Dieser Thread war, anders als meine übrigen Thread-Beiträge zum Kunstliedforum, nicht geplant. Er ist auf eine wunderliche Weise zustande gekommen, zu der ich nur sagen kann: Mignon ist schuld.
Im Thread „Johann Wolfgang von Goethe in der Musik“ stellte Christian B. vor einiger Zeit die Frage, ob hier im Forum auf die Vertonung von Goethe-Lyrik durch Schubert eingegangen worden sei. Ich meldete mich und verwies auf den Thread „Schubert und Goethe“ im Kunstliedforum. Nachdem Christian Einblick in diesen genommen hatte, drückte er sein Bedauern darüber aus, dass darin nur einer von den Mignon-Texten besprochen worden sei, „Kennst du das Land“ nämlich. Ich antwortete ihm, dass ich mich bemühen würde, diesem Mangel abzuhelfen, indem ich eine Besprechung der drei übrigen Schubert-Vertonungen nachliefern würde. Das könne aber einige Zeit dauern, da ich zurzeit ja mit einem anderen Thread beschäftigt sei.
Und nun geschah das, was ich in seinen Folgen in keiner Weise vorausgesehen habe. Es ging an sich ja nur um drei Lieder. Als ich mich aber zur Vorbereitung der nun anstehenden liedanalytischen Betrachtungen und zur Fundierung derselben in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ vertiefte, geschah etwas, was ich eigentlich, weil es mir schon einmal geschah, hätte wissen müssen, aber vergessen hatte: Ich wurde von dieser Mignon-Gestalt regelrecht gepackt und in Bann geschlagen.
Und da wurde mir klar: Mit den drei dem Thread „Schubert und Goethe“ hinzugefügten Liedern wird das nichts. Diese so faszinierende und so viele Fragen aufwerfende „Mignon“ hat einen eigenen Thread verdient, in dem ich mich nicht nur gründlich auf alle Schubert-Vertonungen der vier lyrischen Äußerungen von ihr einlasse, sondern darüber hinaus auch der Frage nachgehe, wie andere Komponisten diese literarische Figur aufgefasst und die entsprechenden lyrischen Texte in Liedmusik gesetzt haben.
Es wurde zum Erlebnis für mich.
Mignon, diese Gestalt in Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, beeindruckt wie keine andere literarische Figur Goethes sonst durch ihre Unergründlichkeit und Rätselhaftigkeit. Kein Wunder also, dass sie eine Flut von literaturwissenschaftlichen Interpretationen ausgelöst hat. Man sieht in ihr einen Gegenpol zu Wilhelm Meister im Sinne von dessen „abgespaltener Bestimmung zur Kunst“ und versteigt sich etwa zu der These: „Mit der Präsentation des italienischen Kindes wird eine Allusion auf ein autonomes Kunstschaffen gegeben. Mignon ist also Konfiguration der Autonomie des schöpferischen Individuums, sowie einer in der Antike hervorgebrachten Kunstwahrheit.“
Das muss uns hier glücklicherweise nicht interessieren. Es wurde nur zitiert, um zu zeigen, welch spekulative Gedankengänge eben dieses Geheimnisvolle und Rätselhafte dieser Figur ausgelöst hat, deren Biographie lange dunkel bleibt, von Goethe ganz bewusst erst spät und nur andeutungsweise aufgedeckt wird. Erst nach ihrem Tod stellt sich heraus, dass sie, von einer vornehmen italienischen Familie stammend und aus einem inzestuösen Akt hervorgegangen, als Kind geraubt und nach Deutschland verschleppt wurde. Der Harfenspieler ist ihr Vater.
Goethe führt sie mit den Worten ein:
„Wilhelm konnte sie nicht genug ansehen. Seine Augen und sin Herz wurden unwiderstehlich von dem geheimnisvollen Zustand dieses Wesens angezogen. Er schätzte sie zwölf bis dreizehn Jahre; ihr Körper war gut gebaut, nur, daß ihre Glieder einen stärkeren Wuchs versprachen, oder einen zurückgehaltenen ankündigten. Ihre Bildung war nicht regelmäßig, aber auffallend; ihre Stirn geheimnisvoll, ihre Nase außerordentlich schön, und ihr Mund, ob er schon für ihr Alter zu sehr geschlossen schein, und sie manchmal mit den Lippen nach einer Seite zuckte, noch immer treuherzig und reizend genug.“
Aber sie wird im Roman schon gleich am Anfang als „Rätsel“ vorgestellt. Sie ist eine Figur, die zwischen männlich und weiblich changiert, wenig spricht, und wenn ja, dann stotternd und partiell unverständlich, und auf fast autistische Weise in sich zurückgezogen wirkt. Die Art, wie sie sich bewegt, wirkt künstlich-maschinenhaft wie ein nichtmenschliches Wesen. Der „Eiertanz“, den sie einmal aufführt, zeigt das und lässt einerseits dieses Gefangen-Sein in ihrer Existenz, anderseits aber auch ihr Erlösungsbedürfnis daraus erkennen. Das „Ei“, das sie umtanzt, verkörpert die Gefangenheit in ihrer irdischen Existenz.
Sehnsucht nach Erlösung daraus erweist sich als Kern ihres Wesens. Und dieses erschließt sich, allerdings dabei ebenfalls dunkel und rätselhaft bleibend, allein in der Art und Weise, wie sie sich auszudrücken vermag: Im Gesang, im Lied. Und wie die literarische Gestalt die Literaturwissenschaftler auf magische Weise anzog und noch -zieht, so ereignet sich das bei den Texten der Mignon-Gesänge bei den Komponisten. Unzählige haben sich bemüht, diese in ihrer Aussage liedkompositorisch zu erschließen. Darunter auch ein Franz Schubert. Und es ist vielsagend, wie das geschah. Über lange Zeit, von 1815 bis 1826, hat er sich mit den Lied-Texten der Mignon und des Harfenspielers auseinandergesetzt, und von allen, mit Ausnahme des ersten („Kennst du das Land“) gibt es mehrere Fassungen der Vertonung, z.T. gar bis zu sechs.
Franz Schubert. Die Mignon-Lieder, vorgestellt und betrachtet unter Einbeziehung weiterer Vertonungen der lyrischen Texte
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Lieber Helmut,
vielen Dank für die Eröffnung dieses threads! Ich freue mich sehr, dass Du das Thema nicht vergessen hast. Ich werden das Thema nicht auf Deiner Reflexionshöhe bespielen können, aber vielleicht das eine oder andere beitragen können, zumal was Goethe betrifft. Allerdings habe ich den Wilhelm Meister vor über 30 Jahren gelesen. Aber das ist eine gute Gelegenheit, ihn sich zumindest abschneitsweise mal wieder vorzunehmen.
Viele Grüße
Christian
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... vielleicht das eine oder andere beitragen können
Freu mich drauf!
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Franz Schubert, “Mignon”, D 321
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möchte ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.
Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möchte ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn.
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut;
Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
Geht unser Weg! O Vater, laß uns ziehn!
Das Gedicht findet sich am Anfang des „Dritten Buches“ des Romans „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, war aber schon in dessen Urfassung, die „Theatralische Sendung“ aufgenommen. Im sich anschließenden Romantext heißt es
„Melodie und Ausdruck gefielen unserem Freunde besonders, obgleich er die Worte nicht alle verstehen konnte. Er ließ sich die Strophen wiederholen und erklären, schrieb sie auf und übersetzte sie ins Deutsche. Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von ferne nachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die gebrochene Sprache übereinstimmend und das Unzusammenhängende verbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts verglichen werden.
Sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwas Sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas Wichtiges vortragen wollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und düsterer; das >Kennst du es wohl?< drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus; in dem >Dahin! Dahin!< lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr >Laß uns ziehn!< wußte sie bei jeder Wiederholung dergestalt zu modifizieren, daß es bald bittend und dringend, bald treibend und vielversprechend war.“
Dieser Text, in den das Lied erzählerisch-kommentierend eingebunden ist, wurde deshalb zitiert, weil er für den Liedkomponisten für die Art und Weise der Vertonung richtungweisend ist. Vor allem ist von Bedeutung, dass Mignon dieses Lied nicht direkt an Wilhelm richtet. Sie kann auch gar nicht direkt verstanden werden in ihrem holprigen Italienisch. Es handelt sich, und das ist für jeden Komponisten, der diesen Text in Liedmusik setzt, von grundlegender Bedeutung, hier um ein wesenhaft monologisches Lied, darin durchaus typisch für Mignon in der autistischen Verschlossenheit ihres Auftretens. Der Refrain-Vers stellt zwar formal-sprachlich eine Anrede dar, de facto ist er das aber, so wie die Situation im Roman sich darstellt, nicht. Schon hier sei angedeutet, dass Schubert mit seiner Liedkomposition genau darin dem lyrischen Text nicht gerecht wird.
So klar strukturiert die Strophen in ihrem Aufbau sind, so rätselhaft wirken sie auf Leser, denen Goethes Roman unbekannt ist. Dem Kenner desselben, der um die Biographie Mignons weiß, erschließt sich die Metaphorik ohne größere Probleme. Die erste Strophe entwirft in meisterhaft prägnanten, weil das Wesen der Sache treffenden lyrischen Bildern das Land der Sehnsucht: Italien. Sie weisen deshalb ein so hohes evokatives Potential auf, weil die Bilder nicht nur typisch für typisch für italienische Natur und Lebenswelt sind, sondern von Goethe als gleichsam handelnde, Aktivität entfaltende angelegt wurden. Die Zitronen „blühn“, die Orangen „glühn“ in dunklem Laub, der sanfte Wind „weht vom blauen Himmel“, Myrte und Lorbeer „stehen“ nicht einfach da, sie tun es „still“. Das ist - typisch für Goethe“- von nüchterner Sachlichkeit angehauchte, gleichwohl darin aber auf dezente Weise poetisch gestaltete lyrische Sprache. Das sehnsuchtsvolle „Dahin, dahin“ am Ende der ersten Strophe wird, weil auf eindrückliche Weise induziert, für den Leser voll und ganz nachvollziehbar. Für Mignon aber drückt sich darüber hinaus die Sehnsucht nach dem Land ihrer Geburt und frühen Kindheit aus.
Und das ist auch bei der zweiten Strophe der Fall. „Das Haus“ könnte durchaus das ihrer Geburt sein. Es wäre dann, nach den repräsentativ in die lyrische Aussage gesetzten Worten „Säulen“, „Saal“ und „Marmorbilder“, eines von römisch-antiker Architektur und Räumlichkeit. Hier tritt erstmals der Faktor Biographie in die lyrische Ich-Aussage. Aber, wie für Mignon bezeichnend, auf dunkel-rätselhafte Weise in Gestalt einer in den Raum gestellten Frage „Was hat man dir, du armes Kind, getan?“. Das, was ihr in ihrer Kindheit angetan wurde, die Entführung nämlich, bleibt für sie eine nicht bewältigte existenzielle Erfahrung. Deshalb die Frage. Gleichwohl aber wiederholt sich hier, und das steigert die Rätselhaftigkeit der Aussage dieses Textes, der emphatische Dahin-Refrain.
Was ist nun aber mit den ganz und gar rätselhaften Bildern der dritten Strophe? Man könnte es sich leicht machen und darin den Weg über einen Alpenpass lyrisch skizziert sehen. Es wäre zu einfach, denn den Bildern wohnt Wildes, Urtümliches und Bedrohliches inne: Das Maultier muss mühsam seinen Weg im Nebel suchen, Fels stürzt, Flut wallt über ihn hin und Drachen wohnen in Höhlen. Warum will Mignon diesen Weg nach Italien gleichwohl nehmen?
Das Gedicht ist in der Sehnsucht, die es zum Inhalt hat, als Ausdruck der Identitätssuche zu verstehen, die Mignons existenzielles Grundproblem darstellt. Darin erschöpft es sich aber auch. Anders als in den drei nachfolgenden lyrischen Textes gibt Mignon darin nichts weiter über ihr inneres Wesen preis. Das monologisch, also nicht direkt angesprochene Du, bei dem es sich um Wilhelm handelt, ist aus diesem Grund nicht allein „Geliebter“, - es ist Beschützer und Vater überdies. Es ist Begleiter des lyrischen Ichs auf dem Weg der Suche nach sich selbst, das in der Idylle einer südlichen Landschaft, dem Ort seiner Geburt und Jugendzeit, das ersehnte Zuhause zu finden hofft, - wenn es denn erreichbar ist. Daher dieses immer wiederkehrende Drängen: „Dahin, dahin“. Die Erfahrungen des Gefährlichen, Unwirtlichen und Bedrohlichen müssen als Stationen des Weges dahin in Kauf genommen werden.
