Franz Schubert. Liedkomposition nach existenziell tiefgreifender Lebenskrise

  • Warum Seidl ursprünglich so textete, darüber kann man nur spekulieren. Es könnte sein, dass die Sonne dabei eine Rolle spielt. Als Gegenspieler des Mondes sozusagen. Sie macht durch ihren Aufgang den Osten für den Mond zum Grab und durch ihren Untergang im Westen zur Wiege, weil er nun wieder leuchten kann.

    Den Aufgang der Sonne als Grab des Mondes zu empfinden, finde ich tatsächlich sehr schlüssig. Danke auch für die Erklärungen zur Textgenese und die Interpretation durch Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore!

  • „Der Wanderer an den Mond“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Wie sehr dieses lyrische Ich sich bei Schubert auf nicht neidvolle, sondern eher sehnsüchtig-liebevolle Weise in diesen fernen Mond oben am Himmel eingefühlt hat, weil er über etwas verfügt, was ihm verwehrt ist, Heimat nämlich und ein Zuhause-Sein, das lässt die Melodik auf dem ersten Verspaar der letzten Strophe auf eindrucksvolle Weise vernehmen.
    Bei den Worten „Der Himmel, endlos ausgespannt“ senkt sich die melodische Linie, immer noch in G-Dur und seiner Dominante harmonisiert, in Gestalt von drei, nach einem Zwischenanstieg erfolgenden Fallbewegungen über das Intervall einer ganzen Oktave in tiefe Lage ab, wobei das Bild vom „Ausgespannt-Sein“ in der Weise dabei Ausdruck findet, dass sich auf dem Wort „ausgespannt“ ein gedehnten Terzsprung ereignet, der in einen Sekundfall übergeht.

    Auf den Worten „Ist dein geliebtes Heimatland“ lässt die melodische Linie dann all die Emotionen vernehmen, die sich für das lyrische Ich mit diesem lyrischen Bild verbinden. Auf dem Wort „geliebtes“ beschreibt sie einen mit einem Quartsprung eingeleiteten, in hoher Lage ansetzenden Sechzehntel-Sekundfall in drei Schritten, bei dem die Harmonik eine Rückung in das lichte C-Dur vollzieht, und geht bei „Heimatland“ mit einem Sekundfall zu einer in eine Dehnung mündenden Tonrepetition über, die sich auf einem „A“ in mittlerer Lage ereignet, das in D-Dur harmonisiert ist.

    Die Melodik endet hier auf der Quinte dieser Tonart, die harmonisch als Dominante fungiert. Auf dem Wort „Heimatland“ liegt also ein liedmusikalisch offener Schluss, der Raum für all die Gefühle schafft, die sich für das lyrische Ich mit ihm verbinden. Und Schubert kommentiert sie mit einem zweitaktigen Zwischenspiel, das, weil nun in der Grundtonart G-Dur stehend, wie eine kurze Antwort wirkt, wobei vielsagend ist, dass die Figur, die das Klavier hier beschreibt, entfernt an die erinnert, die die melodische Linie gerade beschrieben hat, diese jedoch am Ende in eine Aufwärtsbewegung wandelt, in der die Harmonik wieder eine Rückung in die Dominante vollzieht. Das Klavier will damit überleiten zu der das Thema „Heimat“ aufgreifenden und sich ihm in einer Wiederholung auf höchst intensive widmenden Liedmusik auf den beiden letzten Versen.

    Diese lässt Schubert zu einem großen Lobpreis einer Existenz werden, die dem lyrischen Ich – und ihm selbst – ein für alle Mal verwehrt bleibt. Und so schwingt sich denn die melodische Linie in der Vielfalt, die ihr das Prinzip der Wiederholung bietet, gleich drei Mal zur Emphase auf den Worten „auf der Heimat Boden steht“ auf. Beim ersten Mal geschieht dies als bogenförmiger, vom Klavier in Gestalt von Sechzehntel-Figuren im Diskant mitvollzogener Aufschwung nach den repetierenden Sprung- und Fallbewegungen, wie sie den Grundgestus dieses Liedes bilden. Beim zweiten Mal werden sie selbst in diesem Gestus deklamiert, und beim letzten Mal geht die melodische Linie dann zu einer Aufgipfelung mit einer Dehnung in hoher Lage auf der ersten Silbe von „Heimat“ über, die durch eine harmonische Rückung nach C-Dur einen starken Akzent erhält, und beschreibt danach einen ausdrucksstarken Sextfall mit nachfolgendem Sekundanstieg zum Grundton „G“ bei den Worten „Boden steht“.

    Die Liedmusik atmet hier den Geist innerer Freude, wie sie sich beim lyrischen Ich angesichts des Mondes einstellt, dem, wie es sich das ausmalt, das Glück einer solchen Existenz zuteil geworden ist. Das Klavier liefert im viertaktigen Nachspiel mit terzenbetonten Figuren aus der Liedmelodik dazu die Bestätigung.

  • „Das Zügenglöcklein“, op. 80, 2, D 871

    Kling' die Nacht durch, klinge,
    Süßen Frieden bringe
    Dem, für den du tönst!
    Kling' in weite Ferne,
    So du Pilger gerne
    Mit der Welt versöhnst!

    Aber wer will wandern
    Zu den lieben Andern,
    Die vorausgewallt?
    Zog er gern die Schelle?
    Bebt er an der Schwelle,
    Wann »Herein« erschallt? -

    Gilt's dem bösen Sohne,
    Der noch flucht dem Tone,
    Weil er heilig ist?!
    Nein es klingt so lauter,
    Wie ein Gottvertrauter
    Seine Laufbahn schließt!

    Aber ist's ein Müder,
    Den verwaist die Brüder,
    Dem ein treues Tier
    Einzig ließ den Glauben
    An die Welt nicht rauben,
    Ruf' ihn, Gott, zu dir!

    Ist's der Frohen einer,
    Der die Freuden reiner
    Lieb' und Freundschaft teilt,
    Gönn' ihm noch die Wonnen
    Unter dieser Sonnen,
    Wo er gerne weilt!

    (Johann Gabriel Seidl)

    Eine Meditation über Leben und Tod im lyrisch-sprachlichen Volksliedton, ausgelöst durch die Töne eines Glöckleins, ansetzend mit einer Ansprache an dieses und sich dann in die Gedanken darüber verlierend, was diese Töne alles beinhalten können, - Frieden bringen, den Pilger auf seinen Wegen begleiten, aber auch diejenigen betreffen, die der Tod abgerufen hat. Lebensmüde sind darunter, denen der Tod Erlösung bringt, aber auch solche, die die Freuden von Liebe und Freundschaft genossen haben und denen man hätte wünschen mögen, dass ihnen noch lange „die Wonnen unter dieser Sonnen“ vergönnt sein würden.

    Schubert dürfte sich in dieser Zeit, in der das Lied entstand, im Jahre 1826 also, von diesen Versen Seidls stark angesprochen gefühlt haben. Er konnte nicht wissen, dass er selbst nur noch zwei Jahre von dem entfernt war, was bei ihnen im Zentrum der lyrischen Meditation steht, der Tod nämlich, aber seine Liedmusik auf sie lässt ahnen, dass dieses Thema zu dieser Zeit mehr und mehr ins Zentrum der menschlichen und künstlerischen Auseinandersetzung mit der eigenen Existenz rückte.
    Die auffällige Dominanz, mit der das Glockengeläut in Gestalt einer beharrlich erklingenden und den Klavierdiskant von Anfang bis Ende beherrschenden Es-Oktave ins Zentrum der Liedmusik rückt und in vielfältige Spannung zu einer Harmonik tritt, bei der das Tongeschlecht Dur immer wieder zum Moll hin umschlägt, legt diese Vermutung jedenfalls nahe.

    Der Liedmusik liegt ein Viervierteltakt zugrunde, sie steht in As-Dur als Grundtonart, und sie soll „Langsam“ vorgetragen werden. Von der Form her handelt es sich um ein variiertes Strophenlied. Die Variationen ereignen sich vor allem in der zweiten Vers-Dreiergruppe der Strophen. In den ersten vier Strophen liegt auf den ersten drei Versen eine strukturell weitgehend identische melodische Linie, nur in der letzten Strophe greift Schubert auch hier zum Prinzip einer – allerdings nicht tiefgreifenden – Variation, um das Bild vom „Frohen“ vom vorangehenden des „Müden“ abzusetzen. Aber auch in der Gruppe der letzten drei Verse handhabt er die Variation nicht in der Weise, dass die melodische Linie markant von ihrer Grundstruktur abweicht.

    Dem nicht analytisch ausgerichteten und die Liedmusik mit Blick in die Noten verfolgenden Hörer könnte sich angesichts der Behutsamkeit, mit der Schubert hier die Melodik variiert, leicht der Eindruck eines reinen Strophenliedes einstellen. Wäre da nicht der Einbruch des Tongeschlechts Moll in die Melodik, die von der ersten Vers-Dreiergruppe den Eindruck macht, als stehe sie unter der Herrschaft von Dur-Harmonik.


  • Oh lieber Helmut Hofmann das wird ja immer besser, mein Dank im voraus :hail: für das Zügenglöcklein und Prégardien:!:


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Oh ... das wird ja immer besser, ...

    Das Lob gehört Franz Schubert.

    Dieses Lied ist - für mich - eines, das den Geist seiner Liedmusik in ganz besonders ausgeprägter Weise atmet und deshalb überaus ansprechend ist. Wie auch das nachfolgend zur Besprechung anstehende Seidl-Lied "Am Fenster", das ich sehr liebe.

    Ich möchte nachfolgend versuchen, den Gründen dafür nachzugehen.

  • Zitat

    Das Lob gehört Franz Schubert

    Ja ja lieber H.Hofmann, aber die Besprechung kommt von Dir und das freut mich ungemein!

    Zitat

    Seidl-Lied "Am Fenster"

    An jedem Fenster wähnt ich, dann
    Ein Freundeshaupt, gesenkt,
    Das auch so schaut zum Himmel an,
    Das auch so meiner denkt.

    <3

    Freue auch hier schon drauf!


    Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • „Das Zügenglöcklein“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Schon bei den letzten drei Versen der ersten Strophe erweist sich der Eindruck, die Liedmusik sei von Dur-Harmonik beherrscht, als irrig. Die Irritation dieses Eindrucks setzt sich, intensiviert durch die von Schubert auch hier wieder zum Einsatz gebrachte Wiederholung von Versen, bei den nachfolgenden Strophen fort, und bei der dritten ist der Einbruch des Tongeschlechts Moll in die Dur-Harmonik der Liedmusik derart massiv, dass die in ihrer Struktur unveränderte und in ihrer Dur-Harmonisierung fast schon vertraut gewordene Melodik auf den ersten drei Versen mit einem Mal wie verfremdet in Moll erklingt.

    Das gedanklich imaginierte Bild vom „bösen Sohne“, der dem Ton des Glöckchens „flucht“, „weil er heilig ist“, nötigte Schubert zu diesem Verfremdungseffekt. Und wie bewusst – und höchst effektiv! – Schubert die Harmonik als liedmusikalische Ausdrucksmittel einsetzt, ist in dieser dritten Strophe bei den drei nachfolgenden Versen auf beeindruckende Weise zu erleben. Die Harmonik rückt nach Ces- und Ges-Dur. Das tat sie zwar bei der entsprechenden Versgruppe der zweiten Strophe schon einmal, um das Bild vom „Herein“-Ruf des Todes liedmusikalisch aufzugreifen, und auch am Ende der letzten Strophe wird das noch einmal geschehen, hier aber verleiht diese harmonische Rückung in die Tiefen des Quintenzirkels dem kontrafaktischen Bild vom „Gottvertrauten“, das mit einem lyrisch-sprachlichen „Nein“ eingeleitet wird, ganz besondere Nachdrücklichkeit.

