Franz Schubert. Liedkomposition nach existenziell tiefgreifender Lebenskrise

  • „Totengräbers Heimwehe“, D 842

    O Menschheit, o Leben! -
    Was soll's? o was soll's?
    Grabe aus - scharre zu!
    Tag und Nacht keine Ruh!
    Das Treiben, das Drängen,
    Wohin?, o wohin?
    »Ins Grab, tief hinab!«

    O Schicksal, o traurige Pflicht,
    Ich trag's länger nicht,
    Wann wirst du mir schlagen,
    O Stunde der Ruh?
    O Tod, komm und drücke
    Die Augen mir zu.
    Im Leben, da ist´s ach so schwül,
    Im Grabe so friedlich, so kühl!
    Doch ach, wer legt mich hinein?
    Ich stehe allein, so ganz allein!

    Von allen verlassen
    Dem Tod nur verwandt,
    Verweil' ich am Rande,
    Das Kreuz in der Hand,
    Und starre mit sehnendem Blick
    Hinab ins tiefe Grab! -

    O Heimat des Friedens,
    Der Seligen Land,
    An dich knüpft die Seele
    Ein magisches Band!
    Du winkst mir von ferne
    Du ewiges Licht:
    Es schwinden die Sterne -
    Das Auge schon bricht,
    Ich sinke, ihr Lieben,
    Ich komme, ich komm!

    (Jakob Nicolaus Craigher de Jachelutta)

    Das 1823 entstandene Gedicht Craighers greift ein lyrisches Motiv auf, das, inspiriert von Shakespeares „Hamlet“, in der Zeit des Göttinger Hainbunds und der Sturm und Drangs in vielfacher Weise poetisch aufgegriffen wurde. Er gibt ihm aber eine ganz eigene, den Geist der zwanziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts reflektierende Wendung.
    Die erste Strophe steckt den Rahmen ab, in dem sich die Auseinandersetzung des lyrischen Ichs mit sich selbst und seiner existenziellen Situation ereignet: Es ist die qualvolle Erfahrung der Sinnlosigkeit des Lebens, die die Sehnsucht nach der Erlösung im und durch den Tod gebiert.

    Die eigene Existenz erscheint als ein schicksalhaftes Geworfen-Sein in die „Schwüle“ des Lebens, und ihr steht die friedliche Kühle des Grabs gegenüber, die eine regelrechte Verlockung entfaltet. Das kann sie auf eine besonders intensive Weise, weil es sich bei diesem lyrischen Ich um einen Totengräber handelt, der „mit sehnendem Blick“ in das von ihm für einen Anderen geschaufelte Grab starrt und verzweifelt die Frage stellt: Wer legt mich hinein?
    Craigher steigert diese Situation am Ende ins lyrisch Expressive, indem er das lyrische Ich sich in die von ihm so sehr ersehnte Grablegung gleichsam hineinsteigern und sie zur – durchaus romantischen – visionären Erfahrung der Entgrenzung und Erlösung aus der personalen Individuation werden lässt.

    Schuberts Komposition auf diese Verse Craighers entstand im April 1825. Er musste sich, so darf man sich das wohl vorstellen, in dieser Zeit der eigenen existenziellen Krise auf seelisch tief reichende Weise von ihnen angesprochen gefühlt haben. Seine Liedmusik darauf verrät es, - dies durch die Art und Weise, wie sie die vielfältigen gedanklichen und emotionalen Regungen des lyrischen Ichs aufgreift und vor allem in der Art und Weise, wie sie den Akt der visionären Entgrenzung am Ende nach- und mitvollzieht.

    Er musste sich bei der Komposition freilich mit den spezifischen prosodischen Gegebenheiten dieses lyrischen Textes auseinandersetzen: Seiner – die Fülle und den ausschweifenden Charakter der inneren Regungen des lyrischen Ichs reflektierenden - Vielgestaltigkeit in der Anlage der Strophen und der metrischen Gestalt der Verse. Dieser Herausforderung ist er nicht nur voll und ganz gerecht geworden, es ist ein Lied daraus hervorgegangen, das in seiner kantatenhaften, dabei auf beeindruckende Weise deklamatorisch-rhetorischen und lyrischen Geist zugleich atmenden Anlage „einen besonderen Ehrenplatz in der ganzen Liedliteratur verdient“, wie Dietrich Fischer-Dieskau in treffender Weise urteilt.


  • Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Der Liedmusik liegt ein Viervierteltakt zugrunde. Vielsagend ist die Anweisung zu ihrem Vortrag, sie lautet: „Unruhige Bewegung, doch nicht zu schnell“. Und damit ist ihr Wesen angesprochen. Alle ihre Bereiche, die Melodik, der Klaviersatz, die Harmonik und die Dynamik scheinen von einer inneren Unruhe durchdrungen zu sein, und dies dergestalt, dass sie keine Konstanz in ihrer Entfaltung wahren zu können. Eine die gesamte Liedmusik prägende Grundtonart gibt es nicht. Zwar sind für die ersten beiden Strophen vier „B“ als Vorzeichen vorgegeben, die Harmonik verharrt aber nur ein einziges Mal über mehr als einen Takt in dieser Tonart, bei den Worten „Im Leben, da ist´s ach so schwül“ nämlich, ansonsten aber ereignen sich permanente Rückungen zumeist innerhalb des Taktes noch, und die Harmonik schweift vom f- Moll ab zu den Tonarten As, Es, Des, Ges, F. B, C bis hin zu G und D, und dies in Gestalt eines ständigen Wechsels des Tongeschlechts.

    Es ist ganz offensichtlich, dass sich darin die innere Unruhe des lyrischen Ichs ausdrückt, wie sie sich ja auch in der Struktur der Melodik niederschlägt. Man kann es als Beleg dafür verstehen, dass diese in der Liedmusik sich ausdrückende innere Unruhe in der dritten Strophe bedingt durch das zentrale lyrische Bild eine erste Dämpfung erfährt, indem Singstimme und Klavier in ein Unisono übergehen, und in dem Augenblick, wo sich das lyrische Ich in die visionäre Entgrenzung des „Ich komme“ hineinsteigert, die Harmonik - nach einem kurzen Einbruch von dissonanter Verminderung in sie – ganz und gar im klanglich hellen Bereich von F-Dur und C-Dur verbleibt, und dies, abweichend von ihren bisherigen Gepflogenheiten über viele Takte hin und bis ins Nachspiel hinein.

    Schon von dem dreitaktigen Vorspiel geht die Anmutung von Unruhe aus, es wirkt wie die klangliche Evokation des „Treibens und Drängens“, von dem sich das lyrische Ich innerlich bedrückt fühlt. Im Diskant folgen Vierergruppen von repetierenden Achtelakkorden aufeinander, und das erweist sich als die Art und Weise, wie das Klavier fast durchgehend, mit Ausnahme nur der dritten Strophe, die melodische Linie begleitet. Immer wieder einmal werden sie, wie hier im Vorspiel, fortepiano angeschlagen, was eben diese Anmutung des Drängens auslöst und verstärkt. Durch die Komponente Unruhe bereichert wird sie durch die Figur im Bass, bei der jeweils vier Oktaven eine ansteigende und wieder fallende Bewegung beschreiben, und dies auf steigender und wieder fallender tonaler Ebene.

    Und schließlich geht auch von der Harmonik Unruhe aus. Im Vorspiel beschreibt sie eine Rückung von f-Moll über Des-Dur und C-Dur nach einem neuerlichen f-Moll, in dem nun der Einsatz der melodischen Linie harmonisiert ist. Diesen Gestus der permanenten und dabei im Quintenzirkel weit ausgreifenden und das Tongeschlecht wechselnden Rückung zumeist innerhalb eines Taktes behält sie während der beiden ersten Strophen durchgehend bei.

    Die spezifische Eigenart der Schubertschen Melodik, dass sie nämlich wesenhaft Musik gewordene lyrische Sprache ist, kann man hier - wieder einmal – auf beeindruckende Weise erfahren und erleben. Vor allem in der ersten Strophe, aber auch nachfolgend noch präsentiert sich die lyrische Sprache syntaktisch wie zerrissen und zerstückt von der Fülle der Emotionen, die aus dem lyrischen Ich in Gestalt von Ausrufen und Fragen herausdrängen. Und so ist auch die melodische Linie angelegt. Die ganze erste Strophe über entfaltet sie sich in kleinen, von Pausen eingegrenzten Folgen von Tonrepetitionen, die in der tonalen Ebene ansteigen und am Ende in einen Sprung oder einer Dehnung münden, wobei Schubert diesen die Seelenlage des lyrischen Ichs reflektierenden Eindruck der Zerrissenheit der melodischen Linie noch dadurch intensiviert, dass er auf die Wortwiederholungen des lyrischen Textes eine identische melodische Figur legt und dem noch eine eigene Wiederholung hinzufügt, indem er die Worte „ins Grab“ zwei Mal auf einem in eine Dehnung mündenden Terzsprung deklamieren lässt. Und hierbei setzt er – wie generell in diesem Lied – die Harmonik als höchst effektvolles Ausdrucksmittel ein: Sie beschreibt beide Male eine Rückung von As-Dur nach c-Moll. Das geschah vorangehend schon einmal, bei der sich wiederholenden, rhythmisierten und in eine Dehnung mündenden Tonrepetition auf den Worten „grabe aus, scharre zu“, und es verleiht dem ihnen innewohnenden appellativen Gestus eine geradezu finster wirkende Nachdrücklichkeit.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Totengräbers Heimwehe“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Mit der zweiten Strophe geht die Melodik des Liedes zu einem höheren Grad der Gebundenheit in der Abfolge ihrer deklamatorischen Schritte über. Der Klage-Gestus, der die Aussagen des lyrischen Ich beherrscht, schlägt sich darin nieder. Dabei setzt Schubert einen Steigerungseffekt ein. Auf den Worten „O Schicksal“ liegt eine in c-Moll harmonisierte Tonrepetition. Diese geht dann bei den nachfolgenden Worten („o traurige Pflicht, ich trag´s länger nicht“) in eine zweimalige und sich dabei absenkende Bogenbewegung über, die in f-Moll gebettet ist, das, dazwischen aber eine kurze Rückung nach C-Dur vollzieht. Diesen Gestus des tiefe innere Erregung ausdrückenden Übergangs aus einer Tonrepetition zu einem expressiven bogenförmigen Auf und Ab in kleinen Achtel- und Sechzehntelschritten behält die melodische bis zum sechsten Vers („Die Augen mir zu“) bei. Das Klavier begleitet sie hier, darin ihre Aussagen akzentuierend, mit in Diskant und Bass synchronen Achtelakkord-Folgen, und die Harmonik ist in den tiefen Bereich von Des-Ur und Ges-Dur abgesunken, bringt aber die Schmerzlichkeit der zweimal deklamierten Worte „und drücke die Augen mir zu“ dadurch zum Ausdruck, dass sie in Gestalt einer Rückung von b-Moll über Es-Dur nach As-Dur das Tongeschlecht Moll einbezieht.

    In dieser Strophe ereignet sich der Übergang von der Klage des lyrischen Ichs über die Beschwerlichkeiten des Lebens zum das eigentliche Aussagezentrum des Gedichts bildenden Lobpreis der Grabesruhe. Das führt, nach einem dreitaktigen Zwischenspiel, zu einem Umschlag im klanglichen Charakter der Liedmusik. Die melodische Linie entfaltet dadurch, dass sie wie in einem Gestus des Insistierens immer wieder aus mehrfachen Tonrepetitionen mit einem Sekundsprung in eine lange Dehnung übergeht, eine große Eindringlichkeit, die vom Klavier dadurch noch gesteigert wird, dass es im Diskant permanente Akkordrepetitionen erklingen lässt, im Bass aber pro Takt drei ansteigende Oktaven, und dies fortepiano, so dass auf der ersten ein starker Akzent liegt.

    Nur die bogenförmig fallende und sich wieder erhebende und darin geradezu lieblich anmutende melodische Linie auf den Worten „im Grabe so friedlich, so kühl“ hebt sich aus dieser so eindringlich insistierenden Melodik auf den letzten vier Versen der zweiten Strophe heraus. Und ein Steigerungseffekt kommt in diese noch dadurch, dass Schubert das Mittel der Textwiederholung zum Einsatz bringt und dabei die anfänglich dominierende f-Moll-Harmonik nach Es-Dur und As-Dur mit eingelagerten Rückungen nach g-Moll absinken lässt. Erst bei der am Ende noch zwei Mal wiederholten Frage „Wer legt mich hinein?“ findet die Liedmusik mit einem vom Forte ins Piano führenden Decrescendo zu einer Art Ruhe. Zweimal beschreibt die melodische Linie einen aus einer Tonrepetition erfolgenden und in eine Dehnung mündenden Sprung, und dabei ist sie, nach den vielfältigen vorangehenden harmonischen Rückungen, ausschließlich in einem klanglich warmen G-Dur harmonisiert.

