BWV 8: Liebster Gott, wenn werd ich sterben
Kantate zum 16. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 24. September 1724)
Lesungen:
Epistel: Eph. 3,13-21 (Paulus betet für die Stärkung des Glaubens der Gemeinde in Ephesus)
Evangelium: Luk. 7,11-17 (Auferweckung des Jünglings zu Nain)
Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 23 Minuten
Textdichter: unbekannt, inspiriert aber vom titelgebenden Choral
Choral (Nr. 1 und 6): Caspar Neumann (vor 1697)
Besetzung:
Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Traversflöte (oder Piccoloflöte), Oboe d’amore I + II, Horn, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Choral SATB, Traversflöte (oder Piccoloflöte), Oboe d’amore I + II, Horn, Streicher, Continuo
Liebster Gott, wenn werd’ ich sterben?
Meine Zeit läuft immer hin,
Und des alten Adams Erben,
Unter denen ich auch bin,
Haben dies zum Vaterteil,
Dass sie eine kleine Weil’
Arm und elend sein auf Erden
Und denn selber Erde werden.
2. Aria Tenor, Oboe d’amore I, Continuo
Was willst du dich, mein Geist, entsetzen,
Wenn meine letzte Stunde schlägt?
Mein Leib neigt täglich sich zur Erden,
Und da muss seine Ruhstatt werden,
Wohin man soviel tausend trägt.
3. Recitativo Alt, Streicher, Continuo
Zwar fühlt mein schwaches Herz
Furcht, Sorge, Schmerz:
Wo wird mein Leib die Ruhe finden?
Wer wird die Seele doch
Vom aufgelegten Sündenjoch
Befreien und entbinden?
Das Meine wird zerstreut,
Und wohin werden meine Lieben
In ihrer Traurigkeit
Zertrennt, vertrieben?
4. Aria Bass, Traversflöte (oder Piccoloflöte), Streicher, Continuo
Doch weichet, ihr tollen, vergeblichen Sorgen!
Mich rufet mein Jesus, wer sollte nicht geh’n?
Nichts, was mir gefällt,
Besitzet die Welt.
Erscheine mir, seliger, fröhlicher Morgen,
Verkläret und herrlich vor Jesu zu steh’n.
5. Recitativo Sopran, Continuo
Behalte nur, o Welt, das Meine!
Du nimmst ja selbst mein Fleisch und mein Gebeine;
So nimm auch meine Armut hin!
Genug, dass mir aus Gottes Überfluss
Das höchste Gut noch werden muss;
Genug, dass ich dort reich und selig bin.
Was aber ist von mir zu erben
Als meines Gottes Vatertreu’?
Die wird ja alle Morgen neu
Und kann nicht sterben.
6. Choral SATB, Traversflöte (oder Piccoloflöte), Oboe d’amore I + II, Horn, Streicher, Continuo
Herrscher über Tod und Leben,
Mach’ einmal mein Ende gut,
Lehre mich den Geist aufgeben
Mit recht wohlgefasstem Mut!
Hilf, dass ich ein ehrlich’ Grab
Neben frommen Christen hab’
Und auch endlich in der Erde
Nimmermehr zuschanden werde!
Betrachtet man den Text dieser Choralkantate Bachs, so fällt auf, dass der Aspekt der Sterblichkeit, der in den beiden vorangegangenen Kantaten, die Bach anlässlich des 16. Sonntags nach Trinitatis komponiert hatte (BWV 161 und BWV 95), hier deutlich weniger auf der sonst so typisch barocken Todessehnsucht ruht, sondern vielmehr bange Zweifel und ängstliche Fragen nach dem Zeitpunkt des eigenen Todes und des Schicksals der zurückbleibenden Angehörigen und der irdischen Besitztümer im Vordergrund stehen.
Alles Aspekte also, die uns heutzutage wesentlich nachvollziehbarer erscheinen, als die sonst so gebräuchlichen barocken Hymnen auf den hoffentlich bald nahenden Tod.
Die einleitende Choralbearbeitung überträgt dem Sopran wieder einmal den Vortrag der Choralmelodie, wobei ein Horn diese Stimme zusätzlich verstärkt. Besonders auffällig an diesem Satz ist eine häufig wiederkehrende rhythmische Staccato-Figur eines mehrfach wiederholten einzelnen Tones, den die eingesetzte (Piccolo-) Flöte immer wieder wie ein mahnendes Signal hoch über die restlichen Orchester- und Gesangsstimmen erklingen lässt. Bach hat damit vielleicht die im Choral besungene Zeit, die unerbittlich und unaufhaltsam „immer hinläuft“ illustrieren wollen - oder auch das Schlagen der letzten Stunde (die in der Arie Nr. 2 ja auch explizit erwähnt wird) in Form eines „Totenglöckchens“?
Der thematische Umschwung in dieser Kantate erfolgt dramaturgisch korrekt ab der zweiten Hälfte des Werkes - also ab der Arie Nr. 4. Hier ist es wieder einmal der Solo-Bass, der vom sorgenvollen und verzagten Tonfall des vorangegangenen Rezitativ Nr. 3 im Rahmen einer ausgesprochen fröhlichen und tänzerischen Arie im Gigue-Rhythmus zu einer zuversichtlich-aufmunternden Haltung auffordert. Durch den Einsatz einer Flöte klingt diese Arie ganz besonders heiter und leichtfüßig, so dass der vom Dichter an dieser Stelle geplante Stimmungsumschwung auch musikalisch sehr überzeugend gerät.
Bach hat diese Kantate in den 1740er Jahren erneut wiederaufgeführt. Das heißt, er hat diese Kantate mit Sicherheit auch in den Jahren davor noch mehrfach aufgeführt, allerdings hat er für die möglicherweise letzte Aufführung zu seinen Lebzeiten einige Änderungen vorgenommen: So wurde die Kantate vom originalen E-Dur nach D-Dur transponiert (also einen Ganzton tiefer) und eine weitere Oboe, in diesem Fall eine Tenor-Oboe (also wohl eine Oboe da caccia), sowie zwei Solo-Violinen dem Instrumentalensemble hinzugefügt.