„Schön ist das Fest des Lenzes“ (II)
Beim ersten Vers der zweiten Strophe kehrt die Melodik, die, weil die Liedmusik hier keine Pause macht, nach einer nur kleinen Achtelpause ihre Entfaltung fortsetzt, zum Gestus des ersten Verspaares der ersten Strophe zurück. Auf den Worten „Hast du ein Glas, kredenz' es“ beschreibt die melodische Linie eine viermalige, in As-Dur harmonisierte und deklamatorisch rhythmisierte Tonrepetition und geht danach in einen Fall über eine Terz und zwei Sekunden über, wobei das Wort „kredenz´“ eine Akzentuierung dadurch erfährt, dass sie auf dessen zweiter Silbe einen gedehnten Legato-Sekundfall beschreibt. Das geschieht, während die Sopranstimme die Tonrepetitionen auf „hast du ein Glas“ deklamiert. Damit aber ist es mit der kanonischen Anlage der Melodik vorbei.
Bei den Worten des zweiten Verses, wie auch bei der Wiederholung des ersten Verspaares am Ende der zweiten Strophe, wird, mit einer bemerkenswerten Ausnahme allerdings, die Melodik von Tenor und Sopran in ihrer wort- und silbengetreuen Anlage nun synchron deklamiert, aber, und das ist neu, sie entfaltet sich jetzt in Gestalt einer jeweils eigenständigen Linie. Auf den Worten „O Schenk, und singe mir dabei“ ist das beim Tenor eine schlichte Tonrepetition, die sich in der tonalen Ebene von einem „G“ zu einem „Ges“ absenkt und in einem Sekundfall endet. Beim Sopran aber beschreibt sie, und das macht die Liedmusik an dieser Stelle reizvoll, einen auf der Ebene eines hohen „Es“ ansetzenden Fall in Sekundschritten, der in einer zweimaligen Repetition kurz innehält, um bei „dabei“ in einen ausdrucksstarken Quartsprung mit Dehnung am Ende zu münden, wobei die Harmonik eine Rückung von der Tonika As-Dur zur Subdominante Des-Dur vollzieht.
In diesem Des-Dur ist auch die Melodik auf den nun wiederkehrenden Worten des Eingangs-Verspaares harmonisiert. Und bei ihr verfährt Schumann nun wieder überaus kunstvoll. An sich liegt es nahe, kompositorisch zum Mittel der Wiederholung der Melodik zu greifen, schließlich geht es um die gleiche lyrische Aussage. Und das tut Schumann auch, aber nur bei der Sopranstimme und nur bei den Worten „Schön ist das Fest des Lenzes“. Und selbst hier besteht ein Unterschied zum ersten Vers: Die - strukturell identische - melodische Linie entfaltet sich nun, weil in Des-Dur harmonisiert, auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene und wir nicht piano, sondern forte vorgetragen. Aber vor allem: Die melodische Linie des Tenors entfaltet sich bei synchroner Deklamation dazu gleichsam kontrafaktisch: Wo dort ein Sprung, ist hier ein Fall, und wenn, wie bei „Lenzes“, nun doch einmal beide melodischen Linien einen Fall vollziehen, ist der des Tenors ein ungleich größerer, nämlich nicht über eine Terz, wie beim Sopran, sondern über eine veritable Oktave. Das macht die Melodik überaus ausdrucksstark, und dementsprechend sind die wieder rhythmisierten Akkordfolgen nun nicht vier- bis fünfstimmig wie am Liedanfang, sondern fünf- bis sechsstimmig, und sie werden ebenfalls forte ausgeführt.
Was nun bei den Worten „Doch währt es nur der Tage drei“ melodisch geschieht, finde ich liedkompositorisch überaus beeindruckend. Hier ist halt ein Robert Schumann am Werk. Bei den entsprechenden Worten der ersten Strophe beschreibt die melodische Linie, wie dargestellt, einen aus einer sechsmaligen Tonrepetition hervorgehenden Sekundanstieg. Diesen deklamatorischen Gestus der Repetition gibt es auch hier, aber er wirkt nun wie zerbrochen, und aus dem melodischen Anstieg wird nun ein Fall. Und der erfährt bei der Wiederholung der Worte „der Tage drei“ eine Akzentuierung, indem die melodische Linie zwar noch einmal in einen Anstieg übergeht, dies aber nur, um über einen verminderten Terzfall in einer langen Schlussdehnung zu enden.

Robert Schumann: „Liebesfrühling“ op.37
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„Schön ist das Fest des Lenzes“ (III)
Aber das nun im Einzelnen.
Schon mit der Wiederholung des Wortes „doch“ weicht Schumann von der Melodik des Anfangs ab. Und er verleiht dieser Wiederholung starken Ausdruck dadurch, dass er das zweite „doch“ nach einer Achtelpause auf einer um eine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene deklamieren lässt und mit einer harmonischen Rückung von Des-Dur nach As-Dur verbindet. Eine weitere Achtelpause folgt nach, bevor die Worte „währt es nur“ auf einer auf einer melodischen Linie erklingen, die aus einer eine Sekunde tiefer einsetzen Tonrepetition mit nachfolgendem Sekundfall besteht, die mit einer harmonischen Rückung von Es-Dur nach f-Moll einhergeht und der wiederum eine Achtelpause nachfolgt.
Derweilen deklamiert die Tenorstimme das Wort „doch“ weitere zwei Mal, dabei ebenfalls von einer Achtelpause unterbrochen. Und danach werden nun alle Worte des letzten Verses deklamiert, und während die Melodik beim vorangehenden „doch, doch währt es“ in ihrer Zerstücktheit durch Pausen und ihrem fallenden Gestus so anmutet, als sei der Geist, der beim zweiten Vers der ersten Strophe ihr in Gestalt der sechsmaligen Tonrepetition innewohnt, gleichsam gebrochen, und sie wolle nun mit ihrer deklamatorischen Repetition auf den Worten „doch währt es“ noch einmal dazu zurückkehren.
Aber diese Repetition ist nur eine dreischrittige. Sie ereignet sich in der Melodik der Sopranstimme und wird in der der Tenorstimme mit einer zweischrittigen Repetition begleitet, die anschließend mit einem Sekundsprung und einen leicht gedehnten verminderten Sekundfall übergeht. Und hier deutet sich schon an, was nun melodisch nachfolgt und den Eindruck einer Wiederkehr des Geistes der ersten Strophe als irrig erweist. Ein starker Fall-Gestus tritt in die melodische Linie der Sopranstimme. Auf den Worten „der Tage drei“ beschreibt sie, in einer Rückung von Es-Dur nach As-Dur harmonisiert, einen dreischrittigen Sekundfall von der tonalen Ebene eines „F“ bis hinab zu der eines tiefen „C“. Die Melodik der Tenorstimme hält aber dagegen, indem sie bei „Tage drei“ mit einem Terzsprung zu einer fermatierten Dehnung übergeht, so dass sich auf dem Wort „drei“ zusammen mit den tiefen „C“ des Soprans nicht etwa eine wohlklingende Terz, sondern eine lang gedehnte Sekundreibung einstellt.
Der Fall-Gestus der Sopran-Melodik erfährt also keine wirkliche Kompensation. Schumann will die dem letzten Vers inhärente Evokation von Zeit und Vergänglichkeit stärker hervorheben, als dies in Rückerts arglos daherkommenden Lyrik geschieht. Eben deshalb die Brüche in der Melodik, die dem Schlussvers vorgesetzten Worte „doch, doch währt es nur“ und der in eine Sekundreibung mündende und die Liedmusik dominierende Fall-Gestus in der Melodik der Sopran-Stimme.
Aber dieses Duett will ja nicht in Trauertönen auftreten. Das wäre der mit den Worten „Schön ist das Fest des Lenzes“ auftretenden Aussage des lyrischen Textes gänzlich unangemessen.
Also dürfen Sopran und Tenor ein Finale inszenieren, in Gestalt einer Wiederholung der der Worte „der Tage drei“. Und das geschieht im Ritardando auf einer synchron silbengetreu melodischen Linie, die sich, in As-Dur mit Zwischenrückung zur Subdominante Des-Dur harmonisiert, nun nicht mehr gegenläufig entfaltet, sondern Anstiegs-Gestus aufweist, - mit einer verminderten Terz auf der zweiten Silbe von „Tage“ allerdings und einem zwar verminderten Sekundfall am Ende, der aber in eine in As-Dur gebettete und lange, den Takt übergreifende Terzdehnung mündet, die das Klavier mit aufsteigend angelegten fünf- und vierstimmigen As-Dur-Akkorden begleitet, wovon der letzte eine Fermate trägt. -
„Flügel! Flügel! um zu fliegen“, op.37, Nr.8
Flügel! Flügel! um zu fliegen
Über Berg und Tal.
Flügel, um mein Herz zu wiegen
Auf des Morgens Strahl.
Flügel, übers Meer zu schweben
Mit dem Morgenrot,
Flügel, Flügel übers Leben,
Über Grab und Tod.
Flügel, wie sie Jugend hatte,
Da sie mir entflog,
Flügel, wie des Glückes Schatten,
Der mein Herz betrog!
Flügel, nachzufliehn den Tagen,
Die vorüber sind,
Flügel, Freuden einzujagen,
Die entflohn im Wind.
Flügel, gleich den Nachtigallen,
Wann die Rosen blühn,
Aus dem Land, wo Nebel wallen,
Ihnen nachzuziehn.
Ach! von dem Verbannungsstrande,
Wo kein Nachen winkt,
Flügel nach dem Heimatlande,
Wo die Krone blinkt!
Freiheit, wie zum Schmetterlinge
Raupenleben reift,
Wenn sich dehnt des Geistes Schwinge
Und die Hüll entstreift!Oft in stillen Mitternächten
Fühl' ich mich empor
Flügeln von des Traumes Mächten
Zu dem Sternentor.
Doch gewachsenes Gefieder
In der Nächte Duft,
Mir entträufeln seh' ich's wieder
An des Morgens Luft.
Sonnenbrand den Fittich schmelzet,
Ikar stürzt ins Meer,
Und der Sinne Brausen wälzet
Überm Geist sich her.
Das ist gewiss das in seiner lyrischen Faktur und seiner poetischen Aussage bedeutendste Gedicht unter denen, die die Schumanns aus dem lyrischen Werk Rückerts zur Vertonung im Rahmen ihres Opus 37 ausgewählt haben. Das wie leitmotivisch direkt und indirekt im Zentrum aller Strophen stehende Wort „Flügel“ wird zum Auslöser einer Metaphorik, in der das lyrische Ich in immer neuen Anläufen den Wunsch und die Vision einer Entgrenzung, einer Befreiung und Erlösung aus den Bindungen und Zwängen seiner existenziellen Geworfenheit entwirft. Und das poetisch Große dabei ist, dass diese Bindungen und Zwänge in all ihrer Vielgestalt, wie sie die existenzielle Geworfenheit mit sich bringt, lyrisch aufgegriffen und reflektiert werden, denn die Vision eines Davonfliegens mit „Flügeln“ wird nicht nur zu einer „über Berg und Tal“, sondern auch eine „über Grab und Tod“, eine, die verlorengegangene „Freuden“ „einzujagen“ und in „Heimat“ zu bringen vermag, schließlich sogar, wie das die Metapher von Raupe und Schmetterling evoziert, den Geist seiner „Hülle“ „entstreift“ und ihn in die Freiheit führt.
Dann aber lässt Rückert diese in der Aufeinanderfolge von acht Strophen in die Emphase sich steigernde beflügelte Metaphorik auf eindrucksvolle Weise zusammenbrechen. Die beiden letzten Strophen atmen in ihrer Metaphorik vergleichsweise geradezu bedrückende Erdenschwere. Sie kreist um das in all seinen mythologischen Konnotationen schwer belastete lyrische Bild vom „Ikarus“. Die Morgenluft lässt das in den im „Duft“ der nächtlichen Träume“ gewachsene Gefieder „entträufeln“, der „Sonnenbrand schmelzt „den Fittich“ und Ikarus stürzt ins Meer.
Die beiden letzten Verse bringen die poetische Aussage auf ihren geradezu erschreckenden Punkt. Denn die Worte „Und der Sinne Brausen wälzet / Überm Geist sich her“ wollen sagen:
Das alles, was da an metaphorischer Vision von Freiheit und Erlösung voranging, wird für das lyrische Ich „an des Morgens Luft“ zu einer Ausgeburt des „Brausens der Sinne“. Rückert lässt es aber in der letzten Strophe als „Ich“ nicht mehr sprechen, hebt vielmehr die lyrische Sprache auf die Ebene deskriptiv-sachlicher Objektivität. Damit gewinnt die Aussage des Schlussbildes das hohe Gewicht von Allgemeingültigkeit.
Und wenn er die in den vielen vorangehenden Strophen sich ausdrückenden metaphorischen Evokationen einer Emanzipation aus der Geworfenheit in die menschliche Existenz als Überwältigung des Geistes durch „der Sinne Brausen“ qualifiziert und dafür das lyrische Bild des „Sich-Wälzens“ der Sinnlichkeit über den „Geist“ verwendet, dann ist das, weil es ja die Konnotation eines Erdrückens aufweist, in der Tat erschreckend, weil Ausdruck pessimistischer Hoffnungslosigkeit.
So lese ich jedenfalls diese Verse. Und sich sehe mich darin durch eine Bemerkung von Dietrich Fischer-Dieskau bestätigt. Der meinte nämlich (in seinem Schumann-Buch) zu eben diesen beiden Schlussversen:
„Als Höhepunkt wird eine Vision des Niedergangs beschworen: >Der Sinne Brausen wälzet überm Geist sich her<, eine Furcht, die der Komponist mit seinem Dichter teilte. Als ein Hinweis auf die Aktualität der Aussage auch für die eigene Person mögen die zahlreichen Änderungen Schumanns am Text anzusehen sein, durch die er Rückerts altertümelnde Sprache modernisierte.“
Fischer-Dieskau vernimmt also in Schumanns Liedmusik eine unmittelbare personale Betroffenheit durch Rückerts poetische Aussage, insbesondere die Schlussverse betreffend. Wie diese sich in seiner Liedmusik ganz allgemein, aber insbesondere in der auf den Worten der letzten Strophe ausdrückt, das lässt er uns leider nicht wissen.
Also wäre dieser Frage hier in Gestalt einer liedanalytischen Betrachtung der ganzen Komposition nun nachzugehen. -
„Flügel! Flügel! um zu fliegen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Zunächst zu den Formalia. Die Liedmusik soll „leidenschaftlich“ vorgetragen werden, ein Sechsachteltakt liegt ihr zugrunde, und als Grundtonart ist H-Dur vorgegeben. All das gilt aber nicht durchgehend. Denn sie ist durchkomponiert, und in dem Augenblick, wo der lyrische Text von dem jede Strophe einleitenden und sie in ihrer metaphorischen Aussage prägenden „Flügel“ löst, entfaltet sie sich auf den Strophen sechs bis acht auf der Grundlage eines Viervierteltakts nun „sehr langsam“ und im Rahmen der Grundtonart A-Dur, um dann aber von der Strophe neun an zum „Ersten Tempo“ zurückzukehren. Sie weist also in ihrer Anlage und ihrer Grundstruktur hohe Komplexität auf und lässt darin die kompositorische Intention Schumanns erkennen, den lyrischen Text in der Komplexität seiner poetischen Aussage möglichst tiefgreifend zu erfassen, zu erschließen und in eine adäquate Liedmusik umzusetzen.
Sie soll hier nun nicht Strophe für Strophe in ihrem ganzen Umfang einer liedanalytischen Betrachtung unterzogen werden, es dürfte genügen, den Blick auf ihre strukturellen Grundmerkmale zu richten, um eben diese Adäquatheit aufzuzeigen.
