Hallo liebe Taminos,
seit einigen Jahren beschäftige ich mich intensiv mit den Sinfonien Anton Bruckners und bin dabei auf ein rätselhaftes "Problem" gestoßen, das ich hier vorstellen und diskutieren möchte.
Mein Bruckner-Einstieg war die 6. Sinfonie in A-Dur und obwohl diese lange Zeit die einzige Bruckner-Sinfonie war, der ich etwas abgewinnen konnte (die durchschnittlich längere Dauer der übrigen "großen" Sinfonien schreckte mich ab), hinterließ jedoch ein Punkt, der an dieser Sinfonie ohnehin oft kritisiert wird, einen unangenehmen Beigeschmack: Der Finalsatz.
Der Finalsatz dieser Sinfonie ist vergleichsweise kurz und auch die Coda mit dem erneuten Auftreten des Hauptthemas des 1. Satzes ist schnell vorbei. Ich erwischte mich beim Hören dieser Sinfonie immer wieder dabei, hauptsächlich den Kopfsatz und hier besonders die Coda wiederholt zu hören. Im Gegensatz zum Finalsatz bereitet Bruckner die Coda des Kopfsatzes (Buchstabe W) wirklich vor und erschafft einen langsamen Aufbau mit wahnsinniger Sogwirkung, während er das Anfangsmotiv immer lauter werdend einmal rund um den Quintenzirkel jagt. Der "Marschrhythmus", den den ganzen Satz beherrscht, tritt auch hier immerwährend auf, bis in die großen Steigerungen hinein. Meiner Meinung nach ist diese Coda eine der besten Stellen, die Bruckner je geschrieben hat.
Für mich bestand daher immer das Problem, dass ich die Coda des Kopfsatzes um ein Vielfaches lieber mochte als die des Finalsatzes.
Als ich die weiteren Sinfonien nach und nach kennenlernte, bin ich nach Empfehlungen von Bekannten vorgegangen, sodass ich nach der 6. Sinfonie die 7. Sinfonie in E-Dur kennenlernte. Hier bot sich mir ein bekanntes Bild - das Finale ist im Vergleich zum Kopfsatz kurz geraten und auch hier übersteigt die Gewaltigkeit der Kopfsatzcoda die der Finalsatzcoda mMn bei Weitem, wenn auch nicht so eklatant wie bei der 6. Sinfonie. Die Schlusscoda der Sinfonie wird hier immerhin durch die vorangehende Steigerungswelle mit abschließender Blechbläserkadenz gut vorbereitet, die Coda beginnt leise und baut sich nach und nach auf - jedoch auch über einen vergleichsweise kurzen Zeitraum.
Die Coda des Kopfsatzes (Buchstabe X) hingegen lässt sich länger Zeit. Dies gibt der Steigerung mehr Raum und Atem, sodass die Sogwirkung eine deutlich größere ist. Auch die abschließende graduelle Diminution der E-Dur-Fanfare in den Trompeten (Ab Buchstabe Z zunächst alle zwei Takte, dann jeden Takt, dann zwei Takte lang auf Schlag 1 und 2 und abschließend zwei Takte lang durchgehend in Vierteln) sorgen für diese Wirkung, die sich in der Finalcoda, so klasse sie auch ist, nicht einstellen mag.
Obwohl in dieser Sinfonie die beiden Codas nicht von so gewaltig unterschiedlicher Qualität/Wirkung sind wie in der 6. Sinfonie, stellt sich ein ähnlicher Eindruck ein. In der 7. Sinfonie liegt dies mMn insbesondere an der Passage VOR der Kopfsatzcoda (Buchstabe W - Sehr feierlich). Hier kommt es polyphonen Verschränkungen des Mollteils des Hauptmotives über einem immerwährenden Orgelpunkt. Innerhalb dieser Passage kommt es zu einer großen dynamischen Steigerung mit anschließendem Abfall, der die eigentliche Coda vorbereitet. Da der Orgelpunkt jedoch ab Buchstabe W über die Coda (Buchstabe X) bis zum Ende der Sinfonie permanent liegen bleibt, werden beide Passagen aneinandergeheftet und miteinander verbunden, sodass hier eine weitaus stärkere Wirkung erzielt wird. Auch hier - mMn eine der besten Brucknerpassagen überhaupt!