    Die Liedmusik auf der dritten Strophe hebt sich noch deutlicher, als dies bei der auf dem letzten Teil der zweiten Strophe der Fall ist, von der vorangehenden ab. Und wenn dieses Lied die Anmutung einer Kantate aufweist, so geht sie eben daraus hervor. Die melodische Linie beschreibt, darin das Bild vom sehnsüchtig ins tiefe offene Grab starrenden lyrischen Ichs reflektierend, eine in tiefe Lage führende Fallbewegung nach der anderen, wobei die erste noch auf einem tiefen „C“ endet, die letzte sich aber noch um eine Terz weiter absenkt, so dass das Wort „Grab“ auf einem lang gedehnten tiefen „A“ deklamiert wird. Überaus expressiv wirken diese melodischen Fallbewegungen deshalb, weil sie das Klavier in Diskant und Bass unisono durchweg in Gestalt von Einzeltönen mitvollzieht, wobei die Harmonik ganz und gar im Bereich des Tongeschlechts Moll verbleibt und viele Rückungen von c-Moll nach f-Moll vollzieht.

    „Langsamer“ lautete die Vortragsanweisung für diese Liedmusik, „noch langsamer“ soll die auf der vierten Strophe vorgetragen werden. Und wieder tritt ein neuer Ton in sie. Durch geradezu überraschende harmonische Modulationen leitet das im Diskant akkordisch angelegte fünftaktige Zwischenspiel dazu über: Auf ein einleitendes A-Dur folgt ein d-Moll, dann ein F-Dur, ein C-Dur, ein neuerliches F-Dur, und dann ereignet erneut dieser harmonisch ungewöhnliche Sprung von dort nach A-Dur, der Tonart, in der die Melodik dieser letzten Strophe einsetzt. Darin verbleibt sie mit den im Auf und Ab zwischen zwei tonalen Ebenen stattfindenden Tonrepetitionen auf den Worten „O Heimat des Friedens, / Der Seligen Land“ nur einen Takt lang. Bei „der seligen Land“ rückt sie, wie das Zwischenspeil das ja vorgegeben hat, nach d-Moll, und bei dem, immer noch in deklamatorischen Tonrepetitionen erfolgenden Aufstieg in hohe Lage bei den Worten „An dich knüpft die Seele / Ein magisches Band!“ vollzieht sie die, darin dem Zwischenspiel folgend, die so ausdrucksstarke Rückung nach F-Dur und C-Dur. Und da das Klavier diesen Aufstieg der melodischen Linie in hohe Lage in Gestalt von repetierenden Oktaven im Bass mitvollzieht, wird nun auch deutlich, was sich hier, akzentuiert durch die ausdrucksstarke harmonische Rückung ereignet: Der musikalische Niederschlag der hier einsetzenden Entrückung des lyrischen Ichs in die Imagination des endgültigen Zur-Ruhe-Kommens in der Tiefe des Grabes.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Totengräbers Heimwehe“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Nun ist es aber nicht so, dass das F-Dur mitsamt seiner Dominante die Musik dieser letzten Strophe ganz und gar dominierte. Dazu ereignet sich in den lyrischen Aussagen der einzelnen Verse zu viel, und es wäre kein Franz Schubert kompositorisch am Werk, wenn sich dies nicht in der Melodik und ihrer Harmonisierung niederschlüge. Bei den Worten „Du winkst mir von ferne / Du ewiges Licht“, die Schubert zwei Mal deklamieren lässt, verbleibt die melodische Linie zwar in dem Gestus der sich in hohe Lage hinaufsteigernden deklamatorischen Tonrepetition, kehrt aber bei den Worten „ewiges Licht“, und das mit einer Rückung von C-Dur nach F-Dur harmonisiert, über einen dreifachen Terzfall mit nachfolgendem Quartsprung wieder in mittlere Lage zurück. Bei der über einen Terzsprung erfolgenden Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines hohen „D“, auf der die Wortes „ewiges Licht“ erstmals deklamiert werden, beschreibt die Harmonik eine Rückung nach g-Moll, - Ausdruck der Verzückung, die sich beim lyrischen Ich bei diesen Worten einstellt.

    Auf eindrucksvolle Weise greift die Liedmusik den semantischen Gehalt der zwei Mal deklamierten Worte „Es schwinden die Sterne, das Auge bricht“ auf. Über Akkordrepetitionen im Diskant beschreibt die melodische Linie auf den Worten „es schwinden“ und „die Sterne“ je einen Fall von zwei Achteln über eine Quinte, und das durch eine Dreiachtelpause voneinander abgehoben, bevor sich nach einer neuerlichen Pause eine vierfache, am Ende in eine Dehnung mündende Tonrepetition ereignet. Die Harmonik vollzieht dabei eine ausdrucksstarke Rückung vom anfänglichen d-Moll über Fis-Dur nach h-Moll. Bei der Wiederholung auf einer um eine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene rückt die Harmonik nun von fis-Moll über E-Dur nach a-Moll. Das lyrische Bild wird durch diese Struktur der Melodik und ihre Harmonisierung zum liedmusikalischen Ereignis.

    Und nun setzt die von Schubert durch die spezifische Struktur der melodischen Linie und ihre Harmonisierung auf geradezu in Bann schlagende und darin mit dem Mittel der Wiederholung in ihrer Expressivität gesteigerte Emphase der sich in dem Ruf „Ich sinke, ihr Lieben, ich komme, ich komm!“ artikulierenden Imagination der Entrückung des lyrischen Ichs ein. Nach dem zwei Mal auf den Worten „ich sinke“ auf sich absenkender tonaler Ebene erfolgenden und in verminderte, bzw. Moll-Harmonik gebetteten Fall der melodischen Linie beschreibt diese bei den Worten „ihr Lieben, ich komme, ihr Lieben, ich komm´!“ einen Anstieg in repetierenden Schritten von einem tiefen „E“ bis zu einem hohe „F“, das heißt über das Intervall einer None, wobei ihr das Klavier darin mit repetierenden dreistimmigen Achtelakkorden im Diskant und Oktaven im Bass folgt und die Harmonik eine Rückung über die Dominante C-Dur nach F-Dur vollzieht.

    Zwei Mal ereignet sich dieser Prozess des Sich-Hinaufsteigerns der melodischen Linie aus dem klanglich finster anmutenden Fall des „ich sinke“ zu den klaren, die Sphäre der Entrückung verkörpernden F-Dur-Höhen. Und dann ist das lyrische Ich in seiner Imagination dort angelangt.
    Nach einer eineinhalbtaktigen Pause, in der das Klavier mit seinen Akkordrepetitionen in den Oktavbereich des Diskants aufsteigt verfällt die melodische Linie bei den Worten „Ich komme, ich komm´“ in wie verklärt anmutende Torpetitionen auf einem „C“ in mittlerer Lage und überlässt sich danach einer langen Dehnung. Das geschieht wiederum zwei Mal und entfaltet deshalb eine so starke klangliche Wirkung, weil das Klavier derweilen die melodische Bewegung auf den Worten „Ihr Lieben, ich komm´“ in akkordischer Gestalt noch einmal erklingen lässt und dieses „C“, auf dem die melodische Linie nun in Repetitionen verharrt, infolge der harmonischen Rückung von C-Dur nach F-Dur, die sich derweilen im Klaviersatz ereignet, vom Grundton zur Quinte wird, - also gleichsam wider Willen in höhere Sphären abhebt.

  • „Auf der Bruck“, op.93,2, D 853

    Frisch trabe sonder Ruh' und Rast,
    Mein gutes Roß, durch Nacht und Regen!
    Was scheust du dich vor Busch und Ast
    Und strauchelst auf den wilden Wegen?
    Dehnt auch der Wald sich tief und dicht,
    Doch muß er endlich sich erschließen,
    Und freundlich wird ein fernes Licht
    Uns aus dem dunkeln Tale grüßen.

    Wohl könnt' ich über Berg und Tal
    Auf deinem schlanken Rücken fliegen
    Und mich am bunten Spiel der Welt,
    An holden Bildern mich vergnügen;
    Manch Auge lacht mir traulich zu
    Und beut mir Frieden, Lieb' und Freude,
    Und dennoch eil' ich ohne Ruh,
    Zurück, zurück zu meinem Leide.

    Denn schon drei Tage war ich fern
    Von ihr, die ewig mich gebunden;
    Drei Tage waren Sonn' und Stern
    Und Erd' und Himmel mir verschwunden.
    Von Lust und Leiden, die mein Herz
    Bei ihr bald heilten, bald zerrissen,
    Fühlt' ich drei Tage nur den Schmerz,
    Und ach, die Freude mußt' ich missen!

    Weit seh´n wir über Land und See
    Zur wärmer´n Flur den Vogel fliegen,
    Wie sollte denn die Liebe je
    In ihrem Pfade sich betrügen?
    Drum trabe mutig durch die Nacht,
    Und schwinden auch die dunkeln Bahnen,
    Der Sehnsucht helles Auge wacht,
    Und sicher führt mich süßes Ahnen.

    (Ernst Schulze)

    Ob der 1789 in Celle geborene und 1817 verstorbene Altphilologe Ernst Schulze, der in dieser Wissenschaft vergeblich eine akademische Laufbahn anstrebte, Goethes Sturm und Drang-Geist auf geradezu hinreißende Weise zum Ausdruck bringende Verse mit dem Titel „Willkommen und Abschied“ im Geist gegenwärtig hatte, als er dieses Gedicht verfasste? In der Thematik ist es ihm sehr verwandt, ohne freilich dessen poetische Größe zu erreichen. Das lyrische Ich ist getrieben von der Sehnsucht nach der Geliebten und gibt sich auf dem Rück- und Heimweg zu dieser eben diese Liebe und die damit einhergehende existenzielle Befindlichkeit reflektierenden Gedanken hin.

    Der Titel „Auf der Bruck“ ist missverständlich, und Schubert fiel dem bei der Erstfassung prompt zum Opfer. Es handelt sich bei der „Bruck“ nicht um eine Brücke, sondern um einen Aussichtspunkt in der Nähe von Göttingen. In Schulzes „Poetischem Tagebuch“ steht über dem Gedicht „Auf der Bruck, Den 25sten Julius 1814“. „Auf der Bruck“ ist also als Ortsangabe zu lesen.

    In seiner Komposition auf dieses Schulze-Gedicht, die im August 1825 entstand und zusammen mit einer zweiten auf ein Gedicht von diesem Autor („Im Walde“, D 834) als Opus 93 im Jahre 1827 publiziert wurde, hat Schubert in der letzten Strophe eine Änderung vorgenommen. Er hat die letzten vier Verse mit den ersten vier vertauscht, so dass bei ihm die letzte Strophe nicht, wie bei Schulze, mit den Worten „Drum trabe mutig durch die Nacht“ einsetzt, sondern mit dem Vers: „Weit seh´n wir über Land und See“.

    Es handelt sich um ein variiertes Strophenlied, das in As-Dur als Grundtonart steht, einen Viervierteltakt aufweist und „Geschwind“ vorgetragen werden soll. Das liedkompositorische Grundkonzept leitet Schubert von der durch die Anfangsverse skizzierten Situation des lyrischen Ichs her. Den Weg zur Geliebten legt es „eilend ohne Ruh“ auf dem Rücken eines Pferdes zurück und mahnt es gleich zwei Mal, nach der ersten noch einmal in der letzten Strophe, zu „mutigem“ Trab „sonder Ruh und Rast“ an. Dieses den lyrischen Aussagen zugrunde liegende Bild hat Schubert zu einer Liedmusik inspiriert, die in dem vehementen Schwung, in dem sie sich entfaltet, auf unwiderstehliche Weise mitreißend wirkt. Dietrich Fischer-Dieskau spricht hier völlig zu Recht von „einem der besten seiner vielen Reiterlieder“.


  • Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Generiert wird der mitreißende Schwung der Liedmusik ganz wesentlich vom Klaviersatz, der sich in seiner Grundstruktur ohne Unterbrechung über das ganze Lied erstreckt und darin so dominant ist, dass er nicht nur ein zehntaktiges Vorspiel, drei achttaktige Zwischenspiele und ein dreizehntaktiges Nachspiel beansprucht, sondern in eben dieser Gestalt und mit diesem vehementen Gestus die Singstimme begleitet, wobei „Begleitung“ im Grunde das falsche Wort ist, denn das Klavier betätigt sich in diesem Lied eigentlich als Antreiber der Melodik.