Bemerkenswert ist unter diesem Aspekt schon der Liedanfang. Schumann verzichtet auf ein Vorspiel, und das aus gutem Grund. Nur so kann er den appellativen Einsatz des lyrischen Textes voll zur Geltung bringen, und diesen arbeitet er musikalisch stärker heraus, als Rückert das mit seinen lyrisch-sprachlichen Mitteln vermag. Ihm bleibt ja nur das Ausrufezeichen, Schumann aber lässt dieses Wort „Flügel“ zwei Mal auf einer Melodik deklamieren, die einen expressiven Steigerungseffekt aufweist. Dies nicht nur weil sie forte vorgetragen wird und durch die nachfolgenden Pausen von erst fast einem ganzen Takt, dann im Wert eines Viertels eine starke Hervorhebung erfährt.
Er geht viel subtiler vor. Auf der Silbe „Flü-“ liegt eine melodische Dehnung im Wert einer punktierten halben Note, und sie ist mit einem Portato-Zeichen versehen. Im ersten Fall ist sie auf der Ebene eines „Gis“ in unterer Mittellage angesiedelt, und sie geht bei der Silbe „-gel“ in einen Terzfall hin zu einem deklamatorischen Achtel In Gestalt eine „Eis“ in tiefer Lage über, was die Dehnung auf der ersten Silbe des Wortes umso stärker aufwertet.
Was die Notenwerte anbelangt, so ist das zweite „Flügel“ melodisch ebenso angelegt, nicht aber in der tonalen Ebene und im Intervall des Falls. Nun liegt die lange Dehnung auf der ersten Silbe auf der tonalen Ebene eines „Cis“ in hoher Lage, und der Fall erfolgt über eine ausdrucksstarke Quinte hinab zur Ebene eines „Fis“, also nur um eine Sekunde angehoben von der des ersten Falls. Das Klavier begleitet das beide Male mit einem ebenfalls forte ausgeführten und lang gehaltenen, weil den Takt und Bass und Diskant übergreifenden sechsstimmigen Akkord.
Und auch hier ereignet sich, was die Harmonik betrifft, kompositorisch Bemerkenswertes. Der erste Akkord ist einer in gis-Moll, der zweite einer in Fis-Dur. Das heißt: Die Liedmusik setzt harmonisch in der Doppeldominante ein und gehrt dann zur Dominante über. Und wenn man nun erwarten würde, dass die nachfolgende Melodik auf den Worten der ersten und vielleicht auch der nachfolgenden Strophen in der Tonika H-Dur harmonisiert wären, so stellt man überrascht fest: Nur der melodische Anstieg auf den Worten „um zu fliegen über“ ist in H-Dur gebettet, danach wird die Tonika fünf Strophen lang ganz und gar gemieden. Erst in der Harmonisierung der Melodik auf den Worten der Strophen neun und zehn, der lyrischen Bilanz also, spielt sie eine Rolle.
Schumann baut auf diese Weise eine harmonische Binnenspannung auf, die sich erst in den beiden Schlussstrophen auflöst und die darin die innere Unruhe des lyrischen Textes reflektiert, dieses Beflügelt- und Getrieben-Sein des lyrischen Ichs von seinen vielen Visionen einer Emanzipation aus den Bindungen seiner Existenz.
Und das bringt auch die Melodik zum Ausdruck, denn sie entfaltet sich in einem immer wieder aufs Neue ansetzenden, in raschen deklamatorischen Schritten erfolgenden, darin beschwingt anmutenden und über einen großen Ambitus erfolgenden Auf und Ab. Wie sie in der ersten Strophe auftritt, so setzt sie sich, was ihren deklamatorischen Gestus und ihre Grundstruktur anbelangt, bis zur sechsten Strophe fort. Und sie wird vom Klavier darin angetrieben, denn es begleitet sie bis auf wenige, darin allerdings bemerkenswerte Ausnahmen mit deklamatorisch synchronen und oft ihren Bewegungen folgenden mehrstimmigen Akkorden im Diskant, die allerdings ihrerseits im Bass von oktavischen und bitonalen Akkorden in Gestalt eigenständiger Bewegungen begleitet werden. Bei aller Bindung an die Struktur der Melodik stellt sich der Klaviersatz also als durchaus komplex dar. Und das gilt auch für die Harmonik. -
„Flügel! Flügel! um zu fliegen“ (II)
Auf exemplarische Weise sei das anhand der ersten lyrischen Strophe aufgezeigt. Die Melodik greift deren Worte auf, ohne dabei einen Augenblick innezuhalten, in Gestalt einer kurzen Pause oder einer Dehnung etwa. Eine solche erlaubt sie sich erst am Schluss, bei dem Wort „Strahl“ also. Hier ereignet sich dieses Innehalten in Gestalt einer Dehnung im Wert einer punktierten halben Note, die auf der gleichen tonalen Ebene angesiedelt ist wie die rhythmisierte Tonrepetition auf dem vorangehenden Wort „morgens“, und auch das Klavier lässt hier einen lang gehaltenen, den ganzen Takt einnehmenden A-Dur-Akkord erklingen. Aber in diesem Innehalten reflektiert die Liedmusik nur die prosodischen Gegebenheiten des lyrischen Textes, seine strophische Anlage. Bei der nachfolgenden Strophe setzt die melodische Linie ihre Entfaltung in genau dem gleichen deklamatorischen Gestus fort.
Und dieser sieht im Fall der ersten Strophe so aus. Bei den Worten „Flügel! Flügel! um zu fliegen / Über Berg und Tal“ geht sie, und dies forte, aus einer anfänglichen Tonrepetition auf der Ebene eines tiefen „F“ mit einem Quartsprung in einen Anstieg zur Ebene eines hohen „F“ über, eine ganze Oktave also, um danach bei „Berg und Tal“ einen Sekundfall zu beschreiben, der auf dem Wort „Tal“ zwar einer in Gestalt eines verminderten Legato-Sekundschrittes ist. Der bringt zwar eine kleine Dehnung in dieses Wort ein, aber weil sich das nur in Gestalt eine Aufeinanderfolge eines deklamatorischen Viertels und eines Achtels ereignet, bringt es kein wirkliches Innehalten der melodischen Bewegung mit sich. Diese setzt sich vielmehr ungehindert fort, beschreibt unter Beibehaltung ihrer syllabisch exakten Deklamation bei den Worten „Flügel um mein“ eine aus einem Terzfall aus oberer Mittellage hervorgehende Tonrepetition auf der Ebene eines „Gis“ und geht anschließend, und das ist typisch für ihren Geist, mit einem veritablen Oktavsprung zu einem in hoher Lage ansetzenden Sekundfall auf den Worten „Herz zu wiegen“ über.
Darin zeigt sich allerdings, wie sehr Schumann die Melodik bei all ihrer befügelten Entfaltung die Aussage des lyrischen Textes reflektieren und akzentuieren lässt. Bei den Worten „Auf des Morgens Strahl“ darf sie, wie schon beschrieben, in Gestalt einer mit einem zweischrittigen Sekundanstieg eingeleiteten und in einer Dehnung endenden Tonrepetition auf der Ebene eines „E“ in hoher Lage zu vorübergehend kurzer Ruhe finden. Harmonisiert ist sie bei den Worten des ersten Verspaares in Fis-Dur, dem eine wie flüchtig anmutenden Rückung aus der Dominante H-Dur vorausgeht. Dem folgt dann ein fast bis zum Schluss dominierendes cis-Moll nach, bis dann das A-Dur erklingt, in das die melodische Dehnung auf „Strahl“ gebettet ist.
Die Moll-Harmonik will wohl den affektiven Gehalt des lyrischen Bildes vom „Wiegen des Herzens“ zum Ausdruck bringen, das A-Dur dann die Anmutung von Helligkeit, die sich mit dem Wort „Strahl“ und seinem ihm immanenten Vokal „a“ verbindet. Das Klavier folgt zwar mit seinen Akkorden im Diskant synchron mit den deklamatorischen Schritten der Bewegung der melodischen Linie, aber bei ihrer bogenförmig fallenden und wieder ansteigenden Entfaltung erklingt im Bass eine gegenläufige Folgen von Oktaven. Dies sei - wieder exemplarisch - angeführt, um den Klaviersatz in seiner Komplexität zu zeigen.
Auch die Melodik entfaltet sich bei den ersten fünf Strophen nicht durchgehend in der deklamatorischen Grundstruktur, wie sie am Beispiel der ersten Strophe aufgezeigt wurde. Ihre - für Schumann zwingende - enge Anbindung an den lyrischen Text und das Erfassen von dessen Semantik haben immer wieder markante Abweichungen davon zur Folge. So Kommt es aus diesen Gründen mehrmals zu Dehnungen in Gestalt eines Legato-Sprungs auf einsilbigen Worten. Bei „über Grab und Tod“ am Ende der zweiten Strophe beschreibt die melodische Linie auf dem Wort „Grab“ einen gedehnten, weil aus einer Folge eines punktierten Viertels und eines Achtels bestehenden Anstieg über eine kleine Sekunde, wobei die A-Dur-Harmonik in die Verminderung rückt. Der negative affektive Gehalt dieses Wortes erfährt auf diese Weise deutlichen Ausdruck. Schumann lässt übrigens hier ein zweitaktiges Zwischenspiel nachfolgen, in dem im Diskant dreistimmige Akkorde einen Fall aus hoher in tiefe Lage beschreiben, der in cis-Moll mit Zwischenrückung nach Gis-Dur harmonisiert ist.
Als weitere Beispiele für diese den lyrischen Text in seiner Aussage reflektierende und akzentuierende melodische Strukturen sind diese noch zu erwähnen. Bei den Worten „Flügel, wie des Glückes Schatten, / Der mein Herz betrog“ (dritte Strophe) lässt die melodische Linie, dieser Aussage entsprechend, von ihrem Sprung-Gestus in weitem Ambitus ab und entfaltet sich nach einem auftaktigen Oktavsprung ritardando in einer in fis-Moll gebetteten Fallbewegung über das Intervall einer Sexte, die einmal sogar - ungewöhnlicher Weise - in einer Tonrepetition mit nachfolgender Dreiachtelpause innehält.
Auf den Worten „Tagen, die vorüber sind“ (vierte Strophe) beschreibt die melodische Linie einen Sekundsprung, um sich dort, auf der Ebene eines „D“ in hoher Lage einer in Gis-Dur harmonisierten Dehnung hinzugeben und eine Tonrepetition mit Dehnung am Ende hinzufügen. Und bei den letzten Worten dieser Strophe, „die entfohn im Wind“ geht sie, auch das ein Ausbruch aus dem deklamatorischen Grund-Gestus dieses Liedes, in einen in jedem Schritt gedehnten (punktierte Viertel) Sekundanstieg in hoher Lage über, der mit einem Crescendo versehen und in fis-Moll-Harmonik gebettet ist.
Wieder sind es die Emotionen, die dieser Aussage des lyrischen Ichs innewohnen, die auf diese Weise in der Melodik Ausdruck finden. Und wieder lässt Schumann ein Zwischenspiel mit einem expressiven, weil sforzato auszuführenden und in fis-Moll-Harmonik erfolgenden Fall von dreistimmigem Achtelakkorden nachfolgen.
Und da wäre schließlich noch der Schluss dieses ersten Teils der Liedmusik, vor deren so markantem Übergang zu ihrem zweiten, die Aussage der Strophen sechs bis acht reflektierenden Teil. Bei den Worten „ihnen nachzuziehn“ geht die melodische Linie, wie schon einmal am Ende der dritten Strophe, in ein Ritardando über. Das lyrische Bild erfordert es, das von dem Land mit „wallenden Nebeln“, aus dem es gar gerne den „Nachtigallen nachziehen“ möchte. Aus einer viermaligen Tonrepetition geht die melodische Linie auf der Silbe „nach-“ auf der gleichen tonalen Ebene eines „D“ in hoher Lage in eine in gis-Moll harmonisierte Dehnung über, um von dort auf den Silben „-zu-“ und einen ausdrucksstarken Fall über eine Sexte und eine verminderte Sekunde zur Ebene eines „Eis“ in tiefer Lage zu beschreiben, bei dem die Harmonik nach einem verminderten „H“ rückt.
Das will wohl so verstanden werden, dass sich das lyrische Ich der Unmöglichkeit einer Verwirklichung dieses Wunschtraums bewusst wird. -
„Flügel! Flügel! um zu fliegen“ (III)
Lässt sich daraus erklären, dass Schumann, abweichend vom lyrischen Text, der Liedmusik auf diese fünfte Strophe noch den zweimaligen Ausruf „Flügel“ hinzufügt? Hinzufügt im Sinne einer Auflehnung des lyrischen Ichs gegen dieses Sich-Bewusstwerden der Realisierung all seiner Entflügelungswünsche und -träume, und dies in Gestalt eines trotzigen Dennochs im Glauben an diese?
Die Liedmusik spricht für diese Deutung. Beim ersten „Flügel“ beschreibt die melodische Linie eine ungewöhnliche und darin starke Expressivität entfaltende Bewegung. Sie geht aus einer langen, in h-Moll gebetteten und auf der tonalen Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage angesiedelten Dehnung auf der Silbe „Flü-“ zu einem Sprung über einer veritable Oktave bei der zweiten Silbe „-gel“ über. Dort verharrt sie dann auf der ersten Silbe des zweiten „Flügel“ in einer langen Dehnung (fermatiertes Viertel), um schließlich auf der zweiten Silbe in einen verminderten Sekundfall überzugehen. Und diese melodische Bewegung begleitet das Klavier - bemerkenswerter Weise! - mit einem lang gehaltenen, weil ebenfalls eine Fermate tragenden sechsstimmigen Cis-Dur-Akkord, der sforzato auszuführen ist. Die Anmutung eines Ausdrucks von Trotz stellt sich hier tatsächlich ein.
„Sehr langsam“ lautet die Vortragsanweisung bei der Musik, zu der das Lied nun - ja eigentlich überraschend - auf den Worten der Strophen sechs, sieben und acht übergeht. Aber überraschend ist sie nur wegen des klanglich-musikalischen Kontrasts, der sich hier unvorbereitet ereignet. Es gibt keinerlei Überleitung dazu, von der Aussage des lyrischen Textes ist dieser liedkompositorische Schritt sehr wohl begründet. Schon das Klageruf „Ach“, der diese am Anfang der sechsten Strophe einleitet, bietet hinreichenden Anlass dazu.
Warum aber hat Schumann, so frage ich mich, auf eine Überleitung verzichtet und diesen starken Kontrast gewollt?
Ich denke, dass sich darin sein tiefes Verständnis der lyrischen Aussage von Rückerts Gedicht ausdrückt. Das lyrische Ich, das sich in den ersten fünf Strophen einer immer wieder der mit der appellativ-beschwörenden Wort „Flügel“ eingeleiteten schwärmerischen Vision eines Davon-Fliegens „über Berg und Tal“ aus der Geworfenheit in die Faktizität seiner Existenz hingibt, verfällt plötzlich in die resignative Haltung der Reflexion. Es sieht sich in einem „Verbannungsstrande, wo kein Nachen winkt“, und die Liedmusik muss diesen Umschlag von der emotionalen Schwärmerei in die mit schmerzlichen Affekten einhergehende Reflexion in der Unmittelbarkeit zum Ausdruck bringen, in der sie sich im lyrischen Text ereignet.
Nun liegt der Liedmusik statt des Sechsachteltakts, wie vorangehend, ein Viervierteltakt zugrunde, was schon von daher jegliche emotionale Beschwingtheit der Melodik ausschließt. Als Grundtonart ist nun zwar A-Dur vorgegeben, aber von der lyrischen Aussage her ist nicht zu erwarten, dass diesem, so wie man Schumanns die Tonika meidende Harmonisierung der melodischen Linie erfahren hat, nun eine dominante Funktion und Rolle zukäme. Und dem ist auch nicht so. Die melodische Linie auf den Worten „Ach! von dem Verbannungsstrande / Wo kein Nachen winkt“ ist in ein cis-Moll übergehendes fis-Moll gebettet. Sie setzt mit einer zweifachen, anfänglich gedehnten Tonrepetition ein, geht danach in einen Sekundfall über, um sich bei „Verbannungsstrande“ wieder über einen Sekund- und einen Terzsprung wieder zu erheben und dann einen abwärts gerichteten Sekundschritt zu vollziehen. Dieses Wort erfährt dadurch eine Hervorhebung.