    Schon das viertaktige Vorspiel, das in Teilen den Inhalt der Strophen-Zwischenspiele und des Nachspiels bildet, lässt in dem Pianissimo, in dem es ausgeführt werden soll, diese für die Aussage der Liedmusik so relevante, weil das zentrale Thema „Tod“ reflektierende tongeschlechtliche Ambivalenz vernehmen. Die aus punktierten Vierteln, Achteln und Sechzehnteln gebildeten und bereits die beharrliche Es-Oktave beinhaltenden Figuren bilden in ihrer Folge die das Lied so stark prägende melodische Linie auf den ersten drei Versen in gleichsam strukturell elementarer Weise ab. Hierbei vollzieht die Harmonik zweimal eine Rückung von As-Dur nach Es-Dur, bricht aber einmal, bevor sie wieder zur Grundtonart und ihrer Dominante zurückkehrt, in den Moll-Bereich aus.

    Dieses Ausbrechen und wieder Zurückkehren ereignet sich in der nachfolgenden Liedmusik immer wieder aufs Neue, und man darf das wohl mit guten Gründen so auffassen und verstehen, dass Schubert darin die die Ambivalenz dieser Glöckchen-Töne zum Ausdruck bringen will, deren Ruf ja einer von Leben und Tod ist. Beharrlich erklingen sie in der Es-Oktave, aber sie werden nicht nur ins Dur und Moll gedrängt, sie müssen sogar die Verfremdung durch Ces-Harmonik ertragen.

    Nicht durchweg freilich. Fast zweihundert Mal erklingt die Es-Oktave, eindringlich deshalb so sehr, weil das „Es“ ja die Quinte zum Grundton der Tonika As-Dur darstellt, und auch die Erweiterung zu einem drei- und vierstimmigen Akkord, die sich immer wieder einmal – vor allem im Wiederholungsteil der Strophen – ereignet, vermag ihm diese mahnende Eindringlichkeit nicht zu nehmen. Am Ende der zweiten Strophe, bei der bogenförmigen Bewegung der melodischen Linie auf den Worten „wann >Herein< erschallt“ und „bebt er an der Schwelle“ behaupten sich die Es-Oktave, hier allerdings zu dreistimmigen Akkorden erweitert und durch einen Des-Dur- Akkord ergänzt, sogar gegen das Ces-Dur, in dem die Melodik hier harmonisiert ist.

    Diese Beharrlichkeit vermag es freilich nicht durchzuhalten. Wenn in der dritten Strophe die Harmonik mit den Worten „wie ein Gottvertrauter“ erneut nach Ces-Dur rückt und dies bis zur Wiederholung dieser Worte unter zweimaliger Rückung nach Ges-Dur beibehält, erklingt das Glöckchen-Geläute mit einem Mal in Gestalt einer Ges-Oktave. Und das wiederholt sich noch einmal in der fünften Strophe, hier einsetzend mit den Worten „Unter dieser Sonnen“. Dies harmonischen Rückungen dienen Schubert zur Akzentuierung der lyrischen Aussage, der für ihn in beiden Fällen große Bedeutung zukommt, ist doch jeweils eine menschliche Existenz lyrisch angesprochen, die dem Leben positiv gegenübersteht: Der „Gottvertraute“ und der „Frohe“. Und hier darf das Glöckchen von seinem mahnenden „Es“ ablassen und sich in die Tonart „Ces“ einfügen, - auch dort allerdings in der Tonlage der Quinte.

  • „Das Zügenglöcklein“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Dieses Lied beschränkt sich in seinem so großen klanglichen Reichtum allerdings nicht auf das Glöckchen-Motiv im Klavierdiskant. Schubert setzt dieses in eine liedmusikalische Binnenspannung zur die trochäische Rhythmik der lyrischen Sprache reflektierenden Melodik und zum sich wiegend im Auf und Ab von Achtel-Dreierfiguren entfaltenden Klavierbass. Die in beharrlicher Regelmäßigkeit erklingenden Glöckchen-Töne gemahnen an die Zeitlichkeit der Existenz und an deren letztendliches Zum-Tode-Sein. Aber sie erklingen in einer ruhigen Welt nächtlichen Lebens, und dies zum Ausdruck zu bringen obliegt der melodischen Linie und dem sie gleichsam rhythmisch tragenden Klavierbass.

    Der das Lied so stark prägenden, weil ja, mit Ausnahme der letzten. in allen Strophen in der Grundstruktur unverändert erklingenden Melodik auf den ersten drei Versen wohnt die Anmutung ruhiger, leicht die Idylle streifender Entfaltung inne. Ihr steht zwar die durch Nutzung der Variation und der Vers-Wiederholung auf stärkere Expressivität hin angelegte Melodik der zweiten Vers-Dreiergruppe gegenüber, diese tritt aber nicht wirklich als kontrafaktisches liedmusikalisches Ereignis auf, sondern gibt sich gleichsam als die Aussage der ersten Vers-Dreiergruppe ergänzender und differenzierender Teil der Strophen-Liedmusik.

    Die die ersten drei Verse beinhaltende Melodiezeile setzt mit einer leicht rhythmisierten, mit der Dehnung am Taktanfang das trochäische Metrum reflektierenden Tonrepetition ein, die bei „klinge“ einen Sekundfall und danach zweimal eine von Sechzehntel-Sekundschritten geprägte melismatische Bogenbewegung beschreibt, die beim zweiten um eine Sekunde höher nach oben ausgreift und nun, im Unterschied zur ersten, nicht in der Tonika As-Dur endet, sondern, um sich für die nachfolgende Zeile zu öffnen, in der Dominante Es-Dur.
    Es sind diese beiden, in ihrer Grundstruktur immer wiederkehrenden, aus einer deklamatorischen Tonrepetition hervorgehenden Bogenbewegungen, die der Melodik diese leichte Anmutung von Idyllik verleihen. Und wie überaus kunstvoll Schubert sie in variierender Weise zum Einsatz bringt, das zeigt sich in der Melodik der zweiten Vers-Dreiergruppe und den darin sich ereignenden Wiederholungen.

    Auf den Worten „Kling' in weite Ferne, / So du Pilger gerne“ entfaltet sich die melodische Linie erneut in rhythmisierten Tonrepetitionen, wobei sich die tonale Ebene zweimal um eine Sekunde anhebt und sich bei „Pilger gerne“ ein gebundener doppelter Sechzehntel-Fall mit nachfolgendem Terzsprung ereignet, der dem Wort „Pilger“ einen melismatischen Akzent verleiht. Auf den Worten „Mit der Welt versöhnst“ liegt dann ein aus einer neuerlichen, wieder mit einer kleinen Dehnung einsetzenden Tonrepetition und aus einem nachfolgenden Terzsprung hervorgehender doppelter Sekundfall in hoher Lage. Hier ereignet sich der erste Umschlag der Harmonik vom Tongeschlecht Dur hin nach Moll. In c-Moll, mit kurzer Zwischen-Rückung nach G-Dur, ist diese kleine Zeile harmonisiert, und das gilt auch für die melodische Linie auf der Wiederholung der Worte „So du Pilger gerne“, die Schubert wieder als Bogenbewegung angelegt hat, nun aber nicht in Gestalt von Sechzehntel-, sondern vorwiegend von Achtel-Schritten, eingeleitet mit einem aus der kleinen Dehnung auf „so“ in tiefer Lage hervorgehenden Quartsprung.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Das Zügenglöcklein“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Die Moll-Harmonik will hier wohl den emotionalen Gehalt des Bildes der vom Glöckchen zustande gebrachten Versöhnung von Pilger und Welt zum Ausdruck bringen. Und dazu fügt sich im Sinne einer Bekräftigung dieser lyrischen Aussage, dass die melodische Linie bei der Wiederholung der Worte „mit der Welt versöhnst“, nun in As-Dur mit Rückung in die Dominante harmonisiert und vom Klavier, abweichend von seinem üblichen Gestus forte mit vierstimmigen Akkorden im Diskant begleitet, nun zweimal einen expressiven, aus einer Dehnung hervorgehenden Aufschwung über eine Terz und eine Quarte beschreibt, bevor sie über einen Terzfall auf dem Grundton „As“ zur Ruhe kommt.

    Diesen melodischen Bewegungen, wie sie hier am Beispiel der ersten Strophe beschrieben wurden, begegnet man in der Liedmusik der folgenden Strophen immer wieder, freilich nicht in identischer, sondern in variierter, darin die jeweilige lyrische Aussage reflektierender Gestalt. So schließt die Liedmusik in allen Strophen mit eben dieser melodischen Doppelfigur aus einer mit einem Sprung ansetzenden bogenförmigen Bewegung und dem aus einer Dehnung hervorgehenden zweifachen Sechzehntel-Anstieg mit nachfolgendem Fall. Diese Figuren sind einander aber nur in ihrer Grundstruktur ähnlich. In den Intervallen der Sprünge Fallbewegungen differieren sie ebenso wie in ihrer Harmonisierung.

    So sind beide Figuren auf den Worten „Hebt er an der Schwelle“ und „Wann >Herein< erschallt“ mit denen an der entsprechenden Stelle der ersten Strophe identisch, die eine steht aber nun in Ces-Dur, und bei der zweiten ereignet sich eine Rückung von as-Moll nach Es-Dur und wieder zurück.
    Der Tod ist es, der das „Herein“ ruft, und da verträgt diese melodische Figur keine Dur-Harmonisierung. Bei der vierten Strophe wirkt der Bogen der ersten Figur auf den Worten „den verwaist die Brüder“ mit dem anfänglichen Terzsprung und der Rückkehr im Fall zu der Ausgangslage wie verkümmert. Sie wiederholt nun die Bewegung die auf den vorangehenden Worten „Aber ist´s ein Müder“ und ist wie diese in c-Moll harmonisiert. Auch hier ist es die lyrische Aussage, die den variierenden Eingriff in die Grundstruktur und die Harmonik dieser Figur erforderlich macht.

    Es muss nun nicht im einzelnen noch bei allen Strophen aufgezeigt werden, wie kunstvoll, weil auf höchst subtile Art und Weise Schubert hier das Prinzip der Variation handhabt. Die dahinterstehende liedkompositorische Intention dürfte deutlich geworden sein:
    Das Strophenlied-Konzept und damit verbundene Prinzip der Wahrung melodischer Grundstruktur entspricht der Konstanz der dem lyrischen Text zugrunde liegenden Situation der Begegnung des lyrischen Ichs mit dem nächtlichen Geläute des „Zügenglöckleins“. Hierbei kommt dem permanenten Erklingen der Es-Oktave besondere Bedeutung zu. Die Variation dieser Grundstruktur, einschließlich der Anhebung der Es-Oktave nach „Ges“, ist dann Niederschlag all der Gedanken und Emotionen, die sich beim lyrischen Ich in dieser Begegnung einstellen.

    Und Schubert geht in dieser subtilen Handhabung des Variationsprinzips sogar so weit, dass die Zwischenspiele und das Nachspiel mit einbezieht. Dieses stellt nicht einfach eine Wiederkehr des Vorspiels dar. Schubert hat es verkürzt und lässt es in eine Wiederholung der mit einem Doppelschlag eingeleiteten und mit Rückung von der Dominante zur Tonika verbundenen Fallfigur und in einen abschließenden arpeggierten As-Dur-Akkord münden. Das „Zügenglöcklein“ hat sein Geläute eingestellt, die Begegnung des lyrischen Ichs mit ihm ist zu Ende.

  • „Am Fenster“, op.105,3, D 878

    Ihr lieben Mauern, hold und traut,
    Die ihr mich kühl umschließt,
    Und silberglänzend niederschaut,
    Wenn droben Vollmond ist.
    Ihr saht mich einst so traurig da,
    Mein Haupt auf schlaffer Hand, -
    Als ich in mir allein mich sah,
    Und keiner mich verstand.

    Jetzt brach ein ander Licht heran:
    Die Trauerzeit ist um:
    Und manche ziehn mit mir die Bahn
    Durch's Lebensheiligtum.
    Sie raubt der Zufall ewig nie
    Aus meinem treuen Sinn:
    In tiefster Seele trag' ich sie, -
    Da reicht kein Zufall hin.

