Die Bachkantate (143): BWV8: Liebster Gott, wenn werd ich sterben

  • BWV 8: Liebster Gott, wenn werd ich sterben
    Kantate zum 16. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 24. September 1724)




    Lesungen:
    Epistel: Eph. 3,13-21 (Paulus betet für die Stärkung des Glaubens der Gemeinde in Ephesus)
    Evangelium: Luk. 7,11-17 (Auferweckung des Jünglings zu Nain)



    Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 23 Minuten


    Textdichter: unbekannt, inspiriert aber vom titelgebenden Choral
    Choral (Nr. 1 und 6): Caspar Neumann (vor 1697)



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Traversflöte (oder Piccoloflöte), Oboe d’amore I + II, Horn, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Choral SATB, Traversflöte (oder Piccoloflöte), Oboe d’amore I + II, Horn, Streicher, Continuo
    Liebster Gott, wenn werd’ ich sterben?
    Meine Zeit läuft immer hin,
    Und des alten Adams Erben,
    Unter denen ich auch bin,
    Haben dies zum Vaterteil,
    Dass sie eine kleine Weil’
    Arm und elend sein auf Erden
    Und denn selber Erde werden.


    2. Aria Tenor, Oboe d’amore I, Continuo
    Was willst du dich, mein Geist, entsetzen,
    Wenn meine letzte Stunde schlägt?
    Mein Leib neigt täglich sich zur Erden,
    Und da muss seine Ruhstatt werden,
    Wohin man soviel tausend trägt.


    3. Recitativo Alt, Streicher, Continuo
    Zwar fühlt mein schwaches Herz
    Furcht, Sorge, Schmerz:
    Wo wird mein Leib die Ruhe finden?
    Wer wird die Seele doch
    Vom aufgelegten Sündenjoch
    Befreien und entbinden?
    Das Meine wird zerstreut,
    Und wohin werden meine Lieben
    In ihrer Traurigkeit
    Zertrennt, vertrieben?


    4. Aria Bass, Traversflöte (oder Piccoloflöte), Streicher, Continuo
    Doch weichet, ihr tollen, vergeblichen Sorgen!
    Mich rufet mein Jesus, wer sollte nicht geh’n?
    Nichts, was mir gefällt,
    Besitzet die Welt.
    Erscheine mir, seliger, fröhlicher Morgen,
    Verkläret und herrlich vor Jesu zu steh’n.


    5. Recitativo Sopran, Continuo
    Behalte nur, o Welt, das Meine!
    Du nimmst ja selbst mein Fleisch und mein Gebeine;
    So nimm auch meine Armut hin!
    Genug, dass mir aus Gottes Überfluss
    Das höchste Gut noch werden muss;
    Genug, dass ich dort reich und selig bin.
    Was aber ist von mir zu erben
    Als meines Gottes Vatertreu’?
    Die wird ja alle Morgen neu
    Und kann nicht sterben.


    6. Choral SATB, Traversflöte (oder Piccoloflöte), Oboe d’amore I + II, Horn, Streicher, Continuo
    Herrscher über Tod und Leben,
    Mach’ einmal mein Ende gut,
    Lehre mich den Geist aufgeben
    Mit recht wohlgefasstem Mut!
    Hilf, dass ich ein ehrlich’ Grab
    Neben frommen Christen hab’
    Und auch endlich in der Erde
    Nimmermehr zuschanden werde!






    Betrachtet man den Text dieser Choralkantate Bachs, so fällt auf, dass der Aspekt der Sterblichkeit, der in den beiden vorangegangenen Kantaten, die Bach anlässlich des 16. Sonntags nach Trinitatis komponiert hatte (BWV 161 und BWV 95), hier deutlich weniger auf der sonst so typisch barocken Todessehnsucht ruht, sondern vielmehr bange Zweifel und ängstliche Fragen nach dem Zeitpunkt des eigenen Todes und des Schicksals der zurückbleibenden Angehörigen und der irdischen Besitztümer im Vordergrund stehen.
    Alles Aspekte also, die uns heutzutage wesentlich nachvollziehbarer erscheinen, als die sonst so gebräuchlichen barocken Hymnen auf den hoffentlich bald nahenden Tod.