Eine Viertelpause folgt nach. In den Worten „wo kein Nachen winkt“ drückt sich die Hoffnungslosigkeit der Situation aus, und die melodische Linie bringt das mit einem Quartsprung zum Ausdruck, der in einen erst gedehnten, dann verminderten Sekundfall übergeht. Die Dehnung, in die dieser Fall bei „winkt“ mündet, ist in A-Dur harmonisiert, und das Klavier begleitet die melodische Linie bei diesen ersten beiden Zeilen mit dreistimmigen Akkordrepetitionen im Bass, die in den Taktübergängen gedehnt sind. Im Klavierdiskant herrscht Stille.
Erst nach einer weiteren Viertelpause setzt die melodische Linie ihre Bewegungen fort, nun aber in Gestalt einer Zeile, die das zweite Verspaar der sechsten Strophe umfasst, wobei Schumann hier wieder in den lyrischen Text eingreift und das Wort „Flügel“ zwei Mal deklamieren lässt. Er setzt damit, weil er dessen Schlüsselfunktion stärker als Rückert hervorheben will, das fort, was er gerade am Ende der fünften Strophe tat. Beim ersten Mal liegt auf „Flügel“ ein Quartfall in unterer Lage, der vom Klavier mit einem lang gehaltenen (halbe Note) dreistimmigen h-Moll-Akkord begleitet wird, beim zweiten Mal ist es ein Sekundfall in hoher Lage, zu dem das Klavier nun einen Dominantseptakkord der Tonart „Fis“ erklingen lässt.
Damit leitet die Harmonik die in ihrer Aussage positiv angelegte Melodik dieser Zeile ein, denn es geht ja hier um die Vision des „Heimatlandes, wo die Krone blinkt“. Zwar setzt die melodische Linie zunächst die Sekundfallbewegung auf dem zweiten „Fügel“ weiter fort, bei „Heimatlande“ beschreibt sie aber eine Bogenbewegung in Sekundschritten, und bei „die Krone blinkt“ vollzieht sie einen expressiven Quartsprung zu einer Dehnung in hoher Lage, der ein Sextfall mit Sekundanstieg und Dehnung nachfolgt. Das Klavier vollzieht all diese Bewegungen in Gestalt von Akkorden mit, die bei dieser expressiven Sprungbewegung der Melodik wieder zu lang gehaltenen werden. Die Harmonik, die zunächst mit einem h-Moll den affektiven Gehalt des Wortes „Heimatland“ zum Ausdruck bringt, bettet die Worte „Krone blinkt“ in ein strahlend anmutendes A-Dur mit Zwischenrückung in die Dominante.
Immer wieder erfährt der lyrische Text eine Akzentuierung durch markante Sprung-, bzw. Fallbewegungen. So liegt auf dem die siebte Strophe einleitenden Wort „Freiheit“ ein in eine Dehnung mündender und in F-Dur harmonisierter Sextfall, bei „Schmetterlinge“ beschreibt die melodische Linie einen aus einer Dehnung hervorgehenden Septsprung, und bei dem sich anschließenden Sekundfall vollzieht die Harmonik eine Rückung von Fis-Dur nach h-Moll. Das Wort „reift“ erfährt eine Akzentuierung durch eine aus einem Sextsprung hervorgehende und in h-Moll gebettete Dehnung, und auch die Worte „Geistes Schwingen“ werden auf gebührende Weise mittels eines Septsprungs mit nachfolgender Tonrepetition und harmonischer Rückung von Gis-Dur nach cis-Moll akzentuiert. Hier begleitet das Klavier wieder mit lang gehaltenen vierstimmigen Akkorden. -
„Flügel! Flügel! um zu fliegen“ (IV)
Bei der letzten, der neunten Strophe dieses Liedteils geht die melodische Linie zu etwas lebhafterer Bewegung über, dergestalt dass sie zwei Mal hintereinander die gleiche Figur aus zweischrittigem, anfänglich gedehntem Legato-Sekundfall und Wiederanstieg in vier Legato-Achtelsekundschritten beschreibt, die in h-Moll harmonisiert ist und vom Klavier mittels bitonalen und Einzelachteln im Diskant mitvollzogen wird. Das geschieht auf den Worten „stillen Mitternächten“ und „fühl ich mich empor“, und die melodische Linie bringt damit wohl die erregende Fülle an Emotionen zum Ausdruck, die sich beim lyrischen Ich bei der Imagination des lyrischen Bild einstellt, das im Zentrum der achten Strophe steht.
Bezeichnend aber: Jedes Mal lässt Schumann danach im Bass einen aus einem A-Dur-Akkord hervorgehenden und in die Tiefe führenden Fall von Terzen erklingen. Bei den Worten „von des Traumes Mächten / Zu dem Sternentor“ steigert sich das lyrische Ich weiter in diese es beflügelnde Imagination, und so vollzieht denn die melodische Linie einen in A-Dur und D-Dur harmonisierten Anstieg in immer höhere Lage, um schließlich bei dem Wort „Sternentor“ ritardando in einen lang gedehnten Legato-Sekundanstieg überzugehen, der in eine forte vorzutragenden Dehnung auf der Ebene eines hohen „A“ mündet. Aber auch hier begleitet das Klavier diese ganze Bewegung mit aus dem Diskant und den Bass fallenden Terzen, und die emphatische Forte-Dehnung am Ende ist in fis-Moll gebettet.
Diese Diskrepanz zwischen Melodik, Klaviersatz und Harmonik ist wohl als Vorausdeutung auf das zu verstehen, was die Liedmusik in der Reflexion der lyrischen Aussage der beiden letzten Strophen zu sagen hat. „Erstes Tempo“ lautet hier die Anweisung, allerdings gilt diese Rückkehr zum deklamatorischen Gestus der ersten fünf Strophen nicht für die Grundtonart. Die lautet weiter A-Dur, was aber auch hier wenig zu sagen hat, denn die Melodik auf allen vier Versen der neunten Strophe ist in Gis-Dur harmonisiert. Der Geist der lebendig-sprunghaften, im Sechsachteltakt tänzerisch rhythmisierten Entfaltung der melodischen Linie ist wieder voll da und lässt den Zwischenteil der Liedmusik in seiner gerade so großen Ruhe umso befremdlicher wirken.
Auf den Worten „Doch gewachsenes Gefieder / In der Nächte Duft“ beschreibt die melodische Linie im Crescendo eine vom Klavier in Gestalt von Terzen mitvollzogene und in hoher Lage aufgipfelnde Bogenbewegung, die bei „Nächte Duft“ über einen verminderten Sekundsprung in eine lange Dehnung mit nachfolgender Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „Dis“ in hoher Lage übergeht. Das Klavier akzentuiert das mit einer Folge von fünfstimmigen Akkorden im Bass. Bei den Worten „Mir entträufeln seh' ich's wieder / An des Morgens Luft“ geht die melodische Linie, darin die lyrische Aussage reflektierend, in einen Fall über, dem das Klavier wieder - nun aber mit dreistimmigen Akkorden - folgt, und der am Ende, ähnlich wie zuvor beim ersten Verspaar dieser Strophe, bei „Morgens Luft“ wieder über einen, nun aber großen Sekundsprung eine Dehnung mit nachfolgend zweimaliger Tonrepetition - nun aber in mittlerer Gis-Lage - beschreibt.
Ein dickes Forte steht im Notentext über dem Einsatz der melodischen Linie auf den Worten der letzten Strophe, - ein Forte, das sich ins Fortissimo steigern wird. Die Liedmusik ist, so wie Rückerts Verse das wollen, am Kern der poetischen Aussage angelangt. Auf den Worten „Sonnenbrand den Fittich schmelzet, / Ikar stürzt ins Meer“ entfaltet sich die melodische Linie in einem vorwärts drängenden Anstiegs-Gestus: Erst vierschrittige Tonrepetitionen auf der Ebene eines tiefen Fis, eine Quartfall-Figur auf „Fittich“, dann sechs Repetitionen eine Terz höher, mit einer Dehnung auf „stürzt, schließlich ein Terzsprung mit einer Dehnung auf „Meer“, und das alles in fis-Moll gebettet und vom Klavier mit deklamatorisch synchronen Akkorden begleitet.
Dann, bei den Worten „Und der Sinne Brausen wälzet / Überm Geist sich her“ schließlich die expressive Kulmination. Aus einer auftaktigen Tonrepetition auf „und der“ vollzieht die melodische Linie im Fortissimo einen ausdrucksstarken Oktavsprung, und senkt sich von der damit erreichten tonalen Ebene eines „Fis“ in hoher Lage langsam, aber in gewichtigen, weil repetitiven deklamatorischen Schritten langsam ab, und dies in verminderten Sekunden. Erst am Ende, wenn sie sich bei „Geist“ einer Dehnung überlässt, wird daraus eine große Sekunde. Dann, bei den Schlussworten „sich her“ wird aus der Abwärtsbewegung ein Fall über das große Intervall einer verminderten Sexte, und schließlich geht die melodische Linie mit einem Sekundschritt aufwärts zur Schlussdehnung auf der tonalen Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage über.
Diese letzte Melodiezeile wirkt nicht nur deshalb so gewichtig und ausdrucksstark, weil sie im Fortissimo erklingt, dazu trägt auch wesentlich bei, dass das Klavier jeweils den ersten von den repetitiven deklamatorischen Schritten mit einem sechsstimmigen Fortissimo-Akkord akzentuiert, wobei sich eine fallen anmutende Harmonik einstellt: Von H-Dur über Cis-Dur und A-Dur nach G-Dur. Bei der Dehnung auf Geist rückt die Harmonik nach fis-Moll, und das Klavier lässt einen Terzfall innerhalb einer Oktave erklingen, der verminderte Sextfall auf „sich“ ist in Cis-Dur gebettet, aber bei der Schlussdehnung am Ende stellt sich das fis-Moll wieder ein.
Diese lyrische Aussage ist eine höchst bedeutsame, weil destruktive, die vielen vorangehenden imaginativen Fluchtversuche aus Zwängen der existenziellen Geworfenheit als träumerische Phantasmagorie enthüllende und damit die poetische auf ihren Kern bringende. Und die Liedmusik bringt das auf höchst eindrückliche Weise zum Ausdruck.
Aber weil da ja ein Schumann am Werk ist und für diesen die Aussage der Melodik noch eines sie deutenden Kommentars bedarf, erklingt ein langes, sich über sechzehn Takte erstreckendes Nachspiel. Man vernimmt es in seinen anfänglichen Akkordrepetitionen und den sich anschließenden, fallend angelegten Akkordfolgen in ihren permanenten Rückungen im Tongeschlecht Moll (fis-, cis,- und h-Moll) als expressive, weil in Gestalt von Variationen erfolgende Wiederkehr der die Melodik beschließenden Fallbewegung.
Aus dem bedeutendsten Rückert-Gedicht dieses Liederkreises op.37 ist, wie könnte es angesichts dieses Komponisten sein, auch das bedeutendste Lied hervorgegangen.
Für mich jedenfalls. -
„Rose, Meer und Sonne“, op.37, Nr.9
Rose, Meer und Sonne
Sind ein Bild der Liebsten mein,
Die mit ihrer Wonne
Faßt mein ganzes Leben ein.
Aller Glanz, ergossen,
Aller Tau der Frühlingsflur
Liegt vereint beschlossen
In dem Kelch der Rose nur.
Alle Farben ringen,
Aller Duft im Lenzgefild',
Um hervorzubringen
Im Verein der Rose Bild.
Rose, Meer und Sonne
Sind ein Bild der Liebsten mein,
Die mit ihrer Wonne
Faßt mein ganzes Leben ein.
Alle Ströme haben
Ihren Lauf auf Erden bloß,
Um sich zu begraben
Sehnend in des Meeres Schoß.
Alle Quellen fließen
In den unerschöpften Grund,
Einen Kreis zu schließen
Um der Erde blüh'ndes Rund.
Rose, Meer und Sonne
Sind ein Bild der Liebsten mein,
Die mit ihrer Wonne
Faßt mein ganzes Leben ein.
Alle Stern' in Lüften
Sind ein Liebesblick der Nacht,
In des Morgens Düften
Sterbend, wann der Tag erwacht.
Alle Weltenflammen,
Der zerstreute Himmelsglanz,
Fließen hell zusammen
In der Sonne Strahlenkranz.
Rose, Meer und Sonne
Sind ein Bild der Liebsten mein,
Die mit ihrer Wonne
Faßt mein ganzes Leben ein.
Die erste Strophe gibt nicht nur das Thema für das vor, was sich in den nachfolgenden Strophen lyrisch-sprachlich ereignet, sie liefert sogar das Programm dafür, insofern die wie ein Rahmen vorgegebenen lyrischen Bilder „Rose“, „Meer“ und „Sonne“ schön der Reihe nach metaphorisch gefüllt werden, wobei die thematische Vorgabe mittendrin zwei weitere Male erfolgt, in Gestalt einer unveränderten Wiederholung der ersten Strophe. Und am Ende beschließt sie, als wolle sie die zuvor getroffenen lyrischen Aussagen bekräftigen, das Gedicht dann auch noch. Dieses stellt sich damit, und auch weil die metaphorische Füllung der drei thematischen Rahmen ein hohes evokatives Potential aufweist, als solides, handwerklich kunstvoll gefertigtes poetisches Gebilde dar. Aber da es sich im metaphorisch überbordenden Lobpreis der Geliebten erschöpft, bleibt es letzten Endes ohne allgemeingültige existenzielle Relevanz.
Was es allerdings mit dieser vielgestaltigen und hochexpressiven Metaphorik zu leisten vermag, das ist die starke Beflügelung und Inspiration des liedkompositorischen Ausdruckswillens, wenn es - wie hier in diesem Liederkreis - um das General-Thema „Liebe“ geht. Und das mag auch der Grund gewesen sein, weshalb Schumann bei der Auswahl unter den vielen Rückert-Gedichten zu diesem gegriffen hat, und dies sogar in der Absicht, das zentrale poetische Thema in Gestalt eines weiteren Liedes noch einmal aufzugreifen und aus einer neuen Perspektive in seinem Aussagegehalt zu erschließen und zu erfassen. Er erweist sich darin gleichsam als Vorgänger zu der liedkompositorischen Verfahrensweise, die Hugo Wolf später zur Perfektion gebracht hat.
Diese zehn Rückert-Strophen mussten das sie aufgreifende Lied zu einem zwangsläufig langen machen. Und die gewaltig blühende und darin sich sogar noch steigernde Metaphorik mit ihren Bildern vom „Tau der Frühlingsflur“, dem „ Duft im Lenzgefild', dem „sehnenden“ Begraben-Sein in „des Meeres Schoß“, den „Weltenflammen“ und dem „zerstreuten Himmelsglanz“ barg die Gefahr in sich, dass der Komponist sie aufgreift, ihr in ihrem überbordenden Gestus folgt und sich darin verliert.