    Du Mauer wähnst mich trüb' wie einst
    Das ist die stille Freud';
    Wenn du vom Mondlicht widerscheinst,
    Wird mir die Brust so weit.
    An jedem Fenster wähn' ich dann
    Ein Freundeshaupt, gesenkt,
    Das auch so schaut zum Himmel an,
    Und auch so meiner denkt.

    (Johann Gabriel Seidl)

    In der regelmäßigen Folge von vier- und dreifüßigen Jamben und im Kreuzreim miteinander verbunden entwerfen die Verse Seidls das Bild eines lyrischen Ichs, das, nächtens aus dem Fenster schauend, den Gedanken über seine jetzige und seine vergangener seelische Befindlichkeit nachgeht. Die „lieben Mauern“ des Zimmers, in dem es seine Tage und Nächte verbringt, wissen von seinem früheren Leben, das von tiefem Traurig-Sein über die Einsamkeit und das Nicht-verstanden-Sein geprägt war.
    Nun aber ist diese „Trauerzeit“ vorbei. Freundschaft hat die Erlösung gebracht, und das lyrische Ich steigert sich in ein geradezu schwärmerisches Beschwören derselben, indem es betont, dass sie ihm kein Zufall je rauben könne, da es die Freunde „in tiefster Seele“ trage, wo kein Zufall hinreiche. Und so wird ihm denn bei diesem nächtlichen Blick aus dem Fenster „die Brust weit“ bei dem Gedanken, dass in anderen Fenstern ein „Freundeshaupt“ gegenwärtig ist, das seiner so gedenkt, wie es das selbst mit diesem gerade tut.

    Beschwörung der Freundschaft als Erlösung aus der Einsamkeit, das ist eine lyrische Aussage, durch die sich Schubert in seinen eigenen existenziellen Erfahrungen zutiefst angesprochen gefühlt haben musste. Und er konnte sich wohl auch, als der diese Verse im März 1826 in Liedmusik setzte, die Freundschaft zu ihrem Verfasser vergegenwärtigt haben, aus der in den Jahren 1826 bis 1828 die Vertonung von insgesamt vierzehn Texten desselben hervorging, wobei er allerdings 1828 einige weitere, ihm zur Vertonung angebotene mit der Bemerkung zurückwies, dass er in ihnen „durchaus nichts dichterisches noch für Musik brauchbares entdecken konnte“. Das schadete den freundschaftlichen Gefühlen, die Seidl für Schubert empfand, aber in keiner Weise, wie sein Nachrufgedicht erkennen lässt, das er unter dem Titel „Meinem Freunde Franz Schubert! Am Vortage seines Begräbnisses“ am 6. Dezember 1828 publizierte.

    Dietrich Fischer-Dieskau hat dieses Lied als „Geheimtip unter Schubertianern“ bezeichnet und den Wunsch geäußert, dass es „bald auch weiteren Kreisen bekannt“ werde. Und für jeden, der sich auf diese Liedmusik hörend tief einlässt, wird dieser Wunsch unmittelbar verständlich, vermag ihn doch die Zartheit, in der die Melodik sich in ihr entfaltet und im Einklang mit dem Klaviersatz die Anmutung nächtlich-friedvoller Ruhe bewirkt, unmittelbar einzunehmen.

    Aber es wäre hier liedkompositorisch kein Schubert am Werk, einer also, der zutiefst um das Leiden unter Einsamkeit und Unverstanden-Sein weiß, gäbe es nicht doch klanglich verstörende Elemente in dieser so wunderbar friedvoll-harmonisch, auf der Basis von F-Dur als Grundtonart und im Zweivierteltakt „langsam“ (Anweisung) und im Strophenlied-Konzept sich entfaltenden Liedmusik. Und eben das macht ihre Größe aus, die sie zum „Geheimtip“ hat werden lassen.


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  • „Am Fenster“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Mit einem fünftaktigen Vorspiel setzt die Liedmusik ein. Es hat, wie so oft bei Schubert, Auftakt- und Einleitungscharakter, indem es zunächst ein Grundmotiv der Melodik erklingen lässt, dieses dann aber, hier auf ausdrucksstarke Weise in einer Fermate erst einmal innehaltend, in eine Akkordfolge übergehen lässt, die sich, harmonisch in die Subdominante und die Dominante ausgreifend, gleichsam zum Einsatz der melodischen Linie in der Grundtonart öffnet. Es ist ein – für Schubert typisches - kompositorisches Denken vom Lied als einheitliches, in sich geschlossenes musikalisches Werk, dem man darin begegnet.

    Die Melodik auf den ersten vier Versen der ersten Strophe ist in hohem Maße prägend für den klanglichen Charakter dieses Liedes, denn sie kehrt auf der zweiten Vierergruppe – es ist eigentlich die zweite Strophe des sechsstrophigen Seidl-Gedichts – und auf der zweiten der dritten Strophe (also der sechsten bei Seidl) wieder. Und Schubert steigert diese Ausrichtung der Melodik auf eine bestimmte Figur noch dadurch, dass er auf den dritten Vers dieser Vierergruppe die gleiche melodische Linie legt wie auf die erste und der Melodik des zweiten und des vierten Verses denselben deklamatorischen Gestus zugrunde legt. Die zweite Strophe und die erste Vierergruppe der dritten weisen zwar eine eigene Melodik auf, da diese aber in die der ersten gleichsam eingebettet ist, wirkt der Strophenliedcharakter dieser Komposition stark ausgeprägt.

    Es ist ein ruhiges, weil gleichförmigen, in nur einmal von einer kleinen Dehnung aufgehaltenen Schritten erfolgendes und in den Intervallen von Terzen und Quarten sich ereignendes Auf und Ab, in dem sich die melodische Linie auf den Worten „Ihr lieben Mauern, hold und traut,/ Die ihr mich kühl umschließt“ entfaltet, und sie reflektiert darin auf wunderbare, weil ganz und gar stimmige Weise die Ruhe, in der sich die Gedanken beim lyrischen Ich in seiner nächtlichen Situation am Fenster einstellen. Das Klavier begleitet sie darin mit Achteln, bzw. bitonalen Akkorden im Diskant, die ihren Bewegungen folgen und die darin im Bass von ihnen synchron zugeordneten mehrstimmigen Akkorden unterstützt werden.
    Zweimal überschreitet sie den kleinen Raum der Intervalle, den die deklamatorischen Schritte nehmen: Bei dem kleinen Quintsprung zu dem Wort „Mauern“ hin und bei Quintfall, der sich auf „umschließt“ ereignet. Auf diese Weise bringt sie die Emotionen zum Ausdruck, die beim lyrischen Ich in seiner an die „Mauern“ gerichteten Ansprache mitschwingen, denn es sind ja „liebe“ und solche, die es auf bergende Weise umschließen. Ruhe, wie sie Melodik und Klaviersatz ausstrahlen, weisen auch die Rückungen der Harmonik auf, denn sie verbleiben ganz und gar im Bereich der Tonika F-Dur und ihrer beiden Dominanten.

    Dass diese erste Melodiezeile auf einem „G“ in mittlerer Lage endet und dieses in C-Dur harmonisiert ist, will sagen, dass sie sich für die nachfolgende, wieder zwei Verse umfassende öffnet, denn dieses „G“ stellt die Quinte zum Grundton von C-Dur dar, das in diesem Fall harmonisch als Dominante fungiert. Auf den Worten „Und silberglänzend niederschaut“ liegt zwar die gleiche und in identischer Weise mit einer Rückung nach B-Dur harmonisierte melodische Linie wie auf dem ersten Vers, der Klaviersatz weicht nun aber von dem dortigen ab. Jetzt beschreiben drei- und zweistimmige Akkorde im Diskant eine Aufstiegsbewegung und setzen diese mit einem eingelagerten Doppelschlag fort, während die melodische Linie bei dem Wort „niederschaut“ mit einer Kombination aus Terzfall und Sekundanstieg in der tonalen Ebene absenkt. Das Klavier reflektiert darin das lyrische Bild von den „silberglänzenden“ Mauern. Und auch bei der Melodik auf den deklamatorisch wiederholten Worten „Wenn droben Vollmond ist“ macht es sich selbständig.

    Zunächst beschreibt die melodische Linie einen aus einem Auf und Ab in hoher Lage hervorgehenden Fall über eine Quarte und eine Sexte. Im Klavierdiskant setzt hingegen eine Aufstiegsbewegung von dreistimmigen Akkorden ein, die sich auch weiter fortsetzt, wenn für die Singstimme eine Achtelpause eintritt, bevor sie zur neuerlichen Deklamation dieser Worte einsetzen kann. Das geschieht nun gleichsam in Gestalt eines Einstimmens in den letzten Anstiegsschritt der Akkorde, und dann gehen beide, melodische Linie und die Akkorde im Diskant, in einen Fall in Sekundschritten über, den jene allerdings mit einer melismatischen Figur aus punktierten Achtel- und Sechzehntelschritten bei dem Wort „Vollmond“ kurz anhält, um dann mit einem Terzfall auf dem Grundton „F“ zu enden.

    Auf der zweiten Vierer-Versgruppe liegt eine Liedmusik, die in Melodik und Klaviersatz mit nur minimalen Abweichungen identisch ist mit der auf der ersten, sie ist allerdings in Moll gebettet, - f-Moll und b-Moll mit nur kurzen Rückungen in die Dur-Dominante „C“. Die Erinnerungen an die Zeit des Leidens unter der Einsamkeit und dem Nicht-verstanden-Werden, die sich beim lyrischen Ich hier einstellen, fordern diesen Wandel im Tongeschlecht, und Schubert schafft eine Entsprechung in der Melodik dazu, indem er in den Terzfall auf dem Wort „traurig“ und auf der Wortfolge „allein mich“ ein Legato in Gestalt einer Zweiunddreißigstel-Sechzehntelfolge einfügt.

    Und in der Tat: Alle Fallbewegungen der melodischen Linie, diese beiden, und vor allem der starke Fall über eine Sexte bei der ersten melodischen Fassung auf den Worten „mich verstand“ gewinnen durch die Moll-Harmonisierung nun eine starke Anmutung von Schmerzlichkeit. Selbst die Rückung von b-Moll nach C-Dur, die sich bei dem Quintfall auf „schlaffer Hand“ ereignet, ändert daran nichts. Im Gegenteil, sie verstärkt diese Anmutung sogar noch. Und das gilt auch für die entsprechende Rückung auf den Worten „mich verstand“.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Am Fenster“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Die Liedmusik auf der zweiten Strophe (den Strophen drei und vier bei Seidl also) hebt sich durch ihre Komplexität im Bereich von Melodik, Klaviersatz und Harmonik deutlich von der ersten ab. Die enge Bindung an die Aussage des lyrischen Textes, die für Schuberts Liedkomposition in fundmentaler Weise konstitutiv ist, erfordert das geradezu, ereignet sich beim lyrischen Ich hier doch ein tiefgreifender Perspektivwechsel von der Betrachtung der gegenwärtigen Situation hin zu einer gleichsam grundsätzlichen Reflexion des Wesens der Freundschaft.

    Das „Jetzt“, mit dem Seidl den perspektivischen Wechsel vom Raum der Erinnerungen zu dem der Gegenwart auf sprachlich drastische Weise einleitet, nimmt Schubert in ähnlicher Weise drastisch vor, indem er die Harmonik von dem in f-Moll und B-Dur harmonisierten zweitaktigen Zwischenspiel beim Einsatz der melodischen Linie auf den Worten „Jetzt brach ein ander Licht heran“ in modulatorisch unvermittelter Weise nach Des-Dur rücken lässt. Und dort, in diesen tiefen Regionen des Quintenzirkels, verbleibt sie auch, mit Rückungen in die beiden Dominanten, in der Harmonisierung der Melodik auf den ersten vier Versen dieser zweiten Strophe. Und selbst bei der zweiten Vierer-Versgruppe will sich die Harmonik nicht wirklich aus diesen Regionen wieder hin zu jenen der Tonika F-Dur erheben. Sie verbleibt mit dem Einsatz der melodischen Linie auf den Worten „Sie raubt der Zufall ewig nie“ nach dem zweitaktigen Zwischenspiel aus aufsteigenden und wieder fallenden Sechzehntelfiguren mit einer Modulation von Des-Dur über Ges-Dur nach As-Dur in eben dieser Tonart, mit einer nur einmaligen Rückung nach Es-Dur beim melodisch gedehnten Sekundfall auf den Worten „ewig nie“

    Aber bevor auf das wirklich ganz und gar liedmusikalisch Erstaunliche eingegangen werden kann, das sich bei den beiden letzten Versen dieser Strophe harmonisch ereignet, muss noch kurz ein Blick auf die Struktur von Melodik und Klaviersatz bei den vorangehenden Versen geworfen werden, denn dieses „Erstaunliche“ ist sozusagen die Folge aus dem, was sich dort in Reaktion auf die lyrische Aussage liedmusikalisch ereignet.

