Ernst Krenek - Symphonie Nr. 2 op. 12

  • Ernst Krenek (1900 - 1991)


    Symphonie Nr. 2 op. 12



    01. Andante sostenuto - Allegro agitato - Halbes Tempo


    02. Allegro deciso, ma non troppo - Andante sostenuto


    03. Adagio - Poco agitato (andante) - Allegro - Adagio - Agitato



    Entstehung: 1922
    Uraufführung: 11.06.1923, Kassel
    Dirigent: Robert Laugs
    Verlag: Universal Edition, Wien
    Dauer: ca. 65 Minuten



    Das Werk ist Anna Mahler gewidmet



    Orchester:


    3 Flöten
    2 Oboen
    5 Klarinetten
    3 Fagotte (3. auch Kontrafagott)


    6 Hörner
    4 Trompeten
    4 Posaunen
    1 Tuba


    Pauke
    Schlagzeug


    Celesta


    Streicher



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    Über das Werk:


    „Meine Herren, wir werden jetzt etwas spielen, das keiner jemals verstehen wird. Trotzdem werden wir unser Bestes tun. Wenn jemand meint, ein Thema zu haben, möge er bitte laut spielen.“


    Diese berühmte Aussage stammt von Robert Laugs, dem Dirigenten der Uraufführung, der nicht die geringste Ahnung hatte, auf was er sich da einließ. Diesen ersten und letzten Anweisungen fügte er nichts mehr hinzu, danach wurde das Stück gespielt.


    Die Zweite Symphonie begann Krenek am 27. März 1922 und vollendete die Partitur nach acht Wochen am 23. Mai in Berlin. Die Orchestration beendete er im Juni. Die Symphonie ist Anna Mahler (1904 - 1988 ) gewidmet, mit welcher Krenek zu jener Zeit ein Verhältnis begann. In seinen Lebenserinnerungen schrieb Krenek gut zwanzig Jahre später in der amerikanischen Emigration, "dass ich die Symphonie, die nahezu eine Stunde dauert, in einem unheimlichen Tempo geschrieben habe, vermutlich in einer Art Fieberhaftigkeit, so dass ich mich nicht einmal erinnere, in jenen Frühlingsmonaten besonders oder außergewöhnlich beschäftigt gewesen zu sein. Ich erinnere mich nur, dass ich den zweiten Satz am Morgen nach meiner ersten Nacht mit Anna begann, in einem Gasthof am Ufer eines kleinen Sees östlich von Berlin, wohin wir uns begeben hatten, um unser Verlangen zu befriedigen."


    Für die amerikanische Erstaufführung durch das Minneapolis Symphony Orchestra unter Dimitri Mitropoulos am 23. Dezember 1943 verfasste Krenek eine Werkeinführung, die ich hier gerne zitieren möchte. Wer, wenn nicht der Komponist selber, könnte sein Werk besser erklären?


    “Die Symphonie ist dreisätzig. Die beiden ersten Sätze werden weitgehend von einer musikalischen Gestalthaftigkeit beherrscht, deren Kennzeichen die der elementaren, objektiven Gewalten der Natur sind. Die Eröffnung des ersten Satzes mit ihrer langsam wogenden, schwankenden Linienführung in kleinen melodischen Schritten von Celesta und Streichern erinnert mich an aufziehenden Nebel in der Morgendämmerung, hoch im Gebirge, wenn die gezackten Formen der Felsspitzen allmählich aus dem Dunst hervortreten. Verschiedene Themen mit weiten melodischen Sprüngen bilden das Material einer ausgedehnten langsamen Einleitung. Das menschliche Element wird nur kurz in einer sonoren, einfachen und liedhaften Phrase von Hörnern und Streichern angedeutet. Weitausgreifende Steigerungen suggerieren ein zeitloses, unbeeinflussbares Anwachsen elementarer Kraftströme.


