Manuel de Falla (1876-1946):
ATLÁNTIDA
(Atlantis)
Oratorium in einem Prolog
und drei Teilen für Soli, zwei Chöre und Orchester
Libretto
von Joseph Maria de Sagarra
(nach einem unvollendeten Gedicht
von Jacint Verdaguer i Santaló)
Aufführungsreif
komplettiert von Ernesto Halffter.
Originalsprache: Katalanisch.
Uraufführung (konzertant) am 24. November 1961 in Barcelona, szenisch am 18. Juni 1962 in der Mailänder Scala.
Besetzung:
Isabella,
Königin von Spanien (Sopran)
Königin
Pirene (Mezzosopran)
Herakles (stumme Rolle)
Erzengel
(Tenor)
Ein Knabe (Kinderstimme)
Eine Hofdame (Sopran)
Ein
Riese (Bariton)
Ein Page (Sopran)
Christoph Columbus
(stumme Rolle)
Die sieben Plejaden:
Maia,
Arethusa, Caleno, Eritheia, Elektra, Hesperethusa, Alkyone (3
Soprane, 3 Mezzo, 1 Alt)
Geryon:
ein dreiköpfiger Drache (2 Tenöre, 1 Bass)
Ort und Zeit:
Spanien zu Ende des 15. Jahrhunderts und Atlantis in legendärer
Zeit.
Prolog.
Das
Publikum erfährt durch den Testo (Erzähler) von einem halb
versunkenen Schiff im aufgewühlten Meer. Es wird aber auch über das
versunkene Atlantis informiert. Der Chor erzählt von Vorkommnissen,
die lange zurückliegen: Titanen kämpften einst um dieses und jenes;
junge Mädchen sangen die schönsten Lieder und viele Vögel
schwebten flötend durch die Luft. Es war ein Idyll, während man
heute nur noch Wasser sieht und das frühere Grün verschwunden ist
und von Algen übernommen wurde. Den Zuhörern erzählt man von
furchtbarem Donnergetöse und dem Untergang von Atlantis.
Erster
Teil.
Der
Chor
wendet sich an das Publikum und berichtet von den Heldentaten des
Herakles: von Kämpfen mit seiner Keule, von Streitereien mit den
furchtbaren Giganten, die selbst den Göttern die Nerven raubten.
Dabei ging es heftig her: die Wälder brannten – eine
Riesenschlange aus Feuer schiebt sie sich durch Spaniens Norden und
erreicht das Meer, verbrannte Erde hinter sich lassend. Und die
wilden Pyrenäen kommen aus der Tiefe nach oben geschossen.
Herakles muss aufpassen, denn die Giganten versuchen, ihn, den Sohn von Zeus und Alkmene, zu töten – doch er greift zur Keule und macht den Giganten den Garaus. Bisher hat das Publikum diesen Halbgott noch nicht zu Gesicht bekommen, aber nun kommt er durch das Flammenmeer gelaufen, weil er Jammern und Weinen gehört hat. Er findet ein weibliches Wesen – Pirene, eine Najade und Königin, die unter Schock steht, und jetzt von Herakles aus den Flammen gerettet wird. Wird sie überleben?
Pirene will ihr Erbe regeln. Was es da zu regeln geben soll, ist einigermaßen unklar, denn Krone und Zepter ihres Vaters Tubal sind in unwürdige Hände gelangt: als er gestürzt wurde hat sich die Sonne aus Gram versteckt, und das dreiköpfige Scheusal Geryon nahm alles an sich und überzog die Erde mit Feuer. Er hat sich nach Gades, heute Cadix, zurückgezogen. Kurz: Königin Pirenes Erbe ist unter diesen Gegebenheiten wohl nur eine Schimäre.
Herakles steht vor einer großen Aufgabe: das Geraubte muss er Geryon wieder entreißen und darf dafür, so will es Pirene, Krone und Zepter Spaniens behalten. Bevor sie ihr Leben aushaucht, spricht sie die Hoffnung aus, dass die Götter ihm Schutz geben und mit reicher Nachkommenschaft segnen werden. Der Held weint und der Chor besingt die Situation mit den Worten, dass der Tod Pirene küsste und sie dadurch versteinerte.