    Der Schwung, der ihr innewohnt und der große Ambitus, in dem sie sich entfaltet, ist zwar durchaus ein eigenständiger, darin die jeweilige lyrische Aussage reflektierender, gleichwohl mutet er an, als sei er in dem Geist, der sie antreibt, vom Klaviersatz beflügelt. Die Quelle von dessen Antriebspotential offenbart sich gleich am Anfang im Vorspiel: Über fortepiano angeschlagenen Vierergruppen von repetierenden Achtelakkorden im Diskant beschreiben Oktaven – und später immer wieder auch Einzeltöne – eine aus einem Fall hervorgehende Aufstiegsbewegung, die am Ende in eine kleine Dehnung mündet und mit einer harmonischen Rückung in die Dominante verbunden ist.
    Eben das, diese auf markante Weise vom Aufstiegsgeist getriebene und harmonisch und dynamisch permanent sich wandelnde Untergründigkeit verleiht dieser Liedmusik ihre so mitreißende Klanglichkeit.

    Die Melodiezeile, die auf dem ersten Verspaar der ersten Strophe liegt und in ihrem munteren, sich über eine ganze Dezime erstreckenden Auf und Ab Wanderschritt-Geist atmet, kehrt nicht nur in ihrer spezifischen Harmonisierung und mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz beim zweiten Verspaar in nur minimal abgewandelter Gestalt wieder, sie erklingt auch auf den ersten vier Versen der nachfolgenden drei Strophen und ist damit in maßgeblicher Weise prägend für den Strophenliedcharakter dieser Komposition. Aber selbst sie – und nicht nur die Melodik auf den jeweils nachfolgenden Versen – unterliegt dem Prinzip der Variation, weil die lyrische Aussage dies fordert. So greift sie beim zweiten Verspaar der dritten Strophe nicht nur in höhere Lage aus, sie ist nun auch nicht in As- und Es-Dur harmonisiert, sondern in Ges- und Ces-Dur. Die Liedmusik reflektiert damit die Tatsache, dass die Abwesenheit der Geliebten dazu führte, dass sich für das lyrische Ich die Tage verfinsterten. Und beim zweiten Verspaar der letzten Strophe führt die Frage „Wie sollte denn die Liebe je / In ihrem Pfade sich betrügen?“ dazu, dass die melodische Linie bei den Worten „je in ihrem Pfade“ einen leicht melismatisch angehauchten Achtelbogen beschreibt.

    Ohnehin gründet ein wesentlicher Teil der Faszination, die dieses Lied auf seine Hörer ausübt, in der Subtilität, mit der Schubert die melodische Linie auf die jeweilige lyrische Aussage reagieren lässt und sie in ihrer Struktur und in ihrer Harmonisierung einer Variation unterwirft. Bei der zweiten Vierergruppe der ersten Strophe kreisen die lyrischen Aussagen um die Situation, in der sich das lyrische Ich in diesem Augenblick seiner Reise befindet und bringen die Hoffnung zum Ausdruck, dass sich ein fernes Licht im dunklen Tal zeigen werde. Und so setzt denn die melodische Linie bei den Worten „Dehnt auch der Wald sich tief“ mit einer Tonrepetition ein, geht bei „doch muß er endlich sich erschließen“ in einen lebhaften Bogen über und überlässt bei den wiederholten Worten „und freundlich wird ein fernes Licht“ einer auf einen Fall folgenden deklamatorischen Tonrepetition, die so etwas wie Hoffnung und Gewissheit ausdrücken soll.

    Und prompt geht sie dann bei den Worten „uns aus dem dunkeln Tale grüßen“ mit einem auf eine neuerliche Tonrepetition hervorgehenden Sextsprung zu einen beschwingt wirkenden und bei „grüßen“ eine lange Dehnung aufweisenden Fall über, der mit einer Kadenz-Rückung über die Dominante zur Tonika As-Dur verbunden ist. Bevor die Harmonik in den Bereich der Tonika übergeht und bei dem wiederholten zweitletzten Vers zweimal eine Rückung von g-Moll nach As-Dur beschreibt, bewegt sie sich anfangs, also beim fünften und sechsten Vers im Bereich von C-Dur mit Rückungen nach f-Moll und reflektiert darin das Bild vom „Wald“, der „sich endlich
    erschließen“ wird.
    (Fortsetzung folgt)

  • Lieber H.Hofmann, nur so zwischendurch mal ein HERZLICHES DANKESCHÖN!


    Da sind viele meiner Lieblingslieder dabei! :!:


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Da sind viele meiner Lieblingslieder dabei! :!:

    Das freut mich, lieber Fiesco! Und ich hoffe, es bleibt dabei in dem, was noch nachkommt.

    Ich musste ja eine Auswahl treffen, und dabei ließ ich mich, der Leitfrage dieses Threads entsprechend, von dem Aspekt leiten, in welchen Liedern ich ein besonderes Angesprochen-Sein Schuberts vom jeweiligen lyrischen Text zu vernehmen meinte.

    Und siehe, das sind dann auch diejenigen, durch die man sich als ihr Rezipient in besonderer Weise angesprochen fühlt.

    Das dürfte allerdings kein Zufall sein!

  • Das freut mich, lieber Fiesco! Und ich hoffe, es bleibt dabei in dem, was noch nachkommt.

    Ich musste ja eine Auswahl treffen, und dabei ließ ich mich, der Leitfrage dieses Threads entsprechend, von dem Aspekt leiten, in welchen Liedern ich ein besonderes Angesprochen-Sein Schuberts vom jeweiligen lyrischen Text zu vernehmen meinte.

    Und siehe, das sind dann auch diejenigen, durch die man sich als ihr Rezipient in besonderer Weise angesprochen fühlt.

    Das dürfte allerdings kein Zufall sein!

    Da stimme ich dir gerne zu lieber H.Hofmann, ich freue mich schon auf das was da noch kommt:!:

    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Na, dann setze ich erst einmal, bevor ich das nächste Lied vorstelle, meine Betrachtung der Faktur von "Auf der Bruck" fort.

    Diese liedanalytischen Betrachtungen sind eine relativ trockene, mich selbst im nachhinein nicht recht befriedigende Angelegenheit, wie mir gerade bei dem Lied "Totengräbers Heimwehe" wieder einmal bewusst wurde, als ich noch einmal durchlas, was ich dazu geschrieben habe.

    Die so tief berührende Liedmusik dieser Komposition hat keine angemessene Würdigung im Sinne einer sie in ihrem klanglichen Wesen treffenden Beschreibung gefunden. Aber ich glaube halt eben und sehe mich gar in der Pflicht, man müsse - und könne auch - die Aussage eines musikalischen Werks kognitiv erfassbar werden lassen, indem man seine innere Anlage aufzeigt. Es genügt mir einfach nicht, es mit dem Kommentar "ach, wie schön", ach, wie tief anrührend" zu präsentieren.

    Das Problem dabei ist freilich: Die genuin ästhetische Dimension, seine Schönheit eben, habe ich damit nicht erfasst.

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  • Darf ich mich hier auch als stiller Leser bedanken. Leider habe ich schon festgestellt, dass mein persönliches Highlight "Du bist die Ruh" nach Friedrich Rückert, leider durch den in der Überschrift vorgegebenen Filter fällt.


    Trotzdem ist es immer wieder eine Freude, die Lieder zusammen mit der Analyse zu genießen, wenn ich dazu Zeit habe.


    Beste Grüße,

    Axel

    Einmal editiert, zuletzt von astewes ()

  • Eben sehe ich gerade Deinen Beitrag, lieber astewes, für den ich mich bedanke. Der "vorgegebene Filter" soll kein Hindernis sein, auf dieses Lied hier einzugehen.

    Ich habe mich ja auch schon dazu bereit erklärt, dem Wunsch auf eine Besprechung von "Der Hirt auf dem Felsen" nachzukommen.

    Das ist ja doch der Sinn meiner Tätigkeit hier!

  • „Auf der Bruck“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Bei der zweiten Strophe hat diese zweite Vierer-Versgruppe – und um die geht es ja jeweils, was die Variationen anbelangt – einen anderen Inhalt. Das lyrische Ich erfreut sich in seiner gegenwärtigen Situation manch „lachenden Auges“, dennoch fühlt es sich „ohne Ruh“ zurück „zu seinem Leide“ getrieben. Wie in der ersten Strophe setzt die melodische Linie wieder mit einer deklamatorischen Tonrepetition ein, nun aber auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene und in As-Dur harmonisiert. Dem Wort „lachen“ wird mit einem kleinen schelmischen Vorschlag Rechnung getragen. Beim zweiten Vers begnügt sie sich aber nun nicht mit einem einfachen weit nach oben ausgreifenden Bogen, sondern die Worte „beut mir Frieden, Lieb und Freude“ inspirieren sie zu einem lebhaften Auf und Ab, das bei dem Wort „Frieden“ zu einem Terzsprung in hohe Lage übergeht, um anschließend einen anfänglich leicht gedehnten Fall über das Intervall einer Sexte zu beschreiben,, der aber, darin das Wort „Freude“ in seinem semantischen Gehalt reflektierend, in einem Quartsprung endet, der mit einer Rückung von As-Dur nach Des-Dur verbunden ist.

    Bei den – wiederum wiederholten – Worten des zweitletzten Verses drückt die melodische Linie innere Unruhe aus. Beim ersten Mal beschreibt sie eine doppelte, nach einem Quartsprung noch einmal neu ansetzende Fallbewegung, die in einer mit einem Sekundvorschlag versehenen Dehnung auf dem Wort „Ruh“ endet. Dieses ereignet sich bei der Wiederholung, nun aber um eine Terz abgesenkt und in As-Dur harmonisiert, während die erste Dehnung in f-Moll gebettet ist. Die ganze Zeile ist beim ersten Moll harmonisiert (b-Moll, nach f-Moll rückend), die innere Unruhe zum Ausdruck bringend. Bei den Worten „zurück zu meinem Leide“ beschreibt die melodische Linie einen ausdrucksstarken, aus einer zweimaligen Tonrepetition hervorgehenden Septsprung zu einem hohen „Ges“, der mit einer Rückung von As- nach Des-Dur verbunden ist, und geht von dort in einen sechsfachen Sekundfall über, der auf der ersten Silbe von „Leide“ eine extreme Dehnung aufweist und schließlich beider zweiten auf dem Grundton „As“ endet.

    Die starke seelische Regungen zum Ausdruck bringende, von den Worten „Lust“, „Leiden“, Schmerz“ und dem expressiven Adverbial „zerrissen“ geprägte zweite Vers-Vierergruppe der dritten Strophe bringt eine höchst lebhaft über einen großen tonalen Raum sich entfaltende Melodik hervor, bei der zwei Mal kleinschrittige Bogenbewegungen in mittlerer Lage mit leicht gedehnten und ausdrucksstarken Fallbewegungen über das Intervall einer Septe abwechseln ( so bei „Leiden“ und „heilen“). Die Harmonik beschreibt dabei immer wieder eine Rückung von as-Moll nach Es-Dur. Die Worte „Fühlt´ ich drei Tage nur den Schmerz“ führen dazu, dass die melodische Linie nach einem Auf und Ab in oberer Mittellage mit einem Sekundsprung zu einer langen Dehnung bei dem Wort „Schmerz“ übergeht, wobei die Harmonik, die ohnehin schon in den Bereich von Ces-Dur gerückt war, nun noch weiter im Quintenzirkel absinkt, nach Fes-Dur nämlich.
    Die Wiederholung der Worte nun des letzten Verses („Und ach, die Freude mußt' ich missen!“) inspirieren sie aber dazu, nach der gleichsam unvermeidlichen Dehnung auf „ach“ in tiefer Lage mit einem hoch expressiven Oktavsprung zu einem hohen „As“ aufzusteigen und danach in einen Fall überzugehen, der sich über das gleiche große Intervall erstreckt, bei dem Wort „missen“ aber sogar noch einen gedehnten, aus einem Terzsprung hervorgehenden Sextfall beschreibt, bevor er über einen Sekundanstieg auf dem Grundton „As“ zur Ruhe kommt.