    Die Worte „Jetzt brach ein ander Licht heran“, mit denen die zweite Strophe eingeleitet wird, führen dazu, dass in die melodische stärkere innere Bewegtheit tritt. Die anfängliche Neigung, in einem ruhigen Auf und Ab auf der eingenommenen tonalen Ebene zu verbleiben, legt sie ab und geht nach bei Aufwärtssprüngen über eine Sekunde und eine Quarte bei den Worten „Licht heran“ zu einer wellenartigen Bewegung in Sechzehntelschritten über, die das Klavier im Diskant mit lebhaft wirkenden Sechzehntelfiguren aus bitonalen Akkorden und Einzeltönen begleitet.

    Dieser deklamatorische Gestus, nach einem Anstieg in eine ebenfalls lebhafte, weil in deklamatorischen Sechzehntel-Schritten erfolgende bogenförrmige und dabei weit nach oben ausgreifende Entfaltung überzugehen, wiederholt sich bei den nachfolgenden Versen „Die Trauerzeit ist um: / Und manche ziehn mit mir die Bahn.“ Mit der kleinen Dehnung auf dem Wort „Bahn“ tritt wieder Ruhe in die melodischen Bewegungen, und diese wird dann gleichsam bekräftigt mit den in deklamatorisch gleichförmigen sich senkenden und wieder ansteigenden Achtelschritten in hoher Lage auf den Worten „durch´s Lebensheiligtum“, bei denen die Harmonik eine Rückung nach Ges-Dur beschreibt und das Klavier seine bitonalen Sechzehntel-Figur zu dreistimmigen Akkorden erweitert, um dieser positiven Wertung, die das lyrische Ich hier mit Blick auf sein Leben vornimmt, den angemessenen Nachdruck zu verleihen.

    Und dann wird das lyrische Ich grundsätzlich und versteigt sich in seinen Glückgefühlen zu der These, dass kein Zufall ihm die Freunde aus seinem „treuen Sinn“ zu rauben vermöge. In der Melodik schlägt sich das in der Weise nieder, dass sie sich bei den Worten „sie raubt der Zufall ewig nie“ und „aus meinem treuen Sinn“ thesenartig in kleine Zeilen untergliedert, bei der sich zweimal eine strukturell ähnliche deklamatorische Bewegung ereignet: Aus einem Auf und Ab in Sekundschritten geht die melodische Linie zu einem Terzsprung in hohe Lage über, von dem aus sie einen gedehnten Sekundfall mit nachfolgender Tonrepetiton beschreibt, der den Worten „ewig nie“ und „treuen Sinn“ einen starken Akzent verleiht. Das Klavier begleitet nun mit partiell repetierenden oktavischen Achtel- und Sechzehntelakkorden im Diskant, und die Harmonik verbleibt mit kurzer Rückung in die Dominante Es-Dur in der Tonart As-Dur.

    Nun aber ereignet sich das aus dem klanglichen Charakter der bisherigen Liedmusik in jeglicher Hinsicht – melodisch, harmonisch und dynamisch – Herausragende.
    Bei den Worten „In tiefster Seele“ verfällt die melodische Linie in gleichförmige Tonrepetitionen auf der tonalen Ebene eine hohen „Es“, die das Klavier synchron mit ebenfalls repetierenden Es-Oktaven im Diskant und Terzen im Bass begleitet.
    Unüberhörbar ist: Das lyrische Ich will seinem thesenartig vorgetragenen Glauben großen Nachdruck verleihen, und so steigert sich die Dynamik mit einem vorgegebenen „sfp“ in eine bis in Forte ausgreifende Folge von Decrescendi und Crescendi.
    Bei den Worten „trag´ ich sie“ erfolgt eine Steigerung der Expressivität dadurch, dass sich die deklamatorischen Tonrepetitionen auf einer um eine kleine Sekunde angehobenen tonalen Ebene ereignen und die Harmonik eine regelrecht kühne, eigentlich sogar waghalsige Rückung vom vorangehenden As-Dur nach A-Dur vollzieht.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Am Fenster“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Die nachfolgende, in hoher Lage ansetzende und am Ende nach einem Sekundanstieg über einen Terzfall auf einem „A“ in mittlerer Lage endende melodische Fallbewegung auf den Worten „Da reicht kein Zufall hin“ ist denn auch in einer Rückung von D-Dur über E-Dur nach A-Dur harmonisiert. Und sie wird fortissimo in starkem Decrescendo zum Piano hin vorgetragen.
    Will sich das lyrische Ich hier, so wie Schubert es sieht und wie er sich in es einfühlt, auf geradezu drastische Weise in seinem Glauben und seinen Überzeugungen sich selbst bestärken? Man kann diese Liedmusik durchaus so vernehmen und auffassen.

    Bevor sie mit den Worten „An jedem Fenster wähn' ich dann / Ein Freundeshaupt, gesenkt“ zur Melodik, der Harmonik und dem Klaviersatz der ersten Strophe zurückkehrt, hat sie sich noch dem Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart zuzuwenden, wie es sich in den Gedanken des lyrischen Ichs ereignet und Gegenstand der ersten vier Verse der dritten Strophe ist.
    Auch hier zeigt sich wieder, wie eng und tiefgreifend Schuberts Melodik die lyrische Sprache in ihrer Struktur und ihrer Semantik zu erfassen vermag. Bei den Worten „Du Mauer wähnst mich trüb' wie einst“ geht sie aus einer fünfmaligen rhythmisierten Tonrepetition auf einem „A“ in mittlerer Lage am Ende in einen zweifachen Sekundanstieg über und hält auf dem „C“, das sie auf diese Weise bei dem Wort „einst“ erreicht, in einer Fermate lange inne. Die Harmonik kehrt dabei nach der kurzen Rückung nach de-Moll zu dem a-Moll zurück, in dem sie bei dieser Melodiezeile einsetzte.
    Dieses Moll, die Tonrepetitionen und das Innehalten in der Fermate bringen die Haltung des lyrischen Ichs in der Vergegenwärtigung seiner früheren, nun vergangenen existenziellen Befindlichkeit zum Ausdruck, die sich in dieser Ansprache an die Mauer ereignet.

    Die Worte „Das ist die stille Freud'“, die eine Einkehr in die Freuden der Gegenwart beinhalten, werden denn auch auf einer melodischen Linie deklamiert, die, nun ganz und gar in Dur harmonisiert (B-, C-, F-Dur) mit einem Sekundsprung in einen Fall übergeht und wie mit sich selbst zufrieden sich über einen Sekundanstieg auf den gedehnten Grundton absenkt.
    Auf den Worten „Wenn du vom Mondlicht widerscheinst“ setzt die melodische Linie erneut mit einer Tonrepetition ein, sogar auf dem gleichen „A“ in mittlerer Lage wie auf dem ersten Vers der Strophe, und sie hält auch auf dem zweiten Teil des Kompositums „widerscheinst“ in einer Fermate inne, allerdings nun nach einem vorangehenden Quartsprung mit nachfolgendem Sekundfall. Beim vierten Vers geht sie dann, darin die lyrische Aussage „wird mir die Brust so weit“ reflektierend, zu einem Aufstieg in hohe Lage über und senkt sich am Ende mit einem Terzfall zu einem „C“ in mittlerer Lage ab. Das ist der Grundton, denn auch hier ereignet sich beim Übergang vom dritten zum vierten Vers eine Rückung von Moll nach Dur, und die melodische Linie ist nun, ganz der positiven lyrischen Aussage entsprechend, in F-Dur, G-Dur und C-Dur harmonisiert.

    Dass Schubert bei der zweiten Vierer-Versgruppe auf die Liedmusik der entsprechenden Gruppe der ersten Strophe zurückgreift und sie in identischer Weise einschließlich der zärtlich wirkenden der Legato-Fallbewegungen aus Zweiunddreißigsteln und Sechzehnteln wiederholt, dies aber nun nicht in Moll-, sondern in Dur-Harmonisierung, ist von der lyrischen Aussage her durchaus stimmig, überlässt sich das lyrische Ich hier doch der sein Herz erfreuenden Imagination von Freunden, die hinter diesem oder jenem Fenster ringsum seiner gedenken.
    Und da dies für ihn ein emotional hoch besetzter Gedanke ist, gestaltet er die gemäß der Anlage der ersten Strophe hier am Ende anstehende Wiederholung des letzten Verses in der Melodik kontrastiv zu jener auf den Worten „und keiner mich verstand“. Die melodische Linie beschreibt zwar auch hier einen auf dem Grundton endenden wellenartigen Fall, dieses Mal ereignet er sich aber nicht in kontinuierlicher Weise aus oberer Mittellage, vielmehr geht ihm auf den Worten „das auch so“ ein Anstieg mit drei Sekundschritten in hohe Lage voraus, und er ist auch nicht in Moll harmonisiert, vielmehr beschreibt die Harmonik eine Rückung von B-Dur über C-Dur nach F-Dur.

    Und um diesem so schönen Gedanken das ihm gemäße klangliche Bett zu bereiten, begleitet das Klavier die melodische Linie nun, abweichend von seiner Verfahrensweise, piano-pianissimo mit einem Legato-Fall von dreistimmigen Akkorden in hoher Oktav-Diskantlage und überlässt sich im viertaktigen Nachspiel der Melodik auf den beiden letzten Versen der ersten und der dritten Strophe in akkordischer Gestalt, um sie in einem F-Dur-Akkord enden zu lassen.

  • „Sehnsucht“, op.105, 4, D 879

    Die Scheibe friert, der Wind ist rauh,
    Der nächt'ge Himmel rein und blau:
    Ich sitz' in meinem Kämmerlein
    Und schau in's reine Blau hinein.

    Mir fehlt etwas, das fühl' ich gut,
    Mir fehlt mein Lieb, das treue Blut:
    Und will ich in die Sterne sehn,
    Muß stets das Aug mir übergehn.

    Mein Lieb, wo weilst du nur so fern,
    Mein schöner Stern, mein Augenstern?
    Du weißt, dich lieb' und brauch' ich ja,
    Die Träne tritt mir wieder nah.

    Da quält' ich mich so manchen Tag,
    Weil mir kein Lied gelingen mag, -
    Weil's nimmer sich erzwingen läßt
    Und frei hinsäuselt, wie der West.

    Wie mild mich's wieder grad durchglüht! -
    Sieh nur - das ist ja schon ein Lied!
    Wenn mich mein Los vom Liebchen warf,
    Dann fühl' ich, daß ich singen darf.

    (Johann Gabriel Seidl)

    Das lyrische Ich, das sich hier in Versen artikuliert, die sich in vierfüßigen Jamben entfalten und durch Paarreim miteinander verbunden sind, ist ein Poet, der in winterlicher Nacht frierend in seinem Kämmerlein sitzt und darunter leidet, dass ihm „sein Lieb“, sein „treues Blut“ fehlt. Das ist eine lyrische Szene, von der der musikalische Poet Schubert sich ganz unmittelbar angesprochen gefühlt haben musste, zumal Seidls Verse sich nicht in der Beschreibung dieser Situation erschöpfen, sondern in die seelischen Tiefen dieses lyrischen Ichs vordringen und dabei den Quell des künstlerisch-poetischen Schöpfungsaktes erfassen.