Schuberts Liedkomposition entstand am 23. Oktober 1815. Bemerkenswert daran ist: Anders als bei den drei anderen Vertonungen der Mignon-Text gibt es von dieser keine weiteren Bearbeitungen. Und er hat sie auch nicht in den Zyklus D 877 (op. 62), den diese in ihrer jeweils letzten Fassung bilden, aufgenommen.
Könnte es sein, dass er diesen lyrischen Text, eben weil er sich im Ausdruck von Sehnsucht erschöpft und keine lyrischen Ansatzpunkte zur Erschließung des Wesens der Mignon-Gestalt aufweist, nicht als liedkompositorische Herausforderung empfand? Ich halte das durchaus für eine Erklärung dieses Sachverhalts.
Fakt ist jedenfalls: Es handelt sich hier aus meiner Sicht um das mit Abstand schwächste der vier Mignon-Lieder. In diesem Urteil stehe ich nicht allein. Hans Joachim Kreutzer drückt sich vorsichtig aus, wenn er meint, diese Komposition würde „vielleicht nicht in die vorderste Reihe seiner Wilhelm Meister-Vertonungen gehören“. Fischer-Dieskau wird da schon deutlicher, wenn er feststellt, sie wirke „verhältnismäßig schwach“. Er meint, man müsse Schumann zustimmen, wenn er sagt:
„Die Beethovensche Komposition ausgenommen, kenne ich keine einzige dieses Liedes, die nur im mindesten der Wirkung, die es ohne Musik macht, gleich käme. Ob man es durchkomponieren müsse oder nicht, ist eins; laßt es euch von Beethoven sagen, wo er seine Musik herbekommt.“
Vielleicht hat Schubert ja versucht, die Beethoven-Vertonung, die ihm bekannt gewesen sein muss, liedkompositorisch zu übertreffen, so vermutet man in „Reclams Liedführer“ jedenfalls. Wie auch immer, eine liedanalytische Betrachtung der Liedmusik unter dem Blickwinkel dieser Kritik an ihr ist angesagt. -
Was ist nun aber mit den ganz und gar rätselhaften Bildern der dritten Strophe? Man könnte es sich leicht machen und darin den Weg über einen Alpenpass lyrisch skizziert sehen. Es wäre zu einfach, denn den Bildern wohnt Wildes, Urtümliches und Bedrohliches inne: Das Maultier muss mühsam seinen Weg im Nebel suchen, Fels stürzt, Flut wallt über ihn hin und Drachen wohnen in Höhlen. Warum will Mignon diesen Weg nach Italien gleichwohl nehmen?Diese Bilder sind bei Goethes erster Schweizreise 1775 entstanden, er erinnert daran in Dichtung und Wahrheit (18. Buch) und beschreibt „bemoste Felsen“ und „Wasserfälle“. Und weiter:
„Hier kostet es der Einbildungskraft nicht viel sich Drachennester in den Klüften zu denken.“
Mit ‚Einbildungskraft’ fällt das Stichwort, das es vielleicht erlaubt diese dritte Strophe des Liedes einzuordnen: Italien ist nicht nur das Land der arkadischen Symbole und der Villen Palladios, sondern eben auch der Ort, an dem ein Künstler zum Leben erweckt werden kann - dessen Einbildungskraft auf der Reise in Bewegung gesetzt wird.
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Danke für diesen Hinweis, lieber Christian.
Ich werde so verfahren, dass ich Deine Beiträge als Bereicherung des Threads dankbar zur Kenntnis nehme und sie nur dann kommentiere, wenn ich die Sache anders sehen oder anderer Meinung sein sollte.
Fasse also bitte mein Nicht-Reagieren also nicht als Desinteresse meinerseits auf. Es geht mir grundsätzlich um die Sache und nicht ums Palavern hier im Forum.
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Franz Schubert, “Mignon”, D 321. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Ein Zweivierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, zugrunde, die Tonart ist A-Dur bei den A-Strophen, in der B-Strophe wird daraus ein Moll, die Vortragsanweisung lautet „Mässig“. Der Form nach handelt es sich um ein variiertes Strophenlied: Die erste und die zweite Strophe sind identisch, die dritte weicht in ihrer Faktur leicht von ihnen ab. Identisch ist bei den beiden ersten Strophen auch der Refrain, den Schubert, und das ist bemerkenswert, textlich extrem ausweitet. Er lautet hier: „Dahin, dahin / dahin möchte ich mit dir, o mein Geliebter (Beschützer) ziehn / dahin, dahin, dahin / dahin möchte ich mit dir o mein Geliebter (Beschützer) ziehn / dahin, dahin, dahin.“ Die dritte Fassung des Refrains weist ebenfalls darin kleine Modifikationen auf.
Ein derart massiver Eingriff in den lyrischen Text in Gestalt von geradezu exzessiver Wiederholung ist ungewöhnlich für Schuberts Liedkomposition. Offensichtlich hat er in dem als tiefinnerlichen Wunsch und als nachdrücklich geäußerte Bitte artikulierten „Dahin“ Mignons das lyrische Zentrum des Gedichts gesehen und sein Lied von daher komponiert. Immerhin konnte er von Goethe ja wissen, dass Mignon das „Kennst du es wohl?“ „geheimnisvoll und bedenklich“ aussprach, die Schlussverse aber „bald bittend, dringend, hurtig und vielversprechend“. Genau dieses will auch der Refrain in Schuberts musikalischer Faktur zum Ausdruck bringen. Und ganz in der Logik des im Grunde ja szenischen Ansatzes dieser Komposition liegt es auch, dass die melodische Linie der Singstimme in arioser Weise weit phrasiert angelegt ist.
Darin hat er aber einen hinsichtlich der Adäquatheit von Liedmusik und lyrischem Text wesentlichen Sachverhalt übersehen oder wohl eher bewusst ignoriert: Der Refrain besteht aus einem Vers, der monologisch von einem Menschen geäußert wird, dem, so wie er bei Goethe dargestellt und charakterisiert ist, in seiner wesenhaften Introvertiertheit jeglicher Ausbruch in hochgradige Expressivität fremd, ja eigentlich unmöglich ist. Schuberts Liedmusik verfehlt also in der Anlage, dem Umfang und in der dynamisch bis ins Fortissimo gesteigerten Expressivität das Wesen der Mignon-Gestalt und der in diesem ihrem Gesang getätigten Aussage.
Das gilt aber nicht, wie ich finde, für die Melodik, ihre Harmonisierung und den Klaviersatz auf den vorangehenden fünf Versen. Auf den ersten vier Versen liegt je eine Melodiezeile, und in ihre Abfolge ist sogar noch jeweils eine Achtelpause eingeschoben. Dennoch empfindet man diese Versgruppe als melodische Einheit, auf die dann nach einer dreitaktigen Pause der Singstimme das melodisch isolierte und dadurch in seinem Fragecharakter akzentuierte „Kennst du es wohl?“ folgt. Vor dem Einsatz der Singstimme wird hier ein sechsstimmiger arpeggierter Akkord angeschlagen, der den ganzen Takt über gehalten wird und im Zusammenhang mit einer harmonischen Rückung in einen weiteren Akkord mündet. Die melodische Linie macht bei diesen Worten einen ausdrucksstarken Quartfall, dem eine bogenförmige Aufwärtsbewegung mit anschließender Dehnung (Fermate) folgt. „Geheimnisvoll und bedenklich“ (im Sinne von nachdenklich) klingt das sehr wohl. Und vor allem wirkt es eindringlich, und man empfindet es wie eine Öffnung eines musikalischen Portals für den expressiven Refrain.
Dass man die vier Melodiezeilen trotz ihrer Trennung durch Pausen als musikalische Einheit empfindet, das hat wesentlich damit zu tun, dass sie melodisch ineinandergreifen und so strukturiert sind, dass sie jeweils wie die Fortführung der vorangehenden Zeile wirken. So setzt zum Beispiel die zweite Melodiezeile („Im dunklen Laub…“) mit einem auftaktigen Sextsprung auf genau dem gleichen Ton an wie die erste. Die dritte macht zweimal dieselbe Abwärtsbewegung und endet dabei jeweils auf dem Ton, mit dem die zweite ausklang. Und die vierte schließlich setzt auf dem Ton an, mit dem die dritte endete. Das sind die gleichsam strukturellen Ursachen dafür, dass man die Melodie des Liedes als ausgeprägt kantabel und arios empfindet. -
Franz Schubert, “Mignon” (II)
Harmonisiert ist die Melodik vorwiegend im Tongeschlecht Dur, wobei sich die Rückungen aber keineswegs auf den Bereich der Tonika und ihrer Dominanten beschränken. Schubert nutzt, wie bei ihm nicht anders zu erwarten, die Harmonik als musikalisches Ausdrucksmittel. So erfährt das lyrische Bild „Goldorangen glühn“ nicht nur durch die Melodik eine markante Akzentuierung, die hier nach einem Legato-Quartfall in einen Anstieg bis zur Ebene eines „F“ in hoher Lage übergeht, dann einen ausdrucksstarken Fall über eine Quinte beschreibt, um sich bei „glühn“ wieder in einem Sekundschritt zu erheben. Die Harmonik vollzieht hier eine Rückung von E-Dur nach d-Moll und danach eine von G-Dur nach C-Dur. Gerade diese verleiht aber dem melodischen Quintfall und Sekundanstieg auf den Silben „-rangen“ und dem Wort „glühn“ die hohe Ausdruckskraft.
Das Tongeschlecht Moll, das die affektive Dimension der lyrischen Aussage reflektiert, tritt nur noch einmal kurz in der Harmonik auf. Dies in der ebenfalls ausdruckstarken und den semantischen und den affektiven Gehalt des lyrischen Bildes voll erfassenden Melodik auf den Worten „vom blauen Himmel weht“. Sie beschreibt hier einen auf der tonalen Ebene eines „Gis“ in hoher Lage ansetzenden, in partiell verminderten Sechzehntel-Sekundschritten sich vollziehenden Fall, der aber bei „Himmel“ weht“ in einen ruhigen, weil in Gestalt von nun Achtelschritten Anstieg übergeht und bei „weht“ in eine kleine Dehnung (Viertel) auf der tonalen Ebene des „Gis“ mündet, von der aus der Fall am Anfang seinen Ausgang nahm. Hier vollzieht die Harmonik eine Rückung von G-Dur über a-Moll zur Dominante E-Dur. Die nach einer Achtelpause einsetzende Melodiezeile auf den Worten „Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht“ ist gar in die von der Kreuztonart weitab liegende und dem B-Bereich des Quintenzirkels zugehörigen Tonarten F-Dur und B-Dur gebettet. Darin reflektiert sie in Einheit mit der Melodik die große Ruhe, die dem lyrischen Bild innewohnt. Die melodische Linie entfaltet sich hier in einem Auf und Ab im Ambitus von nur einer Terz in hoher Lage. Bei „Lorbeer“ beschreibt sie aber einen dieses Wort akzentuierenden melismatischen, weil über eine Triole erfolgenden Sechzehntel-Anstieg über dieses Intervall.
Unterstützt wird dieser klangliche Eindruck durch den Klaviersatz. Bei den ersten beiden Versen ist er zunächst noch vorwiegend akkordisch angelegt, nach der harmonischen Rückung am Ende des zweiten Verses geht er aber in eine Abfolge von triolischen Arpeggien im Diskant über, die das Klangbild bis zu der Frage „Kennst du es wohl?“ stark prägen und auch die dreitaktige Pause ausfüllen, bevor die Singstimme diese dem Refrain vorausgehende Schlüssel-Frage deklamiert. Der Übergang von einem akkordischen zu einem triolischen Klaviersatz unterstützt die Melodik bei ihrem mit dem dritten Vers einsetzenden Wechsel von einem eher konstatierend ausgeprägten deklamatorischen zu einem lyrisch-deskriptiven. Die lange, immerhin zweieinhalb Takte einnehmende und vom Weitererklingen der Triolen im Diskant ausgefüllte Pause dient Schubert dazu, die Nachdrücklichkeit der Schlüssel-Frage zu erhöhen dadurch, dass er sie in eine exponierte Stellung bringt.Die Melodik der dritten Strophe stellt sich in ihrer Faktur nicht als grundsätzlich neue dar, vielmehr entfaltet sie sich bei den ersten beiden Versen in der Übernahme der Figuren der ersten beiden Strophen in partiell variierter Gestalt. Diese sind nun allerdings infolge des semantischen und affektiven Gehalts der lyrischen Bilder anfänglich in ihrer Harmonisierung von A-Dur nach a-Moll gewendet. Die starke Variation ereignet sich eben deshalb bei den Worten „im Nebel seinen Weg“. Die Melodik des Bildes von den „Goldorangen“ konnte Schubert hier natürlich nicht übernehmen. Die sich wiederholende Melodik auf den Worten „In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut“ erweist sich als Rückgriff auf die, die den Worten „ein sanfter Wind“ zugrunde liegt, nur dass sie nun auf einer um eine Quinte abgesenkten tonalen Ebene angesiedelt und in F-Dur harmonisiert ist.