    Indem die Pauken ein charakteristisches Motiv zweier abwärts gerichteter Sprünge aufgreifen, wird der hauptsächliche Allegro-Teil des Satzes erreicht, und ein Reigen verschiedener kraftgeladenen Themen, allesamt rhythmisch sehr lebhaft artikuliert, geht daraus hervor. Technisch gesprochen hat dieser Abschnitt Züge sowohl einer Exposition als auch einer Durchführung, wobei alles zuvor eingeführte Material in vielen Variationen, in Vergrößerung, Verkleinerung, Umkehrung verarbeitet und in einander abwechselnde Zusammenhänge gebracht wird.


    Ein gewaltiges Unisono des ganzen Orchesters kündigt mit drei heftigen, erbarmungslosen Schlägen die Coda dieses Satzteils an, einen klagenden Epilog über einem langen Orgelpunkt auf E. Das 'menschliche' Motiv erklingt zaghaft in den gestopften Hörnern, aber die sich anschließende Durchführung bringt zwei neue Wellen der überwältigenden elementaren Kräfte hervor, wobei die zweite Welle zu einer triumphalen Wiederkehr des Themas des Allegro-Hauptsatzes, in Vergrößerung und Unisono, führt. Nach dieser Verausgabung scheinen die Kräfte zu schwinden, doch setzen sie sich noch ein weiteres Mal mit jenen drei schweren Schlägen durch und lassen keinen Zweifel an der Endgültigkeit ihres Siegs. Die Coda des Satzes ist eine Wiederholung der Elegie, und die Landschaft fällt zurück in die neblige Undeutlichkeit des Anfangs. Die 'menschliche' Stimme murmelt eine aussichtslose Klage der ersten Geigen.


    Der zweite Satz ist ein Scherzo im 3/2-Takt und zeigt die Elemente in selbstbezogenem Wechselspiel, mal graziös herumwirbelnd, mal wild aufstampfend wie täppische Riesen, oder auf groteske Art um Anmut bemüht wie im Trio-Abschnitt. Am Ende dieses Abschnitts scheint das menschliche Element einen verzweifelten Versuch anzustellen, in einer langen Kette expressiv nachklingender Streicherakkorde gegenüber einem höhnisch beharrenden, wiederholten hohen Ton der Holzbläser zu sich selbst zu finden. Aber die Sprache der Seele ist noch undeutlich; noch kann sich keine melodische Gestalt herausbilden. Das kleine liedhafte Motiv der gestopften Hörner kehrt wieder, eine melancholische Stimme aus der Ferne, bevor ein wirbelnder Tanz seinen Lauf wieder aufnimmt und das wunderliche Ende herbeiführt. Technisch betrachtet ist das Scherzo auf drei neuen Themen aufgebaut, die mit dem motivischen Material des ersten Satzes verwoben werden.
    Das Finale, Adagio, ist den emotional ausdrucksvollen Charakteren des Dramas überantwortet. Die deklamatorische Ausdrucksweise der Celli, die den Satz eröffnet, wird mit einer langsam aufsteigenden Kantilene der Bratschen kombiniert, die später auch die Geigen aufnehmen. Kontemplative Ruhe und melodischere Züge, die nach und nach die höheren Regionen des Orchesters erobern, führen über in das zweite Thema, welches sich im vollen Wohlklang der Streicher ausspricht. Dem Höhepunkt folgt eine ziemlich einzigartige Angelegenheit: ein ekstatisches Selbstgespräch der ersten und zweiten Geigen im Unisono, das über nicht weniger als 53 Takten anhält.


    Danach wird der Duktus des Beginns wieder aufgenommen, mit größerer Eindringlichkeit. Ein plötzlicher Abbruch indiziert eine Wiederkehr der starren, unerbittlichen Elemente aus den vorhergehenden Sätzen; aber bald schon sind sie integriert in die neue Umgebung. Das zweite Adagiothema führt zu dem gewaltigen finalen Höhepunkt, auf welchem alle Hauptthemen der Symphonie in Harmonikkombinationen, die an traditionellen Maßstäben gemessen äußerst missklingend sind, vereinigt werden. Jedoch klingt dieser 'Missklang' für mich, als Ergebnis der vorangegangenen psychologischen und technischen Prozesse, wie eine Art alles umschließender Harmonie, innerhalb welcher die Trennung von Konsonanz und Dissonanz einer umfassenderen Synthese gewichen ist."


