Hallo,
Durch den "Glocken-Thread" bin ich durch Zufall darauf gestoßen, dass Oskar Gottlieb Blarr in diesem Forum noch kaum besprochen wurde und möchte seine Jesus-Passion an dieser Stelle gerne einmal zum Thema machen. Vor einigen Jahren erlebte ich diese Passion als Mitwirkender im Chor und vor allem die Kreuzigungsszene hat mich tief beeindruckt. Blarr grenzt sich bewusst von der Matthäus-Passion ab und beschreitet neue Wege wie weiter unten zu lesen ist.
Eine passende Aufnahme habe ich leider im Moment online nicht gefunden. Ich selbst besitze zwei verschiedene Aufnahme (von 1985 und von 1990 - die ältere leitet der Komponist selbst).
Anfangs möchte ich einen Artikel aus der Jerusalem Post vom 27. März 1989 zitieren, der dort unter dem Titel "Composer with a Mission" veröffentlicht wurde:
ZitatAlles anzeigenDie Jesus-Passion ist ein großes Werk. Es konnte nur von jemandem komponiert werden, der von seiner Mission überzeigt ist. Die Passion transportiert gleich zwei Inhalte, einen musikalischen und einen theologischen. Nachdem Blarr die Bach'sche Matthäus-Passion 1978 aufgeführt hatte, merkte er, dass die Evangelien - allen voran das nach Matthäus - eine fürchterliche anti-jüdische Kontonation implizierten, welche eine schreckliche Blutspur durch die Kirchengeschichte hinter sich her zog.
Nach Matthäus werden alle Juden für den Tod Jesu verantwortlich gemacht. Von dieser apostolischen Autorität beseelt, erstreckte sich der Hass des Christentums in höchst brutalen Verfolgungen vom Mittelalter bis zum Holocaust. Bachs Matthäus-Passion, so sagt Blarr, pflanzt beim Hörer - wenn auch ungewollt - durch seine unglaubliche Schönheit eine beängstigende anti-jüdische Tendenz ein. Oskar Gottlieb Blarr, Komponist, Organist und Musikdirektor an der Neanderkirche in Düsseldorf, wurde nach und nach überzeugt, dass das Martyrium Christi musikalisch in völlig anderer Weise erzählt werden müsse.
Er weist die matthäische Version der Kreuzigung völlig von sich und hat dafür, für seine eigene Passion, einen insgesamt anderen Text zusammengestellt. Diese Tatsache kann man nicht genug betonen. Blarr hat sich tatsächlich von einer höchst heiligen Tradition des Christentums verabschiedet.
Die Blarr'sche Passion basiert hauptsächlich aus Zitaten aus den Psalmen, aus den Prophetenbüchern, dem Talmud, dem Neuen Testament und aus dem poetischen Werk von Pinhas Sadeh. Die höchst bewegende Neuerung ist der Einschluss des Shema (Höre, Isreal), aus dem, so Blarr, die letzten Worte Jesu am Kreuz waren.
Was Blarr musikalisch erreicht hat, ist wirklich überwältigend. Während er viel Zeit in Israel verbrachte, sammelte er das musikalische Material, aus welchem das ganze Werk konstruiert ist. Es ist aus jemenitischer und samaritanischer Liturgie entlehnt, aus Gebetsmelodien der syrischen Kirche in Jerusalem und Bethlehem, und aus der Kantillierung und Gebetspraxis der aschkenasischen und sepharidischen Synagogal-Gottesdienste.
Blarr arbeitet mit modalen, nahöstlichen Tonleitern, typisch nahöstlichen Intervallen, verzierten zentralen Tönen, melismatischen Passagen, die an marokkanische Vorsänger erinner, Pijjutim-Melodien aus Nordafrika und schließlich melodische, rhythmische (hora) Muster der so genannten israelisch-mittelmeerischen Musik der Vierzigerjahre. All diese Elemente sind zu einem hoch expressiven, zeitgenössischen Stil verbunden.
Die Passion erwächst aus einer nebulösen Klanglandschaft, aus der sich langsam Motive herausheben, sie kommt zu einem erschütternden Höhepunkt nach dem Tod Jesu. Danach kehrt sie zur impressionistischen Nebelhaftigkeit in Sadehs "Schneefall auf Jerusalem" zurück und endet fast unhörbar mit "Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft." (Psalm 62,2)
Blarr arbeitet auch breit mit responsorischen Techniken, Heterophonie und stereophoinischen Effekten. Die Psalmenpassagen sind von großer lyrischer Schönheit, Jesus' Rolle ist hoch dramatisch, und die vielen Blech-Strukturen oder Solos fügen ein Element von Grandeur hinzu.
Zusammenfassend muss man sagen: Blarr hat einen entschiedenen Schritt, um eine historische Manier zu korrigieren und er hat das mit enormer musikalischer Kraft getan.
[...]
YOHANN BOEHM
The Jerusalem Post, 1989
(Aus dem Englischen übertragen von Jörg Schneider)
Vielleicht hat der ein oder andere von euch schon Erfahrungen mit diesem Werk gemacht und kann davon berichten. Ein weiterer Ansatzpunkt für eine Diskussion ist, inwiefern Blarrs Aussage über die Antijudaistik in dem Evangelium nach Matthäus und damit auch in Bach's Matthäus-Passion vertreten werden kann - und welche Rolle sie bei Bach nun wirklich spielt. Ich denke da z.B. an "Sein Blut komme über uns und unsre Kinder."
Viele Grüße soweit erstmal,
Benjamin