    Diesem will so manchen Tag kein „Lied“ gelingen, weil sich so etwas nicht erzwingen lässt. Es braucht die Fülle der Emotionen, die sich bei der Vergegenwärtigung der fernen Geliebten in der Einsamkeit des nächtlichen Zimmers einstellen, damit der Quell der künstlerischen Kreativität zu sprudeln vermag. Das Los der Geworfenheit in die Einsamkeit, wie sie sich in der Ferne vom geliebten Menschen einstellt, setzt allererst künstlerisch-schöpferische Kräfte frei, das ist ein Gedanke, der Schubert wohl tief berührt hat, - im Sinne eines Findens von Trost und innerer Kraft in jener menschlich existenziellen und künstlerischen Situation, in der er sich damals befand. Gerade die Worte „Dann fühl´ ich, daß ich singen darf(!)“ könnten diesbezüglich für ihn höchst bedeutsam gewesen sein.

    Die Situation, das war der März 1826, in dem dieses Lied entstand. Es ist ein nicht nur musikalisch höchst ansprechendes, sondern darüber hinaus auch liedkompositorisch bedeutendes, hat Schubert es doch gleichsam zur Titelmusik seines 1828 publizierten Opus 105 werden lassen. Dietrich Fischer-Dieskau fühlt sich durch es an das vierte Lied der „Winterreise“ erinnert, indem er in ihm eine Art „Vorstudie“ zu „Erstarrung“ zu vernehmen meint.

    Es sind die den Klavierdiskant prägenden Triolen, die, als gleichsam sich gegen wie winterliche Kälte aufbäumendes und den Geist beflügelndes musikalisches Element eine Nähe zu jenem Lied der Winterreise schaffen. Ein Viervierteltakt dem Lied zugrunde, es steht in d-Moll als Grundtonart, dem allerdings in Teilen der zweiten und vierten und auf dominante Weise in der dritten und der fünften Strophe ein D-Dur gegenübertritt, und es soll „Nicht zu geschwind“ vorgetragen werden.


  • Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Im fünftaktigen Vorspiel lässt das Klavier im Diskant jene triolischen Achtel-Figuren erklingen, mit denen es im Folgenden die Singstimme durchweg und ausschließlich begleitet. Sie bestehen aus dem Ab und Auf von Einzeltönen, von denen der erste sich zu einem bitonalen Akkord (zumeist einer Terz) erweitern kann und bei denen die Sprungbewegung immer ein größeres Intervall nimmt als der vorangehende Fall. Die Harmonik beschreibt dabei die für die Liedmusik der ersten, zweiten und vierten Strophe typische Rückung von d-Moll nach A-Dur, wobei dem Tongeschlecht Moll eine dominierende Rolle zukommt, hier im Vorspiel dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sich eine kurze Rückung nach fis-Moll ereignet. Die lyrische Grundsituation ist die eines einsam-nächtlichen Leidens, das fast in die Nähe der Tränen führt, aus dem allerdings dann im Akt der intellektuellen Auseinandersetzung damit positive Gedanken und Gefühle hervorgehen.

    Für die Harmonisierung der melodischen Linie liegt also das Tongeschlecht Moll nahe, - hier bemerkenswerterweise sogar das bei Schubert als Todes-Tonart fungierende d-Moll. Und die Anmutung von schmerzlichem Leid, das ihm innewohnt, erfährt in diesem Lied, wie schon im Vorspiel vernehmlich wird, immer wieder eine Intensivierung dadurch, dass im Klavierbass Viertel-Oktaven in tiefe Lage absinken, als wollten sie die beharrlichen auf ihrer tonalen Ebene verharrenden Triolen im Diskant zu sich hinab ziehen.

    Aber dem Tongeschlecht Moll kann ja von der lyrischen Aussage dieses Seidl-Gedichts keine wirklich dominante, die gesamte Harmonik der Liedmusik beherrschende Rolle zukommen. Schon die permanenten Rückungen in die Dur-Dominante, die sich bereits im Vorspiel, aber nachfolgend in der Harmonisierung der melodischen Linie der ersten, zweiten und vierten Strophe ereignen, lassen vernehmen und erkennen, dass dieses lyrische Ich, so wie es Schubert in diesen Versen begegnete, sich nicht einfach passiv seinem Leiden hingibt, vielmehr sich damit auseinandersetzt, es nicht nur registriert, sondern sogar reflektiert und damit zu bewussten – eben im Tongeschlecht Dur harmonisierten – Feststellungen gelangt. Dieser Umschlag vom Moll nach Dur ereignet sich ja nicht nur als permanente harmonische Rückung in der ersten Strophe, er führt in der zweiten und der vierten zu einer Vorherrschaft des Tongeschlechts Dur über längere Passagen der Liedmusik, und er wird schließlich in der dritten und der fünften zu einem diese ganz und gar beherrschenden und die kompositorische Größe des Liedes und seine klangliche Eindrücklichkeit ganz wesentlich bedingenden harmonischen Ereignis.

    Das Lied ist zwar, formal betrachtet, durchkomponiert, gleichwohl weist es ,wie das ja so oft bei Schubert der Fall ist, Strophenlied-Elemente auf, die, wie sich das dem analytischen Blick auf die Anlage der Komposition darstellt, eine für ihre musikalische Gesamtaussage konstitutive Funktion erfüllen. So setzen mit Ausnahme der dritten alle Strophen mit der melodischen Figur ein, die auf den Worten „Die Scheibe friert“ liegt: Eine auftaktige, weil in eine Dehnung mündende Tonrepetition mit nachfolgendem Sekundsprung und zur tonalen Ausgangslage zurückführendem Sekundfall.
    Und das hat einen tiefen Sinn, drückt sich doch darin die Tatsache aus, dass alle lyrischen Äußerungen in gleichbleibender Situation erfolgen und das lyrische Ich schon mit den die Strophen zwei, vier und fünf einleitenden Worten von sich selbst spricht. Nur die dritte Strophe weicht mit der an das „Lieb“ gerichteten Frage davon ab, und prompt lässt Schubert die einleitende Tonrepetition nun bei „du weilst“ nicht in einen Sekundsprung, sondern in einen über das Intervall einer Quarte mit nachfolgendem Sekundsprung zu dem Wort „du“ hin übergehen, und überdies ist diese von den übrigen abweichende melodische Figur auch in D-Dur harmonisiert.

    In ihren auf diese Einleitungsfigur folgenden Bewegungen weist die melodische Linie bei allen ersten Verspaaren der fünf Strophen eine andere Struktur auf, und dies ist ganz offensichtlich der jeweiligen lyrischen Aussage geschuldet. So wiederholt sie in der ersten Strophe auf den Worten „der Wind ist rauh“ noch einmal in identischer Weise die Einleitungsfigur, nun aber nicht in d-Moll, sondern in A-Dur harmonisiert, und geht nach bei den Worten „ Der nächt'ge Himmel rein und blau“, ganz dem lyrischen Bild entsprechend, mit einem Quartsprung in hohe Lage über, um sich dort einer Tonrepetition zu überlassen, die am Ende nach einem verminderten Sekundfall mit einem Terzsprung zu einer Tonrepetition auf einem hohen „E“ übergeht, bei der sich erneut eine harmonische Rückung von d-Moll nach A-Dur ereignet. Die reine Bläue des nächtlichen Himmels findet mit diesem Sprung der melodischen Linie zu einem hohen „E“, das die Quinte der Tonart A-Dur darstellt, adäquaten liedmusikalischen Ausdruck.

  • „Sehnsucht“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    In der zweiten Strophe stellt das lyrische Ich am Anfang fest „Mir fehlt etwas, das fühl' ich gut“, und in der Melodik schlägt sich das in der Weise nieder, dass die Vokallinie nun nach der Einleitungsfigur bei den Worten „ich gut“ einen in eine Dehnung mündenden und wieder in A-Dur harmonisierten Quintsprung beschreibt und anschließend, nach einer Viertelpause, bei den Worten „Mir fehlt mein Lieb, das treue Blut“ zu einer Tonrepetition in hoher Lage übergeht, die mit einem Sekundanstieg zu dem Wort „Lieb“ hin dort in eine expressive, weil mehr als einen Takt einnehmende und mit der harmonisch geradezu kühnen Rückung vom anfänglichen A-Dur nach F-Dur verbundene Dehnung auf einem hohen „F“ übergeht. Bei „das treue Blut“ folgt eine mit einem Sechzehntel-Legato angereicherte, mit Rückung von F-Dur nach B-Dur einhergehende und auf dem Grundton „B“ endende Fallbewegung nach, die wie ein ergänzender und erläuternder Kommentar zu der melodischen Emphase wirkt, die das Wort „Lieb“ ausgelöst hat.

    In der vierten Strophe wendet sich das lyrische Ich, nachdem es sich in der dritten, liedmusikalisch von allen anderen am deutlichsten abweichenden Strophe ganz der innigen Ansprache an das geliebte und so sehr vermisste Du gewidmet hat, einem neuen gedanklichen Gegenstand zu, - seiner künstlerischen Existenz als „Lied“-Schöpfer, Poet und Dichter also.
    Das „Sich-Quälen“ mit dem Bewusstsein der nicht gegebenen dichterischen Schöpferkraft führt dazu, dass die melodische Linie nach der Eingangsfigur in ein einen großen tonalen Raum einnehmendes Auf und Ab übergeht. Bei „so manchen Tag“ beschreibt sie den gleichen, auf einem tiefen „F“ ansetzenden Anstieg über eine Terz und eine Quarte in hohe Lage wie bei den Worten „gelingen mag“, nur dass dieser nun in a-Moll harmonisiert ist, während der vorangehende und identische in d-Moll erfolgte. Die Worte „Weil mir kein Lied gelingen mag“ sind eine schmerzliche, gleichwohl sachliche Feststellung, und so bleibt denn der melodischen Linie nichts anderes, als nach einer auftaktigen und gedehnten Tonrepetition zu einem lakonischen Quintsprung in hohe Lage überzugehen und danach zur Ausgangslage zurückzukehren. Und dies in der gebotenen Dur-Harmonisierung, A-Dur nämlich.

    Die Feststellung „Wie mild mich's wieder grad durchglüht“, die überraschende Erfahrung, dass ein „Lied“ sich einstellt führt dazu, dass die melodische Linie in der fünften Strophe nach dem Eingangsmotiv bei „grad durchglüht“ den gleichen Anstieg über eine Terz und eine Quarte beschreibt, wie in der vorangehenden bei den Worten „manchen Tag“, nun aber danach, und dies in D-Dur-Harmonisierung, erst einmal in einer Dehnung innehält. Fast zwei Takte lang währt dieses Innehalten, derweilen das Klavier seine aus Terzen gebildeten Triolen weiterklingen lässt.
    Schubert will wohl das lyrische Ich all den Gefühlen überlassen, die sich durch die freudige Erfahrung in ihm eingestellt haben. Und diese haben auch zur Folge, dass die nachfolgende melodische Linie einen deutlich rhetorisch geprägten Gestus aufweist: Mit dem Sekundfall in hoher Lage auf den Worten „sieh nur“, der nachfolgenden Achtelpause, der ungewöhnlichen Dehnung auf dem Hilfsverb „ist“, die aus einem Quartsprung hervorgeht und der Wiederholung der Anstiegsfigur von „grad durchglüht“ auf den Worten „schon ein Lied“.

    Wenn davon gesprochen wurde, dass Schubert das Mittel der Wiederholung melodischer Figuren einsetzt, um die Konstanz der Situation des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, so gilt das nicht nur für den Strophenanfang, sondern auch für die Melodik auf dem zweiten Verspaar aller Strophen, - wieder mit Ausnahme der dritten freilich. Im Unterschied zu der in identischer Weise wiederkehrenden Eingangsfigur erfährt die melodische Linie hier, bedingt durch die jeweilige lyrische Aussage mehr oder weniger starke Variationen, so dass man eigentlich nur von der Wiederkehr von melodische Figuren in ihrer Grundstruktur sprechen kann.