Zunächst ist aber nicht Geryon das Ziel von Herakles; erst baut er nämlich für Pirene ein wunderschönes Mausoleum und – einmal im Schaffensrausch – gründet er Barcelona. Die Stadt ist momentan sein edelstes Kind, eine Tat, die auch den Göttern gefällt, und die Herakles in schönstem Licht erstrahlen lässt. Zeus und Poseidon beschließen sogar, dass er sich bei Bedarf Dreizack und Blitz ausleihen kann.
Nun ist aber Geryon an der Reihe. Der selbstbewusste Held steigt von seiner Heimstatt Montjuich herab und segelt mit dem Schiff nach Gades. Dort schwingt Herakles seine Keule drohend über Geryons Kopf, was den schon winseln und um Gnade bitten lässt. Krone und Reich überlässt das Monstrum gegen sein Weiterleben gerne Herakles. Und er gibt ihm noch den Hinweis auf Atlantis, das gut zu seinem Portfolio passen würde. Dessen König Atlas ist tot; wenn er jedoch dessen Nachfolge antreten will, muss er einem Orangenbaum eine der köstlichen Früchte abringen. Das aber muss wohl schwierig sein, denn Geryon spricht ein merkwürdiges Ereignis an: der Sonnenwagen wird bei Gelingen anhalten, um des Herakles’ Erfolg zu bewundern. Es folgt der „Gesang für Atlantis“ und danach fällt der Vorhang.
Zweiter
Teil.
Blumen
und Bäume lassen ihre spezifischen Düfte in die Luft ab. Herakles
hat schnell den Garten gefunden, in dem der Orangenbaum steht. Man
sagt, dass „Kraft“ nicht unbedingt mit „Geist“ gepaart ist,
aber es wäre falsch, dem Helden Dummheit zu unterstellen, denn woher
sollte er wissen, dass Geryon ihm eine fiese Falle gestellt hat? Hier
muss man erläuternd anmerken, dass Erdmutter Gäa jenen Baum zur
Hochzeit von Zeus und Hera gepflanzt hat. Und dass seine Früchte die
Eigenschaft haben, den Göttern ewige Jugend zu verleihen, weshalb er
den Olympiern auch besonders wertvoll ist. Aber die Götter kennen
die Menschen und haben den Drachen Ladon als Bewacher gegen Diebe
davor gesetzt. Dass momentan auch noch Nymphen den Baum umtanzen, hat
im Grunde genommen nur die Bewandtnis, dass Ladon eine Art von
Zeitvertreib geboten wird. Der Tanz der Leichtgeschürzten wird ihm
wohl auch gefallen. Übrigens sind seit Jahrhunderten keine Diebe
mehr zum Baum gekommen. Die Mädchen nennen sich Hesperiden und sind
Töchter von König Atlas. Die Mutter ist nicht klar definiert:
Hesiod behauptet, es sei Nyx, die Göttin der Nacht, andere nennen
Hesperis, die weibliche des Abendsterns, später Venus. Letztere
Version scheint einleuchtender zu sein, weil sie halt die
Namensgeberin der Hübschen ist. König Atlas hält sich vornehm
zurück, so nach der Devise, dass des Sängers Höflichkeit
schweigt...
Zurück zu Herakles und seinem Plan, für das Königreich Atlantis eine Orange vom Baum zu holen. Die schönen Früchte erfreuen das Herz der Hesperiden! Süße Orangen, Früchte der Liebe! Die Schwestern haben nichts anderes im Kopf als Liebe. Und der Mann, der da den Garten betritt, groß und breitschultrig, lässt ihre Herzen höher schlagen. Auch das Herz des Drachen schlägt höher, als er endlich mal wieder Arbeit kommen sieht. Er macht sich bereit.
Herakles steigt schnell den Orangenbaum empor – der Zuhörer weiß nicht einzuschätzen, ob aus Angst vor dem Drachen oder, weil er es nicht erwarten kann, die Orange zu erhaschen. Jedenfalls kommt er nicht weit, denn der Baumwächter vereitelt seinen Plan: Er umklammert den Baum mit seinem Schweif und schüttelt ihn so heftig, dass Herakles herunterfällt. Aber durch die rabiate Vorgehensweise spaltet sich der Baum. Herakles ist wachsam, schnappt sich ein starkes Stück vom Geäst und schlägt dem Drachen mit voller Wucht auf den Schädel – der Drache krepiert und stößt im Todeskampf giftigen Geifer aus.
Die Hesperiden haben das Geschehen verfolgt. Weil sie ihre Situation als verloren einstufen, steigen sie zum Himmel auf und verwandeln sich in Sterne. Hier bleiben sie für alle Ewigkeit stehen, während ihre Körper auf der Erde verwesen.
