„Am Feierabend“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
(Vorstellung des Liedes am Ende der vorangehenden Seite)
Schon in diesem, erst fünften Lied deutet sich das Schicksal des Müllergesellen bereits an. Indem Schubert aus dem zweistrophigen Müller-Text ein dreistrophiges Lied nach dem Schema A-B-A´ macht, geht er weit über dessen lyrische Aussage hinaus. Ein Sechsachteltakt liegt ihm zugrunde, als Grundtonart ist a-Moll vorgegeben, und es soll „ziemlich geschwind“ vorgetragen werden. Wieder setzt die Liedmusik mit einem relativ langen, sieben Takte in Anspruch nehmenden Vorspiel ein. Nach sechs, forte angeschlagenen und von Pausen unterbrochenen Achtelakkordpaaren setzt im Diskant piano eine erst ansteigende und dann in Basstiefe fallende Kette von Sechzehnteln ein, wobei die Harmonik, die bei den Akkorden Rückungen von a-Moll über de-Moll, E-Dur und H-Dur vollzogen, nun im E-Dur-Bereich bleibt um als Dominante den Einsatz der melodischen Linie in a-Moll vorzubereiten.
Diese beiden Figuren, die als Repetitionen angelegten Achtelakkordpaare und die im Auf und An sich entfaltenden Sechzehntel stellen, neben den ein Schreiten suggerierenden Achtel-Oktavsprüngen im Bass, die man aus den ersten beiden Liedern kennt, die Substanz des nun als Begleitung fungierenden Klaviersatzes dar. Auf klangmalerische Weise verkörpert sich darin das Mühlrad, der im lyrischen Ich fortlebende Geist der Wanderschaft und, wie sich in der zweiten Strophe erweisen wird, der bis zum Rezitativ reichende rhetorisch-deklamatorische Gestus, in den sich die Melodik dieses Liedes steigert.
In welch großer Nähe zum lyrischen Text sich Schuberts Melodik entfaltet, so dass sich, wie für ihn typisch, ein regelrechter Umschlag von lyrischer Sprache in musikalische Sprache ereignet, wird bei den ersten acht Versen der ersten Strophe vernehmlich. Die melodische Linie bewegt sich darin in lebhafter, von Sprüngen geprägter Bewegung voran, und das in weitreichender, tatsächlich alle diese Verse umfassender Entfaltung.
Darin greift sie die kurzversig-trochäische Hektik des lyrischen Textes auf. Und der sie dabei begleitende Klaviersatz erweist sich mit seinen Mühlenrad-Sechzehntelfiguren im Diskant und den Achteloktav-Schreitfiguren im Bass als regelrecht vorantreibender musikalischer Faktor.
Fast ist man versucht zu sagen: Hier, bei Schubert, geht diesem lyrischen Ich ein Mühlrad im Kopf herum. Erst bei den Worten „Daß die schöne Müllerin / Merkte meinen treuen Sinn!“ tritt, auch darin die Prosodie und die Semantik des lyrischen Textes reflektierend, ein kurzes Innehalten in sie.
Nach einer, nun als solche vernehmlichen, Dreiachtelpause geht die melodische Linie zu einer bei beiden Versen identischen, ruhiger wirkenden, weil sich in oberer Mittellage entfaltenden, dabei größere Sprünge meidenden, am Ende in einen doppelten Terzfall mündenden und ganz und gar im Tongeschlecht Dur ( A-Dur / E-Dur) harmonisierten Bewegung über. Das lyrische Ich ist zum Bekenntnis seines tiefen seelischen Anliegens übergegangen, und deshalb setzt Schubert seine Worte nicht nur in diese Melodik, er wiederholt sie sogar noch und bringt dabei, wie das ja ein Zweck dieses kompositorischen Prinzips bei ihm ist, das Mittel der Variation zum Einsatz.