Nicht so Schumann. Er war und ist ein Großer, und das heißt, dass er diese Gefahr sehr wohl erkannte. Er begegnete ihr mit einem einfachen, aber höchst effektiven liedkompositorischen Konzept: Entfaltung der Liedmusik aus einem begrenzten, in den Motiven definierten, darin aber den Kern der lyrischen Aussage präzise erfassenden melodischen Fundus. Das bedeutete konkret das Arbeiten mit dem kompositorischen Mittel der variierenden Wiederholung. Und genau das ereignet sich hier in vielerlei Gestalt, nicht nur bei der refrainhaften Wiederkehr der ersten Strophe, sondern auch dort, wo sich eine neue lyrische Aussage ereignet. Das wird aufzuzeigen sein, ohne dass dabei allerdings auf alle Strophen dieses Liedes eingegangen werden kann und soll. -
„Rose, Meer und Sonne“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
„Ruhig, die letzten Verse mit steigendem Ausdruck“, so lautet die Vortragsanweisung für die Liedmusik. Ein Zweivierteltakt liegt ihr zugrunde, und als Grundtonart ist H-Dur vorgegeben. In ihrer ungewöhnlichen Differenziertheit lässt diese Vortragsanweisung erkennen, dass Schumann die Schlüsselfunktion der ersten Strophe nicht nur beachtet, sondern diese liedkompositorisch stärker gewichtet, als dies bei Rückert gegeben ist. Denn „die letzten Verse“ des Liedes sind ja die der ersten Strophe, so dass die dieser zugeordnete Liedmusik nicht nur bei ihrem Auftreten am Liedanfang eine detaillierte liedmusikalische Betrachtung erfordert, sondern auch in den Variationen, die Schumann bei ihrem letzten Auftritt vornimmt.
Ein nur kurzes Vorspiel geht dem Einsatz der melodischen Linie voraus. Funktional kommt ihm keine interpretatorische Einführung in die Liedmusik insgesamt zu, es erklingt der Klaviersatz, der der Melodik auf den Worten „Rose, Meer und Sonne“ zugeordnet ist: Ein mit einem Sextsprung eingeleiteter fünfschrittiger Sechzehntel-Fall im Diskant, begleitet von einer lang gehaltenen und ihrerseits mit einem Sechzehntel-Vorschlag versehenen Oktave im Bass. H-Dur-Harmonik herrscht vor, und eine durch den einleitenden Klaviersatz evozierte Atmosphäre ruhig-harmonischen Wohlklangs.
Die melodische Linie auf den Schlüsselworten des ersten Verses entfaltet sich in einer dieser ganz und gar gemäßen, weil in ihren letzten deklamatorischen Schritten friedvolle Ruhe verströmenden Bewegung. Nach einer anfänglichen, dreischrittig-rhythmisierten, weil mit einer Aufeinanderfolge von punktiertem Achtel und Sechzehntel einsetzenden Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „Dis“ in tiefer Lage, schwingt sie sich mit einem Terz- und einem Quartsprung in obere Mittellage auf, um bei „Sonne“ in einen ruhigen, weil im Wert von deklamatorischen Vierteln erfolgenden Quartfall überzugehen.
Weil dieser melodische, so friedvoll-harmonische Einsatz der Liedmelodik auf der Quarte zum Grundton endet, will sie eine Fortführung. Diese ereignet sich auf den Worten „Sind ein Bild der Liebsten mein“ in Gestalt von zwar etwas lebhafteren deklamatorischen Schritten, aber die anfänglich steigende, dann aber wieder fallende Bogenbewegung, die sie beschreiben, mutet wie eine stärker differenzierte Version derjenigen an, die sie gerade auf den Worten des ersten Verses vollzog. Der affektive Gehalt der Worte „Bild der Liebsten“ erfordert nun einen Fall, der nicht mehr ein so einfacher über eine Quarte ist wie bei dem klaren Bild „Sonne“, er ist nun komplexer, besteht aus zwei aufeinander folgenden Legato-Schritten abwärts, denen zwei weitere, nun aber nicht mehr legato auszuführende nachfolgen, um am Ende, bei dem Wort „mein“ in eine Dehnung überzugehen. Das Klavier vollzieht diese melodische Bogenbewegung auf dem zweiten mit, aber - hier ist ein Schumann am Werk - keineswegs in synchroner Anbindung an die deklamatorischen Schritte, sondern auf eigenständige Weise in Gestalt von zwei- und dreistimmig-akkordischen Sechzehnteltriolen und, jeweils voneinander durch Pausen abgehobenen Einzel-Sechzehnteln, was der Melodik eine markante Akzentuierung verleiht. Die Harmonik beschreibt eine Rückung von E-Dur über H-Dur nach Fis-Dur.
Und nun, bei der Melodik auf dem zweiten Verspaar der so bedeutsamen ersten Strophe zeigt sich das kompositorische Grundkonzept, das dieser Vertonung des so umfangreichen lyrischen Rückert-Textes zugrunde liegt und von Schumann ganz offensichtlich bewusst gewählt wurde, um sich nicht musikalisch in dieser lyrisch-metaphorischen Aussage-Fülle zu verlieren und der Liedmusik innere Geschlossenheit und eine definierte Aussage zu verleihen. Es ist die der ersten Strophe, und Schumann folgt darin im Grunde ja Rückert, der das Gedicht seinerseits in dieser enden lässt, nur akzentuiert Schumann das deutlich stärker als Rückert. -
„Rose, Meer und Sonne“ (II)
Das kompositorische Grundkonzept ist das der Beschränkung auf wenige melodische Motive und deren variierter Wiederholung. Auf dem dritten Vers, den Worten „Die mit ihrer Wonne“ also, liegt die gleiche Melodik wie auf den Worten des ersten, mit der kleinen Abweichung, dass am Ende kein Quart-, sondern ein Sekundfall erfolgt, der mit einer harmonischen Rückung von gis-Moll nach Fis-Dur einhergeht. Das Moll reflektiert dabei den affektiven Gehalt des Wortes „Wonne“, und der Sekundfall vom „H“ zu einem „A“ statt zu einem „Fis“ wie zuvor öffnet die Melodik stärker zu ihrer Weiterführung auf den Worten des letzten Verses.
Hier beschreibt die melodische Linie nun eine neue Bewegung. Aber so ganz neu ist sie nicht, sie weist nämlich deklamatorische Elemente aus der Melodik des zweiten Verses auf. Es ist der mehrfach aufeinanderfolgende Legato-Sekundfall. Aber Schumann kombiniert ihn hier mit der deklamatorischen Tonrepetition, und das macht sinnfällig, wie eng bei ihm die Anbindung der Melodik an die Semantik des lyrischen Textes ist.
Mit einem auf einem hohen Dis ansetzenden Legato-Sekundfall setzt die melodische Linie bei den Worten „Faßt mein ganzes Leben ein“, hält dann aber, bevor sie mit einem weiteren Legato-Sekundschritt ihre Abwärtsbewegung fortsetzt, kurz in einer Sechzehntel-Achtel-Tonrepetition inne. Und auch die beiden über ein Sekundintervall folgenden deklamatorischen Schritte auf den Schlussworten „Leben ein“ sind repetitive. Die melodische Linie reflektiert auf diese Weise den im Vergleich zu den Worten „Sind ein Bild der Liebsten mein“ eher sachlich-konstatierenden Gehalt des letzten Verses. Und die Harmonik enthält sich deshalb auch des Griffs nach dem Tongeschlecht Moll und ergeht sich in einer Rückung von H-Dur nach Fis-Dur. Das Klavier begleitet, wieder auf eigenständige Weise, mit einem Fall von akkordischen Sechzehntel-Triolen und - bemerkenswerterweise - einem über eine ganze Oktave sich erstreckenden Fall von Sechzehnteln im Diskant ausgerechnet auf der Tonrepetition in der die Melodik dieser Strophe mit einer Dehnung auf der Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage endet.
Den Worten der zweiten und der dritten Strophe widmet Schuman eine eigene Melodik, wobei allerdings die deklamatorischen Grundfiguren in beiden Strophen einander ähneln, weil sie sich als Varianten ihrer Vorgänger erweisen. Die melodische Linie, die auf den Worten „Aller Glanz, ergossen“ liegt, eine gedehnte Tonrepetition in mittlerer Lage, ein Terzsprung und ein Legato-Sextfall mit nachfolgendem Sekundanstieg, kehrt auf denen des zweiten Verses unverändert wieder, mit Ausnahme des Legato-Sekundschritts auf dem Wort „Tau“, wo im ersten Fall auf „Glanz“ nur ein einfaches deklamatorisches Achtel liegt.
Das Klavier begleitet hier im Diskant mit durch Sechzehntelpausen voneinander abgehobenen triolischen Auf-und-AB-Figuren von Achteln und mehrstimmigen Achtelakkorden, und das behält es bei bis zum Ende der Strophe. Die Harmonik vollzieht ein permanentes Hin und Her zwischen dem als Dominante fungierenden H-Dur und der Tonika E-Dur, und erst bei der Melodik auf den Worten des letzten Verses weicht sie, bedingt durch den affektiven Gehalt des lyrischen Bildes vom „Kelch der Rose“ davon ab und beschreibt eine Rückung von H-Dur über cis-Moll und Fis-Dur nach Dis-Dur. Und dieses lässt das Klavier in Gestalt eines arpeggierten Akkordes erklingen.
Und natürlich reflektiert auch die Melodik den semantischen und den affektiven Gehalt des zweiten Verspaares. Bei den Worten „Liegt vereint beschlossen“ entfaltet sich die melodische Linie, weiterhin in H-, und E-Dur harmonisiert, im Auf und Ab von zweischrittigen Tonrepetition auf den Ebene erst eines „Gis“ in tiefer, dann eines „Cis“ in hoher und schließlich, und dies über einen Legato-Quintfall mit Vorschlag erfolgend, eines „Fis“ in tiefer Lage. Diesen deklamatorisch-repetitiven Gestus behält sie bei den Worten „In dem Kelch der Rose nur“ anfänglich noch bei, und senkt sich dann von der tonalen Ebene des „Fis“ zu der eines tiefen „E“ ab, um dort das Wort „Kelch“ mittels einer in cis-Moll gebetteten Dehnung der Repetition zu akzentuieren.
Das Wort „Rose“ fordert aber schließlich eine Abkehr von diesem deklamatorischen Gestus, und so geht die melodischen Linie denn hier mit einem Terzsprung zu einem dreischrittigen, anfänglich legato auszuführenden Sekundfall über, der bei dem Wort „nur“ in einer Dehnung auf der tonalen Ebene eines „Dis“ in tiefer Lage endet und - wie schon erwähnt - vom Klavier mit einem Bass und Diskant übergreifenden Dis-Dur-Arpeggio-Akkord begleitet wird, aus dem sich ein sechsschrittiger Sechzehntel-Sekundfall löst, der zur Melodik der dritten Strophe überleitet. -
„Rose, Meer und Sonne“ (III)
Die Melodik auf den Worten der dritten Strophe mutet wie die in Gestalt einer Variante erfolgenden Wiederkehr derjenigen der zweiten an. Wieder zweimal die Figur gedehnte Tonrepetition mit nachfolgendem Terzsprung, dann gedehnter Sextfall mit Sekundanstieg. Nur dass sich das dieses Mal auf der Ebene eines „Cis“ in hoher Lage ereignet und infolgedessen nicht, wie vorangehend, im Wechsel von H-, und E-Dur harmonisiert ist, vielmehr in permanenten Rückungen von Dis-Dur nach gis-Moll. Die Liedmusik fängt auf diese Weise den affektiven Gehalt des lyrischen Bildes vom „Ringen“ aller Farben und alles Dufts „im Lenzgefild“ ein. Bei den Worten „Um hervorzubringen / Im Verein der Rose Bild“, dem Ziel und Zweck dieses „Ringens“ also, kehrt die Liedmusik aber wieder ganz und gar zu der zweiten Strophe zurück, indem sie die Melodik des zweiten Verspaares mitsamt ihrer Harmonisierung und dem zugeordneten Klaviersatz wiederholt.
Mit zwei Ausnahmen allerdings. Nun liegt auf dem Wort „Rose“ kein Legato-Sekundfall, sondern eine mit einem verminderten Sekundanstieg von „E“ zu „Eis“ eingeleitete, aber wieder in cis-Moll gebettete gedehnte Tonrepetition, und die nun noch längere (halbe Note) Dehnung auf der tonalen Ebene eine „Dis“ in tiefer Lage bei dem Schlusswort „Bild“ begleitet das Klavier mit einem schlichten, also nicht mehr arpeggierten Dis-Dur-Akkord. Der Liedmusik-Betrachter fragt sich natürlich, warum Schumann diese Variationen vorgenommen hat. Vielleicht deshalb, so könnte man vermuten, weil er das Faktische im letzten lyrischen Bild der dritten Strophe, das „Hervorbringen“ der Rose betonen zum Ausdruck bringen wollte.
Von nun an, von der vierten bis zur zehnten, der Schlussstrophe also, entfaltet sich die Liedmusik in permanenter Wiederholung der Melodik, die auf den ersten drei Strophen aufgebaut wurde, wobei sich bis zur neunten Strophe nur eine in ihrer Aussage relevante Variation ereignet. Im zweiten Vers der siebten Strophe, der die Melodik der ersten zugrunde liegt, geht die melodische Linie bei den Worten „sind ein Bild der Liebsten mein“ anders als dort nach dem anfänglichen Sekundanstieg bei „der Liebsten mein“ nicht mit einem Terzsprung zum anschließenden Fall über, sondern vollzieht diesen ruhig nach einem weiteren Sekundschritt aufwärts.
Das Bild der Wiederholungen stellt sich so dar: In der vierten Strophe erklingt die Melodik der ersten, in der fünften die der zweiten, in der sechsten die der dritten, in der siebten erneut die der ersten, in der achten und neunten die der zweiten und dritten, und in der Schlussstrophe vernimmt man noch einmal die Eingangsmelodik, hier allerdings geht die Liedmusik beim Schlussvers, der zwei Mal deklamiert wird, zu einer ganz und gar neuen Melodik über.
Die einzig bedeutsamen Variationen nimmt Schumann im Klaviersatz vor, dies aber auch nicht in dessen Grundstruktur, vielmehr nur in dessen klanglicher Substanz, indem er zum Beispiel einstimmig oder zweistimmig angelegte Figuren zu mehrstimmigen macht. So wird, um das an einem Beispiel aufzuzeigen, bei der vierten Strophe, die ja im Wortlaut mit der ersten identisch ist, aus dem die melodische Linie auf den Worten „Rose, Meer und Sonne“ im Diskant zugordneten mit einem Sextsprung einsetzenden Fall von fünf Sechzehnteln nun einer aus Terzen, der sich in tieferer Lage ereignet und staccato ausgeführt werden muss.
Diese Variation erfolgt also in der Absicht, die - schon bekannte - Aussage der Melodik nun mit einer stärkeren Akzentuierung zu versehen. Diese Intention liegt auch den anderen Klaviersatz-Variationen zugrunde und muss deshalb hier nun nicht in allen Einzelfällen einer genaueren Betrachtung unterzogen werden.
Eine genauere Betrachtung verdienen allerdings die Variationen, die Schumann in der letzten Strophe vorgenommen hat. Ihr kommt, was ja schon aus der Vortragsanweisung am Anfang der Partitur hervorgeht, aus seinem Verständnis des Rückert-Gedichts und der Liedmusik, die aus diesem hervorgeht, eine ganz besondere Bedeutung zu.
Sie enthält, und dies in für den lyrischen Text sowohl thematischer wie programmatischer Funktion, den Kern der Aussage des lyrischen Ichs. Und so erklingt nun die Melodik der ersten Strophe bei den ersten drei Versen in unveränderter Gestalt und Harmonisierung, sie wird jetzt aber forte vorgetragen, und das Klavier begleitet sie jetzt durchweg mit hochexpressiven Figuren aus dreistimmigen Sechzehntelakkorden, die in den ersten zwei Takten einen Fall aus dem Diskant in den Bass beschreiben, im dritten eine Aufstiegsbewegung, um danach wieder zum Fall-Gestus überzugehen. Die Liedmusik will also mit all ihren Mitteln der Aussage des lyrischen Ichs maximalen Nachdruck verleihen. -
„Rose, Meer und Sonne“ (IV)
Bei den Worten des letzten Verses nimmt die Melodik, darin abweichend von dem ab der vierten Strophe ausnahmslos vorherrschenden Wiederholungs-Gestus nach Strophenliedmanier, eine neue Gestalt an. Schumann will den Gehalt dieser Aussage in all seiner existenziellen Relevanz und seinen seelischen Dimensionen erschließen, und da das mit der sich auf ihn beziehenden Liedmusik nicht hinreichend geschehen ist, bedürfen die das Gedicht beschließenden Worte einer weiteren, sie gleichsam ergänzenden. Und dies sogar in zweimaliger Deklamation.
