfall mit einem Quartsprung in noch höhere, nämlich um eine kleine Sekunde angehobene tonale Lage erfolgt und vor dort in einen in eine Dehnung mündenden Sekundfall übergeht.

    Das Klavier begleitet hier – und auch bei der Wiederholung dieser Worte – mit lang gehaltenen (halbe Noten) und partiell legato in tiefe Lage fallenden vierstimmigen Akkorden, und die Harmonik bringt die tiefe emotionale Betroffenheit des lyrischen Ichs in der Weise zum Ausdruck, dass sie in den dem mit dem Des-Dur-Akkord auf „Last“ eingenommenen tiefen Bereich des Quintenzirkels verbleibt und dort eine zweimalige Rückung von b-Moll nach As-Dur beschreibt. Und bei der wellenartig in mittlere Lage absinkenden melodischen Linie auf der Wiederholung des letzten Verses beschreibt sie gar eine Rückung von Des-Dur nach Ges-Dur, um am Ende, also bei den Worten „in sich faßt“ allerdings, - auch das Ausdruck tiefer innerer Erregung des lyrischen Ichs über b-Moll – bis hin zur Dominante F-Dur aufzusteigen, was das Klavier mit einer nach unten gerichteten bogenförmigen Figur und einem lang gehaltenen vierstimmigen Akkord kommentiert, wobei sich eine neuerliche, über C7-Harmonik erfolgende Rückung nach F-Dur ereignet.
    (Schluss folgt)

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