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Franz Schubert, “Mignon” (III)
Das lyrische Bild „Es stürzt der Fels und über ihn die Flut“ ließ infolge seiner dramatisch-starken inneren Bewegtheit einen solchen Rückgriff auf das melodische Potential der ersten Strophe nicht mehr zu. Schubert musste den lyrischen Text in eine neue Melodik umsetzen. Sie reflektiert dessen dramatischen Geist auf treffende und eindrückliche Weise dadurch, dass sie bei „stürzt der Fels“ einen gedehnten verminderten, in eine Repetition übergehenden Fall beschreibt, der in g-Moll harmonisiert ist und vom Klavier synchron mit Achteln im Diskant und Achteloktaven im Bass mitvollzogen wird. Danach vollzieht die melodische Linie einen repetitiven Anstieg bis zur tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage, um von dort mit einem Sekundschritt zu einer langen Dehnung bei dem Wort „Flut“ überzugehen. Die repetitive Anstiegsbewegung wird im Bass mittels eines kontrastiven Sechzehntelfalls von Oktaven akzentuiert, und die lange Dehnung auf der tonalen Ebene eines „F“ in hoher Lage wir vom Klavier im Diskant mit einem dreistimmigen Forte-Achtel-Akkord in F-Dur begleitet, der in triolische Auf und Ab-Figuren übergeht, im Bass aber mit einer lang gehaltenen F-Oktave. Drei Takte lang erklingen nun diese triolischen Sechzehntel-Figuren im Diskant, gegen Ende in reine Anstiegs-Figuren übergehend, bis am Ende wieder die Frage „Kennst du ihn wohl?“ in der üblichen melodischen Konfiguration erklingt.
Bemerkenswert aber:Dieses Mal wird sie vom Klavier mit einem lang gehaltenen dissonanten Akkord begleitet, bevor am Ende der übliche E-Dur-Akkord erklingt.
Warum das? Sind Mignon Zweifel gekommen, hinsichtlich der Bewältigung dieses imaginierten Weges über die Alpen?
Mag sein. Jedenfalls hat sich Schubert ganz offensichtlich eine Menge gedacht beim In-Musik-Setzen dieser Mignon-Verse. Wenn er diese doch nur nicht in seinen problematischen Refrain hätte münden lassen.
Beim Refrain treten an die Stelle der triolischen Arpeggien sich rasch auf und ab bewegende Sechzehntel, denen in rhythmisch akzentuierter Weise akkordische Achtel im Bass zugeordnet sind. Auf diese Weise wird der drängend-eindringliche Charakter der melodischen Linie der Singstimme in markanter Weise intensiviert. Eine Steigerung dieses Effekts erreicht Schubert dadurch, dass er bis zu der Wiederholung der Worte „Dahin möcht ich mit dir…“ diese rasche Abfolge von Sechzehnteln in sich mehrfach wiederholender Aufwärtsbewegung anlegt. Dann aber, wenn der Geliebte („Beschützer“, „Vater“) angesprochen wird, vollzieht sich das Auf und Ab der Sechzehntel auf nur einer tonalen Ebene, und damit wird das klanglich Drängende aus der melodischen Linie ein wenig zurückgenommen und der Charakter von Wunsch und Bitte tritt stärker in den Vordergrund.
Zwischen den „Dahins“, die aus einer in eine Dehnung mündenden Sprungbewegungen bestehen, liegt jeweils bei „möcht´ ich mit dir“ eine den dringlichen Wunsch zum Ausdruck bringende Sekundanstiegsbewegung, auf der Anrede „o mein Geliebter ziehn“ liegt dann aber ein den affektiven Gehalt der Worte reflektierender in einen Terzfall mündender gedehnter Sekundfall, dem eine ebenfalls gedehnte Tonrepetition vorausgeht. Dieser melodischen Figur wohnt ein Anflug von klanglicher Lieblichkeit inne. Bei der Wiederholung wird daraus eine Kombination aus Terzsprung, ausdrucksstarkem Sextfall und in eine Dehnung mündendem Quartsprung. Die Melodik erfährt auf diese Weise eine starke Steigerung ihrer Expressivität. Das ist auch bei der melodischen Figur des „Dahin“ der Fall. Aus dem anfänglich Sekundsprung wird einer über das Intervall einer Quarte, wobei die Dynamik sich vom Forte ins Fortissimo steigert.
Die Dreiergruppen von Sechzehnteln bewegen sich nun in einem größeren tonalen Intervall wieder auf und ab und verstärken so den Eindruck des unruhigen Drängens, den die Vokallinie hier macht. Sie steigert diesen am Ende ins Extrem dadurch, dass sie bei den beiden letzten „Dahin“ den Quartsprung zunächst in eine lange Dehnung auf einem hohen „E“ münden lässt und von da aus noch höher zu einem zweigestrichenen „a“ bei der Silbe „-hin“ steigt, das sie mehr als einen Takt lang hält, Der extrem lang gedehnte, sich über eineinhalb Takte erstreckende Legato-Sekundanstieg am Ende wirkt aufgesetzt, weil er auf dem einsilbigen „-hin“ liegt. Und das ist auch bei dem „A“ in hoher Lage beim letzten „Dahin“ der Fall. Die Dehnung überschreitet hier ebenfalls die Taktgrenze.
Einundzwanzig Takte nimmt die Liedmusik auf den beiden letzten Versen der Strophen ein, gegenüber den achtzehn, die sie bei den vorangehenden fünf Versen in Anspruch nimmt. Allein schon diese Disproportionalität ist erstaunlich und verwunderlich. Hinzukommt die in Gestalt permanenter Wiederholungen sich ereignende Steigerung in extreme Fortissimo-Expressivität.
Ich denke:
Wenn man davon ausgeht, dass eine Liedmusik auf den Text einer literarischen Figur nicht nur dessen Aussage, sondern auch die situativen Gegebenheiten seines Zustandekommens auf adäquate Weise zu erfassen und darüber hinaus auch das Wesen dieser Gestalt zu berücksichtigen hat, dann handelt es sich hier um einen liedkompositorischen Fehlgriff Schuberts. Das ist nicht Mignon, die hier bei ihm singt. -
Beethoven: „Mignons Lied“, op. 75, Nr. 1
Wenn Schumann feststellt, das er unter den Vertonungen des Mignon-Gedichts außer der „Beethovenschen Komposition“ keine einzige kenne, „die nur im mindesten der Wirkung, die es ohne Musik macht gleich käme“, so besagt der Begriff „Wirkung“ des Gedichts, dass für ihn das Erfassen die lyrische Aussage desselben der Maßstab für die Beurteilung einer Vertonung ist. Und in der Tat: Beethovens Liedmusik erfasst diese auf vollkommene Weise.
Seine Komposition stellt ein variiertes Strophenlied dar. Und das bedeutet: Er will sich nicht in liedmusikalisch differenzierter Weise auf das evokative Potential der vielfältigen lyrischen Metaphorik einlassen. Ihm geht es um das musikalische Zum-Ausdruck-Bringen der Grund-Intentionen des lyrischen Ichs, wie sie sich in dem refrainhaft wiederkehrenden „Dahin, dahin“ lyrisch-sprachlich verdichten.
Das schlägt sich in der kompositorischen Faktur dergestalt nieder, dass dieser lyrische Refrain durch Wiederholung eine liedmusikalische Ausweitung erfährt, ein eigenes Metrum (sechs Achtel statt zwei Viertel) und Tempo („geschwinder“) aufweist und in all dem so anmutet, als würde all das, was liedmusikalisch vorausgeht, auf ihn zulaufen und in ihm seine Sinnstiftung erfahren. Dieses „Dahin, dahin“ und die dahinterstehenden Intentionen des lyrischen Ichs bilden in solch starker Weise das Zentrum der liedkompositorischen Aussage, dass die Tatsache, dass beim letzten Vers eigentlich eine von den vorangehenden Strophen abweichende lyrische Aussage vorliegt, für Beethoven keine Rolle spielen konnte: Er legt diesen Worten die gleiche melodische Linie zugrunde und weicht – bezeichnenderweise – von der Verfahrensweise beim letzten Vers der ersten und der zweiten Strophe nur dadurch ab, dass er nun auf das „lass uns ziehn“ eine expressiv lange melodische Dehnung einschließlich Quintfall und Sekundanstieg legt.
Die melodische Linie, ihre Harmonisierung und der Klaviersatz sind bei den ersten beiden Strophen identisch, in der dritten Strophe weist nur der Klaviersatz eine Modifikation auf, und zwar beim dritten und vierten Vers. Die Bilder von der in Höhlen wohnenden Drachenbrut, dem „stürzenden Fels“ und der „Flut“ reklamierten eine liedmusikalische Berücksichtigung. Beethoven kommt ihr nach, indem er statt der aufsteigend angelegten Sechzehntel-Triolen, die in den vorangehenden Strophen an dieser Stelle die Singstimme im Bass begleiten, nun forte anzuschlagende Zweiunddreißigstel-Quartolen erklingen lässt, die im Diskant von auf und ab steigenden Oktaven begleitet werden, die an die Stelle der Achtel und Sechzehntel treten, die vorangehend den Triolen zugeordnet sind. Dass der von ihm abgeänderte lyrische Text, die Worte „lass und zieh´n“ also, eine weitere Variation in der Faktur der Strophe mit sich bringt, wurde bereits erwähnt. Man kann sich also, will man die liedmusikalische Aussage in ihrem Kern erfassen, auf die analytische Betrachtung von Melodik, Harmonik und Klaviersatz der ersten Strophe beschränken.
A-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, ein Zweivierteltakt liegt der Liedmusik auf den ersten fünf Versen, also bis einschließlich „Kennst du es wohl?“, zugrunde, und diese soll „ziemlich langsam“ vorgetragen werden. Ohne Vorspiel setzt die melodische Linie ein. Bemerkenswert aber ist die Art und Weise, wie das geschieht. Auf den Worten „Kennst du das Land“ liegt ein auf einem tiefen „E“ ansetzender und in eine Dehnung auf einem „A“ mündender Sekundanstieg, der vom Klavier im Diskant mit dreistimmigen Akkorden begleitet wird. Das Wort „kennst“ erhält jedoch einen deutlichen Akzent dadurch, dass das Klavier dem dreistimmigen Akkord im Diskant noch eine lang gehaltene Oktave im Bass beigibt, so dass das Lied mit einem forte angeschlagenen fünfstimmigen Akkord einsetzt.
Hat man die Gestalt „Mignon“ vor Augen, wie sie einem in Goethes Roman begegnet, so wirkt dieser gesangliche Auftritt unerwartet, wenn nicht gar überraschend. Beethoven scheint in ihr wohl eine in ihrem Auftreten und ihren Äußerungen Achtung fordernde junge Frau gesehen zu haben, und die Musik, in die er diese Verse gesetzt hat, bestätigt dies ja. Er muss um dieses Bild von „Mignon“ allerdings sehr gerungen haben, wie man aus der Tatsache schließen darf, dass er das Gedicht „Nur wer die Sehnsucht kennt“ vier Mal vertont hat. -
Beethoven: „Mignons Lied“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Es ist eine durchaus zarte melodische Linie, mit der die Liedmusik auf den ersten beiden Versen einsetzt. Der Anstieg vom tiefen „E“ her wiederholt sich beim zweiten Vers noch einmal, und er setzt sich auch in der gleichen Weise fort: Mit einem kurzen Verharren in Tonrepetition auf dem „A“ in mittlerer Lage und einem nachfolgenden zweimaligen, auf einen Quartsprung in obere Mittellage folgenden Sekundfall, der den sprachlichen Gestus der Frage zum Ausdruck bringt. Die Harmonik unterstützt das, indem sie beide Male eine Rückung von der Tonika A-Dur in die Dominante vollzieht, und das tut auch das Klavier dergestalt, dass es am Ende dieser beiden Melodiezeilen die Achtel- und Sechzehntelfiguren, mit denen es die melodische Linie zuvor begleitete, nun in Bass und Diskant auseinanderlaufen lässt. Es sind für es selbst gewichtige und bedeutsame Fragen, die dieses lyrische Ich namens „Mignon“ hier stellt, und Beethovens Melodik bringt das auch so zum Ausdruck, - aus diesem seinem Verständnis dieser literarischen Figur heraus.