Auf den Worten „Faßt mein“ liegt nun eine Tonrepetition auf der Ebene eines „A“ in mittlerer Lage. Auf „ganzes“ ereignet sich ein expressiver, mit einem Sekundfall einsetzender Legato-Oktavsprung, der aus der tonalen Ebene eines „Gis“ in hoher Lage in einen zweischrittigen Legato-Sekundfall übergeht. Und legato setzt sich die melodische Linie fort, mit einem Sekundfall in zwei weiteren Schritten abwärts auf dem Wort „Leben“. Bei dem Wort „ein“ schließlich macht die melodische Linie einen Sekundschritt aufwärts und überlässt sich einer Dehnung auf der Ebene eines „Dis“ in hoher Lage.
Das Klavier begleitet diese melodische Bewegung mit allen angelegten bitonalen und dreistimmigen Sechzehntelakkorden im Diskant und auf der tonalen Ebene verbleibenden zweistimmig-triolischen Sechzehntelfiguren im Bass, - einem komplexen Satz also. Die Harmonik akzentuiert sie mit einer Rückung von E-Dur über Fis-Dur nach einem dominantischen, sich zur Wiederholung öffnenden Dis-Dur.
Bei dieser setzt die melodische Linie erneut mit einer deklamatorischen Tonrepetition ein, nun aber auf der tonalen Ebene eines „Gis“, eine Sekunde tiefer also und nun in Gis-Dur harmonisiert. Der Grund dafür wird aus dem ersichtlich, was sich nun melodisch ereignet. Wieder ein Oktavsprung zur Ebene des hohen „Gis“, dies aber nun nicht auf der ersten Silbe des Wortes „ganzes“, sondern direkt zu diesem hin, auf dass sich nun auf ihm im Ritardando ein vierschrittiges Zweiunddreißigstel-Melisma ereignen kann, das sich über das Intervall einer Quinte erstreckt und auf einem „Cis“ in oberer Mittellage endet. Auf den Schlussworten „Leben ein“ liegt nun ein Kadenz-Geist atmender Fall über eine gedehnte Sekunde und eine Terz, die in eine Dehnung auf dem Grundton „H“ in mittlerer Lage mündet. Die Harmonik beschreibt hier nun eine Rückung vom anfänglichen Gis-Dur über „Cis“- und „Fis“-Dur nach der Tonika H-Dur, in das die Schlussdehnung auf „ein“ gebettet ist.
Das, was „die Liebste“ dem lyrischen Ich bedeutet, dass sie nämlich „sein ganzes Leben einfasst“ bringt Schumann mit seiner Liedmusik in seiner existenziellen Relevanz in einem Ausmaß zum Ausdruck, das weit hinausgeht über das, was Rückert mit seinen lyrisch-sprachlichen Mitteln zu leisten vermag.
Das zwölftaktige Nachspiel erschöpft sich nicht, und das ist bemerkenswert, in einer Bekräftigung der melodischen Schlussaussage, es führt, nachdem es mit seinen zwei- und dreistimmigen Sechzehntelakkorden die Bogenbewegung der melodischen Linie auf den Worten des letzten Verses noch einmal nachvollzogen hat, eine neue melodische Figur ein, in Gestalt einer in hoher Lage ansetzenden Fallbewegung, die in Gis- und Cis-Dur-Harmonisierung einsetzt und über ein cis-Moll in permanenten Rückungen von der Dominante zur Tonika H-Dur im H-Dur-Schlussakkord endet.
Dietrich Fischer-Dieskau meint, die Liedmusik lasse dabei „den Gesang mit all seiner Pracht hinter sich“.
Ich vernehme und verstehe das anders. Schumann spinnt ihn - und das ist ja ganz typisch für ihn - in eben dieser seiner die Liebe besingenden „Pracht“ weiter fort. -
„O Sonn', o Meer, o Rose!“, op.37, Nr.10
O Sonn', o Meer, o Rose!
Wie wenn die Sonne triumphierend sich
Hebt über Sterne, die am Himmel stunden,
Ein Schimmer nach dem andern leis' erblich,
Bis alle sind in einen Glanz geschwunden;
So hab' ich, Liebste, dich
Gefunden:
Du kamst, da war, was je mein Herz empfunden,
Geschwunden
In dich.
O Sonn', o Meer, o Rose!
Wie wenn des Meeres Arme auftun sich
Den Strömen, die nach ihnen sich gewunden,
Hinein sich diese stürzen brünstiglich,
Bis sie die Ruh im tiefen Schoß gefunden;
So, Liebste, hab' ich dich
Empfunden:
Sich hat mein Herz mit allen Sehnsuchtswunden
Entbunden
In dich.
O Sonn', o Meer, o Rose!
Wie wenn im Frühling tausendfältig sich
Ein buntes Grün hat ringend losgewunden,
Ein hadernd Volk, bis Rose, königlich
Eintretend, es zum Kranz um sich verbunden;
So, Liebste, hab' ich dich
Umwunden:
Der Kranz des Daseins muß sich blühend runden,
Gebunden
In dich.
Wieder die Metaphorik „Sonne, Meer und Rose“, dieses Mal aber zunächst rein appellativ am Strophenanfang eingesetzt und nicht, wie beim vorangehenden Gedicht, nachfolgend weiter aufgegriffen und in Verbindung mit weiterer Metaphorik zur hymnischen Verklärung der Liebe und zum Lobpreis der Geliebten lyrisch entfaltet. Auch hier ist dieser das zentrale Anliegen Rückerts, aber er kommt nun auf deutlich komplexere, weil als prozessuales Geschehen in der Entfaltung einer durch das aus dem Anfangs-Appell genommene Schlüsselwort ausgelöste Folge von lyrischen Bildern zustande, ist also gleichsam das Ergebnis eines fiktionalen konstruktiven Prozesses, der in allen drei Strophen mit einem konditionalen „Wie wenn…“ eingeleitet wird.
Das Ganze mutet rational konstruiert und lyrisch-sprachlich gekünstelt an, dies besonders in der Transferierung der Metaphorik auf die Ebene der Abstraktion und einer damit einhergehenden komplexen Syntax. Die in den drei Strophen um die lyrischen Schlüsselworte „Sonn´“, „Meer“ und „Rose“ kreisende Metaphorik wird auf geradezu exzessive, im Grunde unlyrische, weil wesenhaft rationale Weise ausgeschlachtet und am Ende jeder Strophe unter Zuhilfenahme eines weiteren lyrischen Bildes gleichsam bilanziert. Dabei geschieht das in der dritten Strophe auf für den rationalen Konstruktivismus dieser Lyrik typische Weise damit, dass das im fünften Vers in einem metaphorisch ganz anderen Zusammenhang stehende Wort „Kranz“ aufgegriffen und nun zum „Kranz des Daseins“ gemacht wird. Und der soll sich nun „blühend runden“, und dies „gebunden in dich“, - was immer das in seiner unzulänglichen lyrischen Sprachlichkeit heißen mag.
Schumann, der, belesener Lyrik-Kenner, der er war, eigentlich um die poetische Fragwürdigkeit dieser Rückert-Verse gewusst haben musste, hat sie wahrscheinlich in seinen in Gemeinschaft mit seiner Clara projektierten Liederreis op.37 deshalb aufgenommen, weil sie mit dem vorangehenden, thematisch gleichen Gedicht eine Einheit bilden und das zentrale Thema „Liebesfrühling“ um eine weitere lyrische Aussage-Variante bereichern.Aber, liedkompositorisch klug, wie er war, ignorierte er mit seiner Liedmusik all die poetischen Schwächen dieses Rückert-Gedichts, indem er, sich über die prosodischen Gegebenheiten hinwegsetzend und auf den Kern der metaphorisch-lyrischen Aussage konzentrierend, aus Rückerts übertrieben artifizieller Poesie ein schlichtes Strophenlied gemacht hat.
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(Sorry, der Computer machte Kopierkapriolen)
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„O Sonn', o Meer, o Rose!“ Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Wie eng diese Komposition in ihrer Liedmusik an die vorangehende angebunden ist und mit ihr eine Einheit bildet, zeigen nicht nur das Metrum zwei Viertel und die Grundtonart H-Dur, die Vortragsanweisung macht es sogar explizit, lautend: „Tempo wie im vorigen Lied“. Ohne Vorspiel setzt die Melodik forte mit einer auftaktigen Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „Dis“ in tiefer Lage ein, - auftaktig insofern, als der deklamatorisch erste Schritt auf dem Ausruf „O“ den Wert eines Sechzehntels, der auf „Sonn“ dann aber den eines punktierten Achtels hat, also eine kleine, das Wort akzentuierende Dehnung darstellt. Und das wiederholt sich in genau der gleichen Weise, nur auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene, also der eines „Fis“, bei dem Ausruf „o Meer“. Auf „o Rose“ liegt erneut eine deklamatorische Tonrepetition, nun aber auf einer um eine Quarte höheren Lage, und die melodische Linie geht am Ende, weil dieses Wort ja zweisilbig ist, in einen Fall zu jenem „Fis“ über, von dem aus der Quartsprung erfolgte. Dieser ist nun aber nicht rhythmisiert, sondern besteht aus zwei gleichwertigen deklamatorischen Viertelschritten.
Das alles zeigt, dass sich die mit einem Crescendo versehene Melodik in enger Bindung an den appellativen Gestus des lyrischen Textes entfaltet, das Wort „Rose“ dabei aber, obwohl wie „Sonn“ und „Meer“ in H-Dur-Harmonik gebettet, dennoch eine besondere melodische Gewichtung erfährt. Es stellt eben in seinem metaphorischen Gehalt den Höhepunkt des Lobpreises der Geliebten dar, den dieser die drei Strophen einleitende Vers ja indirekt verkörpert. Und da das Klavier in Diskant und Bass der Bogenbewegung der melodischen Linie mit bitonalen Akkorden folgt und diese nach den anfänglichen Terzen bei „o Rose“ in Quarten übergehen, nach dem Fall am Ende aber wieder zur Terz zurückkehren, leistet auch das Klavier einen Beitrag zu dieser Akzentuierung des Wortes „Rose“. Schließlich reflektiert Schumanns Liedmusik den prosodischen Sachverhalt, dass der bei allen drei Strophen identische erste Vers einen vom nachfolgenden Text abgehobenen, diesem nur einen jeweils das Stichwort liefernden Appell darstellt, in der Weise, dass die nachfolgende Liedmusik erst nach einer langen Fermate einsetzt.
Sie soll nun in ihrem Strophenliedcharakter anhand der Worte der ersten Strophe auf betrachtet und auf angemessene Weise in ihrer Struktur und Aussage dargestellt werden. Das mit dem konditionalen „Wie wenn“ als herausragend qualifizierte, den Inhalt des zweiten und dritten Verses bildende lyrische Ereignis wird mit einer Melodik und einem Klaviersatz aufgegriffen, die ihrerseits ausgeprägt emphatischen Charakter aufweisen. Auf stürmisch rasche Weise steigt die melodische Linie forte nach einem auftaktigen Terzschritt hinab zur tonalen Ebene des „Dis“, in der sie ja bei der Refrain-Melodiezeile einsetzte, bei den Worten „wenn die Sonne“ mit einem Terz- und einem Quartschritt zur tonalen Ebene eines „H“ in oberer Mittellage auf, um dort bei „Sonne“ in einer gedehnten Tonrepetition kurz innezuhalten. Auch diese, weiterhin in H-Dur harmonisierte melodische Bewegung vollzieht das Klavier mit bitonalen Akkorden im Diskant und nun nur noch Einzeltönen im Bass mit.
Bei dem Wort „triumphierend“ geht die melodische Linie zwar anfänglich in einen Sekundfall aus hoher Lage über, aber schon auf dessen letzter Silbe setzt sie ihren Aufstiegsgestus fort, um sich nun über zwei Sekundschritte auf der Ebene eines „Dis“ in hoher Lage bei dem Wort „sich“ kurz einer kleinen Dehnung hinzugeben. Von dort aus geht sie bei den Worten „Hebt über Sterne“ in einen zweischrittigen Sekundfall über, bei dem die Harmonik eine Rückung vom vorangehenden H-Dur nach gis-Moll vollzieht. Diesen Fall-Gestus setzt sie auf den Worten „die am Himmel stunden“ fort, allerdings erst nach einer viermaligen, in Dis-Dur harmonisierten Tonrepetition und in Gestalt weiterer, nun in gis-Moll gebetteter repetitiver Schritte, bis ihre im Ritardando vorzutragende Bewegung bei dem Wort „stunden“ über einem gedehnten Quintfall auf der Ebene eines „Dis“ in tiefer Lage endet. Fast durchweg vollzieht das Klavier in dieser relativ langen Melodiezeile die deklamatorischen Schritte in Gestalt von drei- und zweistimmigen Akkorden in Diskant und Bass mit. Mit zwei Ausnahmen allerdings: Die viermalige deklamatorische Tonrepetition auf „Sterne, die am“ begleitet es mit einem lang gehaltenen fünfstimmigen Dis-Dur-Akkord, und auf dem anfänglich repetitiven dreischrittigen Sekundfall auf „Himmel“ erklingt ein aus nur zwei gis-Moll-Akkorden bestehender Fall.
Die Struktur dieser die Verse zwei und drei beinhaltenden Melodiezeile, ihre Harmonisierung und der zugehörige Klaviersatz wurden deshalb so genau beschrieben, weil man hier wieder vernehmen und erkennen kann, wie Schumann mit seiner Liedmusik den lyrischen Text in seiner Semantik reflektiert und interpretiert. (Ich gehe hierbei davon aus, dass, wie das bei Liedkomponisten in der Regel üblich ist, die Strophenliedmusik auf der Grundlage der ersten Strophe konzipiert wurde.) -
„O Sonn', o Meer, o Rose!“ (II)
Dem lyrische Bild der „Sonne“, das Rückert mit dem adverbialen Partizip-Präsens „triumphierend“ versehen hat, steht das der „Sterne“ gegenüber, über die sich die Sonne aber erhoben hat, womit sie sprachlich ins Imperfekt gerückt sind („stunden“), und dieser lyrische Sachverhalt schlägt sich in der Liedmusik dergestalt nieder, dass die melodische Linie nach ihrem anfänglichen Aufstieg in einen lang gestreckten und durch Repetitionen und ein Ritardando gleichsam verzögerten Fall übergeht, der mit einem Eintritt des Tongeschlechts Moll in die bislang dominierende Dur-Harmonik einhergeht. Dieser Vorgang wird somit in eine affektive Bipolarität gerückt, und das zweitaktige Zwischenspiel bekräftigt das noch einmal, indem es mit seinen partiell aufgelösten akkordischen Figuren den Aufstieg und Fall der melodischen Linie in verdichteter Gestalt noch einmal erklingen lässt, und dies wieder im Wechsel von Dur- und Moll-Harmonik.
Die Metaphorik des vierten Verses, Inhalt der nächsten, wieder von einem Zwischenspiel gefolgten Melodiezeile, weist einen Anflug von Zierlichkeit auf, und auch den vernimmt man in der den lyrischen Text aufgreifenden und in seiner Semantik reflektierenden Liedmusik. Schon das Piano, in dem die Melodik nun - anders als im Forte bei den ersten drei Versen - vorzutragen ist, macht das sinnfällig. Aber auch die Struktur der Melodik, ihre Harmonisierung und der zugeordnete Klaviersatz lassen es erkennen.