    Der ist allerdings erst einmal in Des-Dur harmonisiert, dem aber im Zwischenspiel keineswegs ein As-Dur nachfolgt. Es ist vielmehr ein kurzes as-Moll, das danach freilich von As-Dur abgelöst wird, lässt doch das Klavier beim Übergang zur vierten Strophe wie in allen Fällen davor das Vorspiel in seinen wesentlichen Motiven erklingen. Die Moll-Harmonik, in die die Melodik der ganzen, die Wiederholung der Worte des letzten Verses beinhaltenden Melodiezeile gebettet ist (as-Moll und des-Moll), lässt freilich vernehmen, wie tief das lyrische Ich, so wie Schubert es in diesen Versen Schulzes begegnet ist, von dem durch die Ferne von der Geliebten bedingten Vermissen der Freude seelisch berührt ist.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Auf der Bruck“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    In einen beschwingt-frischen Ton geht die melodische Linie, darin den appellativen Gestus der lyrischen Sprache reflektierend, bei den die Vers-Vierergruppe der letzten Strophe einleitenden Worte „Drum trabe mutig durch die Nacht“ über. Bei „Und schwinden auch die dunkeln Bahnen“ steigt sie mit einem Quartsprung in hohe Lage auf und geht danach in einen dreimaligen, am Ende gar über eine Oktave sich erstreckenden Fall über, wobei die anfängliche f-Moll-Harmonisierung nun in frisches C-Dur umschlägt. Der zweitletzte Vers erfährt auch hier eine Wiederholung, wobei die melodische Linie eine ähnliche, sich über die ganze Strecke langsam absenkende Bewegung beschreibt, wie sie das auch schon in der ersten und der zweiten Strophe tat. Und auch der aus einer Tonrepetition hervorgehende Sprung in hohe Lage mit der anschließend in kleinen Schritten erfolgenden, dann aber in eine Dehnung übergehenden Absenkung auf den Worten „Und sicher führt mich süßes Ahnen“ stellt in der Grundstruktur eine Wiederkehr der Melodik auf dem letzten Vers der beiden ersten Strophen dar.

    Schubert lässt die beiden letzten Verse, eben weil sich für ihn beim lyrischen Ich all die um die Geliebte und die Ankunft bei ihr kreisenden Gedanken und Gefühle zu ihrem Höhepunkt steigern, noch einmal deklamieren, und das einschließlich der Wiederholung des zweitletzten. Nun aber verleiht er der Melodik eine deutlich energischeren und auf gesteigerte Expressivität hin angelegten Gestus. Die melodische Linie ist nun stärker sprungbetont, wobei auch mehrfach der deklamatorische Vorschlag zum Einsatz kommt.

    So setzt sie nun bei den Worten „Der Sehnsucht helles…“ nicht mit einem Sekundsprung ein, der anschließend in einen doppelten Terzfall übergeht, vielmehr folgt nun auf den mit einem Vorschlag versehenen Sekundfall nach einer Tonrepetition zu dem Wort „helles“ hin ein Quartsprung mit nachfolgend gedehntem Sekundfall, der, weil in der Dominante Es-Dur harmonisiert, diesem Wort einen deutlichen Akzent verleiht. Und bei der Wiederholung ereignet sich bei ihm sogar ein ausdrucksstarker Septsprung zu einem hohen „Ges“ mit einer nachfolgenden, wieder mit Vorschlag versehenen Tonrepetition auf einer um eine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene, dieses Mal verbunden mit einer Rückung von der Tonika As-Dur in die Subdominante Des-Dur.

    Und den Gipfel der Expressivität erreicht die Melodik bei der sie beschließenden Wiederholung der Worte „Und sicher führt mich süßes Ahnen“. Aus dem Sextsprung bei dem Wort „süßes“, wie er sich in der letzten Strophe beim ersten Mal ereignet, wird nun ein veritabler Oktavsprung zum höchsten Ton des Liedes hin (einem „As“), der sich, in Des-Dur-Harmonisierung, schon bei dem Wort „führt“ ereignet. Und der nachfolgende, sich über eben diese Oktave erstreckende Fall der melodischen Linie setzt sich nicht etwa in kontinuierlichen Sekundschritten fort, sondern geht bei dem Wort „Ahnung“ mit einem Terzsprung in einen lang gedehnten Sextfall über, bevor dann schließlich doch über einen Sekundsprung der Grundton „As“ in mittlerer Lage erreicht wird.

    Beim Nachspiel nimmt Schubert eine Erweiterung des Vorspiels um drei Takte vor, in denen er auf höchst eindrucksvolle Art die nach oben springenden Oktaven im Bass piano und gleichsam zu Einzeltönen verkümmert in extrem tiefe Lage absinken lässt, bevor zwei As-Dur-Akkorde die Liedmusik beschließen dürfen.

  • „Abendlied für die Entfernte“, op.88, 1, D 856

    Hinaus, mein Blick, hinaus ins Tal,
    Da wohnt noch Lebensfülle;
    Da labe dich im Mondenstrahl
    Und an der heil'gen Stille.
    Da horch nun ungestört, mein Herz,
    Da horch den leisen Klängen,
    Die, wie von fern, zu Wonn' und Schmerz
    Sich dir entgegen drängen.

    Sie drängen sich so wunderbar,
    Sie regen all mein Sehnen.
    O sag mir, Ahndung, bist du wahr?
    Bist du ein eitles Wähnen?
    Wird einst mein Aug' in heller Lust,
    Wie jetzt in Tränen, lächeln?
    Wird einst die oft empörte Brust
    Mir sel'ge Ruh umfächeln?

    Wenn Ahndung und Erinnerung
    Vor unserm Blick sich gatten,
    Dann mildert sich zur Dämmerung
    Der Seele tiefster Schatten.
    Ach, dürften wir mit Träumen nicht
    Die Wirklichkeit verweben,
    Wie arm an Farbe, Glanz und Licht
    Wärst du, o Menschenleben!

    So hoffet treulich und beharrt
    Das Herz bis hin zum Grabe;
    Mit Lieb' umfaßt's die Gegenwart,
    Und dünkt sich reich an Habe.
    Die Habe, die es selbst sich schafft,
    Mag ihm kein Schicksal rauben:
    Es lebt und webt in Wärm' und Kraft,
    Durch Zuversicht und Glauben.

    Und wär in Nacht und Nebeldampf
    Auch alles rings erstorben,
    Dies Herz hat längst für jeden Kampf
    Sich einen Schild erworben.
    Mit hohem Trotz im Ungemach
    Trägt es, was ihm beschieden.
    So schlummr' ich ein, so werd' ich wach,
    In Lust nicht, doch in Frieden.

    (August Wilhelm von Schlegel)

    Von den insgesamt sechs Strophen, die dieses Gedicht A.W. Schlegels umfasst, hat Schubert fünf in seine Liedkomposition aufgenommen. Die dritte Strophe hat er ausgelassen, aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht war es der Umstand, dass Schlegel sich hier mit den Worten „Und rief´ auch die Vernunft mir zu: / >Du mußt der Ahndung zürnen…< allzu weit auf die philosophische Ebene seiner lyrisch-reflexiven Gedanklichkeit vorgewagt hat. Denn um dergleichen handelt es sich hier: In lyrischer Sprachlichkeit sich ergehende Reflexion, in der sich das Ich beim Blick hinaus in die in Mondlicht gebettete Landschaft eines Tals auf den Weg der Selbstfindung begibt.

    Es ist einer im typisch romantischen Gestus: Das Herz horcht auf die „leisen Klänge“, die sich ihm entgegen drängen und stößt dabei auf den großen Reichtum an Gedanken und Gefühlen, der sich in dieser Situation der meditativen Einkehr in sich selbst einstellt. Es ist „die Habe“, die das Herz sich selbst schafft und die kein Schicksal ihm rauben kann. Und so ist es nur konsequent, dass der sich in diesem Geist der Romantik ergehende Lyriker in dem Ausruf ergeht: „Ach, dürften wir mit Träumen nicht / Die Wirklichkeit verweben, / Wie arm an Farbe, Glanz und Licht / Wärst du, o Menschenleben!“.

    Was mag Schubert bewogen haben, zu diesem so stark reflexiv ausgerichteten lyrischen Text zu greifen und ihn im September 1825 in Liedmusik zu setzen? Er hat ja, schon 1816 einsetzend damit, mehrere lyrische Texte von A.W. v. Schlegel vertont, wurde durch Mayrhofer auf ihn aufmerksam gemacht und hat sogar seine Petrarca-Vorlesungen in Wien besucht. Das sind aber rein biographische Sachverhalte, aus denen sich keine wirkliche Antwort auf diese Frage ergibt. Der Grund für den Griff nach diesem Gedicht dürfte eher das Sich-Wiederfinden in der Haltung des lyrischen Ichs sein, wie sie sich in der letzten Strophe artikuliert. In diesen Zeiten der tiefgreifenden existenziellen Krise mag für Schubert der Gedanke verlockend gewesen sein, dass das Ich aus dem Reichtum seiner seelischen Innenwelt einen „Schild“ zu erwerben vermag, der es ihm möglich macht „mit hohem Trotz im Ungemach“ zu tragen, „was ihm beschieden“, so dass es nächtens einschlummern und morgens zwar nicht „in Lust“, wohl aber „in Frieden“ zu erwachen vermag.

    Die Komposition ist als variiertes Strophenlied angelegt, sie steht in F-Dur als Grundtonart, weist einen Sechsachteltakt auf und soll „in mässiger Bewegung“ vorgetragen werden. Erste und zweite Strophe weisen eine absolut identische Liedmusik auf, bei der dritten Strophe liegt auf dem ersten Verspaar die gleiche Melodik wie auf den Anfangsstrophen, nun allerdings in Moll-Harmonisierung, und bei den nachfolgenden Versen erfährt die melodische Linie eine Variation, die zwar nicht ihre Grundstruktur tangiert, aber durchaus markant ist. Die vierte Strophe ist in Melodik, Klaviersatz und Harmonik wieder mit den ersten beiden identisch, und bei der fünften kehrt das Prinzip der Moll-Harmonisierung beim ersten Verspaar mit nachfolgender Variation der Melodik wieder.


  • Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Der hohe affektive Gehalt der lyrischen Bilder, mit denen Schlegel in der ersten Strophe sein Gedicht einleitet, hat Schubert ganz offensichtlich dazu bewogen, den lyrischen Text in eine liebliche, leicht volksliedhaft angehauchte und vom Sechsachteltakt leicht beschwingte Melodik umzusetzen. Das siebentaktige Vorspiel lässt ihren Geist vernehmen. In der Folge der in einen bitonalen Akkord mündenden Achtel-Figuren, bei der die Harmonik eine Rückung von F-Dur über die Dominante C-Dur zur Subdominante B-Dur vollzieht und die schließlich in eine bogenförmig sich entfaltende Sextenfolge übergeht, die mit einer überraschenden Rückung nach A-Dur einsetzt, zeichnet sich eine melodische Linie ab, die in ihrer Grundstruktur von der melodischen Linie der Singstimme auf dem Worten „Hinaus, mein Blick, hinaus ins Tal, / Da wohnt noch Lebensfülle“ übernommen wird.

    Sie erweist sich, da sie auf allen ersten Verspaaren erklingt, wobei auch die zweimalige Moll-Harmonisierung nichts an ihrem klanglichen Wesen ändert, als die das Lied und seinen musikalischen Geist maßgeblich prägende melodische Figur. Da sie sich in fallend angelegten Terzschritten entfaltet, darin aber mit einem Sprung zweimal neu ansetzt und schließlich in einen ebenfalls mit einem Sprung neu einsetzenden zweimaligen Achtelfall übergeht, mutet sie wie die klangliche Verkörperung des Aufbruch-Geistes an, der sich lyrisch in dem sich wiederholenden Appell „Hinaus“ ausdrückt. Das Klavier vollzieht diese Bewegungen der melodischen Linie im Diskant in Gestalt von Einzeltönen und bitonalen Akkorden mit, und lässt das Ende der Melodiezeile in einem eineinhalbtaktigen Zwischenspiel noch einmal erklingen. Die Harmonik verbleibt dabei durchweg in F-Dur, das allerdings am Ende eine Rückung in die Dominante vollzieht.

    Das Konzept, zwei Verse in einer Melodiezeile zusammenzufassen, behält Schubert durchweg bei, und er wahrt auch den Geist, in dem die melodische Linie angetreten ist. Auch wenn sie sich, bedingt durch die Orientierung an syllabisch exakter Deklamation, weiterhin in volksliedhaft anmutender Schlichtheit entfaltet, so reflektiert sie doch darin die lyrische Aussage. Dies allerdings nicht in Gestalt einer unmittelbaren Wortbezogenheit, was ja bei dem zugrundliegenden Strophenlied-Konzept gar nicht möglich ist, sondern in gleichsam grundsätzlicher Art, dergestalt dass sich in ihrer Struktur und in ihrer Harmonisierung die Haltung des lyrischen Ichs ausdrückt.