    Die einleitende Choralbearbeitung überträgt dem Sopran wieder einmal den Vortrag der Choralmelodie, wobei ein Horn diese Stimme zusätzlich verstärkt. Besonders auffällig an diesem Satz ist eine häufig wiederkehrende rhythmische Staccato-Figur eines mehrfach wiederholten einzelnen Tones, den die eingesetzte (Piccolo-) Flöte immer wieder wie ein mahnendes Signal hoch über die restlichen Orchester- und Gesangsstimmen erklingen lässt. Bach hat damit vielleicht die im Choral besungene Zeit, die unerbittlich und unaufhaltsam „immer hinläuft“ illustrieren wollen - oder auch das Schlagen der letzten Stunde (die in der Arie Nr. 2 ja auch explizit erwähnt wird) in Form eines „Totenglöckchens“?


    Der thematische Umschwung in dieser Kantate erfolgt dramaturgisch korrekt ab der zweiten Hälfte des Werkes - also ab der Arie Nr. 4. Hier ist es wieder einmal der Solo-Bass, der vom sorgenvollen und verzagten Tonfall des vorangegangenen Rezitativ Nr. 3 im Rahmen einer ausgesprochen fröhlichen und tänzerischen Arie im Gigue-Rhythmus zu einer zuversichtlich-aufmunternden Haltung auffordert. Durch den Einsatz einer Flöte klingt diese Arie ganz besonders heiter und leichtfüßig, so dass der vom Dichter an dieser Stelle geplante Stimmungsumschwung auch musikalisch sehr überzeugend gerät.


    Bach hat diese Kantate in den 1740er Jahren erneut wiederaufgeführt. Das heißt, er hat diese Kantate mit Sicherheit auch in den Jahren davor noch mehrfach aufgeführt, allerdings hat er für die möglicherweise letzte Aufführung zu seinen Lebzeiten einige Änderungen vorgenommen: So wurde die Kantate vom originalen E-Dur nach D-Dur transponiert (also einen Ganzton tiefer) und eine weitere Oboe, in diesem Fall eine Tenor-Oboe (also wohl eine Oboe da caccia), sowie zwei Solo-Violinen dem Instrumentalensemble hinzugefügt.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Beeindruckend finde ich auch an dieser Kantate vor allem den Eingangschor und hier besonders die ständig wiederholten und recht nervtötend hohen Töne der Flöte. Petzoldt weist darauf hin, dass erst durch diese Art der Vertonung die erste Textzeile "Liebster Gott, wann werd ich sterben", mit Gefühlen von Angst und Schrecken verbunden werden, Gefühle, die in der Bibelstelle, die hier wörtlich aufgenommen wurde (Gen 27,2b), gar nicht beschrieben werden. Petzoldt sieht durch diese Tonwiederholungen der Flöte auch ausdrücklich nicht die "Sterbeglocken" wiedergegeben (so Dürr und auch Schulze), sondern "die Unruhe einer tickenden Uhr", das Vergehen der Zeit selbst soll hörbar gemacht werden.


    Petzoldt geht auch ausführlich auf das der Kantate zugrunde liegende Sonntagsevangelium vom Jüngling zu Nain (LK 7,11-17) ein und weist nach, dass Satz 3 der Kantate, ein von Streichern begleitetes Alt-Rezitativ, der leidtragenden Mutter/Witwe aus der Geschichte zuzuordnen ist, während in Satz 4, einer tänzerischen Bassarie, der mit dem Tod unmittelbar konfrontierte und von Jesus wieder ins Leben gerufene Jüngling zu Wort kommt. In diesen beiden Sätzen sieht Petzoldt den Kern der Kantate (theologisch und musikalisch), um den sich die ersten und die letzten beiden Sätze gruppieren.


    Mit Gruß von Carola

  • Hallo Carola,


    vielen Dank für das Hineinbringen der vor allem theologischen Ansichten, die Herr Petzoldt in seiner Bach-Kantaten-Analyse zum vorrangigen Thema gemacht hat.


    Das bringt in unsere Bachkantaten-Ecke einen weiteren, sehr interessanten und oftmals angesichts der musikalischen Übermacht der bachschen Vertonungen sträflich vernachlässigten Aspekt mit ein! :hello::jubel:


    Da ist bestimmt manches sehr hilfreich, um verstehen zu können, warum Bach dieses und jenes gerade so und nicht anders vertont hat.