Sie ist vielsagend. Nun geht die melodische Linie bei den Worten „daß die schöne Müllerin“ in volltaktiger Deklamation zu einem Sprung erst über eine Quinte über und steigert sich danach über einen weiteren Sprung bis hin zu einem hohen „Fis“, wobei die Harmonik eine Rückung von dem vorangehenden a-Moll nach H-Dur vollzieht. Und aus der noch relativ schlicht anmutenden Fallbewegung auf „treuen Sinn“ wird nun eine, die in langer Dehnung auf dem Wort „treuen“ einen ganzen Takt in Anspruch nimmt und mit einem Sekundfall in einer Dehnung bei „Sinn“ endet.
Schubert stellt, darin über Müller weit hinausgehend, dieses lyrische Ich als einen Menschen dar, für den es mehr als ein Herzensanliegen ist, sein „treues Wesen“ zu bekunden: Es ist eines von existenzieller Bedeutung.
Weil dieses lyrische Ich, so wie Schubert es sieht, seine Wanderer-Existenz hinter sich lassen und einen Ort der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft und der existenziellen Erfüllung in der Liebe finden will, wird den Klagerufen, wie sie sich in den ersten vier Versen der zweiten Strophe ereignen, liedmusikalisch ein deutlich stärkeres Gewicht verliehen, als sie es lyrisch-sprachlich bei Müller aufweisen. In ihnen drückt sich die Erkenntnis aus, dass dem lyrischen Ich die physischen Voraussetzungen dafür fehlen, in der Betätigung als Müller-Geselle aus der Schar der einfachen Knappen herausragen und auf diese Weise die „schöne Müllerin“ beeindrucken und sich ihrer Liebe als würdig erweisen zu können. Also legt Schubert auf diese vier Verse eine Liedmusik, die eine hohe Expressivität aufweist.
Dazu werden mehrere liedkompositorische Mittel eingesetzt:
--- Eine Melodik, die nach dem ersten Vers in eine sich ohne weitere Pause ereignende Entfaltung übergeht, in der sie durch die wie insistierend wirkende Wiederholung von deklamatorischen Figuren eine hohe Eindringlichkeit aufweist;
--- einen sie begleitender Klaviersatz, der aus einer von Achtelpausen unterbrochenen Folge von Diskant und Bass übergreifenden repetierenden Achtelakkord-Paaren besteht, die statt des treibenden Fließens des Mühlenrad-Motivs und der Oktav-Schritte nun regelrecht statisch anmuten und auf diese Weise die Aussage der melodischen Linie mit starken Akzenten versehen;
--- und eine Harmonik, die sich zunächst im Bereich der Dur-Parallele der Grundtonart, C-Dur also, bewegt, dann aber, um die Schmerzlichkeit der Klage zum Ausdruck zu bringen, vom dritten Vers an immer wieder ins Tongeschlecht Moll (a-Moll und d-Moll) ausbricht.
Die melodische Linie selbst verleiht der lyrischen Aussage dadurch starken Nachdruck, dass sie bei den Worten „was ich hebe, was ich trage“ erst zweimal die gleiche Anstiegsbewegung über eine Quinte und eine Terz beschreibt, dann bei „was ich schneide, was ich schlage“ zu einer wellenartigen Bewegung in oberer Mittellage übergeht, um dann – und dies in Wiederholung des lyrischen Textes – bei „jeder Knappe tut mir´s nach“ eine partiell repetierende Folge von Sprung- und Fallbewegungen über große Intervalle (Sexten, Quinten und Quarten) zu beschreiben. Den Worten „tut mir´s nach“ wird dabei in der Wiederholung dadurch ein abschließender Nachdruck verliehen, dass aus der anfänglichen, in a-Moll mit Rückung nach E-Dur harmonisierten Kombination aus Quartfall und Sekundsprung nun eine aus in höherer Lage ansetzende aus Quintfall und Sekundsprung wird, die in einer Rückung von G-Dur nach C-Dur harmonisiert ist.
(Fortsetzung folgt)