    Man kann das gleich bei der nachfolgenden Melodiezeile auf dem zweiten Verspaar vernehmen. Aus einer kurzen Tonrepetition geht sie bei den Worten „labe dich im Mondenstrahl“ in eine bogenförmige Bewegung über, die das Klavier nun mit repetierenden bitonalen Achtel-Akkorden in Diskant und Bass begleitet und bei der die Harmonik, darin wohl die Mondschein-Stimmung reflektierend, eine Rückung von c-Moll nach g-Moll vollzieht. Bei den Worten „Und an der heil´gen Stille“ verharrt sie dagegen, nun in Dur harmonisiert („Es“ und „As“) zwei Mal, nämlich bei „an“ und auf der ersten Silbe von „heil´gen“ in einer kleinen Dehnung, bevor sie sich über einen Quintfall mit nachfolgendem Achtelvorschlag auf ein „As“ in mittlerer Lage absenkt.

    Die leichte Aktivität, die nun mit der Aufforderung „Da horch nun…“ aufkommt, schlägt sich in der melodischen Linie in der Weise nieder, dass sie nach einer anfänglichen deklamatorischen Tonrepetition auf eben diesen Worten eine etwas lebhaftere Bewegung in Gestalt eines Achtelfalls beschreibt, die zwar auf den Worten „mein Herz“ in ein kurzes Innehalten auf neuerlicher Tonrepetition übergeht, sich aber bei den Worten „Da horch den leisen Klängen“ in leicht gesteigerter Lebhaftigkeit fortsetzt. Auch hier lässt die Harmonisierung in die seelischen Dimensionen der lyrischen Aussage blicken, denn sie beschreibt bei den Worten „mein Herz“ eine ausdrucksstarke Rückung von As-Dur nach G-Dur, das bei „da horch“ in g-Moll übergeht, bevor sie dann am Ende, bei dem in hoher Lage ansetzenden melodischen Fall auf den Worten „leisen Klängen“ in den Bereich der Tonika zurückkehren kann, - dies allerdings in Gestalt einer Rückung aus der Subdominante in die Dominante C-Dur.
    Und wieder folgt der Melodiezeile, wie sich das nun als Wesensmerkmal der Liedmusik herausstellt, ein kurzes Zwischenspiel, in dem das Klavier die Schlussbewegung der melodischen Linie in artifiziell gesteigerter, weil in Sechzehntel-Figuren erfolgender Weise noch einmal nachvollzieht.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Abendlied für die Entfernte“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Beim letzten Verspaar greift Schubert zum Mittel der Wiederholung und untergliedert die Melodiezeile durch eine zweimalige Achtelpause in drei Unterzeilen, die jeweils den zweitletzten und die Wiederholung des letzten Verses beinhalten. Sie sind, vor allem die erste und, in gesteigerter Form, die letzte, von einen großen tonalen Raum einnehmenden Anstiegs- und Fallbewegungen der melodischen Linie in deklamatorischen Achtel- und Sechzehntelschritten geprägt, die der Liedmusik eine gesteigerte Expressivität verleihen.
    Es sind die Worte „zu Wonn´ und Schmerz“, die das bewirken. Und so liegt denn auf diesen ein aufschießender deklamatorischer Sechzehntel-Anstieg, der anschließend in eine Kombination aus doppeltem Sekund- und Quintfall übergeht, und bei der Wiederholung des letzten Verses schwingt sich die melodische Linie nach einem zweimaligen Verharren in kurzen Dehnungen auf der letzten Silbe von „entgegen“ in hohe Lage auf und geht bei „drängen“ in einen dreischrittigen Sekundfall über, aus dem sie sich aber sogleich wieder erhebt, um in einem gedehnten Sekundsprung in hoher Lage auszuklingen.
    Hier ist durchweg Dur-Harmonik angesagt, und es ereignen sich permanent kleinschrittige Rückungen im Bereich der Tonika F-Dur und ihren beiden Dominanten. Das Klavier verleiht der Aussage der melodischen Linie dadurch Nachdruck, dass sie sie durchweg mit einer synchronen Folge bitonalen Achtel-Akkorden in Bass und Diskant begleitet.

    Der affektive Gehalt der Bilder vom Sich-Gatten von „Ahndung und Erinnerung“ und der Milderung seelischer Schatten in der Erfahrung von Abenddämmerung führt dazu, dass die am Anfang der ersten beiden Strophen in ihrer F-Dur-Harmonisierung so frisch-beschwingt auftretende Melodik nun in Moll gebettet ist, ein f-Moll, das allerdings am Ende der Melodiezeile eine Rückung nach C-Dur vollzieht. Aber das nachfolgende, die letzte melodische Bewegung wieder nachvollziehende Zwischenspiel kehrt zum Tongeschlecht Moll zurück, und darin entfaltet sich auch die melodische Linie auf den nachfolgenden Worten „Dann mildert sich zur Dämmerung / Der Seele tiefster Schatten“. Aus einer bogenförmigen Bewegung geht sie bei dem Wort „Seele“ zu einem kurzen Innehalten in Gestalt einer gedehnten Tonrepetition über, beschreibt dann aber, die Semantik der Worte „tiefster Schatten“ reflektierend, zweimal einen sich in der tonalen Ebene absenkenden doppelten und in ein „Ges“ in unterer Mittellage mündenden Sekundfall.
    Die Harmonik, die anfänglich noch eine Rückung von c-Moll nach g-Moll vollzog, senkt sich bei diesem Bild von den „Schatten der Seele“ in den Bereich von Ges-, Ces- und Des-Dur ab. Und in Ges-Dur lässt das Klavier im üblichen Zwischenspiel pianissimo noch einmal die aufeinanderfolgenden Fallbewegungen der melodischen Linie erklingen.

    Der konjunktivische sprachliche Gestus, in dem anschließend das typisch romantische Lebensgefühl und das philosophische Theorem von der Produktivität des Verschmelzens von Traum und Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht werden, bewirkt, dass die melodische Linie bei den Worten „Ach dürften wir“ noch mit einer in b-Moll harmonisierten Tonrepetition einsetzt, dann aber mit einem Terzsprung einen doppelten Sekundfall und danach ein lebhaftes bogenförmiges Auf und Ab in mittlerer Lage beschreibt, das bei den Worten „Wie arm an Farbe, Glanz und Licht“ nach einem Terzsprung in einen Quintfall übergeht und danach einen ausdrucksstarken Anstieg in hohe Lage mit nachfolgender Wiederholung des Quintfalls vollzieht. Die Harmonik kann bei dem gedanklich-vieldimensionalen Reichtum der lyrischen Aussage und der Vielgestaltigkeit der deklamatorischen Schritte nicht in einer Tonart und einem Tongeschlecht verharren, und so beschreibt sie denn eine durchaus expressive Rückung von F-Dur über as-Moll, Es-Dur und f-Moll nach c-Moll, und diese harmonische Unruhe setzt sich bis zum Ende dieser Liedstrophe fort.

    Schubert bringt hier wieder das kompositorische Mittel der Wiederholung zum Einsatz. Durch die Aussage der beiden letzten Verse musste er sich in seinem eigenen Lebensgefühl und seinen Überzeugungen unmittelbar angesprochen gefühlt haben, und deshalb weicht er von seiner bisher gehandhabten Gestaltung der Melodiezeilen ab und verleiht den Worten „wärst du, o Menschenleben“ dadurch besonderes liedmusikalisches Gewicht, dass er ihnen eine eigene durch Dreiachtelpausen eingehegte kleine Melodiezeile widmet, bei der die Melodik, nach einer Tonrepetition und einem nachfolgenden Fall einen Aufschwung mit Sekundfall nimmt, wobei die Harmonik eine markante Rückung von b-Moll nach C-Dur beschreibt. Und anschließend greift er die lyrische Aussage noch einmal in eigener Version mit den Worten auf „Wie arm wärst du, wie arm, o Menschenleben!“. Hierbei steigert sich die melodische Linie in ihrer Expressivität dadurch, dass sie nach einem nun längeren repetierenden Verharren auf der tonalen Ebene erst darin einen Sekundanstieg vollzieht, dann aber mit einem Quartsprung in hohe Lage aufsteigt und anschließend in einen ausdrucksstarken, weil mit einem Zwischenaufstieg versehenen und am Ende über einen gedehnten Quintfall erfolgenden Fall übergeht, der sich insgesamt über das große Intervall einer None erstreckt. Und auch die Harmonik bewegt sich wieder in dem auch tongeschlechtlich weiten Feld von f-Moll, b-Moll, Ges-Dur, und C-Dur, um am Ende dann doch wieder zu f-Moll zurückzukehren. Die lyrische Aussage weist eben so viele kognitive und affektive Dimensionen auf.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Abendlied für die Entfernte“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Die vierte Liedstrophe stellt eine unveränderte Wiederkehr der Liedmusik der Strophen eins und zwei dar. Und auch in der letzten Strophe begegnet man, bis zum sechsten Vers einschließlich, einer Melodik die in ihrer Grundstruktur der in der dritten Strophe ähnelt, allerdings diverse Variationen aufweist. Die maßgebliche Abweichung von deren Liedmusik besteht in der mit dem zweiten Verspaar einsetzenden neuen Harmonisierung. Bei der leicht variierten bogenförmige Bewegung der melodischen Linie auf den Worten „Dies Herz hat längst für jeden Kampf“ beschreibt die Harmonik nun eine Rückung von c-Moll nach g-Moll und mündet nun nicht ein Ges-, sondern in Es-Dur, und beim nachfolgenden Vers, das heißt also auf den Worten „Sich einen Schild erworben“, setzt die melodische Linie zwar bei dem Worten „einen“ wieder mit einer gedehnten Tonrepetition auf einem „b“ in mittlerer Lage ein, diese ist nun aber in Es-Dur harmonisiert, und auf den Worten „Schild erworben“ weicht sie nun gänzlich von ihrer Struktur auf dem vierten Vers der dritten Strophe ab, indem sie aus einer längeren Dehnung auf dem Wort „Schild“ eine Kombination aus kleinem Sekundsprung und Quintfall beschreibt, der er mit einem Vorschlag versehener Sekundsprung nachfolgt. Und die Harmonik verbleibt hier im Bereich von Es-Dur, mit kurzer Rückung nach As-Dur.

    Bei den beiden letzten Versen bringt Schubert wieder das Mittel der Wiederholung zum Einsatz, und überdies untergliedert er die melodische Linie auch wieder in von Pausen eingegrenzte kleinere Zeilen, - dies alles um die für ihn hier bedeutsame lyrische Aussage in angemessener Weise zu akzentuieren. Bei den Worten „So schlummr´ ich ein, so wird´ ich wach“ entfaltet sie sich, im zweimaligen Wechsel von Tonika und Dominante harmonisiert, mit dem anfänglichen Quintfall und der Wiederholung desselben nach einem Achtel-Sechzehntel-Anstieg wie in wiegender Bewegung. Nach einer Pause im Wert von sechs Achteln, in der das Klavier die Folgen von bitonalen Akkorden fortsetzt, mit denen es hier begleitet, werden die Worte „in Lust nicht“ auf einer nur dreischrittigen, aus einem Terzsprung und einem Sekundfall bestehenden und von einer Dreiachtelpause gefolgten und in B-Dur stehenden Zeile deklamiert.

    Und auch bei den nachfolgen Worten „doch in Frieden“ ist das der Fall. Hier beschreibt die melodische Linie eine zweimalige, mit einem Legato-Terzsprung überbrückte Zweifach-Fallbewegung in Sekundschritten, die in F-Dur mit kurzer Rückung in die Dominante harmonisiert ist. Bei der Wiederholung der Worte des letzte Verses erklingen die Worte „in Lust nicht“ noch einmal auf der gleichen kleinen Melodiezeile, bei „doch in Frieden“ geht die melodische Linie jedoch nach einer Dreiachtelpause in Steigerung ihrer Expressivität zu einem Quartsprung in hohe Lage über, beschreibt auf der ersten Silbe von „Frieden“ zwar noch einmal einen zweifachen Sekundfall, dies aber nur, um dem nachfolgenden, auf dem Grundton in hoher Lage endenden Anstieg in Gestalt von punktierten Vierteln umso größeres Gewicht zu verleihen.

    Das achttaktige Nachspiel besteht aus einer Wiederholung des Vorspiels, nun allerdings mit einem fermatierten vierstimmigen F-Dur-Akkord abgeschlossen.

  • „An mein Herz“, D 860

    O Herz, sei endlich stille!
    Was schlägst du so unruhvoll?
    Es ist ja des Himmels Wille,
    Daß ich sie lassen soll!

    Und gab auch dein junges Leben
    Dir nichts als Wahn und Pein;
    Hat's ihr nur Freude gegeben,
    So mag's verloren sein!