    Bin auf weitere Erkenntnisse und Beiträge hierzu schon sehr gespannt :yes:


    Zitat

    Petzoldt sieht durch diese Tonwiederholungen der Flöte auch ausdrücklich nicht die "Sterbeglocken" wiedergegeben (so Dürr und auch Schulze), sondern "die Unruhe einer tickenden Uhr", das Vergehen der Zeit selbst soll hörbar gemacht werden.


    Das sehe ich genauso - die Textstelle heißt immerhin "Meine Zeit läuft immer hin", da ist also gar keine Rede von einer Totenglocke...
    Keine Ahnung, warum mehrere andere Kommentatoren hier partout an eine solche denken müssen ?(
    Die kleine Flötenfigur, die so permanent und enervierend-unerbittlich den ersten Satz "krönt" ist doch eine wunderbar ohrenfällige Umsetzung der erwähnten laufenden Zeit... :]

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)


  • Hallo Marc,


    vielen Dank für die Blumen! Ich bin zwar keine Theologin, beschäftige mich aber schon seit Jahren mit diesen Dingen. Und als Juristin bin ich ja immerhin das "Auslegen" von Texten gewöhnt...


    Ich finde auch, dass die Texte oft zu sehr unter den Tisch fallen in der Rezeption der Kantaten. Was sicher einerseits daran liegt, dass ihre literarische Qualität fast immer weit hinter Bachs großartiger Musik zurückbleibt. Und andererseits wird dort eben auch eine Theologie vertreten, die von der Aufklärung im allgemeinen und der historisch-kritischen Auslegungsmethode im besonderen noch nichts weiß.


    Manche Wörter muss man sich auch regelrecht übersetzen wie ein Fremdwort, in dieser Hinsicht finde ich auch das bereits erwähnte Bach- Textlexikon von Lucia Haslböck sehr hilfreich.


    Trotz aller Schwierigkeiten, ich finde schon, dass ich z.B. hier in dieser Kantate die Sätze 3 und 4 anders höre wenn ich weiß, dass hier Mutter und Sohn aus Lk 7, 11-17 zu Wort kommen.


    Mit Gruß von Carola

  • Hallo Carola und @MarcColonge,


    Zitat:
    "Ich finde auch, dass die Texte oft zu sehr unter den Tisch fallen in der Rezeption der Kantaten. Was sicher einerseits daran liegt, dass ihre literarische Qualität fast immer weit hinter Bachs großartiger Musik zurückbleibt. Und andererseits wird dort eben auch eine Theologie vertreten, die von der Aufklärung im allgemeinen und der historisch-kritischen Auslegungsmethode im besonderen noch nichts weiß."
    ---------------
    Wie bereits an dieser Stelle h e u t e erwähnt, kann ich jedem Bach-Liebhaber das Gardiner-Reisetagebuch von der Bach Cantata Plgrimage 2000 - Tour wärmstens empfehlen.


    Hier gab es nach Konzertschluß in den Kantateneinspielungen: Kantaten für den 16. Sonntag nach Trinitatis
    in Santo Domingo de Bonaval, Santiago de Compostela, Spanien, sehr angeregte Diskussionen über die Frage, wo im BWV 8 "Liebster Gott, wenn werd ich sterben" die Sterbeglocke zu vernehmen sei. Die Meinungen dazu lagen weit auseinander.


    Ich zitiere daraus:


    Der Anfangssatz von BWV 8 "Liebster Gott, wenn werd ich
    sterben?" ist ein ungewöhnliches Klangtableau. Es besteht aus einer
    fast ununterbrochenen Bewegung im 12/8-Takt der beiden Oboen
    d’amore über einer gedämpften Staccato-Begleitung der hohen
    Streicher und einem Pizzicato im Bass.


    Über diese hinaus erhebt sich
    die Flöte, die außerhalb ihres normalen Tonbereichs spielt.2 Der
    Oboensatz lässt an Brahms denken, aber auch an Berlioz und an
    L’Enfance du Christ in der Instrumentierung und einigen der
    harmonischen Fortschreitungen, während der Beginn der vom Sopran
    gesungenen (und vom Zinken verdoppelten) Choralmelodie fast den
    Schwung einer Jahrmarktsmusik aufweist.


