Auch wenn mancher oberflächlich den Eindruck haben mag, dieser Thread soll keine neue Diskussion über Opern in Übersetzungen anstoßen, sondern sich eher dem Grundproblem widmen, das überhaupt eine solche Diskussion notwendig macht: der Verschiedenheit der Sprachen, die sich ja nicht nur in Klang und Wortwahl, sondern auch in dem dahinter stehenden Geist, auch Esprit genannt, ausdrückt, und den verschiedenen Prioritäten bei ihrer Adaption durch die Musik.
Sozusagen ein babylonischer Diskurs über das Thema "Prima le parole, dopo la musica" - oder umgekehrt. Seinen Titel bezieht er aus der Tatsache, dass das Phänomen sehr leicht zu hören, aber sehr schwer zu greifen ist und darin durchaus einem Poltergeist ähnelt, der ebenfalls gerne in den am wenigsten erwarteten Winkeln auftaucht.
Ausgelöst wurde der Thread durch den nachfolgenden einen Gedankengang Edwins in dem Thread Jean Baptiste Lully - der Begründer der frz. Nationaloper , der auf Widerspruch bzw. Rückfragen durch mich stieß:
ZitatOriginal von Edwin Baumgartner
Aber zurück zur Sprachbarriere: Was ich in den letzten Wochen an französischen Opernkomponisten dieser Zeit nun kennengelernt habe (Rameau, Lully, Mouret, Rebel, Monteclair, Marais, Charpentier), so haben sie eines gemeinsam: Die deklamatorische Textbehandlung. Wenn man keine Ahnung vom Französischen hat, vom wunderbaren Klang dieser Sprache, den feinen Nuancen des Tonfalls, die gar nicht notiert werden können, sondern sich durch den Sänger ergeben, dann fehlt sicherlich eine Dimension, die zum Verständnis beiträgt.
Dieses Problem haftet allen sprachbezogenen französischen Werken bis in die Gegenwart an.
Ein anderes Faktum ist, daß sich viele Zuhörer für die Feinheit nicht begeistern können. Geschmack hat wenig Bedeutung. In Frankreich hat aber gerade der Geschmack sehr große Bedeutung. Ob nun Lully, Rameau oder Debussy oder Satie, etwa in "Socrate", oder Poulenc oder Boulez: Diese Musik ist von einem Temperament kontrolliert, das vom Geschmack beherrscht wird, vom Interesse an Farben, Nuancen und Details. Die breite Masse der Zuhörer liebt aber eher den breiten Pinsel, den üppigen Farbauftrag.
Ich habe vorhin in einem anderen Zusammenhang (Puccini) von meiner Wahrnehmung eines (vermeintlichen?) Kontrastes zweier "Komponistenschulen" gesprochen, nämlich denen, die ihre Musik aus dem Wort empfangen und sich darauf beziehen ohne deswegen einfach nur Satzmelodien auszubauen (gilt das nicht für die gesamte frühe Vokalmusik?), und solchen, die mit ihrer Musik primär Situationen, Drama und Emotionen nachfühlbar machen wollen und von ihren Librettisten verlangen, dass ihre Worte sich anpassen. Dass ein Komponist, zudem noch ein gebürtiger Ausländer wie Battista Lulli, das schwerlich von einem Racine oder Molière verlangen konnte, erscheint auch heute noch einleuchtend. Das Primat der Musik sollte sich ja auch erst später durchsetzen. Das ist natürlich sehr grob formuliert und konstruiert einen Gegensatz, den es in dieser Krassheit nicht wirklich gibt. Ich hoffe aber, es macht die unterschiedlichen Gewichtungen deutlich.
Undeutlich bleibt dann aber, warum Lully & Co. auch in Frankreich eine Sache für Spezialisten geblieben sind, ebenso wie Keiser und Telemann bei uns und die meisten Barockopern sogar in Italien, deren Sprachen uns vielleicht näher und verständlicher sind.
Um aber in Frankreich zu bleiben: Sind international leicht verständliche und durchsetzbare Komponisten wie Offenbach, Bizet, Gounod oder Massenet weniger französisch als Lully, Rameau, Debussy, Ibert, Poulenc - mit den lange erfolglosen Berlioz und Chabrier irgendwo in der Mitten?
Ich glauibe, mit dem leicht diskreditierenden Argument vom breiten Pinsel macht man es sich etwas zu leicht. Das Bild vom "fortgeschrittenen Gourmet" überzeugt mich da schon eher, aber die Entwicklung eines derart verfeinerten Geschmacks muss man sich auch leisten können.
Kurz: an der Beobachtung ist was dran, aber mit der impliziten Wertung tue ich mich schwer.
Jacques Rideamus