    Am markantesten zeigt sich das in der Figur, mit der die Strophen schließen. Es ist in allen Fällen eine Folge von gedehnten, weil den Wert von halben Noten beanspruchenden deklamatorischen Schritten, die zumeist eine fallende Linie beschreiben. Aber erstens ereignet sich dies auf unterschiedlicher tonaler Ebene und in voneinander abweichenden Harmonisierungen, und zum andern ist es nicht bei allen Strophen der Fall. Am Ende der vierten und fünften Strophe geht die melodische Linie nach dem anfänglichen Fall über eine Sekunde, bzw. eine Terz in einen Wiederanstieg über. Und es ist ganz offensichtlich, warum dies der Fall ist: Das lyrische Ich ist beflügelt von der beglückenden Erfahrung, ein neues „Lied“ geboren zu haben.

  • „Sehnsucht“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Die dritte Strophe weicht in ihrer lyrischen Aussage insofern von den anderen Strophen ab, als das lyrische Ich hier nicht gedanklich ausschließlich um sich selbst kreist, sondern in eine an die Geliebte gerichtete Ansprache-Haltung übergeht. Und das hat zur Folge, dass sie auch in der Liedmusik gleichsam eine Sonderstellung einnimmt. Sie bleibt zwar durch den deklamatorischen Grund-Gestus und den Klaviersatz in diese eingebunden, weist aber eine eigenständige, keine Bezugnahme auf melodische Figuren der anderen Strophen aufweisende Melodik auf.

    Ein geradezu berückend inniger Ton ist der melodischen Linie hier eigen, einsetzend mit der wellenartigen Bewegung in hoher Lage auf den Worten „wo weilst du nur so fern“ und der emphatischen, weil das Intervall einer ganzen Oktave einnehmenden Bogenbewegung auf den Worten „mein schöner Stern, mein Augenstern“. Und sie ist, solange das lyrische Ich sich in seiner Ansprache-Haltung die ferne Geliebte vergegenwärtigt, ganz und gar in Dur-Harmonik gebettet, die sich allerdings nicht mit schlichten Rückungen vom als Grundtonart fungierenden D-Dur in die Dominante A-Dur begnügt, sondern, um die Nachdrücklichkeit des Liebesbekenntnisses zu steigern, bei den Worten „Du weißt, dich lieb' und brauch' ich ja“ zur Doppeldominante E-Dur übergeht.

    Aus der gleichen liedkompositorischen Intention heraus werden diese Worte in Gestalt von Tonrepetitionen in hoher Lage deklamiert, und um die Nachdrücklichkeit noch weiter zu erhöhen, lässt Schubert sie sogar wiederholen, der Wiederkehr der in eine Dehnung mündenden Tonrepetition auf den Worten „ich ja“ nun eine melodische, um eine Sekunde höher ansetzende Fallbewegung vorausgehen und die Harmonik eine Rückung von E-Dur nach A-Dur vollziehen. Und wenn das lyrische Ich beim vierten Vers wieder zur seelischen Innenschau zurückkehrt, kehrt die Harmonik auch wieder zum Tongeschlecht Moll zurück und die melodische Linie beschreibt bei den Worten „die Träne“ eine lange Dehnung auf einem „A“ in mittlerer Lage, von dem sie sich, ganz und gar in d-Moll harmonisiert, am Ende um eine Sekunde erhöht, um bei den Worten „tritt mir wieder nah“ einen zweifachen Sekundanstieg zu beschreiben, der in einen stark gedehnten, weil in deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten erfolgenden und auf einem „A“ als Grundton endenden Fall übergeht. Auch dieser ist in Moll-Harmonik gebettet, in ein a-Moll, das eine kurze Rückung nach E-Dur vollzieht.

    Am Lied-Ende, bei den Worten „Dann fühl' ich, daß ich singen darf“ meint man das tief reichende Sich-angesprochen-Fühlen Schuberts durch diesen lyrischen Text Seidls in besonders eindringlicher Weise zu vernehmen.
    Gleich zwei Mal erfahren diese Worte, ganz und gar in Dur-Harmonik (D-Dur und A-Dur) gebettet, eine Wiederholung, beim zweiten Mal in Gestalt der Worte „daß ich singen darf“. Die melodische Linie entfaltet sich hier nach dem Prinzip der Steigerung der Expressivität, steigt nach der anfänglichen Fallbewegung beim zweiten Mal im Gestus der Tonrepetition zum höchsten Ton des Liedes auf, einem „G“, das bezeichnenderweise auf dem Wort „ich“ liegt, und endet in einem lang gedehnten, weil in halben Noten erfolgenden Terzfall auf dem Wort „singen“.
    Bei „darf“ geht sie dann zu einem Sekundanstieg über, und genau die gleiche Bewegung beschreibt sieschließlich bei der zweiten und letzten Wiederholung dieser beiden Worte. Nur dass dieses Mal auch noch dieser Sekundanstieg in eine Dehnung mündet.
    Das achttaktige Nachspiel wirkt, als würde das Klavier mit seinen triolischen Figuren immerzu eben diese gedehnte Schlussfigur der Melodik umkreisen, bevor es dann seinerseits in einer Akkord-Rückung von A-Dur nach D-Dur zur Ruhe kommt.

  • „Im Freien“, op.80, 3, D 880

    Draußen in der weiten Nacht
    Steh' ich wieder nun:
    Ihre helle Sternenpracht
    Läßt mein Herz nicht ruhn!

    Tausend Arme winken mir
    Süß begehrend zu,
    Tausend Stimmen rufen hier:
    »Grüß dich,Trauter, du!«

    O ich weiß auch, was mich zieht,
    Weiß auch, was mich ruft,
    Was wie Freundes Gruß und Lied
    Locket durch die Luft.

    Siehst du dort das Hüttchen stehn,
    Drauf der Mondschein ruht?
    Durch die blanken Scheiben sehn
    Augen, die mir gut.

    Siehst du dort das Haus am Bach,
    Das der Mond bescheint?
    Unter seinem trauten Dach
    Schläft mein liebster Freund.

    Siehst du jenen Baum, der voll
    Silberflocken flimmt?
    O wie oft mein Busen schwoll,
    Froher dort gestimmt!

    Jedes Plätzchen, das mir winkt,
    Ist ein lieber Platz;
    Und wohin ein Strahl nur sinkt,
    Lockt ein teurer Schatz.

    Drum auch winkt mir's überall
    So begehrend hier,
    Drum auch ruft es, wie der Schall
    Trauter Liebe mir.

    (Johann Gabriel Seidl)

    Seidls Verse artikulieren in der für ihn typischen Weise, also einer relativ schlichten, hochgradig evokative Metaphorik meidenden Sprachlichkeit und streng geregeltem Strophenbau, eine schwärmerische Erfahrung von Nacht.
    Das ist zwar das sozusagen klassische Thema der romantischen Lyrik, für Seidl wird „Nacht“ aber nicht zur – möglicherweise ambivalenten und zwiespältigen – Erfahrung von Entgrenzung, und das lyrische Ich, das sie macht, empfindet sich, obwohl allein, darin nicht einsam, vielmehr fühlt es sich darin geborgen, insofern ihm „tausend Arme“ „süß begehrend“ zuwinken und sein Blick überall auf „Plätzchen“ stößt, wo es einen „lieben Schatz“ zu Hause weiß.
    Nichts ist da in irgendeiner Weise bedrohlich, ängstigend, verstörend, wie Nacht auch sein kann, stattdessen blicken da hinter Scheiben „Augen“ die dem Ich „gut“ sind, schläft dort ein „liebster Freund“ und „flimmen“ Silberflocken an einem Baum.

    Das ist schlichte, sich durchweg in ungebrochen positiven Bildern von „Nacht“ ergehende Lyrik. Schuberts Komposition darauf entstand im März 1826, und man fragt sich, was ihn, der das Thema „Nacht“ bereits in ganz anderer Sichtweise liedkompositorisch bearbeitet hat, dazu bewogen haben mag, zu diesem lyrischen Text Seidls zu greifen. Vielleicht mag es ja die darin sich artikulierende schwärmerisch-positive Sicht auf die Nacht gewesen sein, die ihn dazu bewog.


    Seidls lyrische Bilder verführen ja regelrecht dazu, sich in einem Akt der Emanzipation von den realweltlichen Gegebenheiten für einen Augenblick Wunschträumen von nächtlich winkenden Plätzchen, einem lockenden Schatz und dem Schall trauter Liebe hinzugeben. Die Liedmusik, der ein Zweivierteltakt zugrunde liegt, in Es-Dur als Grundtonart steht und nicht nur „mässig“, sondern, wie Schubert ausdrücklich hinzufügt, „mit Innigkeit“ vorgetragen werden soll, spricht jedenfalls eine in diese Richtung weisende Sprache, und dies in von keinerlei inneren Brüchen gestörter Art und Weise.

    Vielleicht hat sich Schubert ja auch aus eben diesen Gründen dazu entschlossen, die Form der Durchkomposition zu wählen. Sie bietet ihm die Möglichkeit, im individuellen Sich-Einlassen auf jede einzelne Strophe das ganze lyrische Aussagepotential des Gedichtes zu erfassen und den großen liedmusikalischen Reichtum vernehmlich werden zu lassen, den seine lyrischen Bilder hervorzubringen vermögen. Nur einmal kehrt die Liedmusik einer Strophe mit nur geringfügigen Variationen auf einer anderen wieder, die der ersten auf der letzten, und dies ganz offensichtlich in der Absicht, der Liedmusik innere Geschlossenheit zu verleihen, was angesichts ihrer durch die Vielzahl der Strophen bedingten Länge zu einem kompositorisch geboten ist.

    Überdies wird das aber auch durch die lyrische Aussage nahegelegt, wirkt doch das „drum“ am Strophenanfang wie die Einleitung zu einer abschließenden Bilanz der nächtlichen Erfahrungen. Aber selbst hier folgt Schubert noch dem Prinzip der maximalen Ausschöpfung des lyrischen Aussagepotentials, indem er die beiden letzten Verse in so umfangreicher Weise wiederholt, dass die Strophe zu doppeltem Umfang ausgeweitet wird. Nicht erst hier, sondern eigentlich von Anfang an gewinnt man den Eindruck, dass er sich durch diese Verse Seidls regelrecht kompositorisch beflügelt gefühlt haben musste.


  • Zitat von Helmut Hofmann

    Drum auch winkt mir's überall

    So begehrend hier,

    :thumbup::jubel::hail:



    Lieber H.Hofmann, meine Lieblingsinterpretation!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Ich kannte diese Interpretation des Liedes "Im Freien" durch Wolfgang Holzmair nicht und möchte mich deshalb erst einmal bei Dir, lieber Fiesco, dafür bedanken, dass Du mich - und damit natürlich auch alle Leser und Leserinnen dieses Threads - darauf aufmerksam gemacht hast.

    Aber nun drängt es mich, nachdem ich sie gehört habe, geradezu unweigerlich, an Dich diese Fragen zu richten:

    Was ist es, was diese Aufnahme zu Deiner "Lieblingsinterpretation" macht?

    Was macht Holzmair anders als Fischer-Dieskau?

    Und was macht er besser als dieser, so dass Du diese Interpretation der seinigen vorziehst?

    Und wie ist es mit den Pianisten?, - um die nicht zu vergessen.

    Gerald Moore begleitet ja auf markante Weise anders als Gerard Wyss, - darin übrigens interpretatorisch auf bemerkenswerte Weise mit Fischer-Dieskau übereinstimmend (aber das nur nebenbei).


    Bitte versteh mich recht. Ich möchte hier auf keinen Fall(!) in einen Interpretationsvergleich eintreten. Es ist schlichtes persönliches Interesse, was hinter diesen Fragen steht, und ich hätte volles Verständnis dafür, wenn Du dich nicht auf diese einlassen möchtest.

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  • Lieber H.Hofmann, ich kann das irgendwie nicht so richtig erklären, es ist so, das mich diese Interpretation einfach unglaublich berührt. Wie schon mal gesagt, ich finde Holzmairs Gesang so ungekünstelt, so natürlich und berührend,

    nicht zu verwechseln mit Naiv. (Ich möchte allerdings hinzufügen, dass diese Argumente von mir nicht auf alle eingespielten CDs von Holzmair zutrifft) Sein Schubert ist für mich einfach :yes:!