Bei den Worten „Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht“ kommt ein leicht schwärmerischer Ton in die melodische Linie. Das Wort „sanfter“ trägt eine gedehnte Tonrepetition, danach senkt sich die melodische Linie in zwei Sekundschritten erst einmal ab, um dann aber bei den Worten „blauen Himmel“ mit einem Sechzehntel-Quartsprung in obere Lage aufzusteigen und von dort aus einen melismatischen Legato-Sechzehntelfall zu beschreiben. Das Klavier verstärkt diesen schwärmerischen Ton, indem es nun mit steigend angelegten Sechzehntel-Triolen im Bass begleitet, und auch die Harmonik tut das, indem sie von ihrem Verharren im Tongeschlecht Dur ablässt und nach Moll ausweicht, - ein a-Moll, das am Ende dieser Melodiezeile aber wieder eine Rückung nach Dur, die Dominante nämlich, vollzieht. Aber die melodische Linie will in diesem, von den südlich-lyrischen Bildern beseelten schwärmerischen Gestus verbleiben, und sie reflektiert diese in ihrem Gehalt dabei sogar noch. Bei den Worten „die Myrte still“ beschreibt sie einen schlichten, aus einer Tonrepetition hervorgehenden doppelten Sekundanstieg, der aber, um der Bedeutung des Bildes gerecht zu werden, mit einer gewichtigen harmonischen Rückung von E-Dur nach G-Dur verbunden ist.
Und das Bild vom „Lorbeer“, das mit den Worten „und hoch“ eingeleitet wird, reflektiert die melodische Linie mit einer ausdrucksstarken Kombination aus Sext- und Quartsprung, der ein legato auszuführender, aus einer Dehnung in hoher Lage hervorgehende dreifacher Sechzehntelfall mit nachfolgendem Sekundanstieg nachfolgt. Es ist ein höchst bedeutsamer, vielsagender Abschluss der Liedmusik auf den ersten vier Versen, der sich hier ereignet, darin die Empfindungen des lyrischen Ichs bei der Imagination dieser fernen, exotischen Welt, in der Zitronen blühen, zum Ausdruck bringend. Und das Klavier akzentuiert das, indem es hier von seinen Sechzehntel-Triolen ablässt und fortissimo zwei F-Dur-Akkorde anschlägt, dann aber, nach einer Achtelpause, sofort wieder zu einem wärmeren und piano angeschlagenen G-Dur-Akkord übergeht, dem ein C-Dur-Akkord nachfolgt. Das Klavier weiß: Hier schwärmt eine im Grunde zarte Seele von einer fernen, ersehnten und unerreichbaren Welt südlichen Flairs.
Vor dem Erklingen des zweiten Teils dieser Komposition, der ja inhaltlich nur aus den beiden letzten Versen besteht, aber durch Wiederholung derselben und das zweimalig hinzugefügte „dahin“ so stark ausgeweitet wird, dass er von der Taktzahl her fast den Umfang des ersten Teils annimmt, ereignet sich etwas, was man durchaus als ein liedkompositorisches Denken aus dem Geist der Klassik empfindet, für die der strukturierte innere Aufbau der Komposition ein wesentlicher Aspekt ist. In der zweitaktigen Pause für die Singstimme ereignet sich ein Fall vom im Intervall sich weitenden bitonalen Akkorden, bei dem die Harmonik eine Rückung von F-Dur nach E-Dur vollzieht. Das ist genau die gleiche Rückung, die sich auch bei dem nachfolgenden, in eine Dehnung mündenden Anstieg der melodischen Linie auf den Worten „Kennst du es wohl?“ ereignet, die wie ein liedmusikalisches Eröffnungsportal für die nachfolgende, nun in einem Sechsachteltakt stehende und „geschwinder“ vorzutragende Liedmusik des zweiten Teils wir. Denn diese setzt in A-Dur-Harmonik ein, und das vorangehende E-Dur enthüllt sich damit in seinem Dominant-Charakter. -
Beethoven: „Mignons Lied“ (II)
Sehnsucht und inniges Begehren bringt die Liedmusik in diesem zweiten, refrainhaften, aber darin wie das eigentliche Zentrum der Liedmusik wirkenden Teil des Liedes zum Ausdruck, - und dies auf höchst eindrückliche Weise. Sucht man in der Struktur der Melodik nach den Ursachen dafür, dann stellt sich alsbald heraus: Es ist der Sekundfall auf dem Wort „dahin“, das Beethoven aus seinem Verständnis dieser Mignon-Gestalt im Unterschied zu Goethe pro Strophe nicht zwei, sondern sechs Mal deklamieren lässt. Er will ihren starken Willen betonen, zugleich aber auch ihre Seelentiefe vernehmlich werden lassen, und die Liedmusik vermag das auf überzeugende Weise. Wie liedkompositorisch gekonnt Beethoven dabei vorgeht, lässt das erste Doppel dieses für ihn so gewichtigen Wortes „dahin“ erkennen. Der erste Sekundfall ist, seinerseits auf einen Sekundfall folgend, nur ein verminderter, der zweite aber, aus einer Sekunde höher ansetzend, ist ein großer, und beide münden in eine Dehnung, die das Klavier mit Akkordrepetitionen in Bass und Diskant akzentuiert.
Auch die melodische Linie auf den Worten „möcht´ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn“ ist in dominanter Weise vom Seelentiefe zum Ausdruck bringenden Sekundfall geprägt, - freilich einem, der sich wieder erhebt und darin den Gestus des Wollens und Begehrens reflektiert. Bei „möcht´ ich mit dir“ senkt sich die melodische Linie in ruhigen Sekundschritten aus hoher Lage ab, und das Klavier folgt ihr darin mit Terzen. Bei den Worten „o mein Geliebter“ geht sie aber zu einem kleinen bogenförmigen Legato-Aufschwung in Gestalt eine Kombination aus Sekundanstieg, Terzfall und neuerlichem Anstieg über eine Sekunde über, den das Klavier nun mit dreistimmigen Akkorden im Diskant mitvollzieht. Und bei der Wiederholung dieser Worte wird aus diesem liebevolle Zuneigung bekundenden melodischen Bogen ein in höhere Lage ausgreifender und mit deklamatorischen Achtelschritten melismatisch angereicherter.
Und erneut vernimmt man, wie kunstvoll Beethoven dieses Wort „dahin“ in seinen seelischen Dimensionen melodisch auslotet. Beim dritten Mal liegt auf ihm wieder der Sekundfall, auf der gleichen tonalen Ebene wie beim zweiten Mal,, nun aber durch zwei relativ lange Pausen (drei Achtel) davor und danach in eine liedmusikalisch exponierte Stellung gebracht. Beim vierten Mal aber liegt auf ihm kein Sekundfall, sondern eine auf einer um eine Sekunde angehobene Tonrepetitionen, und dies deshalb, weil damit der umso eindrucksvollere vierschrittige Sekundfall auf den Worten „möcht´ ich mit dir“ eingeleitet wird.
Die beiden letzten „Dahins“ werden wieder durch lange Pause davor und danach akzentuiert, sie erfahren aber auch durch die Melodik, die auf ihnen liegt und den Klaviersatz, der ihnen zugeordnet ist und nun aus lang gehaltenen Akkorden besteht, eine große Steigerung ihrer liedmusikalischen Expressivität. Das erste wird auf einer Kombination von Legato-Sekundanstieg und Doppelsekundfall mit Vorschlag deklamiert, das zweite aber auf einem nun radikal vom vorangehenden Gestus abweichenden Quintfall, der in einen Sekundanstieg übergeht.
Das mutet zunächst an, als sei es der Notwendigkeit geschuldet, eine Anbindung der Liedmusik an die nachfolgende Strophe herzustellen. Am Liedende erfährt es aber seine Bekräftigung. Auf „lass uns ziehn“ liegt nun die gleiche, mit der harmonischen Rückung von Subdominante über Dominante zur Tonika A-Dur verbundene melodische Figur aus Quintfall und Sekundanstieg. Nun aber geht sie sogar aus einer fast zwei Takte einnehmenden Dehnung hervor. Und hierin zeigt sich:
In diesem „Dahin“ will Beethoven das Wesen dieser Mignon ausgedrückt sehen. Die ganze Liedmusik kreist im Grunde darum und findet in ihrer melodischen Schlussfigur zu sich selbst. -
Hugo Wolf: „Mignon, Kennst du das Land“
Hugo Wolf hat sich bei der Vertonung dieses Mignon-Gedichts für kompositorische Konzept der Durchkomposition entschieden. Wie sinnvoll das war, kann man an einem schlichten Vergleich der Struktur der Melodiezeilen erkennen, die jeweils auf dem ersten Vers der drei Strophen liegen. Wenn der südliche Zauber südlicher Landschaft angesprochen wird, wie in der ersten Strophe, dann weist die melodische Linie bei Wolf in ihrer Bewegung einen leicht schweifenden Charakter auf: Sie steigt um eine Sekunde an, macht danach einen Sextfall, verharrt auf dieser tonalen Ebene und bewegt sich danach über einen Quintsprung zu einem „As“ hinauf. Geht es um das „Haus mit seinem Säulendach und seinem „glänzenden Saal“, so wirkt die melodische Linie eher statisch, pendelt in ruhigem Auf und Ab zwischen nur zwei tonalen Ebenen hin und her. Ganz anders ist sie hingegen bei der dritten Strophe mit ihren expressiven Naturbildern angelegt: Hier ereignet sich in der Vokallinie ein fast dramatisches Steigen und Fallen über Tremoli im Klaviersatz.
Man kann bei einem Vergleich der verschiedenen Vertonungen dieses Mignon-Liedes durchaus zu der Auffassung gelangen, dass Hugo Wolf der Komplexität der dichterischen Aussage und der ihr zugrundeliegenden Metaphorik von allen Komponisten am ehesten gerecht geworden ist Fischer-Dieskau ließ jedenfalls seine kritischen Äußerungen über die Schubert-Vertonung des Mignon-Textes in die Feststellung münden: „Hugo Wolf schuf später eine überzeugende Version. Jedenfalls meint man - zumindest mir geht es so - , wenn man diesem Lied hörend begegnet, das zentrale, in Ges-Dur stehende und sich auf der Grundlage des Dreivierteltaktes leicht rhythmisiert entfaltende zentrale melodische Motiv, das schon im Vorspiel aufklingt und von der Singstimme dann übernommen wird, sei der gültige, durch nichts zu ersetzende und übertreffende Ausdruck jener Sehnsucht, von dem Goethes Verse sprechen.
Das Lied weist einen großen Reichtum an Ausdrucksformen im Bereich von Melodik und Klaviersatz auf. Formal schlägt sich das in den vielen Anweisungen zur Vortragsweise und zum Zeitmaß nieder, das jeweils zugrunde liegt. Dabei reicht die Bandbreite der musikalischen Expressivität von „langsam und sehr ausdrucksvoll“ bis hin zu „Leidenschaftlich hingebend“, und auf dem Feld der Dynamik vom Pianissimo bis zum Fortissimo. Und die letzten Takte des kurzen Nachspiel verklingen im Piano-Pianissimo. -
Hugo Wolf: „Mignon, Kennst du das Land“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Man vernimmt in den drei Strophen eine deutlich ausgeprägte Gliederung in jeweils drei Teile: Die Verse „Kennst du es wohl?“, die wiederholt werden, sind in ihrer Faktur von der vorangehenden Vierer-Versgruppe in markanter Weise abgesetzt, und dasselbe gilt für das von dem wiederholten „Dahin“ geprägte letzte Verspaar. Während die melodische Linie der Singstimme und der Klaviersatz bei den ersten vier Versen der drei Strophen jeweils deutlich differieren, bleiben sie – bis auf den Schluss des Liedes – bei den Refrain-Versen im wesentlichen identisch. Dieser Sachverhalt trägt nicht nur zur inneren Geschlossenheit des Liedes bei, er verleiht auch – jeweils rückwirkend – dem, was im Hauptteil der Strophen musikalisch gesagt wird, einen zusätzlichen Akzent.