Bei den Worten „Ein Schimmer nach dem andern“ vollzieht die melodische Linie nach einer anfänglichen Tonrepetition auf „Schimmer“ einen ausdruckstarken, sie auf die tonale Ebene eines „Gis“ in hoher Lage führenden Septsprung und geht danach in einen Fall in Sekundschritten über, der nach einem kurzen Innehalten in Gestalt einer neuerlichen Tonrepetition bei „leis“ auf der Ebene eines „His“ in mittlerer Lage seinen Tiefpunkt erreicht, um bei dem - gekünstelt anmutenden - Wort „erblich“ (Imperfekt von „erbleichen“) in einen Sekundanstieg mit nachfolgender Dehnung überzugehen. Harmonisiert ist diese melodische Bewegung in einer zweimaligen Rückung von Ais-Dur nach gis-Moll, womit die Liedmusik wohl den affektiven Gehalt des lyrischen Bildes zum Ausdruck bringen will. Und diese kompositorische Intention kann man bei dem zugehörigen Klaviersatz vermuten. Denn der ist nun nicht mehr nach dem Prinzip der Synchronität von Akkord und deklamatorischem Schritt angelegt, ganz im Gegenteil. Es herrscht markante Asynchronität: Die mehrstimmigen Akkorde im Diskant erklingen, durch Sechzehntelpausen voneinander abgehoben, jeweils zwischen den deklamatorischen Schritten.
Das Zwischenspiel, das vor dem Einsatz der Melodik des fünften Verses erklingt, stellt eine leichte Variation desjenigen nach dem dritten Vers dar, und es ist anders harmonisiert, und gleiches gilt auch für die melodische Linie auf den Worten „Bis alle sind in einen Glanz geschwunden“. Wieder eine anfängliche Tonrepetition, nun aber auf der Ebene eines „Gis“ in mittlerer Lage, und wieder der nachfolgende melodische Sprung mit nachfolgendem, kurz in eine deklamatorische Repetition übergehenden Fall. Nur bei den Schlussworten „Glanz geschwunden“ folgt dem Sekundanstieg, anders als beim vorangehenden Vers, nun ein Quartfall, dem lyrischen Bild geschuldet. Und wieder begleitet das Klavier mit den jedem deklamatorischen Schritt nachfolgenden, nun allerdings vierstimmigen Akkorden, und die Harmonik vollzieht die zweimalige Rückung von Dur nach Moll, dieses Mal aber von Gis-Dur nach cis-Moll.
Schumann lässt den wesenhaft repetitiven, in seiner Fortentwicklung die Variation einbeziehenden Geist des Strophenliedes ganz bewusst bis in alle Bereiche der Liedmusik prägend eingreifen, und dies wohl in der Absicht, die Grundhaltung des lyrischen Ichs dem geliebten Du gegenüber in ihrer Tiefe und ihrer Beständigkeit zum Ausdruck zu bringen. Darin, wie mit dem kompositorischen Griff zum Strophenlied-Konzept ganz allgemein, entspricht er der poetischen Intention Rückerts, denn dieser lässt alle drei Strophen in ihrer Aussage um den refrainhaft vorangehenden Lobpreis kreisen und nutzt dabei ebenfalls das hochgradig artifiziell eingesetzte, weil die Assonanz ( „gefunden“, „empfunden“, „umwunden“, „entschwunden“, „entbunden“, „gebunden“ usw.) geradezu exzessiv nutzende Prinzip der variierten Repetition. -
„O Sonn', o Meer, o Rose!“ (III)
Die Melodik auf den Worten des sechsten Verses bindet ohne Pause, und sogar auf der gleich bleibenden tonalen Ebene verbleibend, an die des fünften an. Dies wieder, bei den Worten „so hab ich“, in Gestalt einer nun allerdings dreischrittigen, deklamatorischen Tonrepetition auf der Ebene eines „Gis“ in unterer Mittellage. Danach geht die melodische Linie bei dem Wort „Liebste“ mit einem Quartsprung in einen gedehnten Quintfall über, und diese Bewegung wiederholt sie bei „dich gefunden“ gleich noch einmal, und dies ritardando. Das Klavier begleitet in diesem zweiten Teil der die Verse fünf und sechs beinhaltenden Melodiezeile mit einer Folge von Akkorden, von denen der erste einer im Wert eines Viertels ist, die nachfolgenden aber eine Triole aus einem Achtel, einem Sechzehntel und einem Zweiunddreißigstel bilden.
Schumanns Klaviersatz weist also, im Grunde eine Durchbrechung des Strophenlied-Konzepts, eine große Vielfalt in seiner kompositorischen Faktur auf. Harmonisiert ist dieser Zeilenteil in Fis-Dur mit Zwischenrückung nach Cis-Dur.
Die Wiederholung der melodischen Bewegung in einem Ritardando am Ende der Melodiezeile mutet, auch weil ihr noch eine Pause nachfolgt, an wie eine Art kurzes Innehalten in der Lebhaftigkeit, in der die Melodik in diesem Lied sich entfaltet. Seinen kompositorischen Sinn hat das darin, dass die letzten drei Verse in ihrem sprachlich-konstatierenden Gestus eine die Begegnung mit der Geliebten in ihren Folgen gleichsam auf den Punkt bringende lyrische Aussage darstellen. Schumann greift das mit einer Melodik auf, die, nun forte vorgetragen, nach einem einleitenden Terzfall mit Dehnung auf den Worten „da war“ in sprunghaften Anstieg übergeht um sich danach bei den Worten „da war, was je mein Herz empfunden“ in einer stark von zweischrittigen Repetitionen geprägten Bogenbewegung in oberer Mittellage zu entfalten, die schließlich bei den Schlussworten „geschwunden in dich“ mit einem Quartsprung in hohe Lage aufsteigt, um dort in einem Ritardando, aber zugleich einem Crescendo eine aus einem Terzfall hervorgehende deklamatorische Repetition zu vollziehen, die am Ende bei „dich“ in einen dieses Wort akzentuierenden Sekundanstieg übergeht.
Die Harmonik unterstützt das, indem sie hier, nach der vorangehenden Rückung von der Tonika H-Dur zur Subdominante E-Dur zu einem D-Dur übergeht, das in seiner, durch das zweischrittige Zurück im Quintenzirkel verursachten klanglich befremdlichen Offenheit so anmutet, als sei noch nicht alles gesagt. Und so ist das ja auch. Die Schlussworte „geschwunden in dich“ werden noch einmal deklamiert, nun aber auf einer Melodik, die mit einem auftaktig verminderten Sekundschritt einsetzt, dann aus der mit einem Terzfall eingeleiteten Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage, nun aber bei „dich“ in einen Sekundanstieg übergeht, der sie zum Ausklang auf der Ebene der Tonika führt, einem „H“ in mittlerer Lage. Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung von einem anfänglichen cis-Moll über Gis-Dur zur Grundtonart H-Dur.
Zwischen den Strophen erklingt ein viertaktiges Zwischenspiel, in dem eine Folge von Vierteln und Sechzehnteln im Diskant, von drei- und zweistimmigen Akkorden begleitet eine ansteigende und am Ende in einen Fall übergehende melodische Linie beschreibt, wobei die zunächst in Rückungen von Gis-Dur nach H-Dur sich entfaltende Harmonik eine Rückung von Cis-Moll über Fis-Dur nach H-Dur vollzieht. Beim sich an die dritte Strophe anschließenden Nachspiel fügt Schumann diesem Zwischenspiel eine Art Ausklang hinzu, indem er die Oberstimme des Satzes im Diskant auf der Ebene des Grundtons „H“ in Dehnungen verharren und rhythmisierte Terzfolgen einen Sekundfall beschreiben lässt, die anfänglich ebenfalls auf seiner tonalen Ebene verharren, im zweitletzten Takt aber in einen Fall von Sechzehnteln im Bass übergehen und schließlich in einen fermatierten vierstimmigen H-Dur-Schlussakkord münden. -
„Warum willst du and're fragen“, op.12, Nr.3 (op.37, Nr.11)
Warum willst du and're fragen,
Die's nicht meinen treu mit dir?
Glaube nicht, als was dir sagen
Diese beiden Augen hier!
Glaube nicht den fremden Leuten,
Glaube nicht dem eignen Wahn;
Nicht mein Tun auch sollst du deuten,
Sondern sieh die Augen an!
Schweigt die Lippe deinen Fragen,
Oder zeugt sie gegen mich?
Was auch meine Lippen sagen,
Sieh mein Aug', ich liebe dich!
Eine rhetorisch kunstvoll angelegte Liebeserklärung im Gestus einer mit Fragen eingeleiteten Ansprache an das Du. Das geschieht in drei prosodisch gleich angelegten Strophen aus je vier Versen mit vierfüßig trochäischem Metrum, die im Wechsel von klingender und stumpfer Kadenz über Kreuzreim miteinander verbunden ist.
Das rhetorisch Kunstvolle besteht dabei darin, dass die erst am Ende des letzten Verses auftauchende und appellativ angelegte Artikulation der klassischen Formel „Ich liebe Dich“ als eine gleichsam logische Folge von Argumenten erfolgt, in der alle Möglichkeiten der Liebeserfahrung für das lyrische Du, von „fremden Leuten“, dem „eigenen Wahn“ bis hin zu den „eigenen Lippen“ des lyrischen Ichs als fragwürdig und unzuverlässig dargestellt werden, da nur eines wirklich Zeugnis ablegen könne. Das, womit das lyrische Ich sein sprachlich formelhaftes Liebesbekenntnis in dem argumentativ-appellativen Gestus, der seinem ganzen Auftritt in diesem Gedicht zugrunde liegt, eingeleitet hat: „Sieh mein Aug´!“
Das ist die dritte Liedkomposition, die Clara zu dem gemeinsam konzipierten, aber unter der Autorschaft Robert Schumanns publizierten Opus 37 beigetragen hat. Gar gern wüsste ich, ob sie selbst dieses Gedicht dazu ausgewählt oder ob dieser es ihr zur Vertonung vorgelegt hat. Dies deshalb, weil man daraus ihr Urteilsvermögen, die Qualität lyrischer Texte betreffend, erkennen könnte. In seiner strikt rhetorisch und metaphorisch rein funktional ausgerichteten lyrischen Sprachlichkeit hebt es sich wohltuend vom vorangehenden „O Sonn´, o Meer, o Rose“ ab. Die Tagebuch-Notiz legt aber nahe, dass Robert Schumann die Auswahl getroffen hat.
Bemerkenswert ist, dass Clara Schumann sich, obwohl die prosodischen Gegebenheiten das Strophenlied-Konzept nahelegen, für die Durchkomposition entschieden hat, dies aber unter starker Nutzung des Strophenlied-Wiederholungsprinzips, so dass man unter formalen Gesichtspunkten von einem variierten Strophenlied sprechen kann. Darin folgt sie ihrer liedkompositorischen Grund-Intention, den lyrischen Text in allen seinen Aussage-Dimensionen liedmusikalisch möglichst tiefgehend zu erfassen. As-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, und ein Dreivierteltakt liegt zugrunde. -
„Warum willst du and're fragen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Mit einem fünftaktigen Vorspiel setzt die Liedmusik ein. Im Diskant beschreiben bitonale Akkorde und Einzelachtel eine bogenförmige melodische Linie, die sich im ersten Teil als Vorgabe für diejenige erweist, die auf den Worten „Warum willst du and're fragen“ liegt. Mit einer auftaktigen Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „Es“ in tiefer Lage beginnt sie bei dem Wort „Warum“. Mit einer Kombination aus gedehntem Terz- und normalem Quartsprung steigt sie in hohe Lage auf, vollzieht dort bei „and´re“ erneut eine Tonrepetition, um anschließend bei „fragen“ über einen Sekundschritt bei den Worten „Die's nicht meinen treu mit dir“ in eine lang gestreckte ruhige, weil stark von einem Innehalten in Repetitionen geprägten Fallbewegung überzugehen. So verharrt sie bei „meinen treu mit“ in einer viermaligen, anfänglich gedehnten Repetition auf der tonalen Ebene eines „As“ in mittlerer Lage, bevor sie sich um eine Sekunde zu einer langen (halbe Note) Dehnung auf dem dir absenkt.
Diese erste Zeile wirkt in der Struktur der melodischen Linie in ihrem Zusammenspiel mit den zum Teil gegenläufigen Bewegungen von bitonalen Achtel-Akkorden im Diskant und Einzelachteln im Bass auf eindrückliche Weise klanglich schön, sie reflektiert darin aber auch die als Frage angelegte Aussage des lyrischen Textes. Dies dadurch, dass sie mit dem in Repetitionen übergehenden Sprung über das große Intervall einer Septe das Wort „and´re“ mit einer Akzentuierung versieht, das dann bei dem ebenso bedeutsamen Wort „treu“ in Gestalt von neuerlichen Repetitionen noch einmal wiederholt und schließlich, den Ansprache-Gestus betonend, bei „dir“ in eine lange Schlussdehnung übergeht.
Bemerkenswert hierbei ist, wie kunstvoll Clara Schumann dazu das Mittel der Harmonisierung nutzt. Bei der vierfachen, auf das Wort „treu“ ausgerichteten deklamatorischen Repetition geht die Harmonik, weil es da um viel Emotionalität geht, vom vorangehenden As-Dur zur Moll-Parallele f-Moll über, und bei dem Sekundfall-Schritt zur Dehnung auf „dir“ vollzieht sie gar die von der Grundtonart-Vorgabe her ungewöhnliche Rückung nach C-Dur. Viel stärker als im lyrischen Text erfährt das Du hier eine höchst eindringliche Ansprache.
Das Mittel, mit dem Clara Schumann diese Eindringlichkeit kompositorisch zu generieren vermag, ist die auf einen vorangehenden Anstieg der melodischen Linie folgende deklamatorische Tonrepetition. Die zweite, die Verse drei und vier der ersten Strophe beinhaltende Melodiezeile lässt das noch deutlicher vernehmen als das bei der ersten der Fall ist. Auf den Worten „glaube nicht“ liegt eine mit einem Crescendo versehene und in eine Dehnung mündende Tonrepetition auf der Ebene eines „Cis“ in oberer Mittellage, die bemerkenswerterweise in verminderte Es-Harmonik gebettet ist. Man würde hier eigentlich eine Dur-Harmonisierung erwarten, aber auch die Melodik auf den nachfolgenden Worten „als was dir sagen diese beiden Augen hier“ ist lange nicht in Dur, sondern im Tongeschlecht Moll (f-, und b-Moll) harmonisiert, mit einer kurzen Zwischenrückung nach F-Dur bei dem Wort „sagen“ allerdings. Erst bei den Worten „Augen hier“ geht die Harmonik zu einer Rückung von B-Dur nach Es-Dur über, diese Tonart „Es“ sogar in Gestalt eines vom Klavier angeschlagenen und lang gehaltenen arpeggierten Dominantseptakkords.
Die Gründe, weshalb Clara Schumann diese Melodiezeile in Moll-Harmonisierung einsetzen und erst am Ende in eine in Dur übergehen lässt, findet man in der lyrischen Aussage und der diese reflektierenden Melodik. Nach der anfänglichen dreischrittigen und erst einmal in einer Dehnung innehaltenden und das stark appellative „glaube nicht“ hervorhebenden Repetition geht die melodische Linie nach dem Sekundschritt auf „als was“ zur Entfaltung in permanent repetitiven deklamatorischen Schritten über, wobei die tonale Ebene eine Anhebung von „Cis“ nach „Dis“ erfährt, sich bei den Worten „beiden Augen“ aber mit einem Ritardando von „Dis“ nach „D“ absenkt, auf dass die melodische Linie von dort mittels eines Sekundschritts eine lange Dehnung auf der Ebene eines „Es“ beschreibt und am Ende einen Legato-Sturz über eine ganze Oktave vollzieht, den das Klavier, wie erwähnt, mit einem arpeggierten Es7-Akkord begleitet. -
„Warum willst du and're fragen“ (II)
Diese Liedmusik soll, so verstehe ich die Struktur und die Harmonisierung ihrer Melodik, die Haltung des lyrischen Ichs in ihrer Bipolarität zwischen liebevoller Zuneigung und appellativer Aufforderung dem lyrischen Du gegenüber zum Ausdruck bringen, wobei der Schluss mit seinem in eine lange Dehnung mündenden und in Dominantseptharmonik gebetteten melodischen Sekundschritt so etwas wie ein Zusammenkommen dieser zwei Komponenten in der Haltung des lyrischen Ichs darstellt.