    Ernst Krenek, 1943




    Welche Erfahrungen habt Ihr mit dieser gewaltigen Symphonie gemacht? Kennt überhaupt irgendwer dieses Werk?


    Der Weg, den diese Symphonie geht, endet in keiner Sackgasse und wie ein kitschiger Liebestraum klingt sie Gottseidank auch nicht!



    Empfohlene Einspielung:


    Gewandhausorchester Leipzig
    Lothar Zagrosek


    Decca




    Davidoff 67.gif

    Verachtet mir die Meister nicht

  • Hallo,


    danke für den ausführlichen Beitrag, ich kenne bisher nur seine Klaviersonate (grob), aber bei Kritikern kommt der Komponist ja durchweg positiv weg ("Meister auf allen Gebieten") - ich werde sehen, dass ich mir die Sinfonie mal zu Gemüte führe und meine Eindrücke mitteilen!

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

  • guten Abend allerseits !


    Dieser schöne Thread hat mich gestern abend dazu veranlasst, mir mal folgende Aufnahme anzuhören :



    Leider kam ich danach nicht mehr dazu, meine Eindrücke hier niederzuschreiben, weil üble Kopfschmerzen mich dahingerafft haben (die aber nicht durch die Musik verursacht wurden !).


    Aber heute ... nun, ich kann nicht behaupten, dass sich mir dieses Werk erschlossen hat, viel zu komplex ist dieser dreisätzige Koloss. Ich saß also da und die Klangmassen tobten über mich hinweg ... ich habe mich eigentlich nicht einmal schlecht dabei gefühlt, aber um diese Symphonie zu verstehen, dazu brauche ich wohl noch ein paar Sitzungen. Die werde ich mir vielleicht auch noch irgendwann einmal gönnen, aber heute nicht mehr. Trotzdem, ich habe schon übleres gehört ...

    Jazz is not dead, it just smells a little funny.

    Frank Zappa

  • Ich habe dieses Werk live gehört und mehrfach von den CDs, teilweise auch mit Partitur. Mein Eindruck: Ein Meisterwerk - das mich absolut nicht fasziniert.


    Verblüffend ist, wie unglaublich gut der junge Krenek die expressionistische Sprache beherrscht und wie sagenhaft geschickt er seine Ideen in Szene setzt. In dieser Symphonie triumphiert paradoxerweise der geborene Opernkomponist. Immer wieder wird eine bühnengerechte Spannung erzeugt, immer wieder glaubt man an illustrative Tendenzen. Die Sprache ist abgeleitet von Mahler und dem Kreis der Wiener Schule, ich bin ziemlich sicher daß auch Egon Wellesz zu den prägenden Eindrücken gehört hat. Aus der Richtung von Kreneks Lehrer Franz Schreker stammen allenfalls ein paar instrumentationstechnische Ideen, mit Sicherheit nicht die stark kontrapunktische Linienführung, die ohne irisierende Klänge auskommt.


    Insgesamt ist also die Stilsicherheit des 22-jährigen Komponisten bewunderungswürdig, der nichts ausprobiert, keine stilistischen Abweichungen zuläßt, seiner Sache völlig sicher ist.


    Meine Probleme mit dem Werk liegen in einem Mißverhältnis zwischen Sustanz und Ausdehnung, soll heißen: Ich halte das Werk für wesentlich zu lang, und dieses Mißverhältnis scheint sich für mich auch in der besetzung widerzuspiegeln: Das Riesenorchester erzeugt intensive Lautstärken, aber ich verstehe über weite Strecken nicht, weshalb es denn gar so laut zugehen muß. Abgesehen davon habe ich etwas Probleme mit der für Krenek charakteristischen absichtlich-knorrigen Linienführung und der etwas simplen Rhythmik, die ebenfalls ein Merkmal Kreneks ist.


    :hello:

    ...