Von seelenvoller Zartheit und Eingängigkeit ist die melodische Linie der Singstimme, die auf den ersten vier Versen der ersten Strophe liegt. Der Sekundschritt, der auf dem Wort „das“ („Land“) erfolgt, verleiht dem Sextfall zu dem Wort „o“ hin und der nachfolgenden Deklamation auf dieser tonalen Ebene eine große musikalische Eindringlichkeit, - ebenso die der – fast überraschende – Quintsprung zu dem Wort „blühn“ hin. Das „as“ wird hier lange gehalten und lässt dieses Wort wahrlich klanglich blühen. Auch das zugehörige Reimwort „glühn“ trägt eine melodische Dehnung, - wunderlicher Weise auf einem tiefen „b“: Die Singstimme hat bei dem Wort „Goldorangen“ aus einer langen Dehnung auf einem „des“ in hoher Lage einen Fall über eine ganze Oktave vollzogen, um danach weiter zu diesem „b“ herabzusteigen.
Warum? Es ist genialer musikalischer Ausdruck jenes „Glühens“, das seinem Wesen nach ein stilles, ganz mit sich selbst beschäftigtes Geschehen ist.
Immer wieder begegnet einem diese kompositorische Genialität in der Gestaltung der Melodik. Die Worte „Ein sanfter Wind“ werden auf einem Ton deklamiert, wobei das Wort „Wind“ eine melodische Dehnung trägt. Sanftheit verträgt keine melodischen Sprünge. Aber wenn mit dem Wort „Himmel“ die Dimension der Höhe ins Spiel kommt, macht die melodische Linie einen Quintsprung mit nachfolgender Dehnung und harmonischer Rückung. Die Melodik öffnet sich für die letzten Bilder. Auch hier wieder wunderbare, den Punkt treffende Melodieführung: Ein nur kleiner Terzsprung beim ersten Bild, denn die Myrte steht ja still, ein doppelt so großer aber beim zweiten, denn der Lorbeer steht „hoch“. Aber weil das ein im Stillen grünendes Gewächs ist, muss die melodische Linie erst einmal um eine ganze Oktave herabsteigen, bevor sie zu dem Wort „steht“ hin einen Sextsprung machen darf.
Vom Dreiviertel- in den Neunachteltakt wechselt das Lied fast schroff mit dem forte angeschlagenen siebenstimmigen Akkord über, der zu Beginn jenes Teils erklingt, der aus nichts anderem als der Frage „Kennst du es wohl?“ besteht. „Belebt“ und „leidenschaftlich“ lauten hier die Anweisungen. Der Klaviersatz gibt dafür den Ton an: Fallende und wieder steigende Oktaven im Diskant über in der tonalen Höhe permanent wechselnden Achtelakkord-Repetitionen prägen ihn klanglich. Auf dem Hintergrund der Sturzbewegung, die die Oktaven im Diskant machen, und der stürmischen Unruhe, die die Akkord-Repetitionen verbreiten, nimmt sich die melodische Linie der Singstimme, in der die Frage deklamiert wird, eigentümlich ruhig und verhalten aus. Das stellt ein lyrisches Ich eine Frage, die ihm aus der Seele kommt, und das tut es auf einer sich ruhig in Sekunden vollziehenden melodischen Fallbewegung, die sich erst ganz am Ende einen Quartfall mit Terzsprung erlaubt. Schließlich muss der Frage ja Nachdruck verliehen werden. -
Hugo Wolf: „Mignon“ (II)
Stürmisch aufwärtsdrängende, Bass und Diskant einbeziehende und in der Dynamik sich permanent steigernde Akkorde liefern das Klangbett für die Deklamation der Refrain-Verse: „Dahin, dahin…“. Sie erfolgt in einer Fallbewegung von großen und kleinen Sekunden, die ihre Dramatik daraus bezieht, dass die tonale Ebene, auf der sie sich ereignet, zweimal angehoben wird, bevor dann bei den Worten „O mein Geliebter“ der wie eine Erlösung wirkende Abstieg der melodischen Linie in untere Mittellage erfolgt. Freilich nicht, um dort zur Ruhe zu kommen. Denn das lyrisch Ich will ja „ziehn“. Also muss die Melodik am Ende einen Quartsprung mit nachfolgender Dehnung machen.
Dramatische Expressivität kennt dieses Lied auch: In der kompositorischen Umsetzung der lyrischen Bilder der dritten Strophe. Der Klaviersatz ist ganz und gar von Tremoli in Bass und Diskant beherrscht, deren klangliche, drängende Unruhe in das Lied bringende Wirkung dadurch gesteigert wird, dass sie kontinuierlich in der Tonhöhe ansteigen und dabei harmonische Modulationen durchlaufen. Auch in die melodische Linie der Singstimme kommen nun mehr Lebhaftigkeit und Dynamik. Sie nimmt in ihren Sprung- und Fallbewegungen größere Intervalle und schreitet auch größere tonale Räume aus. Beim ersten Vers steigt sie in Terzen an und macht zu den Konjunktion „und“ hin einen Quartfall. Vor dem Wort „Nebel“ vollzieht sie einen Sextsprung, verharrt dann in Gestalt einer langen Dehnung auf der ersten Silbe des Wortes, um bei der zweiten dann einen ausdrucksstarken Oktavfall zu machen und danach (bei dem Wort „Weg“) in große Tiefe herabzusteigen.
Bei dem Bild vom stürzenden „Fels“ kommt ein Crescendo in die melodische Linie, das sich bei dem Wort „Flut“ bis zum Fortissimo steigert. Es wird zunächst auf der tonalen Ebene eines „c“ in oberer Lage deklamiert, die Worte „Fels und „über“ tragen Dehnungen, wobei die erste eine Terz höher gesungen wird. Zu dem Wort „Flut“ hin macht die Vokallinie bei „ihn die“ zunächst einen Quintfall, dies nur, um den nachfolgenden, mit einer Rückung verbundenen Sextfall nur noch expressiver wirken zu lassen. Ein siebenstimmiges, über zwei Takte gehaltenes Tremolo begleitet die ebenfalls über zwei Takte sich erstreckende Dehnung bei diesem Wort.
Bei den beiden Schlussversen wandelt Wolf die Faktur der beiden vorangehenden Strophen im Sinne einer Kadenzierung des Liedes ab. Die Worte „Laß uns ziehn“ werden wiederholt, allerdings auf unterschiedlicher melodischer Linie. Beim ersten Mal macht die Singstimme einen Quartsprung mit Dehnung auf dem Wort „ziehn“. Bei der Wiederholung setzt sie in tieferer Lage an und vollzieht zu dem Wort „ziehn“ hin sogar einen Sextsprung. Nun verharrt sie aber nicht auf der tonalen Ebene, die sie damit erreicht hat, sondern macht innerhalb dieses Wortes noch einen Terzfall mit Dehnung.
Man meint hier zu hören, wie sich der Geist des Aufbruchs Ausdruck verschafft, sich dann aber zurücknimmt, weil das Bewusstsein der realen Situation des lyrischen Ichs diesen Geist zur schieren Sehnsucht werden lässt. Großartig, wie Wolf sich hier in die Gestalt der Mignon musikalisch einfühlt. -
Lieber Helmut,
die Version von Hugo Wolf kannte ich nicht, es ist eine wunderbare Vertonung, die die in dem Text thematisierte Sehnsucht auf unterschiedlichen Ebenen differenziert zum Ausdruck bringt. Vielen Dank für Deine genauen Analysen, die für mich immer eine Bereichung sind! Besonders gelungen finde ich hier die in der dritten Strophe hinzukommenden Unruhe und Dramatik.
Viele Grüße
Christian
Soeben sehe ich, dass Hugo Wolf drei weitere Mignon-Lieder geschrieben hat! Auch diese kenne ich noch nicht. Gefunden habe ich sie auf der Aufnahme von Sophie Karthäuser.
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Soeben sehe ich, dass Hugo Wolf drei weitere Mignon-Lieder geschrieben hat! Auch diese kenne ich noch nicht. Gefunden habe ich sie auf der Aufnahme von Sophie Karthäuser.
Auch diese werden, lieber Christian, später hier noch in die Betrachtungen einbezogen.
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Franz Liszt: „Mignon, Kennst du das Land“
Liszts „Mignon, Kennst du das Land" ist ein zweifellos gut zu hörendes und in seiner Melodik und Harmonik eingängiges Lied. Überaus expressiv ist die melodische Linie, die auf den Versen „Dahin, dahin möcht ich mit dir, o mein Geliebter (Beschützer), ziehn“. Sie ist aber nicht nur expressiv, sondern sogar von der Art Eingängigkeit, dass man meint, sie sei einem durchaus bekannt. Hier, an diesem Vers, zeigt sich zugleich auch ein Phänomen, auf das man bei Liszts frühen und mittleren Liedern immer wieder stößt: Er gerät bei seinem Versuch, den affektiven Gehalt eines lyrischen Verses mit musikalischen Mitteln aufzugreifen und zum Ausdruck zu bringen, leicht in die Gefahr, darin ein wenig zu übertreiben. Die Vokallinie wird nicht nur mit großer Emphase versehen, auch im Klaviersatz wird mit expressiven Mitteln gearbeitet, vom unruhigen Auf und Ab der Achtelfiguren bis hin zu arpeggierten Akkorden. Zudem kommt auch das Mittel der Wiederholung zum Einsatz:„Dahin, dahin, dahin / möcht ich mit dir, o mein Geliebter ziehn! / Dahin, dahin, dahin / mit dir, o mein Geliebter / mit dir, o mein Geliebter ziehn.“
Vergleicht man nun die verschiedenen Kompositionen auf dieses Goethe-Gedicht von Reichardt und Zelter bis hin zu Hugo Wolf, dann wird wieder recht deutlich, dass Franz Liszt der sich hier zeigenden Linie in der Entwicklung des Kunstliedes nicht wirklich angehört. Er steht sozusagen seitab, - womit kein Qualitätsurteil über seine Liedkomposition verbunden sein soll.
Bei ihm ist, anders als bei Schubert oder Hugo Wolf, eine die innere Einheit des Liedes stiftende Bindekraft der Melodik in Gestalt ihrer einzelnen Zeilen nicht vorhanden. Seine Vertonung wirkt wie aus musikalisch expressiven Einzelelementen komponiert, - zusammengehalten durch den Klaviersatz, der sich – wie eine Art musikalisches Bindemittel – in den Pausen der Singstimme beharrlich zu Wort meldet. Das eine ganz neue Art der Liedkomposition: Die Musikalisierung des Kunstliedes ist sozusagen an ihrem Endpunkt
Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Mit einem Vorhalt versehen, klingt ein arpeggierter Akkord auf, der in Form von zwei Abwärtsschritten in die melodische Dissonanz „cis“ – „f“ mündet. Wenn die Singstimme diese Bewegung aufgreift, dann nimmt sie dabei keine Rücksicht auf die sprachliche Akzentuierung des lyrischen Textes. Der musikalische Ton liegt auf dem „du“.
Dieses melodische Motiv kehrt im Lied immer wieder. Schon bei dem Vers „Ein sanfter Wind“ taucht es wieder auf, nachdem das Klavier es zuvor hat erklingen lassen. Aber es wird eingebunden in die melodischen Bewegungen, die die Aussage des lyrischen Textes reflektieren. Dort etwa, wo sich die melodische Linie bei den Worten „hoch der Lorbeer steht“ in hohe Lagen hinaufsteigert.
Das „Kennst du es wohl“ wird gleich dreimal wiederholt, in Form eines melodischen Aufwärtssprunges in Form einer Quinte mit nachfolgender Sekunde, und es wird gerahmt von gleichartigen Motiven in der Klavierbegleitung während der Pausen.
Deutlich melodisch und harmonisch abgehoben davon ist der Refrain. „Bewegter“ schreibt Liszt dafür vor. Das „dahin“ erklingt auch gleich drei Mal. Die melodische Linie bewegt sich dabei in drei Sprüngen in Form großer Intervalle hinauf in große Höhe und verharrt dort bei der Silbe „-hin“ mehr als einen halben Notenwert lang. Auch dieser Vers wird, in noch expressiverer Form, wiederholt, wobei einzelne Versteile ebenfalls noch eine Wiederholung erfahren. Das „o mein Geliebter“ wird mit diesem kompositorischen Mittel auf eindrucksvolle Weise hervorgehoben.