Auch im zugehörigen Klaviersatz drückt sich das aus. Er folgt der Bewegung der melodischen Linie mit deklamatorisch synchronen mehrstimmigen Achtelakkorden und Terzen, dies aber auf in Diskant und Bass auseinander laufender Art und Weise, und erst bei den Worten „beiden Augen“ findet er da und dort im Verharren auf der tonalen Ebene zusammen. Es ist eine sich in eindrücklich schöner Einfachheit präsentierende, dem analytischen Blick aber in ihrem hochgradig artifiziellen Charakter offenbarende Liedmusik, was da man da vernimmt.
Und das setzt sich ja in dieser Weise fort. Auf den Worten der zweiten Strophe wiederholt sich die Liedmusik der ersten auf in Melodik und Klaviersatz identischer Weise. Mit einer kleinen Abweichung davon am Ende allerdings. Bei den Worten „sieh´ die Augen an“ beschreibt die melodische Linie zwar ebenfalls eine Tonrepetition auf der Ebene eines „Dis“ in hoher Lage, dies aber in anfänglich gedehnter Weise und, anders als in der ersten Strophe, auf der tonalen Ebene verbleibend und nicht nach zwei Schritten zur Ebene eines „D“ übergehend. Überdies vollzieht sie bei „Augen“ einen mit einem Sechzehntel-Melisma versehenen Fall mit nachfolgendem Sekundanstieg, endet dann aber wie am Ende der ersten Strophe in einer langen Dehnung auf der Ebene eines „Es“ in hoher Lage.
Ein viertaktiges Zwischenspiel folgt nach, in dem das Klavier im deklamatorischen Gestus der Singstimmen-Melodik mit der Oberstimme von bitonalen Akkorden im Diskant eine in einer Rückung von Des-, über Es- nach As-Dur harmonisierte, melodische Linie erklingen lässt, die eine Fallbewegung beschreibt und leicht wehmütig angehaucht anmutet. Auch bei der dritten Strophe verbleibt Clara Schumann beim Strophenlied-Wiederholungsprinzip, setzt aber wieder, wie schon in der zweiten Strophe, bei den Worten des letzten Verses die Variation ein, hier sogar auf tiefer greifende Weise. Und nicht nur das: Sie lässt sogar nach einem dreitaktigen Zwischenspiel die Worte der letzten beiden Verse noch einmal deklamieren, wobei die Melodik mitsamt ihrer Harmonisierung und dem zugehörigen Klaviersatz eine ganz und gar neue Gestalt annimmt.
Bis zu dem Wort „Aug´“ im letzten Vers sind Melodik, Harmonik und Klaviersatz mit jenen in der ersten und zweiten Strophe identisch. Bei dem in Rückerts Gedicht eine so zentrale Rolle spielenden Wort „Auge“ geht Clara Schumann, eben diesen lyrischen Sachverhalt berücksichtigend, wieder zur liedmusikalischen Variation über. Dieses Mal sogar auf expressivere Art und Weise. Die Dynamik wandelt sich vom bislang vorherrschenden Piano ins Forte. Überdies ist für den Vortrag von Melodik und Klaviersatz ein Ritardando mitsamt einem Crescendo vorgegeben.
Die melodische Linie beschreibt nun wie zuvor auch immer eine Tonrepetition auf der Ebene eines „Dis“, steigt aber bei „liebe“ um eine Sekunde zu einer Dehnung an, um danach auf diesem Wort in einen ausdrucksstarken Quintfall überzugehen, dem bei „dich“ ein noch expressiverer Sprung über eine Quinte zu einer langen Dehnung auf der Ebene eines „F“ in hoher Lage nachfolgt. Dem sprachlich klassischen Liebesbekenntnis ist, auch weil das Klavier jeden deklamatorischen Schritt mit vierstimmigen Akkorden begleitet und die Harmonik eine Rückung von Ges-Dur über As-Dur nach Des-Dur vollzieht, starker Ausdruck verliehen. -
„Warum willst du and're fragen“ (III)
Ein dreitaktiges Zwischenspiel folgt, bei dem das Klavier mit bitonalen Akkorden im Diskant die das Lied eröffnende melodische Schlüsselfigur auf den Worten „Warum willst du andre fragen“ erklingen lässt, bemerkenswerterweise nun aber in einer von Des- über Es- und As-Dur ins Tongeschlecht Moll (b-Moll) ausweichenden Harmonisierung. Und wie sich anschließend herausstellt, ist das ein Vorausklang dessen, was sich in der Liedmusik auf der Wiederholung der Worte des letzten Verspaares ereignet.
Es ist vielsagend, Claras Rezeption des Rückert-Gedichts betreffend.
Wieder arbeitet sie mit dem melodischen Mittel der Repetition, setzt sie aber, weil die Bewegungen der melodischen Linie in einem größeren Ambitus erfolgen und in geradezu kühnen Rückungen harmonisiert sind, auf deutlich ausdrucksstärkere Art und Weise ein. Nun liegt auf den Worten „was auch“ eine in Des-Dur gebettete deklamatorische Repetition auf der Ebene eine „F“ in hoher Lage, bei „meine Lippen“ geht die melodische Linie in einen Septfall über, um, nach einer kleinen Dehnung über einen Sekund- und einen Quartschritt, bei „Lippen“ erneut eine Repetition zu beschreiben, dies allerdings auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene und mit einer harmonischen Rückung von „Ges7“ nach b-Moll einhergehend. Von dort aus geht sie bei „sagen“ in einen Sekundfall über, bei dem die Harmonik eine Rückung von einem verminderten „Des“ nach As-Dur vollzieht.
Auf der Ebene des „C“ in oberer Mittellage verbleibt die melodische Linie nun in einer neuerlichen Repetition auf den Worten „sich mein“, geht dann bei „Aug´“ zu einem Terzsprung mit Dehnung über, um anschließend bei „ich liebe dich“ , ritardando und mit einem Crescendo verbunden, in einen schlichten, in eine Dehnung auf der tonalen Ebene eines „As“ in mittlerer Lage mündenden dreischrittigen, vom Klavier im Diskant mit Einzelachteln und einer Terz mitvollzogenen Sekundfall überzugehen, wobei die Harmonik, von dem Des-Dur auf „Aug´“ kommend, eine ebenso schlichte Kadenzrückung von der Dominante zur Tonika vollzieht.
Das ist tief anrührende musikalische Lyrik, und dies deshalb, weil sie sich in ihrer melodisch-strukturellen und harmonischen Einfachheit zu der lyrischen Banalität bekennt, in der Rückert sein Gedicht enden lässt.
Denn das geschieht auf eine in ihrer poetischen Raffinesse durchaus typische Weise. Die sprachlich unendlich abgegriffene, zur Redewendung verkommene Formel „ich liebe dich“ folgt, darin kontrastiv, auf Verse mit einer auf Fragebasis sich entfaltenden kognitiv und metaphorisch hochkomplexen lyrischen Aussage. Und sie wirkt deshalb - wie auch die Musik von Clara Schumann - an dieser Stelle wie neugeboren und überzeugend.
Das fünftaktige Nachspiel, das das zentrale melodische Motiv noch einmal aufklingen und im Diskant in einen Ritardando-Fall von Staccato-Sexten übergehen lässt, um in einen vierstimmig fermatierten As-Dur-Schlussakkord zu münden, mutet wie eine sanfte Bekräftigung dieser Schluss-Aussage des Liedes an. -
„So wahr die Sonne scheinet“, op.37, Nr.12
So wahr die Sonne scheinet,
So wahr die Wolke weinet,
So wahr die Flamme sprüht,
So wahr der Frühling blüht;
So wahr hab' ich empfunden,
Wie ich dich halt' umwunden:
Du liebst mich, wie ich dich,
Dich lieb' ich, wie du mich.
Die Sonne mag verscheinen,
Die Wolke nicht mehr weinen,
Die Flamme mag versprühn,
Der Frühling nicht mehr blühn!
Wir wollen uns umwinden
Und immer so empfinden;
Du liebst mich, wie ich dich,
Dich lieb' ich, wie du mich.
Dreifüßige Jamben, Paarreim mit Wechsel von klingender und stumpfer Kadenz, in sprachlich konstatierendem Gestus auftretende und komparativ eingesetzte Allerweltsmetaphorik, mündend in das zweimal gleiche Liebesbekenntnis nach dem Muster „wie du mich so ich dich“, - das ist Lyrik nach dem Motto: Schlicht und einfach, aber gut gemacht.
Gut gemacht ist die viermalige syntaktisch gleich angelegte Aufeinanderfolge von Versen, die eben dadurch der in der zweiten Vierer-Versgruppe sich ereignenden Aussage des lyrischen Ichs besondere Überzeugungskraft und Gültigkeit verleiht. Dies vor allem auch deshalb, weil in der zweiten Strophe die syntaktische Repetition mit einer Negation der Aussage der gleichen lyrischen Bilder verbunden ist, so dass das Liebesbekenntnis des lyrischen Ichs nun durch das ihm inhärente „Dennoch“ eine Steigerung erfährt.
Wieder kann man auf die sich mit Verwunderung einstellende Frage, weshalb Schumann zu einem solchen Rückert-Machwerk gegriffen haben mag, nur die immer gleiche Antwort vermuten:
Es lieferte halt eben eine geradezu hervorragende lyrische Grundlage für den mit diesem Liederkreis op.37 intendierten liedmusikalischen Lobpreis der „Gattenliebe“. Warum dann aber ein Duett daraus hervorging, das in seiner liedkompositorischen Faktur eine für einen Robert Schumann höchst verwunderliche, geradezu verblüffende Simplizität aufweist, dafür habe ich keinerlei Erklärung.
Dietrich Fischer-Dieskau scheint sich auch gewundert zu haben. So lese ich seinen Kurz-Kommentar, dass das „sehr populär“ gewordene „Schlußstück“ wieder „den Eindruck entstehen“ lasse, „Schumann sei hier bescheiden zurückgetreten, um Clara den Vortritt zu lassen.“
Als Erklärungsversuch ist das für mich nicht schlüssig. Es ist ja Schumanns Komposition, sie ist nicht als Gemeinschaftswerk ausgewiesen. Und überdies: Fischer-Dieskau scheint von der liedkompositorischen Kompetenz einer Clara Schumann ein nicht so ganz überzeugt zu sein. Dabei lassen doch mindestens zwei von ihren Beiträgen zu diesem Opus 37 erkennen - so meine ich jedenfalls -, dass sie sehr wohl zur Komposition ausdrucksstarker und in ihrer Faktur stimmiger Lieder in der Lage war. -
„So wahr die Sonne scheinet“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
„Einfach“ lautet die Vortragsanweisung für diese Liedmusik, und das kann ja auch gar nicht anders sein, angesichts der Einfachheit ihrer kompositorischen Faktur. Aber immerhin lässt sich aus dieser die gesangliche Interpretation betreffenden Vorgabe herleiten, dass diese Faktur kein aus der Prosodie und der Semantik des lyrischen Textes gleichsam automatisch ergebender, sondern ein von Schumann bewusst so gewollter und geschaffener Sachverhalt ist. Und überdies: Der analytische Blick in den Notentext führt zu der Erkenntnis, dass es mit dem Urteil „Einfachheit“ so einfach nicht ist.
In vordergründiger Betrachtung ergibt es sich aus der Tatsache, dass die Liedmusik nur ein einziges melodisches Thema aufweist: Es präsentiert sich auf den Worten der ersten vier Verse und besteht seinerseits aus der Repetition der deklamatorischen Schritte auf den Worten „So wahr die Sonne scheinet“. Diese wiederum stellen in ihrer Struktur zwar ein in der Tat einfaches melodisches Thema dar, aber eben darin zugleich höchst eingängiges. Und die Beliebtheit, auf die dieses Duett in inder Nachwelt bis heute stieß, hat letzten Endes darin seine Wurzel.
Von großer Bedeutung für das Urteil über die liedkompositorische Qualität aber ist:
Die Repetition erfolgt in Gestalt der Variation der deklamatorischen Grundstruktur, und die mehrfache Wiederholung, die sich anschließend auf den Vierer-Versgruppen bis zum Ende der Liedmusik ereignet, erweist sich dem analytischen Blick als eine kompositorisch komplexe und höchst kunstvolle. Dies auch deshalb, weil sie mit einer Vertauschung der melodischen Führungsrolle von Sopran und Bariton (bzw. Tenor, wie es im Notentext heißt) einhergeht.
Das gilt es nun im Einzelnen aufzuzeigen, wobei sich eine schwierige Anforderung daraus ergibt, die Melodik der beiden Stimmen und ihr Zusammenspiel in angemessener Weise zu erfassen. Das kann nur in der Beschränkung auf die für die musikalische Aussage relevanten Stellen geschehen.
Auf den Worten „So wahr die Sonne scheinet“ geht die melodische Linie, in Es-Dur harmonisiert und vom Sopran vorgetragen, nach einer auftaktig eingelegten und auf „wahr“ gedehnten dreischrittigen Tonrepetition auf der Ebene eines „Es“ in tiefer Lage nach einem Sekundfall in einen dreischrittigen Sekundanstieg über und beschreibt anschließend bei „scheinet“ einen gedehnten Terzfall, wobei die Harmonik eine Rückung zur Dominante B-Dur vollzieht. Auf den Worten „So wahr die Wolke weinet“ liegt dann exakt die gleiche Melodik, allerdings nun auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene und in B-Dur mit Rückung nach Es-Dur harmonisiert. Das Klavier begleitet, und diesen Gestus behält es durchgehend und ohne Abweichung davon bis zum Ende bei, mit den deklamatorischen Schritten synchron zugeordneten mehrstimmigen Akkorden, die als solche und mit ihrer Oberstimme der Bewegung der melodischen Linie folgen.
Das ist nun in der Tat ein bemerkenswert einfacher und in der funktionalen Reduktion des Klaviers auf reine Begleitung für Schumann ungewöhnlicher liedmusikalischer Satz. Und das gilt auch für das Verhältnis der Melodik von Sopran und Bariton im Duett: Die deklamatorischen Schritte erfolgen ohne Ausnahme synchron und die Abweichungen der melodischen Linie von der Identität beschränken sich in der ersten Strophe auf die Terz. Erst in der zweiten werden die Intervalle größer, entfalten die melodischen Linien eine etwas größere Eigenständigkeit. Und auch beim Klavier ist das der Fall. Vor der Wiederholung der Worte „Du liebst mich, wie ich dich“ darf es ein eineinhalbtaktiges Zwischenspiel erklingen lassen. Aber dabei darf es nicht aus seinen funktionalen Fesseln ausbrechen: Es wiederholt in Gestalt einer Akkordfolge die gerade erklungene Melodik auf den Worten „du liebst mich wie ich dich“.