    Der ganze Satz ist von einer
    elegischen und schillernden Zärtlichkeit geprägt, die ihm seinen
    besonderen Charme verleiht. Die Totenglocken kehren (zumindest als
    Schlussfolgerung) in den lose aneinander gefügten Achtelnoten der
    Tenorarie (Nr. 2) bei den Worten ‚wenn meine letzte Stunde schlä-ä-ää-
    ä-ä-gt’ und im Pizzicato der Continuobegleitung wieder.


    Als schönes
    Gegengewicht versichert die Bassarie (Nr. 4) voller Zuversicht, Jesus
    werde den Menschen ein besseres Leben zuteil werden lassen. Hier
    stattet Bach Sänger, Flöte und Streicher mit einer ungenierten
    Tanzmusik aus, einer Gigue in A-dur und im 12/8-Takt, die in ihrem
    prahlerischen Überschwang an das Finale des sechsten.....


    Nach dem Konzert gab es in der Hotelbar eine bewegte
    Diskussion über die Bedeutung und Symbolik der ‚Leichenglocken’.
    Einige vertraten die Meinung, die hohen wiederholten Achtel auf der
    Flöte in BWV 161 (Nr. 4) und BWV 8 (Nr. 1) symbolisierten die hellen
    Totenglocken, die beim Begräbnis eines Kindes läuten.


    Man kann nicht umhin, sich die Frage zu stellen, ob nicht die
    lebhafte Erinnerung an einen Todesfall unlängst in der Familie bei der
    Komposition dieser Stücke Bach die Hand geführt habe.


    War esvielleicht die innere Auseinandersetzung mit dem drohenden Tod eines
    schwächlichen Kindes, die ihn zu dieser Folge von Kompositionen
    inspiriert hat, in denen es um Glauben und Vertrauen geht und die in
    ihrer Schlichtheit so kindhaft sind? Seine Tochter Christiane Sophia
    (*1723) kränkelte tatsächlich und starb am 29. Juni 1726 – ein paar
    Monate bevor er mit der Komposition von BWV 27 begann.

    Ganzer Text des Reisetagebuches h i e r einsehbar!

    Grüße
    Volker

    Bach ist so vielfältig, sein Schatten ist ziemlich lang. Er inspirierte Musiker von Mozart bis Strawinsky. Er ist universal ,ich glaube Bach ist der Komponist der Zukunft.
    Zitat: J.E.G.

  • Hört man BWV 8, kommt man wohl nicht umhin, sich danach zu fragen, was die ständigen Repetitionen der Flöte sollen. Totenglöckchen sind es, sagt die große Mehrheit. So schreibt Dürr (in "Johannes Sebastian Bach - Die Kantaten", Bärenreiter, 9. Aufl. 2005 auf S. 613):


    "Träger der eigenthematischen Entwicklung innerhalb des Instrumentalsatzes sind 2 Oboi d´amore, die mit ausdrucksvoller Melodik die bange Frage nach der Todesstunde unterstreichen, während die übrigen Instrumente in naturalistischer Weise den Klang der Sterbeglocken nachahmen, die Streicherakkorde in tiefer Lage, eine Querflöte (ursprünglich als hohe Blockflöte geplant) in extremer Höhe."


    Ähnliches schreibt Thomas Seedorf im Booklet zur Herreweghe-CD:


    "Über einer unablässigen Achtelbewegung der gedämpften Streicher, musikalischen Künder des Zeitkontinuums, entfalten zwei Oboi d´amore ein vielfältig variiertes Ritornellthema, das für die Idee des Fließens steht Ihnen gesellt sich eine Piccoloflöte hinzu, deren Tonrepetitionen das stilisierte Läuten eines Totenglöckchens darstellen."


    Auch in einer im Internet zu findenden Predigt, in der der Pfarrer Winfried Böttler lesenswertes zur Kantate ausführt, ist wie selbstverständlich von den Totenglöckchen die Rede: http://www.gedaechtniskirche-b…PredigtBoettler200908.pdf


    Mich hat das Verständnis der schnellen, hohen Flötentöne als Totenglöckchen spontan gewundert. Meiner - geringen - Erfahrung nach, sind Beerdigungen eher von langen, tiefen Glockentönen begleitet, nicht von hohen schnellen. Googlen führte mich zur Läuteordnung bei Wikipedia. Unter der Überschrift "Beisetzung" findet sich dort folgender Text:


    "Zum Geleit und/oder zur Beisetzung auf dem Friedhof – bei weit entferntem Friedhof kann zur festen Zeit ein Gedächtnisläuten erfolgen – wird in den meisten Fällen mit der vorhandenen Sterbe-/Totenglocke oder der tontiefsten/größten Glocke für wenige Minuten geläutet."