Auf „Kennst du das Land“ liegt wieder das bekannte Vorhalt-Motiv. Danach bewegt sich die melodische Linie der Singstimme wieder sprunghaft in die Höhe, deren Gipfelpunkt sie mit dem Wort „Saal“ erreicht. Durchweg ist diese aufwärts gerichtete Sprunghaftigkeit, bei der große Intervalle genommen werden, typisch für dieses Lied.
Immer wieder wird in fast exzessiver Weise mit den kompositorischen Mittel der Wiederholung gearbeitet. „Kennst du es wohl“ ist bei Goethe ein Vers. Bei Liszt aber wird es drei Mal musikalisch artikuliert, ebenso wie die Verse des Refrains und innerhalb desselben noch einmal die Worte „o mein Geliebter“ und „mein Beschützer“.
Bei der dritten Strophe („Kennst du den Berg…“) liegt eine andere melodische Linie auf den Versen. Es wird zunächst syllabisch exakt auf nur zwei Tönen deklamiert, während das Klavier sich in unruhigen Achteln auf und ab bewegt. Nicht mehr ein Vierviertel-Takt liegt zugrunde, sondern sechs Viertel. Und das setzt sich so fort bis zu den Worten „Es stürzt der Fels“. Hier setzen die großen Intervallsprünge nach oben und unten wieder ein.
Mit den Worten „Kennst du ihn wohl“ löst sich die Komposition völlig von Goethes Textvorgabe. Denn nicht nur, dass diese Worte wiederholt werden, - die Singstimme artikuliert jetzt: „Kennst du das Land, / kennst du das Haus, / kennst du den Berg, / kennst du sie wohl?“, - und das auf einer stufenweise abfallenden melodischen Linie, die in eine lange Pause mündet.
Auch der letzte Vers wird melodisch extensiv ausgestaltet. Mehrfach werden in emphatischer Steigerung Teile des Verses wiederholt, „sempre dolce“, und mit lebhaft aufsteigenden Sechzehntelfiguren im Klavier klanglich gesteigert und intensiviert. Mit den Worten „Geliebter dahin...“, „lento“ und „dolce“ auf einer ansteigenden melodischen Linie gesungen, klingt das Lied aus.
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„Mignon, Kennst du das Land“. Vergleichende Betrachtung
Die Vertonung dieses Mignon-Gedichts durch Hugo Wolf betreffend, meine ich, dass das zentrale, in Ges-Dur stehende und sich auf der Grundlage des Dreivierteltaktes leicht rhythmisiert entfaltende zentrale melodische Motiv, das schon im Vorspiel aufklingt und von der Singstimme dann übernommen wird, mir im Hören des Liedes so begegnet, als sei es der gültige, durch nichts zu ersetzende und übertreffende Ausdruck jener Sehnsucht, von dem Goethes Verse sprechen. Womit ich zum Ausdruck bringen wollte, dass für mich dieses Lied Hugo Wolfs dasjenige ist, das der Aussage dieses lyrischen Textes, seiner sprachlichen Struktur, seiner Metaphorik und der darin sich artikulierenden Gestalt „Mignon“ am meisten gerecht wird. Das ist freilich ein durchaus subjektives Urteil.
Franz Schubert hat ganz offensichtlich in dem als tiefinnerlichen Wunsch und als nachdrücklich geäußerte Bitte artikulierten „Dahin“ das lyrische Zentrum des Gedichts gesehen und sein Lied von daher komponiert. Immerhin konnte er von Goethe ja wissen, dass Mignon das „Kennst du es wohl?“ „geheimnisvoll und bedenklich“ aussprach, die Schlussverse aber „bald bittend, dringend, hurtig und vielversprechend“. Genau dieses will auch der Refrain in Schuberts musikalischer Faktur zum Ausdruck bringen. Und ganz in der Logik des im Grunde ja szenischen Ansatzes dieser Komposition liegt es auch, dass Schubert hier in einem für seine Verhältnisse ungewöhnlich großen Umfang das Mittel der Wiederholung einsetzt und die melodische Linie der Singstimme in arioser Weise weit phrasiert anlegt. Ass er damit, wiederum aus meiner Sicht, die Grundhaltung Mignons und den Ken ihrer Aussage verfehlt, wurde dargestellt.
Franz Liszt geht mit einer grundlegend anderen kompositorischen Intention an dieses Mignon-Gedicht heran, als dies bei Schubert oder Schumann der Fall ist. Ihm geht es darum,
den affektiven Gehalt eines lyrischen Verses mit musikalischen Mitteln aufzugreifen und zum Ausdruck zu bringen. Aus diesem Grund wird nicht nur die Vokallinie mit großer Emphase in Gestalt von Sprung- und Fallbewegungen über große Intervalle versehen, auch im Klaviersatz wird mit expressiven Mitteln gearbeitet, vom unruhigen Auf und Ab der Achtelfiguren bis hin zu arpeggierten Akkorden. Überdies kommt das Mittel der Wiederholung in geradezu exzessiver Weise zum Einsatz. Herausgekommen ist dabei zwar ein klanglich höchst eindrucksvolles Lied, aber eines, dem die in der musikalischen Bindekraft der Melodiezeile wurzelnde innere Einheit fehlt. Es wirkt alles wie aus musikalisch expressiven Einzelelementen zusammengesetzt, - zusammengehalten durch den Klaviersatz, der sich – wie eine Art musikalisches Bindemittel – in den Pausen der Singstimme beharrlich zu Wort meldet.
Robert Schumanns Liedkomposition auf dieses Gedicht ist das letzte Lied im 1849 publizierten „Liederalbum für die Jugend“ op.79. Die gute Aufnahme in der Öffentlichkeit hat ihn damals, wie man aus einem Brief an Johann August André weiß, dazu ermutigt, „alle Lieder und Gesänge aus Göthes W. Meister“ zu „componiren“.
Obgleich sich in der Faktur der einzelnen Strophen kleine Varianten finden, handelt es sich hier vom klanglichen Eindruck her um ein Strophenlied. Wahrscheinlich hat ihn die lyrisch-sprachliche Form des Gedichts - mit dem stets gleichen Einleitungs-Vers der Strophen und dem Refrain – dazu bewogen, das Lied strophisch anzulegen. Ohnehin ist es im kompositorischen Ansatz nicht von den lyrischen Bildern, sondern vom Gestus der lyrischen Sprache her komponiert. Das fällt ganz besonders bei der dritten Strophe auf, wenn auf den Worten „In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut“ die gleiche melodische Linie und der gleiche Klaviersatz liegen wie auf den Worten „Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht“.
Sie ist hörbar aus der Semantik dieser zweiten Wortgruppe hergeleitet: Bei dem Wort „sanfter“ steigt die melodische Linie in Terzschritten von Sechzehnteln rasch über mehr als eine Oktave nach oben und macht bei dem Wort „Wind“ eine bogenförmige Fallbewegung von einer Sekunde. Es folgt eine Sechzehntel-Pause. Die Worte „vom blauen Himmel weht“ werden anschließend auf einer melodischen Linie deklamiert, die in hoher Lage in Sekundschritten fällt und wieder ansteigt, wobei das Wort „blauen“ durch einen leicht gedehnten Sekundfall besonders akzentuiert wird. Das Klavier begleitet hier mit triolischen Sechzehntel-Akkordrepetitionen aus Terzen Quarten und Sexten.
Schumann lässt, wie er es in allen seinen Mignon-Liedern getan hat, diese literarische Gestalt sich melodisch-musikalisch so aussprechen, wie sie ihm romanhaft begegnet ist: Als rätselhaft verschlossenes Wesen, von dem es heißt: „Nur wenn sie den Mund zum Singen auftat, wenn sie die Zither rührte, schien sie sich des einzigen Organs zu bedienen, wodurch sie ihr Innerstes aufschließen und mitteilen konnte.“. Diese kompositorische Intention steht wohl auch hinter der Tatsache, dass er häufig zu dem Mittel der Textwiederholung greift. Auch hier ist dies der Fall. Die Worte „Kennst du es wohl“ und das „Dahin, dahin…“ des Refrains werden regelmäßig wiederholt.
Es ist nicht das unter seinem Schicksal still leidende, in seinem Wesenskern aber doch kindlich-naiv gebliebene weibliche Wesen, wie es uns in den Liedern Schuberts begegnet, das Schumann hier – wie auch in seinen anderen drei Liedern – sich musikalisch artikulieren lässt. Es ist die von ihren seelischen Konflikten – auch von der Liebe zu Wilhelm – innerlich tief aufgewühlte, ja zerrissene Frau, die dann aber am Ende in der Vision einer gleichsam transzendenten Existenz zur inneren Ruhe findet. Dass sie diese aber in ihrer realen Existenz noch nicht erreicht hat, das lässt dieses Lied Schumanns schon in seinem viertaktigen Vorspiel vernehmen, in dem die Sechzehntel, vom g-Moll des Anfangs ausgehend, in ihren Bewegungen auf und ab chromatische Modulationen durchlaufen, die harmonisch weit entfernt sind von der Diatonik der Einleitung des Schubert-Liedes.
Und dieser Nachklang des seelischen Leidens ist auch in der Art und Weise zu vernehmen, wie Mignon bei Schumann diesen lyrisch so zentralen Refrain des „Dahin, dahin“ melodisch deklamiert. Es geschieht forte, auf der klanglichen Basis von größtenteils achtstimmigen triolischen Sechzehntel-Akkordrepetitionen. Zunächst macht die melodische Linie beim ersten „Dahin, dahin“ zwei Quartsprünge, deren zweiter allerdings tiefer und harmonisch gerückt ansetzt. Das empfindet man schon wie eine leichte Zurücknahme der Emphase, die dem sehnsuchtsvoll entschlossenen „Dahin“ zunächst innewohnt.
Bei der Wiederholung stellt sich dieser Eindruck aber noch viel intensiver ein. Die melodische Linie setzt wieder mit dem gleichen Quartsprung ein wie beim ersten Mal. Er ist nun aber mit einem Diminuendo versehen. Das zweite „dahin“ wird auf einem verminderten Quartsprung deklamiert, der mit einer Rückung in Moll-Harmonik verbunden ist. Danach macht die melodische Linie einen Quintfall, verharrt kurz auf dieser Ebene und beschreibt bei den Worten „o mein Geliebter ziehn“ nach einer kurzen Aufwärtsbewegung einen verminderten Quintfall. -
Franz Schubert: „Lied der Mignon“, op. 62, Nr. 4 (D 877)
Nur wer die Sehnsucht kennt
Weiß, was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude
Seh ich an's Firmament
Nach jener Seite.
Ach, der mich liebt und kennt,
Ist in der Weite.
Es schwindelt mir, es brennt
Mein Eingeweide.
Nur wer die Sehnsucht kennt
Weiß, was ich leide!
Dieser lyrische Text beschließt das elfte Kapitel des vierten Buchs des Romans. Wilhelm hält ein Billet seiner Retterin Natalie in Händen, deren Namen und Identität er aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennt. Nun heißt es im Roman:
„Er verfiel in eine träumende Sehnsucht, und wie einstimmend mit seinen Empfindungen war das Lied, das eben in dieser Stunde Mignon und der Harfner als ein unregelmäßiges Duett mit dem herzlichsten Ausdrucke sangen.“
Diese Textpassage ist von Bedeutung, denn es wird daraus erklärlich, dass Schubert den lyrischen Text zunächst als Duett vertonte. Erst danach, vermutlich auf Bitte des Verlegers hin, entstand das Klavierlied für Solo-Singstimme. An dieses Gerücht vermag ich nicht zu glauben. Schubert hat sich allemal einem liedkompositorischen Vorhaben nur zugewendet, wenn es ihm ein inneres Anliegen war. Und das war bei den Mignon-Liedern mit Sicherheit der Fall. Die Vielzahl der Bearbeitungen ist ein sicherer Hinweis darauf. Von diesem Lied liegen sechs Bearbeitungen vor. Diese, hier zur Besprechung anstehende, ist die letzte. Sie entstand im Januar 1826.