    Diese Dinge habe ich noch nie bei Fischer-Dieskau gespürt, wohlgemerkt >für mich< , ich empfinde Fischer-Dieskau als allzu kalkuliert und abgeklärt in seinen Interpretation, dazu muss ich allerdings sagen, in den frühen Aufnahmen war das nicht so ausgeprägt, wenn nicht sogar überhaupt nicht der Fall.

    Gerard Wyss könnte man ankreiden, dass seine Begleitung wohl etwas bieder daherkommt, in diesen Dingen bist du aber wesentlich kompetenter! :)


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Vielen Dank, lieber Fiesco, für diese umgehende - und für mich vollkommen hinreichende - Antwort auf meine Fragen!

    Ich muss gestehen: Ich habe sie in diesem Sinne erwartet. Und - diese Feststellung ist mir wichtig - : Ich kann sie nachvollziehen!

    Holzmaier lässt in der hoch ausgeprägten deklamatorischen Gebundenheit des Vortrags der melodischen Linie deren klangliche Schönheit viel stärker aufklingen, als dies bei Fischer-Dieskau der Fall ist.

    Bei dem allerdings kommt, Folge seines Ansatzes am lyrischen Wort, die musikalische Aussage der einzelnen Strophen deutlicher zum Ausdruck, so dass dem Hörer die gesangliche Binnendifferenziertheit der Melodik des ja durchkomponierten Liedes bewusst wird.

    Ich denke:

    Gut, dass es beide gesangliche Interpretationen dieses Liedes gibt. Zusammengenommen vermitteln sie ein Bild von der geradezu überwältigenden Schönheit und kompositorischen Größe dieses Liedes.

  • Nichts ist da in irgendeiner Weise bedrohlich, ängstigend, verstörend, wie Nacht auch sein kann, stattdessen blicken da hinter Scheiben „Augen“ die dem Ich „gut“ sind, schläft dort ein „liebster Freund“ und „flimmen“ Silberflocken an einem Baum.

    Genau diese Stimmung, dieses verhältnismäßig Offensichtliche der bildhaften Beschreibung ohne die in der Lyrik häufig anzutreffende Hintergründigkeit des poetischen Bildes ist auch für mich der Grund, dass der sonst von mir geschätzte Fischer-Dieskau hier gefühlsmäßig (mein naives und keineswegs lebenslang liedtrainiertes Gefühl) etwas überinterpretiert. Hier fand ich die Einspielung von Christoph Prégardien mit Andreas Staier sehr schön. Auch der von Staier verwendete Hammerflügel hat etwas Bescheidenes im Klang, was für mich leichter verständlich wirkt. Leider bin ich nicht in der Lage, bei youtube die Einspielung zu finden.


  • Zitat von Helmut Hofmann

    Gut, dass es beide gesangliche Interpretationen dieses Liedes gibt. Zusammengenommen vermitteln sie ein Bild von der geradezu überwältigenden Schönheit und kompositorischen Größe dieses Liedes.*

    Da bin ich ganz bei dir lieber H.Hofmann, ich Danke dir! :hail:


    LG Fiesco


    * Hervorhebung von mir

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Genau diese Stimmung, dieses verhältnismäßig Offensichtliche der bildhaften Beschreibung ohne die in der Lyrik häufig anzutreffende Hintergründigkeit des poetischen Bildes ist auch für mich der Grund, dass der sonst von mir geschätzte Fischer-Dieskau hier gefühlsmäßig (mein naives und keineswegs lebenslang liedtrainiertes Gefühl) etwas überinterpretiert.

    Wenn aus der "Stimmung" des Seidl-Gedichts, der Tatsache, dass nichts darin in irgendeiner Weise bedrohlich, ängstigend, verstörend ist, wie Nacht ja auch sein kann, dass es also keine "Hintergründigkeit des poetischen Bildes" gibt, auf die Qualität der gesanglichen Interpretation geschlossen wird, wie das hier in Bezug auf Dietrich Fischer-Dieskau geschieht, dann liegt ein methodischer Fehler vor.

    Denn der Sänger oder die Sängerin, wer immer es sein mag, trägt ja doch nicht den lyrischen Text von Seidl vor, sondern Schuberts Liedmusik darauf. Und diese ist durchaus "hintergründig", interpretiert sie doch diesen lyrischen Text in seiner Semantik und Metaphorik, indem sie die affektiven Tiefendimensionen auslotet. Und die Qualität einer gesanglichen Interpretation bemisst sich eben daran, wie gut, wie treffend und in welchem Umfang diese Elemente der Liedmusik unter Einsatz der stimmlichen und deklamatorischen Ausdrucksmittel vernehmlich gemacht werden, und dies unter Wahrung der spezifischen Eigenart der melodischen Linie.


    Was Schubert mit seiner Liedmusik interpretatorisch aus den lyrischen Texten Seidls und anderer Poeten gemacht hat, welche musikalischen und speziell melodischen Mittel er eingesetzt hat, um die für ihn relevanten seelisch-affektiven Dimensionen zu erschließen, und welche über die lyrische hinausgehende musikalische Aussage des Liedes sich daraus jeweils ergibt, - das aufzuzeigen ist es doch, was ich hier, wie auch in den anderen Lied-Threads, mit meinen liedanalytischen Betrachtungen bezwecke.


    In diesem Zusammenhang bemerkenswert: Erstmals kam, neben den vereinzelten Sympathie und Freudenbekundungen, bestimmte Lieder betreffend, ein wenig diskursives Leben von außen in die monologische Einsamkeit der Betätigung in diesem Thread. Das hat mich sehr gefreut, und ich bin dankbar dafür. Es ist freilich die alte Erfahrung:

    Diskursives Leben kommt nur auf, wenn es um Liedgesang geht; lässt man sich auf Liedmusik ein und klammert dabei den Aspekt der gesanglichen Wiedergabe aus, bleibt man allein auf weiter Flur.

    Voilà, c´est la vie ici!

  • Wenn aus der "Stimmung" des Seidl-Gedichts, der Tatsache, dass nichts darin in irgendeiner Weise bedrohlich, ängstigend, verstörend ist, wie Nacht ja auch sein kann, dass es also keine "Hintergründigkeit des poetischen Bildes" gibt, auf die Qualität der gesanglichen Interpretation geschlossen wird, wie das hier in Bezug auf Dietrich Fischer-Dieskau geschieht, dann liegt ein methodischer Fehler vor.

    In dieser Form hast Du recht. Nun scheint aber auch Schubert, zumindest ist das mein Eindruck, dem positiven Bild des Gedichtes auch musikalisch Ausdruck zu verleihen.


    Wenn ich Dich hier richtig verstehe, siehst Du das in gewissem Rahmen auch so:


    Seidls lyrische Bilder verführen ja regelrecht dazu, sich in einem Akt der Emanzipation von den realweltlichen Gegebenheiten für einen Augenblick Wunschträumen von nächtlich winkenden Plätzchen, einem lockenden Schatz und dem Schall trauter Liebe hinzugeben. Die Liedmusik, der ein Zweivierteltakt zugrunde liegt, in Es-Dur als Grundtonart steht und nicht nur „mässig“, sondern, wie Schubert ausdrücklich hinzufügt, „mit Innigkeit“ vorgetragen werden soll, spricht jedenfalls eine in diese Richtung weisende Sprache, und dies in von keinerlei inneren Brüchen gestörter Art und Weise.

    Man könnte also schon sagen, dass eine Leichtigkeit in der Intonation nicht unadäquat wäre. Ich liebe Fischer-Dieskau bei der Winterreise, aber hatte gerade bei diesem Lied (ich kannte es bis dato noch nicht) wirklich das Gefühl, etwas zuviel zu hören.

    Was Schubert mit seiner Liedmusik interpretatorisch aus den lyrischen Texten Seidls und anderer Poeten gemacht hat, welche musikalischen und speziell melodischen Mittel er eingesetzt hat, um die für ihn relevanten seelisch-affektiven Dimensionen zu erschließen, und welche über die lyrische hinausgehende musikalische Aussage des Liedes sich daraus jeweils ergibt, - das aufzuzeigen ist es doch, was ich hier, wie auch in den anderen Lied-Threads, mit meinen liedanalytischen Betrachtungen bezwecke.

    Ich bemühe mich, das nachzuvollziehen. Tatsächlich finde ich die künstlerische Aufwertung, die die zum Teil einfachen Gedichte durch Schuberts Musik erfahren, wirklich spannend. Hätte ich die Gedichte in einem normalen Gedichtband gelesen, wäre ich angesichts zum Teil einfacher Reimrhythmik und manchmal auch etwas reizloser Reime weitergegangen. Es ist tatsächlich die Musik, die hier die Musik macht :).


    In diesem Zusammenhang bemerkenswert: Erstmals kam, neben den vereinzelten Sympathie und Freudenbekundungen, bestimmte Lieder betreffend, ein wenig diskursives Leben von außen in die monologische Einsamkeit der Betätigung in diesem Thread. Das hat mich sehr gefreut, und ich bin dankbar dafür.

    Ich bin sehr vorsichtig, mich hier zu äußern. Du hast hier eine Untersuchungskompetenz, der man erst einmal etwas devot begegnet, vor allem, wenn man, wie ich, seit Jahren kaum mehr Lieder gehört hat. Der Thread hat mich unter anderem bewogen, nicht nur Schuberts, sondern auch wieder Schumanns und Beethovens Lieder zu hören. Dafür bin ich an dieser Stelle dankbar.

  • Diskursives Leben kommt nur auf, wenn es um Liedgesang geht; lässt man sich auf Liedmusik ein und klammert dabei den Aspekt der gesanglichen Wiedergabe aus, bleibt man allein auf weiter Flur.

    Lieber Helmut,


    hier bin ich jetzt etwas allein. Was meinst Du damit?

  • Nun scheint aber auch Schubert, zumindest ist das mein Eindruck, dem positiven Bild des Gedichtes auch musikalisch Ausdruck zu verleihen.

    Wenn ich Dich hier richtig verstehe, siehst Du das in gewissem Rahmen auch so.

    Ja, lieber astewes, da hast Du recht. Das ist in der Tat der Fall. Meine Anmerkungen, auf die Du Bezug nimmst, waren grundsätzlicher Art. Ich habe meine Betrachtungen zu diesem Lied "Im Freien" hier ja noch gar nicht eingestellt. Wenn das geschehen ist, und morgen werde ich damit beginnen, so sollte dies ersichtlich werden.

    Man könnte also schon sagen, dass eine Leichtigkeit in der Intonation nicht unadäquat wäre. Ich liebe Fischer-Dieskau bei der Winterreise, aber hatte gerade bei diesem Lied (ich kannte es bis dato noch nicht) wirklich das Gefühl, etwas zuviel zu hören.

    Das wäre, denke ich, eines genaueren, ins Detail gehenden Anhörens seiner gesanglichen Interpretation dieses Liedes wert. Dies im Hinblick auf die Fragen: Wo, an welchem Ort des Liedes stellt sich dieser Eindruck eines "Zuviels" ein, und warum ist dies möglicherweise der Fall, - von Schuberts Liedmusik her betrachtet und beurteilt? Vielleicht werde ich diesen Fragen über die Feiertage mal nachgehen, kann´s aber nicht versprechen, da mir nur wenig eigene Zeit bleibt und ich eben bis über den Hals in Mahlers "Das Lied von der Erde" stecke. Zwei Wochen plage ich mich nun schon mit dem ersten Lied herum und habe schon acht Seiten Text dazu verfasst. Man glaubt gar nicht, auf was man da alles srößt an kompositorischen Künsten.

    Lieber Helmut,

    hier bin ich jetzt etwas allein. Was meinst Du damit?

    Das war eine törichte Anmerkung. Ich wollte sie gerade löschen, da sah ich, dass Du schon am Lesen warst, und musste es lassen.

    Wenn ich oben schrieb: "Diskursives Leben kommt nur auf, wenn es um Liedgesang geht; lässt man sich auf Liedmusik ein und klammert dabei den Aspekt der gesanglichen Wiedergabe aus, bleibt man allein auf weiter Flur.",

    so ist das tatsächlich meine Erfahrung seit Anbeginn meiner Betätigung in diesem Forum vor nun schon fast elf Jahren.