Herakles ist auf dem Rückweg nach Gades; als er die zyklopischen Mauern erkennen kann, rastet er im Schatten von Palmen. Vom Orangenbaum hat er einen Ableger dabei und pflanzt ihn hier in den Boden. Seine Hoffnung, dass dereinst Smaragde aus den Zweigen wachsen, macht der Chor zunichte. Geryon weint, erfährt der Zuhörer, wenn er an seinen erschlagenen Verwandten denkt. Er hofft auf ein Erdbeben, welches die Schmach tilgen und die Erinnerung auslöschen soll.
Der Chor hat die Aufgabe, göttliches zu verkünden: es wird zu viel gesündigt, was den Herrn des Himmels gekränkt hat. Atlantis wird verschwinden und Spaniens Söhne werden sich von nun an der Liebe des Herrn erfreuen.
Der Chor schildert gerade einen welterschütternden Vorgang: Die Keule des Herakles fährt herab und schlägt unaufhaltsam auf die Erde. Atlantis bebt vor Schrecken und die Türme, die sich in die Höhe reckten, liegen nun auf dem Meeresboden. Und auch Geryon hat sein Leben nach einem Schlag des Herakles ausgehaucht.
Dritter
Teil.
Königin
Isabella von Spanien hält in ihrer Hand eine Decke, auf der die
Provinzen ihres Reiches abgebildet sind. Sie verfolgt gerade mit
ihren Blicken eine unverschämte Möwe, die ihr einen Ring stibitzt
hat, dann ins Meer fallen ließ, was zu riesigen Wellen führte. Was
hat das zu bedeuten?
Eine Hofdame berichtet, dass Isabella nächtens einen Traum hatte, die das reale Erlebnis des Tages wiedergibt: Frühmorgens hörte sie einen Lobgesang und beobachtete eine Nachtigall, die singend durch die Äste sprang und den schönen Morgen pries. Ihre Stimme war unbeschreiblich süß, und sie ließ es zu, dass der Vogel ihr einen Ring entwendete, den Mauren geschaffen hatten. Es war das Brautgeschenk ihres Fernandos. In des Weltmeers weite Wellen warf der Vogel diesen Ring, worauf Sylphiden und Undinen nach ihm schnappten.
Isabella wacht auf und dankt Gott für diesen Traum. Den Sinn hat sie erfasst und umgehend eine Weisung an Christoph Columbus herausgegeben: Geht und sucht mir jenes Indien, nach dem das Herz so sehr verlangt. Die Hofdamen sind jedoch entsetzt. Von allem Gold und allem Geschmeide entblößt sich Isabella, damit diese Reise in das Unbekannte stattfinden kann. Die Sonne strömt in die Kammer und in den Sälen erstrahlt überirdisches Licht. Man könnte meinen, man sei im Paradies. Kolumbus sticht mit seinen Gefährten in See und die Heilige Jungfrau ist mit ihnen. Meeresvögel durchfliegen den sternenbedeckten klaren Himmel. Vom höchsten Punkt des Oberdecks beobachtet Kolumbus Himmel und Meer. Im Dunkel der Nacht wacht Christoph einsam in brennender Erwartung…
Anmerkung.
Die
Ereignisse, die in diesem Oratorium geschildert werden, verständlich
nachzuerzählen, ist etwas schwierig. Einige sind zwar aus den
Götter- und Heldensagen bekannt, weil aber die Autoren Sagarra
(Text) und de Falla (Musik) das Geschehen in die spanische Heimat
versetzt haben, sind Besonderheiten unausweichlich. Man muss außerdem
wissen, dass Manuel de Falla auch nach achtzehnjähriger
Beschäftigung mit dem Sujet das Opus nicht vollendet hat; daher
darf
man fragen,
ob er mit dem Inhalt nicht klar kam oder
ob
ihm die musikalische Inspiration ausging oder die Lust an der
Vollendung seiner
Komposition verloren
gegangen war? Der Komponist hat sich dazu weder mündlich noch
schriftlich geäußert – wenn ich es richtig recherchiert habe.
Ernesto Halffter hat jedenfalls
das Werk so komplettiert,
dass es aufgeführt werden kann.
Zu einer Darstellung auf Tonträgern ist es bis heute allerdings noch
nicht gekommen.
© Manfred Rückert