    Und wenn sie auch nie dein Lieben
    Und nie dein Leiden verstand,
    So bist du doch treu geblieben,
    Und Gott hat's droben erkannt.

    Wir wollen es mutig ertragen,
    So lang nur die Träne noch rinnt,
    Und träumen von schöneren Tagen,
    Die lange vorüber sind.

    Und siehst du die Blüten erscheinen,
    Und singen die Vögel umher,
    So magst du wohl heimlich weinen,
    Doch klagen sollst du nicht mehr.

    Gehn doch die ewigen Sterne
    Dort oben mit goldenem Licht
    Und lächeln so freundlich von ferne,
    Und denken doch unser nicht.

    (Ernst Schulze)

    Liebe, unerfüllt, weil sie, aus welchen Gründen auch immer, gescheitert ist und zu keiner dauerhaften Erfüllung finden konnte, - das ist das Thema, um das diese, auf reizvolle Weise im Wechselspiel von jambischem und daktylischem Metrum sich entfaltenden Verse Schulzes kreisen, wobei ihr eigentlicher Gegenstand die Art und Weise ist, wie das lyrische Ich mit dieser existenziellen Erfahrung umgehen kann.
    Zu bewältigen vermag es sie nicht wirklich. Nur zu „mutigem Ertragen“ reicht es, begleitet von einem Träumen von den „schönen Tagen“, die „lange vorüber sind“. Als Trost bleibt nur die Begegnung mit naturhaftem Leben und die erbauliche Betrachtung der großen kosmischen Ordnung des Sternenhimmels. Diese aber führt nicht zu einer tatsächlichen Erlösung vom seelischen Leid, denn die kosmische Welt entfaltet sich in unüberbrückbarer Ferne und in absoluter Gleichgültigkeit gegenüber all dem Leiden, den Sorgen und Problemen eines kleinen irdischen Ichs

    Diese Art und Weise, wie sich das lyrische Ich in diesem Text lyrisch-reflexiv mit seinen existenziellen Erfahrungen in Sachen „Liebe“ und menschlicher Zweisamkeit auseinandersetzt, dürfte es gewesen sein, was Schubert zu einer liedkompositorischen Auseinandersetzung mit ihm bewogen haben mag, ist das doch für ihn zu einem Grundproblem des eigenen Lebens geworden, dem er sich infolgedessen als Komponist in vielfältiger Weise widmete, liedmusikalisch bis in seine beiden großen Zyklen reichend. Schulzes Verse tragen keinen Titel. In seinem „Poetischen Tagebuch“ steht über ihnen nur der Entstehungsvermerk „Am 23sten Januar 1816“. Der Liedtitel stammt also von Schubert, und er hat ihn ganz offensichtlich aus der an das „Herz“ gerichteten Frage hergeleitet, mit der das Gedicht einsetzt.

    Bei der Komposition, die im Dezember 1825 entstand, in a-Moll, bzw. A-Dur als Grundtonart steht, einen Zweivierteltakt aufweist und „Etwas geschwind und unruhig“ vorgetragen werden soll, handelt es sich um ein variiertes Strophenlied. Darin weist es allerdings in seiner Faktur eine durchaus hochgradige Komplexität auf, denn der Strophenlied-Charakter basiert auf drei in den auf den ersten Verspaaren der ersten, er zweiten und der fünften Strophe gleichsam programmatisch vorgegebenen Themen, und Schubert handhabt das Prinzip der Variation dabei auf eine höchst subtile Weise, darin die jeweilige lyrische Aussage reflektierend und den Wechsel des Tongeschlechts als wesentliches musikalisches Ausdrucksmittel nutzend.

    Ein höchst bedeutsames und gewichtiges Lied ist unter Einsatz dieser Mittel in der neuerlichen liedkompositorischen Auseinandersetzung Schuberts mit dem Thema „unerfüllte Liebe“ daraus hervorgegangen. Und das mag wohl der Grund dafür gewesen sein, dass Dietrich Fischer-Dieskau ihm die Empfehlung mitgibt: „Jedem Verehrer der >Winterreise< sei dies gänzlich unbekannt gebliebene Juwel zur verspäteten Bekanntschaft empfohlen.“


  • Zitat von Helmut Hofmann

    „An mein Herz“, D 860

    :jubel::thumbup::hail::hello: Danke !


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

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  • Ja, Fischer-Dieskau hat schon recht: Hier handelt es sich um eine „Juwel“ schubertscher Liedkomposition, das seltsamerweise gänzlich unbekannt geblieben ist. Bezeichnend ist, dass, wie ich eben gerade gesehen habe, Werner Oehlmann in seinem „Liedführer“ darauf nicht eingeht.
    Dass Fischer-Dieskau eine Beziehung zur „Winterreise“ herstellt, dazu hat ihn wohl der lyrische Gegenstand, der Umgang und die seelische und kognitive Auseinandersetzung des lyrischen Ich mit seiner verlorenen Liebe, bewegt.


    Aber dieses Ich hat ja nun mit dem der „Winterreise“ außer diesem Sachverhalt absolut nichts gemein. Zwar leidet es unter dem Verlust, aber es zerbricht nicht daran. Aussagen wie „Und Gott hat´s droben erkannt“ und „Doch klagen sollst du nicht mehr“ können dem Winterreise-Protagonisten nicht über die Lippen kommen. Dieses Ich vermag sich noch dazu aufzurufen, sich an der Schönheit der Blumen und dem Gesang der Vögel zu erfreuen. Und selbst die Erkenntnis, dass die „ewigen Sterne“ seiner nicht gedenken, bringt es – anders als dies in der „Winterreise“ der Fall ist - nicht davon ab, mit seiner Lebenswelt einverstanden zu sein, auch wenn es die „Liebste“ nicht darin nicht mehr gibt.
    Und so steht denn auch Schuberts Liedmusik – wie könnte es anders sein? – in ihrer inneren Beschwingtheit und ihrem klanglichen Reichtum in starkem Kontrast zur manchmal ja geradezu erschreckenden, weil in die Nähe des Erstarrens geratenden klanglichen Magerkeit der „Winterreise“-Musik.

  • „An mein Herz“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Da es tatsächlich wenig bekannt sein dürfte, soll dieses liedkompositorische „Juwel“ kurz vorgestellt werden. Ein ungewöhnlich langes, nämlich elf Takte in Anspruch nehmendes Vorspiel geht ihm voraus. Diesen großen Umfang hat Schubert ihm deshalb verliehen, weil es den Geist der Liedmusik auf eindrückliche Weise zum Ausdruck zu bringen vermag. Er macht es deshalb auch zur musikalischen Quelle für die vielen, vor jeder neuen Strophe erklingenden Zwischenspiele, die in mehr oder weniger großem Umfang aus ihm zitieren, und er lässt es schließlich in leicht verkürzter Gestalt im Nachspiel noch einmal wiederkehren, dort dann allerdings in einer Folge von repetierenden A-Dur-Akkorden und einem A-Dur-Schlussakkord zur Ruhe kommen.

    Dieses Zur-Ruhe-Kommen hat es nötig, denn sein Geist, wie er sich im Original am Anfang bekundet, ist der tiefer innerer Unruhe. Durchweg entfaltet es sich in permanenten Sechzehntel-Akkord-Repetitionen in Diskant und Bass. Anfangs noch wie zögerlich, denn sie erklingen erst einmal zwei Takte lang wechselweise als bitonale und dreistimmige Akkorde da und dort. Dann aber verdichtet sich dieses Zusammenklingen immer mehr, durchläuft im Sinne einer Steigerung seiner Expressivität eine Folge von tongeschlechtlichen und harmonischen Rückungen, von a-Moll über A-Dur, d-Moll, a-Moll, H-Dur, fis-Moll und neuerlichem a-Moll, bis es dann über eine dominantische Funktion einnehmendes E-Dur zum Einsatz der melodischen Linie in a-Moll überleitet. Und auch die Dynamik strahlt Unruhe aus, durchläuft sie doch in permanenten Crescendi und Decrescendi das Feld vom Piano, über das Forte und das Forte-Sforzato bis hin zum Pianissimo.

    Unruhe, - und eine, in der durch die tongeschlechtliche Ambivalenz schmerzliches Leid aufklingt, das ist es, was den Geist dieser Liedmusik ausmacht. Und ganz wesentlich konstituiert er sich klanglich in dem der Melodik in strukturell durchgehend unveränderter Gestalt zugeordneten Klaviersatz. Über einer im Bass zumeist angeschlagenen Aufeinanderfolge von einer Viertel- und zwei Achteloktaven erklingen im Diskant nach einer Sechzehntelpause zwei Gruppen von – in der Regel – repetierenden dreistimmigen Sechzehntel-Akkorden, bei denen es sich bei der ersten um einer Dreiergruppe, bei der zweiten -– wieder nach einer Sechzehntelpause angeschlagenen- um eine Folge von zwei Akkorden handelt, die von einer Sechzehntelpause unterbrochen wird.
    Diese zweimalige Unterbrechung einer gleichsam verspätet, erst durch die Vorgabe der Vierteloktave im Bass einsetzende Akkordfolge bringt durch den ihr zugrundeliegenden repetitiven Gestus und die ihr innewohnende Rhythmik eine permanente Unruhe in die Liedmusik.

    In der Melodik der ersten Strophe, die sich in der vierten Strophe mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz in nur geringfügig abgewandelter Gestalt wiederholt, setzt Schubert den lyrisch-sprachlichen Gestus der in Frageform erfolgenden, und durch den Ausruf „o“ mit Nachdrücklichkeit versehenen Ansprache an das „Herz“ in der Weise in Liedmelodik um, dass er die kleinen, je einen Vers umfassenden und durch eine Achtelpause voneinander abgehobenen Zeilen allesamt mit einer drei bis sechs deklamatorische Schritte beinhaltenden Tonrepetition einleitet. Bei Vers eins und drei setzt diese sich sogar noch auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene fort, bei den Versen zwei und vier geht sie in einen kleinen Sechzehntelbogen über, der in einen Sekundanstieg mündet. Danach werden der Vers drei einmal und der Vers vier zweimal wiederholt.

    Die Aussage, dass es des Himmels Wille sei, die Geliebte zu lassen, ist, was die Grundhaltung des lyrischen Ichs anbelangt, von großer Bedeutung, und deshalb greift er bei der zweifachen Wiederholung der Worte des letzten Verses auf die bogenförmige Figur der zweiten und der vierten Melodiezeile zurück, setzt dabei aber das Mittel der Steigerung der melodischen Expressivität ein, indem er nun aus dem anfänglichen kleinen Sekundfall mit nachfolgender Tonrepetition auf den Worten „daß ich sie“ einen Sekundanstieg mit nachfolgendem Oktavfall macht, der mit einem Sextsprung dann in diese Sechzehntel-Bogenbewegung übergeht.

    Und als weiteres kompositorisches Aussagemittel kommt auch noch die Harmonik zum Einsatz. Während bei der ersten kleinen Melodiezeilen, die Schmerzlichkeit der inneren Unruhe zum Ausdruck bringend, Moll-Harmonik dominiert, dies in Gestalt einer Rückung von a-Moll nach d-Moll, ereignet sich schon bei der zweiten eine Rückung nach E-Dur, die allerdings am Ende mit der Wiederkehr der Grundtonart a-Moll wieder zurückgenommen wird. Mit dem als Feststellung auftretenden Sich-Einreden, dass es hier im „Gottes Willen“ gehe, tritt das Tongeschlecht Dur in die Harmonisierung der melodischen Linie und durchläuft mehrere Rückungen von A-Dur zur Subdominante D-Dur und zur Dominante E-Dur. Im nachfolgenden, aus den Motiven des Vorspiels genommenen dreitaktigen Zwischenspiel klingt zwischen A-Dur- und E-Dur-Akkorden das Tongeschlecht Moll in Gestalt einer Folge von d-Moll-Akkorden kurz wieder auf, deutlich machend, dass es in diesem Lied im Kern um eine schmerzliche existenzielle Erfahrung geht.
    (Fortsetzung folgt)

  • „An mein Herz“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Beides, die Nutzung des Wechsels im Tongeschlecht und des Mittels der Textwiederholung zur Auslotung der Tiefendimensionen der lyrischen Aussage und zur Akzentuierung derselben, setzt Schubert auch in der Liedmusik der zweiten Strophe fort, die er bei der dritten Gedichtstrophe wiederkehren lässt. Und er verfährt liedkompositorisch ja durchweg bis zum Ende so: In allen Strophen werden die beiden letzten Verse wiederholt, und das klangliche Aussagepotenzial des Tongeschlechts stellt für ihn ein wichtiges liedkompositorisches Ausdrucksmittel dar. So wie er dieses lyrische Ich verstanden hat, muss das geradezu so sein. Denn dieses ist für ihn in der Unfähigkeit, das seelische Leid der unerfüllten Liebe zu bewältigen, in seiner Haltung zutiefst ambivalent: Einerseits leidet es, daher das Moll, andererseits redet es sich ein, dieses Leid ertragen so müssen, weil es sich um Gottes Willen handele, daher das Dur; einerseits sucht es Trost in der Natur und im Sternenhimmel, gleichwohl weiß es, dass die Sterne „unser nicht gedenken“.