    Ich hätte aber unbedingt hinzufügen müssen:

    Der Grund dafür liegt in der Art meiner Betätigung selbst. Was sollte denn einer zu dem anmerken, was ich hier an Liedbetrachtungen verfasse, wenn er nicht selbst sich so knietief in den Notentext versenkt, wie ich das allemal tue, - tun muss, um etwas zu den mich leitenden Fragen schreiben zu können. Das kann man doch von keinem Menschen erwarten oder gar verlangen, zumal ja völlig zu Recht dagegen vorgebracht wird, dass man dergleichen zum Hören und Verstehen klassischer Musik, also auch Liedmusik, gar nicht nötig hat.

  • „Im Freien“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Das achttaktige Vorspiel führt auf klanglich faszinierende Weise in den Geist dieser Liedmusik ein, - in ihre Melodik und den sie begleitenden und tragenden Klaviersatz. In der Abfolge von teilweise staccato ausgeführten, gleichwohl pedalisierten Repetitionen von Sechzehnteln in Gestalt von Einzeltönen und bitonalen Akkorden in Diskant und Bass entfaltet sich eine lieblich anmutende melodische Linie, die in ihrer Harmonisierung immer wieder von der Tonika Es-Dur zur Dominante ausweicht und in den sich darin abzeichnenden Figuren wie die Quintessenz der nachfolgenden Lied-Melodik wirkt.

    Diese lässt einen ihrer vielen Gestalten und den ihnen zugrundeliegenden deklamatorischen Gestus in der ersten Strophe vernehmen. Es ist der einer jeweils einen Vers umfassenden, durch Pausen abgehobenen und in einer Dehnung volltaktig einsetzenden Entfaltung, die sich, wie aus einem anfänglich ruhenden Ton hervorgehend, in bogenförmiger Linie und in Gestalt von melismatischen Sechzehntel-Schritten ereignet. In diese kann sich, wie das schon in der ersten kleinen Melodiezeile auf den Worten „Draußen in der weiten Nacht“ erstmals der Fall ist, auch schon mal ein zierliches Zweiunddreißigstel-Legato einlagern, um der melodischen Linie, die hier noch, die lyrische Aussage reflektierend, auf mittlerer tonaler Ebene verharrt, schwebende Leichtigkeit zu verleihen.

    Dieser Gestus des Schweben-Wollens ist es, der den Charakter der Melodik nicht nur der ersten Strophe, sondern eigentlich der ganzen Liedmusik maßgeblich prägt, so dass es wie ganz konsequent anmutet, dass sie am Ende, bei den Wiederholungen der Worte des letzten Verspaares, zu den Sphären der hohen Oktav-Diskantlage abhebt. Und sie wirkt darin vom Klaviersatz wie inspiriert und beflügelt, der ja mit seinen bitonalen und akkordisch-dreistimmigen Sechzehntel-Figuren nicht nur in repetierender Weise auf der tonalen Ebene verharrt, sondern davon immer wieder einmal in bogenförmiger Weise nach oben abhebt und auf diese Weise eine Art flirrendes Klangbett schafft, das die melodische Linie nicht nur zu tragen, sondern auch gleichsam davonzutragen scheint.

    Bei der Wiederholung der Worte „Läßt mein Herz nicht ruhn“ kann man das zum ersten Mal – und danach noch mehrfach – erfahren. Die melodische Linie, die bei der Erstfassung dieses Verses noch nach der anfänglichen Dehnung auf dem Wort „läßt“ in einem Auf und Ab in mittlerer tonaler Lage verharrte, schwingt sich nun in der Wiederholung über das Intervall einer Sexte in hohe Lage auf und wird dabei von Oktaven im Diskant begleitet, die nicht nur in der vorangehenden Viertelpause für die Singstimme schon eine Aufstiegsbewegung beschrieben haben, sondern diese in der nachfolgenden dreitaktigen Pause vor der zweiten Liedstrophe auch noch fortsetzen.

    Nun kann gewiss hier keine alle sieben Strophen in angemessener Weise berücksichtigende analytische Betrachtung dieser Liedmusik unter dem Aspekt erfolgen, in welcher Weise die Melodik die jeweilige lyrische Aussage, bzw. Metaphorik reflektiert. Ein Eingehen auf besonders markante, die liedkompositorische Intention Schuberts repräsentierende Beispiele sollte genügen. So bringen melodische Linie und Klaviersatz die lyrischen Bilder der zweiten Strophe, das Empfinden des lyrischen Ichs, dass ihm tausend Stimmen zurufen und tausend Arme ihm winken, durch einen geradezu schweifend angelegten Gestus ihrer Entfaltung zum Ausdruck. Aus einem gleichsam verhaltenen, weil nach einem Anstieg über eine Sekunde und eine Terz bei „winken mir“ in einer Tonrepetitionen innehaltenden Gestus, der durch eine harmonische Rückung von B-Dur nach f-Moll unterstrichen wird, geht die melodische Linie bei den Worten „Süß begehrend zu“ nach einem zweimaligen Sekundfall mit einem Quintsprung in hohe Lage über und beschreibt dort einen mit einem Vorschlag versehenen Sekundfall, bei dem sich eine Rückung von F-Dur nach B-Dur ereignet.

    Und dieser Übergang von anfänglicher Verhaltenheit zu einem schweifenden Aufstieg wiederholt sich beim zweiten Verspaar noch einmal. Und dss in gesteigerter Form , denn beiden Worten „Grüß dich,Trauter, du!“ schwingt sich die melodische Linie, darin vom Klavier mit Oktaven im Diskant begleitet und in B-Dur harmonisiert, in fünf Sekundschritten aus mittlerer tonaler Lage in hohe auf und geht dort wieder in einen Sekundfall über, der mit einer Rückung von der Dominante zur Tonika verbunden ist, wobei dieses Mal Es-Dur als Tonika fungiert. Und Schubert lässt diese Worte auch noch wiederholen, dieses Mal auf einer bogenförmig nach unten fallenden und wieder ansteigenden melodischen Linie.

  • „Im Freien“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Die aus dem Sich-Einlassen auf die lyrische Aussage hervorgehende Vielgestaltigkeit der Melodik dieses Liedes zeigt sich auf besonders eindrückliche Weise bei der dritten Strophe. Denn dort geht das lyrische Ich zu einem monologischen Sich-selbst-Ansprechen über, und die melodische Linie reflektiert dies in der Weise, dass sie zu einem gleichsam rhetorischen Gestus übergeht. Der erste Vers wird in zwei kleine, durch eine Achtelpause voneinander getrennte Zeilen untergliedert, in denen die melodische Linie, in B-Dur mit Rückung in die Dominante harmonisiert, ein ähnliches Auf und Ab in hoher Lage beschreibt. Nach einer Viertelpause, in der das Klavier über den üblichen Sechzehntel-Akkordrepetitionen im Bass im Diskant Oktaven eine bogenförmige Bewegung vollziieht, wiederholt die melodische Linie, damit die Selbstansprache fortsetzend und in ihrer Intensität steigernd, noch einmal die Grundfigur auf den vorangehenden Worten, nur dieses Mal auf eine durch deklamatorische Sechzehntel-Schritte nachdrücklichere Weise. Mit den Worten „Was wie Freundes Gruß und Lied“ lässt sie dann von diesem rhetorischen Gestus ab und geht, durch das emotionale Potential des Wortes „Freund“ beflügelt, zu einer eine ganze Oktave umfassenden Schweifbewegung über, bei der ihr das Klavier wieder mit Oktaven im Diskant folgt.

    Und dann gerät sie bei ihrer Fallbewegung auf dem letzten Vers auf überaus reizvolle Weise ins Stocken. Das Wort „locket“ wird zweimal deklamiert, wobei die melodische Linie jedes Mal einen sich tonal absenkenden Sekundfall beschreibt. Und dieser setzt sich bei dem Wort „durch die“ fort, um bei dem letzten Wort „Luft“ dann wieder in einen Sekundanstieg überzugehen. Auch hier folgt das Klavier der melodischen Linie mit Oktaven im Diskant, und diese wirkt in ihrem stockenden, die innere Haltung des lyrischen Ichs reflektierenden Fall auch deshalb so eindringlich, weil die Harmonik hier eine Rückung von der Subdominante Es-Dur über die Dominante F-Dur hin zur Tonika B-Dur beschreibt. Wie um all das, was die Liedmusik hier gerade zum Ausdruck gebracht hat, in seiner Eindringlichkeit zu intensivieren, wiederholt das Klavier in einem fünftaktigen Nach- und Zwischenspiel die melodische Linie, indem die ihre Schritte in Gestalt von repetierenden Oktaven im Diskant nachvollzieht.

    Wieder einen anderen Gestus nimmt die Melodik dann bei den Worten der vierten Strophe an. Die Beschaulichkeit, in die das lyrische Ich mit den Worten „Siehst du dort…“ verfällt, schlägt sich in ihr dergestalt nieder, dass sie zunächst die Figur wiederholt, die auf diesen Worten liegt und ihren semantischen Gehalt zum Ausdruck bringt: Ein auf eine Dehnung folgender Fall, dem eine deklamatorische Tonrepetition folgt, wobei die Harmonik erst eine Rückung von C-Dur nach f-Moll, dann aber, bei den Worten „Drauf der Mondschein ruht“, von V-Dur nach Es-Dur beschreibt. Dem Bild vom „Hüttchen“ verleiht das Klavier einen starken Akzent dadurch, dass es seine Oktaven dieses Mal in hohe Diskantlage aufsteigen und von dort aus einen Sextfall vollziehen lässt. Das zart-liebliche Bild von den durch „blanke Scheiben“ sehenden Augen bewirkt, dass die melodische Linie zwei Mal einen Anstieg beschreibt, der beim ersten Mal noch in Terzschritten erfolgt, beim sich zweiten Mal aber über eine Kombination aus Sekund-, Quart- und Terzsprung in hohe Lage aufschwingt, dem das Klavier wieder mit Oktaven im Diskant und Terzen und Quarten im Bass folgt, und danach bei den Worten „die mir gut“ in einen lieblich wirkenden, weil im Bass mit terzbetonten Akkorden begleiteten Sekundfall übergeht. Bei der Wiederholung der beiden Verse beschreibt die melodische Linie ihre Bewegungen in unveränderter Gestalt noch einmal.

    Mit dem imaginierten Bild vom „liebsten Freund“ unter dem „trauten Dach“ des „Hauses am Bach“ verbinden sich für das lyrische Ich ebenso starke, einander ähnelnde, aber doch eigenständige Emotionen wie mit dem von der Geliebten hinter den Scheiben des „Hüttchens“, und so lässt Schubert die melodische Linie hier ähnliche, sich doch aber von den vorangehenden abhebende Bewegungen beschreiben und sie vom Klavier mit anderen Figuren begleiten. Dieses Mal liegt auf dem „Siehst du…“ ein in hoher Lage ansetzender und sich über das Intervall einer Quinte erstreckender Fall, der aber bei den Worten „am Bach“ mit einem gedehnten Quartsprung in eine Tonrepetition mündet, wobei die Harmonik eine ausdrucksstarke Rückung von Es-Dur nach F-Dur beschreibt.

    Danach geht die melodische Linie zu einem ähnlichen Anstieg in zwei Anläufen bei sich steigernden Intervallen über, nur dass dieser sich dieses Mal auf einer tiefen, um eine Quarte abgesenkten tonalen Lage ereignet, in B-Dur mit Rückungen zur Dominante harmonisiert ist und vom Klavier auf markante Weise mit permanenten Oktav-Repetitionen im Diskant begleitet wird, wobei die bogenförmige Anstiegs- und Fallbewegung auf den Worten „schläft mein liebster Freund“ einen starken Akzent dadurch erhält, dass sie das Klavier im Bass in Gestalt von zwei- und dreistimmigen Akkorden mitvollzieht. Auch hier lässt Schubert die beiden letzten Verse der Strophe auf identischer melodischer Linie und mit gleichbleibendem Klaviersatz wiederholen.

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