Bei den Worten „so wahr die Flamme sprüht“ geht die melodische Linie zwar zu einer neuen Bewegung über, und das ist auch bei den Worten „So wahr der Frühling blüht“ der Fall. Es ist zunächst ein auf der tonalen Ebene eines „B“ in mittlerer Lage verbleibendes und weiterhin im partiell repetitiven Gestus verbleibendes Auf und Ab und eine sich anschließende, aus einer neuerlichen Repetition hervorgehende, eine kleine Dehnung auf „wahr“ aufweisende Fallbewegung in Sekundschritten, wobei die Es-Dur-Harmonik bei „Flamme“ eine kurze Zwischenrückung zur Subdominante As-Dur vollzieht. Aber in beiden Fällen mutet das nicht wie eine in ihrer Aussage eigenständige an, eher wie eine Fortsetzung der melodischen Grundfigur im Sinne eines kurzen Innehaltens und eines nachfolgenden Ausklingens. Dies zwar in Gestalt einer Ende suggerierenden Dehnung, aber einer, bei der die melodische Linie des Baritons zwar in das Intervall einer Quinte absinkt und diese Suggestion damit verstärkt, die aber in der Dominante B-Dur harmonisiert ist und sich darin für eine Fortsetzung der Melodik öffnet. Und prompt erfolgt diese in Gestalt eines Wieder-Erklingens der melodischen Grundfigur, nun auf einer um eine weitere Sekunde angehobenen tonalen Ebene. -
„So wahr die Sonne scheinet“ (II)
Auf den Worten „So wahr hab' ich empfunden, / Wie ich dich halt' umwunden“ liegt die gleiche Liedmusik wie auf den ersten beiden Versen, das heißt, dass nicht nur Klaviersatz und Harmonik, sondern auch die Melodik von Sopran und Bariton identisch sind. Beim letzten Verspaar nimmt die Melodik dann aber eine neue Gestalt an, und das ist ja auch zu erwarten, ereignet sich hier doch das, worauf die Aussagen aller vorangehenden Verse zulaufen: Das Liebesbekenntnis. Und die Folge ist, dass nun erstmals Sopran- und Bariton-Melodik in ihrer Entfaltung Eigenständigkeit aufweisen. Sie bewegen sich nicht in parallelen, sondern in partiell gegenläufigen Linien. Bei den Worten „Du liebst mich, wie ich dich“ ist das besonders stark ausgeprägt und verleiht dem lyrischen Bekenntnis besondere Aussagekraft. Die führende Sopran-Melodik beschreibt aus einer dreimaligen, partiell gedehnten Tonrepetition einen dreischrittigen Sekundanstieg, um bei „dich“ auf der Ebene eines „C“ in hoher Lage in eine Dehnung überzugehen.
Die Bariton-Melodik setzt - und das ist bemerkenswert - auf einer um eine Sexte höher liegenden tonalen Ebene an (einem hohen „Es“), vollzieht nur eine zweimalige Repetition, um dann eine Fallbewegung in Sekundschritten zu beschreiben, wovon der erste ein verminderter ist. Und da die Dehnung am Ende nicht auf der zu erwartenden Ebene eines „As“, sondern eines „A“ stattfindet, ergeben sich zusammen mit der Sopran-Melodik zwei Mal klanglich reizvolle bitonale Akkorde: Bei der kleinen Dehnung auf „mich“ eine verminderte Quinte und bei der langen (halbe Note) Dehnung auf „dich“ am Ende eine verminderte Terz. Das entspricht der Harmonisierung dieser kleinen Melodiezeile, denn diese vollzieht anfänglich eine Rückung von der Dominante zur Tonika As-Dur und geht am Ende, bei eben dieser verminderten Terz in der Melodik auf ausdrucksstarke Weise in die Dominantseptversion der Tonart „F“ über.
Auch bei den Worten des Schlussverses der ersten Strophe, bei „Dich lieb' ich, wie du mich“ also, gibt es noch diese Eigenständigkeit beider Melodiken, sie ist aber, dem Kadenz-Gestus geschuldet, weniger ausgeprägt. Die Sopran-Melodik beschreibt eine reizvolle Bogenbewegung, einsetzend mit einer langen Dehnung auf „dich“ und einer leicht gedehnten Repetition auf „lieb“. Und dann setzt die sich bis zur Ebene eines „C“ in hoher Lage aufschwingende Bogenbewegung ein, die klanglich deshalb so reizvoll ist, weil sie auf der Ebene eines „G“ in mittlerer Lage endende Abwärtsbewegung mit einem Achtel-Legato-Sekundfall auf dem Wort „du“ einsetzt. Die Baritonstimme beginnt mit einer Dehnung auf der Terz zur Sopranstimme, geht aber statt wie diese dort eine Repetition zu beschreiben, in einen verminderten Sekundfall über, woraus sich wieder eine klanglich reizvolle Terz ergibt. Statt des Sekundanstiegs auf „ich wie“ in der Sopran-Melodik vollzieht sie einen Sekundfall, die Fallbewegung in Gestalt eines Legato-Sekund- und des Terzfalls auf „du mich“ begleitet sie aber im Terzintervall. Die Harmonik vollzieht hier eine schlichte Kadenzrückung von der Dominante zur Tonika.
In der zweiten Strophe wird es im liedmusikalischen Satz ein wenig komplexer, dies aber gar nicht in der Grundstruktur der Melodik, denn diese entfaltet sich weiterhin im deklamatorischen Gestus, wie er durch die erste Melodiezeile auf den Worten „So wahr die Sonne scheinet“ vorgegeben ist. Die gesteigerte Komplexität ergibt sich aus der Art und Weise, wie sich die Melodik aus dem Zusammenspiel von Sopran- und Baritonstimme generiert. Denn diese bewegen sich zwar weiterhin in deklamatorischer Synchronität, sie tun das aber, wie sich das am Ende der ersten Strophe ja schon andeutete, nun in Gestalt eigenständiger melodischer Linien. Die Führung übernimmt nun die Bariton-Stimme. Auf den Worten „Die Sonne mag verscheinen“ / Die Wolke nicht mehr weinen“ liegt, von ihr vorgetragen, die Melodik der beiden Eingangsverse, nun aber auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene und in B-Dur mit Rückung zur Dominante harmonisiert.
Die Sopranstimme verharrt aber in permanenter, nur auf der zweiten Silbe von „scheinen“ zu einem kurzen Zwischen-Terzsprung davon sich erhebend, Repetition auf der Ebene eines „F“ in tiefer Lage und beschreibt erst auf der zweiten Silbe von „weinen“ einen Quartsprung, der zusammen mit dem Terzfall der Bariton-Melodik an dieser Stelle eine klangliche Terz hervorbringt. Das Klavier begleitet wie immer mit deklamatorisch synchronen Akkorden, bei denen nun die Unterstimme der Bewegung der melodischen Linie des Baritons folgt. Das alles bringt, darin den affektiven Gehalt der lyrischen Bilder reflektierend, einen leichten, durchaus reizvollen dunklen Unterton in die Liedmusik.
Auf den Worten „Die Flamme mag versprühn, / Der Frühling nicht mehr blühn“ beschreibt die melodische Linie eine, als Figur nun neue, Bewegung, bei der sich nach anfänglichem Gleichklang in Gestalt von Repetitionen im Intervall einer Quarte bei den Worten „Nicht mehr blühn“ ein ausdrucksstarkes Auseinanderlaufen von Sopran- und Baritonmelodik ereignet. Dies beschreibt einen Fall in drei Schritten über das große Intervall einer Oktave, der auf der Ebene eines tiefen „B“ endet, jene aber steigt von der Ebene eines tiefen „Es“ in drei deklamatorischen Terzschritten zu der eines „B“ in Mittellage auf, kommt also am Ende, nur durch ein Oktavintervall getrennt, mit der Baritonstimme zusammen. Den affektiven Gehalt des „Nicht mehr Blühens“ bringt die Harmonik dadurch zum Ausdruck, dass sie an dieser Stelle aus dem B-Dur zu einer Zwischenrückung nach es-Moll übergeht. Aber die lange, diese Melodiezeile beendende Dehnung auf dem Wort „blühn“ begleitet das Klavier mit einem ebenso lang gehaltenen sechsstimmigen B-Dur-Akkord. -
„So wahr die Sonne scheinet“ (III)
Nun aber, mit den letzten vier Versen, kommt die lyrische Aussage zu ihrem die Gemeinsamkeit der Liebe auf sprachlich voluntaristische Weise bekräftigten Kern. Die Liedmusik reflektiert diesen lyrischen Einschnitt durch den erstmaligen Eintritt einer Pause im Wert eines Viertels in die Melodik. Zwar entfaltet diese sich nun zwar erneut in den deklamatorischen Figuren, wie sie gleichsam programmatisch mit den ersten beiden lyrischen Versen vorgegeben sind, dabei ereignet sich aber eine zwar kleine, aber höchst bedeutsame Variation. Auf den Worten „Wir wollen uns umwinden“ ist die melodische Linie in der Version des Soprans, der nun wieder die Führung übernommen hat, identisch mit der auf den Worten des ersten Verses der ersten Strophe, aber nicht ganz bis zum Schluss. Auf der letzten Silbe von „umwinden“ geht sie nicht, wie dort bei „scheinet“, von dem gedehnten „As“ in einen Terzfall über, sie bleibt auf dieser tonalen Ebene.
Und bei den nachfolgenden Worten „Und immer so empfinden“ ereignet sich das Gleiche. Die melodische Linie entfaltet sich, nun aber auf einer um einen Halbton in der tonalen Ebene abgesenkten Form und deshalb in F7-Harmonik gebettet, in deklamatorisch gleicher Weise wie auf den Worten des zweiten Verses, bei der letzten Silbe von „empfinden“ geht sie dann aber nicht, wie bei „weinet“ wieder in einen Terzfall über, vielmehrt verharrt sie in Gestalt einer Repetition auf der eingenommenen tonalen Ebene eines „B“ in mittlerer Lage, wobei die Harmonik vom vorangehenden Dominantsept-F nach B-Dur rückt. Diese beiden kleinen Variationen in der Melodik, das Verbleiben auf der tonalen Ebene statt eines Falls, sind wohl so zu verstehen, dass die Binnenspannung in ihrer melodischen Aussage, dem wechselseitigen Liebesbekenntnis, erhalten bleiben soll.
Die Worte „Du liebst mich, wie ich dich, / Dich lieb' ich, wie du mich“ erklingen in der gleichen Liedmusik, wie sie das schon am Ende der ersten taten, einschließlich des Zusammenspiels von Sopran- und Baritonmelodik. Es folgt das einzige Zwischenspiel in dieser bis auf eine kleine Viertelpause ohne Unterbrechung fließend sich entfaltenden Melodik. In sich in den Intervallen erweiternden sechsstimmigen Staccato-Akkorden lässt das Klavier die gerade verklungene Melodik auf den Worten „ich lieb dich wie du mich“ noch einmal erklingen. Aber für Schumann ist - und da macht sich wieder einmal die personale Komponente in diesem um die eheliche Liebe kreisenden Opus 37 bemerkbar - der Aspekt der Gegenseitigkeit von Liebe von großer Bedeutung.
Und so lässt er denn, den Duett-Charakter dieses Liedes markant hervorhebend, die beiden Schlussverse noch einmal deklamieren, nun aber nicht hintereinander, sondern parallel, und dies auf der Melodik wie sie in beiden Strophen für beide Stimmen auf den Worten „dich lieb ich wie du mich“ liegt. Um dieser melodischen Aussage nun aber verstärkten Ausdruck zu verleihen, lässt er die melodische Linie mit einem zur Sechsstimmigkeit vergrößerten Klaviersatz begleiten und gegen Ende in ein Ritardando übergehen.
Und weil nun wirklich alles gesagt ist, braucht es - auch das ungewöhnlich für einen Robert Schumann - kein Nachspiel mehr. Ein Ausklingen in Gestalt eines sich aufbauenden vierstimmigen Es-Dur-Schlussakkords im Wert einer halben Note reicht hin. -
Zum Schluss
Dieser „Liebesfrühling“ nach Rückert stellt, was die für Schumann charakteristische und ihn im Umgang mit dem lyrischen Text liedkompositorisch auszeichnende Liedmusik anbelangt, kein herausragendes Opus dar.
Was diesem eine besondere liedhistorische Bedeutsamkeit verleiht, ist seine männliche und weibliche Verfasserschaft, was sowohl in der Aufeinanderfolge der einzelnen Lieder in ihrem Gehalt, in Gestalt des Übergangs zum Duett, wie auch im lyrischen Ich eine überaus reizvolle und vielsagend vagierende Zweigeschlechtlichkeit zur Folge hat.
Der Musikologe Rufus Hallmark hat das in einer Studie zu diesem Opus (Köln 1994) mit den Worten zum Ausdruck gebracht:
„Eine komplette Aufführung der zwölf Lieder als >Dialog< gibt diesem Werk eine neue Identität, die es stärker wirken läßt als bloß einen weiteren Liederzyklus wie die des Liederjahres und es von den anderen, berühmteren Solo-Zyklen abhebt. Es stellt die >Zwölf Lieder< neben die anderen, späteren Zyklen für mehrere Stimmen: >Spanisches Liederspiel< (op.4), >Minnespiel< (op.101) und >Spanische Liebenslieder< (op.138). Es rückt die Erfindung dieser Art von Liederzyklus von 1849 zurück ins Jahr 1841.“ -
Lieber Helmut Hofmann,
das war mal wieder ein Bündel von Beiträgen mit denen Du keine »Klick-Rekorde« einfahren wirst; das ist eben so ... Da gibt es ja nichts zum Diskutieren oder gar zum Streiten.
Als Leser sollte man sich aber dafür bedanken, was hiermit von meiner Seite aus geschieht.
Sieht schon etwas komisch aus, wenn sich da jemand eine Mordsarbeit macht und dann keinerlei Feedback kommt ...»... das durchaus den Rand zum poetischen Kitsch streifende Bild des Weinens einer ins Meer sich senkenden Träne.«
Das Zitat stammt aus dem Beitrag # 2
Jenseits aller liedanalytischen Betrachtungen schätze ich dieses Lied nun schon seit Jahrzehnten - ganz einfach weil es ansprechend, weil es - nach meinem Empfinden - schön ist. Da freut man sich, wenn es auf dem Konzertprogramm steht. Sicher gibt es eindeutigen Kitsch, aber wenn man ihn nur am Rande ahnt, begibt man sich immer auf dünnes Eis ...
Nochmals herzlichen Dank für den relativ unbekannten Schumann nebst Gattin.
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Deine Anmerkungen und Stellungnahmen zu meinen Lied-Threads sind für mich immer von großer Bedeutung, lieber hart. Du bist halt, tiefer reichend, als das bei mir der Fall ist, ein großer Kenner und Liebhaber des Kunstliedes.
Wenn Du, das Lied „Der Himmel hat eine Träne geweint“ betreffend, anmerkst "Jenseits aller liedanalytischen Betrachtungen schätze ich dieses Lied nun schon seit Jahrzehnten - ganz einfach weil es ansprechend, weil es - nach meinem Empfinden - schön ist", so stimme ich Dir voll und ganz zu. Auch ich schätze und liebe dieses Lied sehr.
Was das Wort "Kitsch" anbelangt, so bezogen sich meine Ausfrührungen ja nicht auf Schumanns Liedmusik, sondern auf Rückerts Gedicht, und ich habe das auch nicht als lyrischen Kitsch bezeichnet, vielmehr kam ich bei meiner diesbezüglichen Reflexion zu dem Ergebnis:
"Das zugrundeliegende lyrische Bild ist in seinem Charakter wesenhaft einfach, wird aber auf höchst kunstvolle Weise poetisch entfaltet. Und so ist das auch in Schumanns Vertonung der Fall."
Dass ich mit dem, was ich hier im Liedforum tue und treibe, keine "Klick-Rekorde" einfahre, wie Du das nennst, tangiert mich inzwischen nicht mehr. Wenn ein paar am Kunstlied wirklich Interessierte das lesen und ein wenig Nutzen davon haben, hat die Sache für mich schon ihren Sinn.
Und wenn ich gar noch einen Dank dafür erhalte, wie es hier durch Dich geschah, bin ich sogar beglückt.