Dies sind mMn die einzigen beiden Sinfonien, in denen sich dieser Eindruck einstellt, seltsamerweise bei einer der vergleichsweise (leider) unbeliebteren Brucknersinfonien und bei der wohl beliebtesten. Problematisch ist dieser Eindruck meiner Meinung nach deswegen, weil die schiere Länge der Brucknersinfonien eigentlich eine Ausrichtung auf den Finalsatz erfordert (ähnlich Beethovens 9.).
Ein (positives) Gegenbeispiel ist die 5. Sinfonie in B-Dur. Wer diese Sinfonie kennt, kennt auch die unermesslich gewaltige Schlusscoda, ein würdiger Abschluss von Bruckners wohl polyphonstem Schlusssatz und seiner wohl polyphonsten Sinfonie. Die Kopfsatzcoda kann sich dem nur unterordnen - dennoch ist sie trotz ihrer Kürze von einer Großartigkeit, die ihresgleichen sucht. Ähnlich gestaltet sich dies bei der 4. Sinfonie in Es-Dur (in der üblicherweise gespielten Zweitfassung). In der 8. Sinfonie treibt Bruckner den Gegensatz auf die Spitze - der gewaltigen Schlusscoda steht ein leises Ende des Kopfsatzes entgegen.
Des "Rätsels Lösung" konnte ich 2018 in meiner Geburtsstadt Detmold erfahren. Das Orchester der HfM Detmold gab ein Konzert unter der Leitung von Florian Ludwig - auf dem Programm stand u.a. Bruckners 7. Sinfonie. Das Besondere war aber, dass am Vorabend des Konzertes ein Gesprächskonzert mit Benjamin-Gunnar Cohrs, dem bekannten Bruckner-Spezialisten, stattfand, der durch die 7. Sinfonie führte. Ein ungemein interessanter Abend, in dem Cohrs auch die Entstehungsgeschichte beleuchtete (chronologisch begann er deshalb mit Ausführungen und Klangbeispielen zum 3. Satz). In seinen Erläuterungen zum 1. Satz kam er genau auf obiges Problem zu sprechen, da sich bei ihm laut seinen Aussagen diese Eindrücke im Laufe der Zeit ebenfalls eingestellt hatten.
Der Grund dieses Problems - so Cohrs - läge im Falle der 7. Sinfonie an der quasi nie konsequent bis zum Schluss durchgeführten Anweisung "Sehr ruhig, nach und nach etwas schneller" in der Coda des Kopfsatzes (Buchstabe X). Nur wenn diese Anweisung befolgt würde, könne dieser Coda noch etwas folgen. Und tatsächlich, Cohrs ließ die Coda mit fortwährendem accelerando spielen (auch Florian Ludwig tat dies am Folgeabend) und das Ergebnis war überwältigend! Vor allem am Folgetag habe ich die Sinfonie so geschlossen und aus einem Guss erlebt wie nie zuvor oder danach.
Leider ging die konsequente Durchführung dieser Spielanweisung natürlich auf Kosten der Großartigkeit der Kopfsatzcoda (wenn man sie einzeln betrachtet), das Gesamtergebnis war aber fantastisch.
Hier aber das Manko: In der Coda des Kopfsatzes der 6. Sinfonie gibt es kein solches accelerando. Wie hier das Problem zu lösen ist, weiß ich leider nicht (bedauerlicherweise habe ich Herrn Cohrs nicht darauf angesprochen).
Wie sind eure Meinungen zu dem "Coda-Problem"? Habt ihr ähnliche Ansichten wie ich? Und kennt ihr vielleicht Aufnahmen, in denen versucht wird, dem entgegenzuwirken? Mir ist aktuell keine Aufnahme der 7. Sinfonie bekannt, die tatsächlich ein fortwährendes accelerando vollzieht.
Ich freue mich auf anregende Diskussionen
Liebe Grüße,
Amdir