    Die zweite – und damit auch die dritte – Strophe weist eine eigene Melodik auf, dies allerdings auf der Grundlage des strukturell unverändert fortdauernden Klaviersatzes. Zwar setzt auch sie bei den Worten „Und gab auch dein junges Leben“ mit deklamatorischen Tonrepetitionen ein, aber die Tatsache, dass sich darin ein Septsprung in der tonalen Ebene ereignet, weist darauf hin, dass die Melodik ein höheres Potential an affektiv evokativen Elementen aufweist. Und das ist ja auch angebracht, geht doch das lyrische Ich in diesen beiden Strophen zu einer reflexiven und Bilanz ziehenden Betrachtung seines zurückliegenden Lebens und der darin eingenommenen existenziellen Grundhaltung über, insbesondere was die Zweierbeziehung anbelangt.

    Bei den Worten „Hat's ihr nur Freude gegeben, / So mag's verloren sein!“ schwingt sich die melodische Linie, die beim vorangehenden Vers, die Worte „Wahn und Pein“ reflektierend, noch in a-Moll harmonisiert war, bogenförmig, und in C-Dur mit Rückung nach F-Dur harmonisiert, in obere Mittellage empor und kehrt nach einer Absenkung in mittlere Lage mit einem Quartsprung dorthin zurück, um sich einem Auf und Ab in Sekundschritten zu überlassen, bei dem die Harmonik nun eine Rückung von einem anfänglichen D-Dur nach G-Dur vollzieht.

    Diese beiden Schluss-Verse der Strophe werden, wie allgemein in diesem Lied üblich, wiederholt, wobei Schubert nun, um den semantischen Gehalt in seiner Tiefe auszuloten, der lyrischen Aussage weitaus stärkeren Nachdruck verleiht. Aus dem bogenförmigen Aufschwung wird nun bei „Hat´s ihr“ ein in hohe Lage führender melodischer Quartsprung, dem fallend angelegte Tonrepetitionen folgen, und bei den Worten „so mag´s verloren, verloren“ sein“ senkt sich die melodische Linie nun in tiefe Lage ab und streift in ihrer C-Dur-Harmonisierung während der deklamatorischen Wiederholung des Wortes „verloren“ auch kurz einmal ein f-Moll.

    Und weil sich für Schubert in diesen Worten des letzten Verses die Lebenshaltung des lyrischen Ichs ausdrückt, lässt er sie noch einmal deklamieren, nun aber auf einer melodischen Linie, die nach einer Tonrepetition mit einem Crescendo in drei Sekundschritten zu einem hohen „G“ aufsteigt und von dort auf dem zweiten Wortteil von „verloren“ einen regelrechten Absturz über das Intervall einer Sexte mit nachfolgendem Sekundanstieg vollzieht.
    Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung über die Dominante nach C-Dur, und das Klavier lässt, um dieser Aussage der Melodik Nachdruck zu verleihen, ausnahmsweise mal von seinen rhythmisierten Sechzehntel-Akkordfolgen im Diskant ab und schlägt einen vierstimmigen und einen dreistimmigen Achtel-Akkord an.
    (Fortsetzung folgt)

  • An mein Herz“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Auch wenn die Melodik der fünften und der sechsten Strophe an die der zweiten und der dritten erinnert, so dass man sie als aus ihrem Geist kommend empfindet, so weist sie doch eine genuine Struktur auf, die eine eigenständige Aussage zu generieren vermag. Der Aufstieg aus tiefer in obere Mittellage vollzieht sich bei der Melodiezeile auf dem ersten Vers nun nicht in Gestalt eines Sprungs, sondern in einzelnen Terzschritten, und die Harmonik vollzieht danach keine Rückung von A-Dur nach a-Moll, sondern verbleibt, darin den Geist der nachfolgenden Melodik reflektierend, bei ihrem anfänglichen A-Dur. Denn diese hat ja das Bild von den „umher singenden“ Vögeln aufzugreifen und ergeht sich deshalb in einem mit einem Sekundfall eingeleiteten Aufschwung in hohe Lage, um von dort einen Fall in Sekundschritten zu beschreiben, der in E-Dur-Harmonik endet.

    Auch hier nutzt Schubert die Wiederholung der beiden letzten Verse, um mittels einer höheren Expressivität der melodischen Linie der lyrischen Aussage Nachdruck zu verleihen. Beim ersten Mal liegt auf den Worten „Doch klagen sollst du nicht mehr“ eine bogenförmige, in hohe Lage ansteigende und sich in mittlere wieder absenkende melodische Linie, bei der sich eine harmonische Rückung von A-Dur über die beiden Dominanten ereignet. Bei der ersten Wiederholung, bei der das Wort „klagen“ wieder zweimal deklamiert wird, senkt sich die melodische Linie, nun ganz im Bereich von A-Dur und seiner Oberdominante verbleibend, bis zu einem tiefen „Dis“ ab und verbleibt auch in tiefer Lage, bis sie am Ende dann doch einen dreifachen Sekundanstieg in mittlere vollzieht. Schubert will dieser Aussage noch stärkeren Nachdruck verleihen, und so vollzieht die melodische Linie bei der neuerlichen Deklamation der Worte „klagen sollst du nicht mehr“ am Anfang einen ausdrucksstarken Oktavsprung zum höchsten Ton des Liedes (einem „A“) und senkt sich danach, mit einem kurzen Innehalten bei dem Wort „sollst“ mit zwei Fallbewegungen über das gleiche Oktav-Intervall wieder ab.

    Bei der letzten Strophe, die in ihrer Melodik beim ersten Verspaar bis auf einen kleinen Pralltriller mit der vorangehenden identisch ist, erlebt man diese deklamatorische Wiederkehr des zweiten Verspaares unter Steigerung der melodischen Expressivität noch einmal, nur ist diese nun nicht mehr so stark ausgeprägt, weil ja die lyrische Aussage keine mehr ist, in der sich das seelische Innenleben des lyrischen Ichs offenbart. Es geht ja nur noch um die gleichsam fatalistisch-lakonische Feststellung, dass sich die Sterne da droben um das menschliche Leid nicht scheren. Und so wird aus der anfänglichen melodischen Figur auf den Worten „Und denken doch unser nicht“, einer aus einer Tonrepetition hervorgehenden bogenförmigen Fallbewegung in Sechzehntelschritten, die in einer Rückung von a-Moll nach E-Dur harmonisiert ist, bei der ersten Wiederholung aus einem doppelten Sekundanstieg in hohe Lage ein veritabler Oktavfall auf dem Wort „denken“, der in a-Moll harmonisiert ist, das bei der nun wieder nachfolgenden Sechzehntel-Bogenbewegung eine Rückung nach E-Dur eschreibt.

    Bei der neuerlichen und letzten Deklamation dieser Worte ereignet sich der Oktavfall noch einmal, die lyrische Aussage erfährt aber insofern noch einmal eine Steigerung, als in der Harmonisierung nun ein A-Dur an die Stelle des a-Molls tritt und der Sechzehntel-Bogen mit einem Sextsprung eingeleitet wird, dieses Mal nicht mit einem Sekundanstieg, sondern mit einem Sekundfall zum Grundton „A“ übergeht und ganz und gar in E-Dur steht, das am Ende eine Rückung nach A-Dur vollzieht.

  • „Der Wanderer an den Mond“, op.80, 1, D 870

    Ich auf der Erd', am Himmel du,
    Wir wandern beide rüstig zu: -
    Ich ernst und trüb, du mild und rein,
    Was mag der Unterschied wohl sein?

    Ich wandre fremd von Land zu Land,
    So heimatlos, so unbekannt;
    Bergauf, bergab, waldein, waldaus,
    Doch bin ich nirgend, ach, zu Haus.

    Du aber wanderst auf und ab
    Aus Westens Wieg' in Ostens Grab,
    Wallst länderein und länderaus,
    Und bist doch, wo du bist, zu Haus.

    Der Himmel, endlos ausgespannt,
    Ist dein geliebtes Heimatland:
    O glücklich, wer wohin er geht,
    Doch auf der Heimat Boden steht!

    (Johann Gabriel Seidl)

    In sprachlich schlichten, regelmäßig in vierfüßigen Jamben sich entfaltenden Versen lässt Seidl das lyrische Ich den Mond ansprechen, in dem es ein ihm verwandtes Du sieht. Verwandt in der – rüstig betriebenen - Wanderschaft als existenzielles Wesensmerkmal, und doch sich darin auf fundamentale Weise unterscheidend. Das Ich in seiner seelischen Verfassung „ernst und trüb“, weil wesenhaft „heimatlos“, nirgends zu Haus und „unbekannt“, das heißt ohne menschliche Gesellschaft. Das Du aber „mild und rein“ und, wo immer es sich aufhalten mag, zu Hause.
    Die Wanderschaft am Himmel, obgleich dieser endlos ausgespannt ist und von der Wiege im Westen (wo die untergehende Sonne ihm Raum gibt) bis zum „Grab“ im Osten (wo die aufgehende Sonne es verdrängt) reicht, ist für dieses Du allemal eine im „Heimatland“, und eben darin sieht sich das Ich auf grundsätzliche Weise von ihm wesensverschieden. Und so bleibt ihm in dieser Ansprache am Ende nur der Ausruf: Wie glücklich sind doch all diejenigen, die ein Zuhause haben, deren Wanderschaft sich auf heimatlichem Boden ereignet.

    Das Schubert sich von diesen Versen Seidls unmittelbar in seinem eigenen existenziellen Selbstverständnis angesprochen gefühlt haben muss, mutet angesichts der Tatsache, dass er sich selbst zeitlebens als heimatlosen Wanderer sah und dies in vielen Liedern, etwa in „Der Wanderer“ (D 489, Text Schmidt von Lübeck), ja sogar in zyklischer Weise musikalisch zu Ausdruck brachte, geradezu zwingend an.
    Der kompositorische Griff danach hat 1826 ein Lied geboren, das es zu hohem Bekanntheitsgrad und großer Beliebtheit brachte. Und das mit Recht, entfaltet sich darin doch auf der Basis eines rhythmisches Schreiten generierenden Zweivierteltaktes und im formalen Rahmen eines variierten Strophenliedes eine Melodik, die in der Binnenspannung der Tongeschlechter Moll und Dur hohe Eindringlichkeit im musikalischen Aufgreifen und Zum-Ausdruck-Bringen der Ambivalenz von Verwandtschaft und Gegensätzlichkeit zwischen Ich und Du entwickelt.

    „Etwas bewegt“ soll diese Liedmusik vorgetragen werden, und man empfindet diese Anweisung als logische Konsequenz aus der sich im Gestus des Dahinschreitens auf vielgestaltige Weise sich entfaltenden inneren Bewegtheit der Liedmusik. Vielgestaltig, weil Schubert, darin wieder seine tief reichende Bindung an den lyrischen Text dokumentierend, das lyrische Ich liedmusikalisch anders schreiten lässt als seinen Wandergesellen droben am nächtlichen Himmel.


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    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • „Der Wanderer an den Mond“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Im viertaktigen Vorspiel gibt das Klavier den ein Schreiten imaginierenden Grundrhythmus vor, in dem die nachfolgende Liedmusik sich entfaltet. Auf jedem der beiden ersten Taktschläge liegen je zwei Achtelakkorde, wovon der erste arpeggiert ist. Auf dem zweiten Taktschlag folgen zunächst zwei weitere Achtelakkorde, dann ein Viertel-Akkord und schließlich eine Sechzehntel-Terzenfigur nach. Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung von g-Moll über D-Dur, c-Moll und ein neuerliches, als Dominante fungierendes D-Dur, bevor sie zu g-Moll zurückkehrt, in dem nun die melodische Linie einsetzt. Diesen Gestus der klanglichen Imagination von Wanderschritt behält das Klavier in der Begleitung der Singstimme bei den ersten beiden Strophen auf markante Weise bei. Durchweg erklingt zweimal pro Takt eine Kombination aus bitonalem Akkord im Bass mit nachfolgendem zumeist dreistimmigem Akkord im Diskant.