Die Verse bringen die für das Leben und Dasein grundlegende existenzielle Befindlichkeit Mignons zum Ausdruck. Ihr Kern ist „Sehnsucht“. Und diese ist für sie der Quell ihres Leidens, dem sie Ausdruck verleiht. Da das erste Verspaar am Ende unverändert noch einmal auftritt, bildet es gleichsam den Rahmen für die lyrische Konkretion des Leidens, die sich in den Versen dazwischen ereignet. Das geschieht auf formal bemerkenswerte Weise. Metrisch changieren die Verse auf unregelmäßige Weise zwischen Trochäus, Daktylus und Jambus. Nur zwei Reime sind nach dem Kreuz-Schema miteinander verbunden. Der sprachlich konstatierende Gestus der einzelnen Verse erfährt im fünften Verspaar eine Durchbrechung in Gestalt eines Enjambements.
Diese prosodischen Gegebenheiten bringen zum Ausdruck:Hier artikuliert sich ein lyrisches Ich in seiner existenziellen Befindlichkeit auf innerlich unruhige (Wechsel im Metrum) und von Erregung (Enjambement) überwältige Weise, ist dabei gleichwohl aber bemüht, die Fassung zu bewahren (sprachlich konstatierender Gestus). Sein in der Sehnsucht gründendes Leiden manifestiert sich lebensweltlich als ein Abgetrennt-Sein von aller Freude und den Menschen, die es kennen und lieben. Ein Leiden unter Einsamkeit also, die sich lyrisch in den Worten „Seh ich an's Firmament“ und „Ist in der Weite“ artikuliert. Das Leiden erfährt expressiven Ausdruck in den Worten „Schwindel“ und „Brennen der Eingeweide“ und in der Wiederholung der anfänglichen Aussage am Ende. Noch nicht aber enthüllt sich hier der wahre Kern der „Sehnsucht“. Dass es nämlich bei Mignon um die einer Erlösung aus ihrer physischen Existenz geht.
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Goethe hat das Gedicht im Juni 1785 geschrieben (also fast 50 Jahre vor Schuberts letzter Version) und es Charlotte von Stein geschickt. Einen Brief dazu konnte ich nicht finden. In der Zeit hat er auch an der Urfassung von Wilhelm Meister gearbeitet, in dem es leicht verändert vorkommt. Offenbar hat Goethe das Gedicht also ohne Ergänzung und ohne Hinweis auf den Roman an Frau von Stein geschickt, so dass sie diese Zeilen, wie viele andere auch, nur auf ihn - und nicht auf Mignon - beziehen konnte (wie bspw. das berühmte " Warum gabst du uns die tiefen Blicke").
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Offenbar hat Goethe das Gedicht also ohne Ergänzung und ohne Hinweis auf den Roman an Frau von Stein geschickt, so dass sie diese Zeilen, wie viele andere auch, nur auf ihn - und nicht auf Mignon - beziehen konnte (wie bspw. das berühmte " Warum gabst du uns die tiefen Blicke").
Ja, so ist es wohl. Im Juni 1785 hat Goethe nur einen Brief an Charlotte von Stein gerichtet ("Neustadt an der Orla, d. 27 Jun.85"), und darin ist von diesen Versen nicht die Rede. Er hat sie ihr wohl kommentarlos zukommen lassen.
Erst in einem Brief vom elften November 1785 ("Ilmenau d. IIten.") kommt er auf die "Lehrjahre" zu sprechen. Dort heißt es:
"Heute hab´ ich endlich das sechste Buch geendigt. Möge es euch soviel Freude machen als es mir Sorge gemacht hat, ich darf nicht sagen Mühe. Denn die ist nicht bey diesen Arbeiten, aber wenn man so genau weis was man will, ist man in der Ausführung niemals mit sich selbst zufrieden (...)."
Übrigens ein schöner Beleg für den hohen Grad an kritischer Reflexion, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, die mit Goethes literarischer Arbeit einhergingen.
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Schubert: „Lied der Mignon“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Mit einem sechstaktigen Vorspiel setzt die Liedmusik ein. Ein Sechsachteltakt liegt ihr zugrunde, sie soll „langsam“ vorgetragen werden. Das Vorspiel besteht aus der „pp“ und „legato“ auszuführenden Bewegung von Oktaven. Sie entfaltet zunächst das auf den Worten „Nur wer die Sehnsucht kennt“ liegende melodische Schlüsselmotiv des Liedes und geht danach, ansetzend an dem dreischrittigen Sekundfall am Ende des Motivs in eine Art Fortentwicklung dieser melodischen Fall-Figur in Gestalt einer rhythmisierten Fall-Folge von fünf Oktaven über, die in einen länger gehaltenen e-Moll-Akkord mündet. Beschlossen wird das Vorspiel mit einem lang gehaltenen a-Moll-Akkord. Das a-Moll stellt auch die Grundtonart der Liedmusik dar, und das Vorspiel ist dementsprechend in einer Rückung von dieser zur Dur- und Moll-Dominante harmonisiert.
Die Melodik auf den eine Zeile bildenden Worten „Nur wer die Sehnsucht kennt / Weiß, was ich leide!“ entfaltet den Geist dieser Liedmusik, der darin die Grundhaltung reflektiert, in der die bekenntnishaften lyrischen Äußerungen Mignons, so wie Schubert sie aufgefasst hat, erfolgen. In ruhigem, in einer Folge von anfänglich punktierten deklamatorischen Viertel- und Achtelschritten geht die melodische im Siciliano-Rhythmus über Sekundintervalle in einen Anstieg über, dem auf der zweiten Silbe von „Sehnsucht“ und dem Wort „kennt“ ein dreischrittiger Sekundfall in Gestalt von Sechzehntel-Schritten nachfolgt, die in eine kleine Dehnung münden.
Das Wort „Sehnsucht“ erfährt auf diese Weise eine kleine Akzentuierung, die allerdings, und das ist bemerkenswert, über eine melodische Fallbewegung erfolgt, die überdies in a-Moll-Harmonik gebettet ist. Diese Sehnsucht ist also keine affektiv positiv besetzte, das macht Schuberts Liedmusik gleich beim ersten Auftritt dieses lyrischen Schlüsselwortes deutlich. Und die Melodik auf den Worten „was ich leide“ konkretisiert das, indem sie, nun mit einer starken Dehnung auf dem Wort „weiß“ einsetzend, die in hartem E-Dur harmonisiert ist, in einen, nun in a-Moll gebetteten Anstieg übergeht, dem ein ausdrucksstarker, auf einem hohen „E“ ansetzenden und in E-Dur harmonisierter und anfänglich leicht gedehnter Legato-Fall über eine Sekunde und eine Terz nachfolgt.
Diese im Kontrast zum a-Moll auftretende Dominanz des Tongeschlechts Dur in Gestalt der Dur-Dominante zur Grundtonart wird von Schubert in diesem Lied immer wieder eingesetzt. Und dies, so verstehe ich das, um den Äußerungen Mignons die Anmutung von konstatierender Nachdrücklichkeit zu verleihen, als Pendant sozusagen neben dem schmerzlichen Klageton, der ihnen ansonsten innewohnt. Das ist eine Charakterisierung dieser so geheimnisvollen Gestalt, die deren Ambiguität im Auftreten erkennen lässt, so wie Goethe sie dargestellt hat. Dieser Umschlag von Moll-zu Durharmonisierung ereignet sich auch bei der Wiederholung des ersten Verspaares, die ja am Ende des Liedes noch einmal erfolgt, worin sich manifestiert, dass Schubert in dessen Aussage als lyrischen Niederschlag des Wesenskerns dieser Mignon-Gestalt aufgefasst und verstanden hat. Während die Wiederholung am Ende aber eine unveränderte Wiederkehr von Melodik und Klaviersatz der anfänglichen Liedmusik auf diesen beiden Anfangsversen darstellt, ist das bei deren neuerlicher, nach einer Achtelpause einsetzender Deklamation nicht der Fall.
Weil sie für Schubert Ausdruck des existenziellen Wesens von Mignon sind, verleiht er der Melodik höhere Expressivität. Sie setzt nun auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene an, und nach der Tonrepetition eine Sekunde höher geht sie bei dem Schlüsselwort „Sehnsucht“ in eine Dehnung auf der tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage mit nachfolgendem Sekundanstieg über, der bei „kennt“ in einen Legato-Sekundfall mündet, der, da es sich hier um einsilbiges Wort handelt, eigentlich unangebracht ist. Aber das und der gedehnte Sekundfall in hoher Lage sind kompositorische Mittel der Expressivitätssteigerung, die vernehmlich werden lässt, welch hohes affektives Potential dieser Äußerung Mignons innewohnt. Und dazu dient auch die Harmonisierung. Auf den Worten „nur wer die“ vollzieht die Harmonik eine Rückung von a-Moll nach d-Moll, bei „Sehnsucht“ aber geht die nach E-Dur über, um bei dem Legato-Sekundfall auf „kennt“ wieder zur Tonika a-Moll zurückzukehren. Auf den Worten „weiß, was ich leide“ beschreibt die melodische Linie eine strukturell ähnliche Bewegung wie beim ersten Mal. In drei wesentlichen Aspekten weicht sie aber davon ab. -
Ein wunderbares Lied und eine starke Aufnahme, finde ich!
Die Melodie zu Beginn und wieder am Ende kommt mir bekannt vor, hat Schubert sie noch woanders verwendet?
Seltsamerweise habe ich mich erst jetzt gefragt, was mit "Seite" (Z. 6) eigentlich gemeint ist.
Aber das kann ja nur die Sehnsucht sein, die das lyrische Ich beim Blick ins weite Firmament sieht?
Beziehungsweise sieht es jetzt diese Seite des Himmels.
Wie verstehst Du das, lieber Helmut?
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Die Melodie zu Beginn und wieder am Ende kommt mir bekannt vor, hat Schubert sie noch woanders verwendet?
D403 „Ins stille Land“ (Johann Gaudenz von Salis-Seewis, komponiert im März 1816).
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Die Melodie zu Beginn und wieder am Ende kommt mir bekannt vor, hat Schubert sie noch woanders verwendet?
Seltsamerweise habe ich mich erst jetzt gefragt, was mit "Seite" (Z. 6) eigentlich gemeint ist.
Aber das kann ja nur die Sehnsucht sein, die das lyrische Ich beim Blick an das weite Firmament sieht?
Beziehungsweise sieht es jetzt diese Seite des Himmels.
Wie verstehst Du das, lieber Helmut?
Nein, direkt verwendet hat er sie meines Wissens direkt nicht noch einmal. Aber die Melodik hat in der Tat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Lied „Ins stille Land“, auf das Ulli verwiesen hat, und zwar in dem zweischrittig repetitiven Sekundanstieg mit nachfolgendem Fall am Anfang.
Aber ich glaube, dass Du, lieber Christian, indirekt das Wesen von Schuberts Melodik angesprochen hast, bei der sich häufig das Gefühl eines gewissen Vertraut-Seins einstellt, die Vermutung, sie komme einem bekannt vor, man habe sie schon einmal gehört.
Das liegt an ihrem Wesen. Sie orientiert sich grundsätzlich in ihrer strukturellen Entfaltung an der Art und Weise, wie der Mensch singen würde, wenn er sich spontan diesem Bedürfnis hingibt. Daher die sich immer wieder einmal sich einstellende Volksliednähe. Und das hängt damit zusammen, dass Schuberts Melodik in ihrem Wesen Musik gewordene Sprache ist. Es ist der gleiche deklamatorische Grund-Gestus, der beidem zugrunde liegt.
Aber zu deiner zweiten Frage:
Mignons Sehnsucht ist im Grunde ein Herauswollen aus ihrer existenziellen Befindlichkeit. Sie ist in fundamentaler Weise nicht zu Hause: Nicht in ihrem Körper und nicht an dem menschlichen und gesellschaftlichen Ort, an dem sie sich befindet. Diese Sehnsucht ist aber nicht zielgerichtet auf einen bestimmten Ort ausgerichtet. Und das drückt sich in diesem lyrischen Bild aus, dem Blick ins Firmament in allen seinen Richtungen, so dass sich emotional die Erfahrung von grenzenloser, aus der existenzieller Gefangenschaft erlösender Weite einstellt.
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Schubert: „Lied der Mignon“ (II)
Auf „was“ ereignet sich ein deklamatorisches Tremolo, auf „leide“ liegt nun ein einfacher gedehnter Sekundfall, nicht mehr die Kombination aus Sekund und Terzfall wie beim ersten Mal, und die Harmonisierung ist eine gänzlich andere als dort. Die Melodik ist ganz und gar im Tongeschlecht Dur harmonisiert, und zwar in C-Dur mit zweimaliger Zwischenrückung zur Dominante G-Dur. Und dies bis einschließlich des nachfolgenden kurzen, einen Takt einnehmenden Zwischenspiels, das in C-Dur-Harmonisierung endet. Es besteht, wie der ganze Klaviersatz bis dahin, aus steigend angelegten triolischen Achtelfiguren im Diskant und lang gehaltenen bitonalen Akkorden im Bass. Er akzentuiert die Siciliano-Rhythmik der Melodik, die ihrerseits den starken Anteil von Daktylen im Metrum der lyrischen Verse reflektiert.