    Das ist der Schreitrhythmus des „rüstig zuwandernden lyrischen Ichs, wie es in den ersten beiden Strophen von sich selbst und seiner existenziellen Grundbefindlichkeit spricht. Das „Du aber“, mit dem am Anfang der dritten Strophe die Hinwendung zum Moll eingeleitet wird, bringt eine Wandlung in der Struktur des Klaviersatzes mit sich. Nicht dass der Schreit-Grundrhythmus nicht mehr vernehmlich wäre, er ist es immer noch, allerdings in deutlich abgeschwächter Weise. Im Bass behält der Klaviersatz seine aus einer regelmäßigen Folge von vier Achtel-Akkorden bestehende Struktur bei, im Diskant erklingt nun ein wellenartiges Auf und Ab von Sechzehnteln, das die Bass-Schritte in eine Art sanften klanglichen Fluss einbettet.

    Auf diese Weise lässt Schubert, darin die lyrische Aussage aufgreifend, die Wanderschaft des Mondes liedmusikalisch-klanglich in einen Gegensatz zu der des lyrischen Ichs treten. Und es ist ja nicht nur der Klaviersatz, der dafür eingesetzt wird, auch die melodische Linie und ihre Harmonisierung werden von ihm genutzt, dieses „Du aber“, die vom lyrischen Ich erfahrene und mit einer Mischung aus Bewunderung und Betrübnis zum Ausdruck gebrachte Andersartigkeit der Wanderer-Existenz des Mondes auf eindrückliche Weise vernehmlich und miterlebbar werden zu lassen. Durch den Umschlag der Harmonisierung vom g-Moll als Grundtonart nach der Dur-Parallele B-Dur nehmen die Sprung- und Fallbewegungen der melodischen Linie mit einem Mal einen völlig anderen Charakter an. Und darein fügt sich, dass sie nun, wie die Schritte des Klavierbasses, klanglich in das Dahinfließen der wellenartig sich entfaltenden Sechzehntel im Diskant eingebettet sind.

    Die den ersten Vers beinhaltende melodische Figur, mit der das Lied einsetzt, nimmt eine zentrale Stellung in der Liedmusik ein, beherrscht sie doch, mit Ausnahme vierten Strophe alle Verspaare dergestalt, dass sie auf dem jeweils ersten Vers in strukturell nur minimal abgewandelter Gestalt wiederkehrt und sich Variationen nur im zweiten ereignen, und dies zumeist nur an dessen Ende. Aus diesem Grund kommt diesen dann allerdings eine große Bedeutung für die liedmusikalische Aussage zu. Nur bei der Wiederholung des letzten Verspaares, die Schubert, wie er das ja häufig handhabt, vornimmt, weil es sich hier um den für ihn relevanten Kern der lyrischen Aussage handelt, weicht er von diesem kompositorischen Konzept ab. Höchst bezeichnend freilich, dass er aber auch hier den deklamatorischen Grundgestus der Entfaltung der melodischen Linie in repetierend über größere Intervalle erfolgenden Sprüngen auf und ab beibehält.

    Drückt sich darin die Grundhaltung des wandernd dahinschreitenden lyrischen Ichs aus, wie Schubert sie aus den Versen Seidls herausgelesen hat?
    Es spricht vieles dafür, vor allem die Dominanz dieser melodischen Figur und die Tatsache, dass nur einmal eine strukturell grundsätzlich anders angelegte melodische Figur erklingt, dort nämlich, wo sich das lyrische Ich in die Vorstellung versteigt, dass der endlos ausgespannte Himmel das „Heimatland“ des Mondes sein könnte.
    Dieses lyrische Ich gibt sich, so wie Seidl es lyrisch gestaltet hat, in seinem rüstigen Dahinwandern Gedanken über sich selbst und sein existenzielles Wesen hin, die es monologisch in Gestalt von sprachlich relativ einfachen und klaren, verunklarende Emotionen meidenden Feststellungen zum Ausdruck bringt. Nur ein einziges Mal drängt sich eine Frage in sie, aber bezeichnenderweise ist das eine Sachfrage.
    (Fortsetzung folgt)

  • Die Wanderschaft am Himmel, obgleich dieser endlos ausgespannt ist und von der Wiege im Westen (wo die untergehende Sonne ihm Raum gibt) bis zum „Grab“ im Osten (wo die aufgehende Sonne es verdrängt) reicht, ist für dieses Du allemal eine im „Heimatland“,

    Erstaunlichweise singt der Sänger "Aus Ostens Wieg' in Westens Grab". Gibt es dafür eine schlüssige Erklärung?

  • Ja, die gibt es, lieber astewes.

    Und jetzt, wo ich mit Freude bemerke, wie genau Du hinhörst - wo mir das in der Interpretation durch Christian Gerhaher doch entgangen ist -, mache ich mir ein wenig Vorwürfe, dass ich nicht auf diesen Sachverhalt im lyrischen Text eingegangen bin. Aber mir ging es in der Interpretation des Gedichts nur um die Art und Weise, wie das lyrische den Mond erfährt und diese Begegnung innerlich verarbeitet, weil das ja der für die Beurteilung von Schuberts Liedmusik relevante Aspekt ist.


    Aber jetzt zu Deiner Frage "Gibt es dafür eine schlüssige Erklärung?"

    Der oben abgedruckte Text ist die ursprüngliche Fassung des Gedichts, die Schubert vorlag. In späteren Ausgaben hat Seidl den zweiten Vers der dritten Strophe abgeändert in "Aus Ostens Wieg´ in Westens Grab", weil man den Mond ja, bedingt durch die Erddrehung, am Himmel von Osten nach Westen ziehen sieht. Und tatsächlich tragen viele Interpreten das Lied aus diesem Grund mit dieser abgeänderten Verszeile vor. Das ist aber nicht der Notentext Schuberts!


    Warum Seidl ursprünglich so textete, darüber kann man nur spekulieren. Es könnte sein, dass die Sonne dabei eine Rolle spielt. Als Gegenspieler des Mondes sozusagen. Sie macht durch ihren Aufgang den Osten für den Mond zum Grab und durch ihren Untergang im Westen zur Wiege, weil er nun wieder leuchten kann.

    Man könnte jetzt noch ein wenig weiter spekulieren: Seidl dichtete in der ursprünglichen Fassung ganz aus der Sicht des Romantikers, für den die Nacht die bedeutsamere Tageszeit ist, die Sonne also im Grunde nicht nur der Gegenspieler, sondern gar der - ihn ins Grab bringende - Feind des Mondes ist. Dann aber, als er mit den Augen des Realisten zum nächtlichen Himmel blickte, wurde ihm die Notwendigkeit dieser Abänderung bewusst.


    Hier ist die Originalfassung des Liedes:


  • „Der Wanderer an den Mond“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Angesichts dieser lyrisch-sprachlichen Gegebenheiten empfindet man diese die Liedmusik dominierende melodische Grundfigur tatsächlich als Niederschlag der situativen Gegebenheit des Wanderns – schließlich deklamiert dieses lyrische Ich ja exakt im vom Klavier vorgelegten Rhythmus des Wanderschritts – und, in tieferem Einklang damit stehend, als Ausdruck der menschlichen Grundhaltung dieses Ichs. Denn es bejammert und beklagt seine Grundsituation der existenziellen Heimatlosigkeit ja nicht, sie wird ihm in der nächtlichen Begegnung mit dem Mond nur bewusst und in gleichsam sachlicher Weise konstatiert. Und die wenigen Anflüge von emotionaler Betroffenheit, die man unterschwellig darin vernehmen kann und die sich ein einziges Mal kleinen sprachlichen Ausdruck verschaffen, und zwar in dem „ach“, das sich als Interjektion in die Feststellung des Nirgends-zu-Haus-Seins am Ende der zweiten Strophe hineindrängt, werden von Schubert auf höchst subtile, weil den deklamatorischen Grundgestus am Ende der Verspaare mit einer neuen melodischen Figur gleichsam konfrontierenden Weise aufgegriffen.

    In diesem Zusammenhang ist vielsagend, wie er die Antwort auf die Frage „Was mag der Unterschied wohl sein“, die am Ende der zweiten Strophe indirekt gegeben wird, liedmusikalisch gestaltet. Um dem Fragecharakter des letzten Verses der ersten Strophe zu entsprechen, geht die melodische Linie im Gestus der Tonrepetitionen nun zu einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene über und senkt sich danach nicht, wie sie das bei den Worten „mild und rein“ tat, mit einem Quartfall ab, sondern setzt den Aufstieg mit zwei weiteren Sekundsprüngen bis zu einem hohen „F“ hin fort. Schubert verwendet dabei, um die Nachdrücklichkeit der melodischen Aussage zu unterstützen und zu steigern, eine ungewöhnliche harmonische Rückung: Von B-Dur über A-Dur nach g-Moll. Die Frage nach den Gründen für den von ihm konstatierten Unterschied zwischen der eigenen Befindlichkeit und jener des Mondes da oben ist für das lyrische Ich von großer Bedeutung, und die Liedmusik bringt das mit eben diesen Mitteln zum Ausdruck.

    Die Liedmusik der zweiten Strophe ist bis zum dritten Vers einschließlich sowohl in der Melodik, als auch im Klaviersatz mit der der ersten identisch. Selbst bei den Worten des letzten Verses beschreibt die melodische Linie zunächst, wieder in B-Dur mit Rückung nach A-Dur harmonisiert die gleichen um eine Sekunde in der tonalen Ebene ansteigenden Tonrepetitionen. Aber das lyrische Ich gibt hier ja die Antwort auf die Frage, die sich ihm beim Anblick des „milden“ und „reinen“ Mondes angesichts der eigenen ernsten Betrübnis aufgedrängt hat. Und so kann die melodische Linie nun nicht, wie am Ende der ersten Strophe, ihre Aufstiegsbewegung mit munteren Sechzehntel-Schritten weiter fortsetzen, vielmehr nötigt sie das kleine verschämte „ach“, das das Geständnis „Doch ich bin nirgend zu Haus“ begleitet, den Sekundsprung nun in einen zweifachen Sekundfall übergehen zu lassen, der in d-Moll harmonisiert ist und auf dem Grundton in oberer Mittellage endet.
    Das ist die einzige Stelle, wo die Musik dieses Liedes die Anmutung einer Schmerzlichkeit aufweist. Sie bleibt allerdings sehr verhalten, will Schubert doch dieses lyrische Ich seine Grundhaltung des gleichsam sachlichen Feststellens der Gegebenheiten nicht wirklich aufgeben lassen.

    Auf den Worten „Du aber wanderst auf und ab“ und „Wallst länderein und länderaus“, dem ersten und dritten Vers der dritten Strophe also, beschreibt die melodische Linie exakt die gleiche Bewegung des sprunghaften Aufs und Abs in Tonrepetitionen. Und doch klingt sie nun ganz anders, weist mit einem Mal einen Anflug von Weichheit, ja klanglicher Lieblichkeit auf.
    Der Grund: Sie ist nun nicht in Mol-Harmonik gebettet, sondern in G-Dur, das eine Rückung in die Dominante D-Dur beschreibt, und – was in seiner klanglichen Wirkung von ebenso großer Bedeutung ist – das Klavier akzentuiert die deklamatorischen Schritte der Melodik nun nicht mehr mit Bass und Diskant übergreifenden Achtelakkorden, sondern gibt ihnen im Diskant wellenartige Achtel-Ketten bei.
    Das lyrische Ich spricht den Mond an, und Schubert will es dies in der Haltung nicht etwa des Neids, was ja durchaus verständlich wäre, sondern der liebevollen Bewunderung tun lassen. Das entspricht dem Bild, das er von diesem Ich aus den Versen Seidls gewonnen hat.

    Und so ist es denn ganz stimmig, dass die melodische Linie bei den Worten „Aus Westens Wieg' in Ostens Grab“ mit der kleinen in die Tonrepetitionen eingelagerten Kette von fallenden Sechzehnteln zu einem leicht melismatischen Gestus übergeht und sich bei „Und bist doch, wo du bist, zu Haus“ mit einer Kombination aus Terz- und Sekundsprung zu einer mit einem kleinen Crescendo versehenen Dehnung in hoher Lage bei dem Wort „wo“ aufschwingt, von wo aus sie nach einer Tonrepetition eine Sekunde tiefer zu einem ausdrucksstarken Sextfall zu den Worten „zu Haus“ übergeht, der ihnen, die für die lyrische Aussage des ganzen Gedichts von zentraler Bedeutung sind, den angemessenen Nachdruck verleiht. Dies auch deshalb, weil der nachfolgende Sekundsprung zum Grundton „G“ führt und die Harmonik hier die Kadenz-Rückung über die Dominante zur Tonika beschreibt.
    (Fortsetzung folgt)

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