Aber bemerkenswert ist der hohe Grad an Dur-Harmonisierung der Melodik in der Wiederholung des ersten Verspaares. Ganz offensichtlich dient sie Schubert dazu, die Komponente nachdrücklichen Konstatierens musikalisch hervorzuheben, die er in den Äußerungen Mignons vernimmt. Dazu ist sie allerdings nur in ihren Gesängen in der Lage, ansonsten verharrt sie in ihrem sprachlichen Verkehr mit den Mitmenschen zumeist in tiefem Schweigen, was sie ja auch in einem dieser Lieder zum Ausdruck bringt. Nur in diesen öffnet sie sich in ihrer existenziellen und seelischen Befindlichkeit, dies aber nur behutsam und im Dunkel verbleibender Sprachlichkeit. Aber eben dieses wollen die Komponisten ein wenig aufhellen, das macht, wie auch bei Schubert, den Reiz aus, der von diesen Mignon-Gesängen ausgeht.
Bei den Versen drei bis sechs, in denen Mignon auf die wesenhafte Einsamkeit ihrer Lebenssituation, das Allein- und Abgetrennt-Sein von aller Freude verweist, beschreibt die Melodik zwei Mal eine strukturell ähnliche weit ausgreifenden bogenförmige Bewegung, die sich beim zweiten Mal in ihrer Expressivität dadurch steigert, dass sie nach ihrem repetitiven Anstieg in der tonalen Ebene um eine Sekunde weiter nach oben ausgreift. Die Worte „von aller Freude“ erfahren eine Akzentuierung dadurch, dass die melodische Linie, in D-Dur mit Zwischenrückung nach c-Moll harmonisiert, einen verminderten Legato-Sekundsprung mit nachfolgendem Terzfall vollzieht. Eine noch stärkere Akzentuierung erfahren die Worte „nach jener Seite“. Auf ihnen beschreibt die melodische Linie eine auf der Ebene eines „F“ in hoher Lage ansetzende Fallbewegung in Gestalt eines zweimaligen Legato-Sekundfalls auf den beiden Silben von „jener“ und verharrt dann bei Seite auf „Seite“ in einer langen Dehnung auf der tonalen Ebene eines „H“ in mittlerer Lage, in die ein Sechzehntel-Vorschlag eingelagert ist. Die Harmonik vollzieht hier eine Rückung von G-Dur nach E-Dur, die dominantischen Charakter hat. Während dieser ganzen, relativ langen Melodiezeile ereignen sich immer wieder diese Rückungen von Moll nach Dur (c-Moll, D-Dur, g-Moll) und das Klavier begleitet nun mit dreistimmigen Viertel-Akkorden im Diskant, die in einem Legato-Anstieg oder -Fall von punktierten Vierteln erklingen.
Die Worte „Ach, der mich liebt und kennt, /Ist in der Weite“ stellen einen aus tiefer Seele hervorgehenden Klageruf dar. Schubert vernimmt ihn, und das zu Recht, als einen monologisch-introvertierten und lässt die Melodik auf ihm „sehr leise“ vortragen und gegen Ende hin in ein Diminuendo übergehen. Das Klavier, das weiterhin mit der beschriebenen Figur begleitet, muss das nun im Piano-Pianissimo tun. Die Melodik, in einer zweimaligen Rückung von E-Dur nach a-Moll harmonisiert, entfaltet sich in dem ihr innewohnenden Fallgestus stockend, von einer Achtelpause nach „ach“ und „kennt“ unterbrochen, und reflektiert darin dieses schmerzerfüllte In-sich Hineinsprechen Mignons.
Dann aber ereignet sich ein gerade schroffer Einbruch in die leise-schmerzliche Siciliano-Melodik. Dreistimmige verminderte Sechzehntel-Akkord-Folgen, partiell in Sextolen-Gestalt, erklingen im Diskant, im Bass, begleitet von in tiefer Lage ansetzenden Legato-Oktavsprüngen von Vierteln und Achteln. Sie stellen in Gestalt permanenter Variation der akkordischen Sextolen und Duolen den Klaviersatz dar, der der Melodik auf den Worten der Verse neun und zehn zugeordnet ist und ihren deklamatorisch wesenhaft rezitativischen Gestus reflektiert und akzentuiert. Bei den Worten „Es schwindelt mir, es brennt / Mein Eingeweide“ ereignet sich für Schubert ein Ausbruch aus der Innerlichkeit der Äußerungen in einen schmerzerfüllt-extrovertierten Klageruf. Und so legt er denn auf sie eine Melodik, die in ihrer repetitiven Entfaltung auf in Sekundintervallen ansteigender und dann wieder fallender Ebene dieses in deklamatorisch rezitativischem Gestus zum Ausdruck bringt. Und weil Mignon hier für einen Augenblick aus ihrer autistischen Verschlossenheit ausbricht und Einblick ihr seelisches Inneres gewährt, wiederholt er diese Worte noch einmal. -
Bei den Worten „Es schwindelt mir, es brennt / Mein Eingeweide“ ereignet sich für Schubert ein Ausbruch aus der Innerlichkeit der Äußerungen in einen schmerzerfüllt-extrovertierten Klageruf. Und so legt er denn auf sie eine Melodik, die in ihrer repetitiven Entfaltung auf in Sekundintervallen ansteigender und dann wieder fallender Ebene dieses in deklamatorisch rezitativischem Gestus zum Ausdruck bringt. Und weil Mignon hier für einen Augenblick aus ihrer autistischen Verschlossenheit ausbricht und Einblick ihr seelisches Inneres gewährt, wiederholt er diese Worte noch einmal.
In der Frankfurter Ausgabe weist der Herausgeber im Kommentar darauf hin, dass in dieser Zeit "Eingeweide" neben dem körperlichen auch das "seelische Innere", das "Gemüt" meine.
Grimms Wörterbuch: oft blosz für das innerste herz
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Schubert: „Lied der Mignon“ (III)
Bei den Worten „Es schwindelt mir“ steigt die melodische Linie, in D-Dur harmonisiert, in repetitivem Gestus um eine kleine Sekunde zur tonalen Ebene eines „D“ in hoher Lage an, wobei die sextolischen Akkordrepetitionen nun eine verminderte Sekundreibung aufweisen. Schuberts Musik nimmt hier eine höchst schmerzliche Eindringlichkeit an. Erst nach einer Dreiachtelpause setzt die melodische Linie auf den Worten „es brennt / Mein Eingeweide“ im gleichen Gestus der Tonrepetition fort, nun in rhythmisierter Weise auf der Ebene eines hohem „F“ und, weil es eine Fünffach-Repetition ist, in der Eindringlichkeit noch gesteigert. Die Harmonik vollzieht dabei eine Rückung von B-Dur über d-Moll nach f-Moll. Danach senkt sie sich über eine Quarte zur Repetition auf erst der Ebene eines „C“, dann auf der eine „H“ in mittlerer Lage ab, nun wieder in d-Moll harmonisiert und vom Klavier mit repetitiven Sechzehntel-Sextolen begleitet, die eine gleich zweimalige klanglich schmerzliche Sekundreibung aufweisen.
Bei der Wiederholung dieses Verspaares lässt Schubert die melodische Linie zwar noch einmal in diesem Gestus der Tonrepetition ansteigen, nun aber in tieferer Lage und vor allem in ruhigeren, weil in Gestalt von Schritten im Wert eines Viertels und eines Achtels und nicht, wie beim ersten Mal in einer Folge von Achtel-, Sechzehntel- und Zweiunddreißigstel-Schritten. Und auf der ersten Silbe von „Eingeweide“ liegt sogar eine kleine Dehnung, bevor sich die melodische Linie in zwei Sekundschritten über einen Sechzehntelvorschlag zu einer Repetition auf der Ebene eines „Gis“ in tiefer Lage absenkt. Die Harmonik vollzieht hier eine Rückung von D7-Dur nach E-Dur und die sextolischen Akkordrepetitionen setzen sich noch über den ganzen nachfolgenden Takt hin fort, bis eine fermatierte Achtelpause in die Musik tritt.
Die Phase des Ausbruchs in hocherregt-expressive schmerzliche Klage ist zu Ende. Sie hat sich in der Wiederholung aus der Extrovertiertheit in die Innerlichkeit zurückgenommen, wobei die wie Kraftlosigkeit anmutende Reduktion der Repetitionen, ihr Übergang in melodische Dehnung und das Absinken in tiefe Lage sie umso anrührender werden lässt. Große Liedmusik ist das, was Schubert hier aus den Mignon-Versen gemacht hat. Und ganz in der Konsequenz dieses Sich-Zurücknehmens des lyrischen Ichs in die Innerlichkeit der schmerzlichen Klage liegt auch, dass er nach der fermatierten Achtelpause die Liedmusik auf dem ersten Verspaar mitsamt der Wiederholung noch einmal erklingen lässt. In Gestalt von nur einer, darin aber bemerkenswerten Variation in der Melodik. Beim zweiten Mal endet der Anstieg der melodischen Linie nun bei dem Wort „kennt“ in einer Dehnung auf der Ebene eines „F“ in hoher Lage, die sforzato auszuführen ist, bevor sie bei dem Wort „weiß“ eine ganze Sexte tiefer im Pianissimo ihre Bewegungen wie beim ersten Mal fortsetzt, um sie in ein Nachspiel münden zu lassen, das sich als exakte Wiederkehr des Vorspiels erweist.
Dieses kurze expressive Innehalten der Melodik auf dem Wort „kennt“ lässt auf exemplarische Weise erkennen und vernehmen, wie tiefreichend Schubert in diesem Lied das affektive Potenzial der Worte Mignons erfasst und damit auch ihr Wesen liedmusikalisch zum Ausdruck gebracht hat. -
Hugo Wolf: „Mignon. Nur wer die Sehnsucht kennt“
Im Unterschied zu Schubert, dessen Lied musikalisch die stille Ergebung Mignons in ihr Schicksal atmet, hat Hugo Wolf seine Komposition darauf angelegt, alle Winkel des seelischen Leidens dieses geheimnisvollen Wesens Mignon musikalisch auszuleuchten, und dies unter Einsatz kompositorischer Mittel, die in der bis in die klangliche Schroffheit gesteigerten Expressivität weit über das hinausgehen, wozu Schubert zu seiner Zeit kompositorisch in der Lage war. Typisch für seine Liedmusik ist die insistierend drängende Rhythmik, die sich im weiteren Verlauf noch steigert und den Höhepunkt bei jenen Versen erreicht, bei denen die Bekenntnisse des lyrischen Ichs in einem Schmerzensschrei kulminieren: „Es schwindelt mir, es brennt / Mein Eingeweide“.
Die Dynamik des Liedes, die sich bis dahin im Piano-Bereich bewegte, steigert sich hier ins Forte, und die Sprungbewegungen der Oktaven im hohen Diskant wirken zusammen mit den extremen harmonischen Rückungen wie außer Rand und Band geraten. Das Lied wirkt an dieser Stelle klanglich regelrecht erschreckend. Auch bei den Versen, die vom inneren „Schwindel“ und vom „Brennen der Eingeweide“ sprechen, begegnet man dieser kompositorischen Radikalität, mit der Wolf musikalisch in die Psyche dieser literarischen Gestalt „Mignon“ vordringt.
Die Radikalität der Komposition zeigt sich auch darin, dass sie keine Rücksicht nimmt auf die Orientierung an der Grundtonart, sondern in einer Art uferlosem chromatischen Schweifen permanent harmonische Modulationen durchläuft. Dieses Lied steht zwar in g-Moll, ein g-Moll-Dreiklang kommt aber nirgends in voll ausgebildeter Weise vor, er wird nur in Takt 14 kurz bestreift. In dieser harmonischen „Haltlosigkeit“ erinnert die Komposition ein wenig an die Tristan-Harmonik, und der Wolf-Biograph Kurt Honolka hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass die Singstimme in der Struktur ihrer Bewegung eine fast vollständige Zwölftonreihe durchmisst.