    Das ist, was ich kenne. Allerdings gibt es in der Wikipedia-Läuteordnung noch eine weitere Textstelle unter der Überschrift "Totenläuten":


    "Kompliziertes System langsamer Anschlagfolgen, z. T. mit mehreren angeschlagenen und einer durchgezogenen Glocke; daraus waren sozialer Status, Alter und Geschlecht des Toten zu erkennen; erste „Pause“ unmittelbar nach dem Ableben oder nach dem nächsten Betläuten/Angelus."


    Als ich das gelesen hatte, merkte ich auf und las noch einmal, was bei Dürr steht. Dabei erst fiel mir auf, dass Dürr gar nicht, wie es oben zu lesen ist, nur die Flöten als Totenglöckchen versteht, sondern:


    "... während die übrigen Instrumente in naturalistischer Weise den Klang der Sterbeglocken nachahmen, die Streicherakkorde in tiefer Lage, eine Querflöte (ursprünglich als hohe Blockflöte geplant) in extremer Höhe ...." (Unterstreichung durch mich)


    Dürr schreibt Plural! Nicht die Flöte allein, sondern die Flöte mit den Streichern im Verbund stellen nach Dürrs Verständnis die Totenglocken dar. Das macht meines Erachtens unter Berücksichtigung dessen, dass es beim Totengeläut um ein System von Anschlagfolgen geht, durchaus Sinn. Nach dem in der Läuteordnung Stehenden handelt es sich allerdings auch beim Totengeläut um langsame Anschlagfolgen. Schnelle Töne sind demnach weiterhin nur schwer mit Totenglocken bzw. -glöckchen in Einklang zu bringen. Andererseits spricht gegen die oben angesprochene These, es handele sich nicht um Totenglocken, sondern nur um ein Symbol für die vergehende Zeit, dass diese Tonrepetitionen im "wenn meine letzte Stunde schlä-ä-ää-ä-ä-gt’ wiederkehren (wie in dem von Volker dankenswerterweise verlinkten Gardiner-Tagebuch zu lesen ist). Ja, auch hier geht es um das Zeitliche, allerdings doch wohl nicht in allgemeiner Form, sondern es geht konkret um den Moment des Todes.


    Eingedenk dessen, dass sich an dem Totengeläut sozialer Status, Alter und Geschlecht des Toten erkennen lassen, mag es tatsächlich sein, dass ein hohes Glöcken das noch junge, kindliche Alter des Gestorbenen verkündet hat, wie es laut dem Gardiner-Tagebuch jemand aus Gardiners Team geäußert hat


    Weiß jemand darüber mehr? Gab es ein hohes, schnelles Totengeläut für Kinder?


    Über eine Antwort würde ich mich freuen. Bis dahin neige ich insgesamt gesehen der Meinun Dürrs zu, bin aber nicht restlos überzeugt.


    Gehört habe ich heute die Aufnahmen von Herreweghe, Leusink und Rifkin. Klarer Sieger ist Herreweghe. Dessen Aufnahme möchte ich an dieser Stelle empfehlen:



    Viele Grüße
    Thomas

  • Hallo Thomas,


    ein Sachverständiger in Läute- Ordnungen, gar in historischer Manier, bin ich nicht.
    Nur eine Erfahrung kann ich mitteilen - in unserer Thüringer Gegend wird auf dem Dorf als Sterbeglocke die KLEINSTE Glocke des Geläuts verwendet.Sie wird geläutet, wenn bekannt wird, dass ein Gemeindeglied verstorben ist.
    Damit darf nicht das Läuten zur Beerdigung verwechselt werden- dies ist ein Gottesdienst und das Läuten wird in bestimmter Reihenfolge mit allen Glocken des Geläutes erledigt.


    Und das verwirrende daran ist, dass dieses Läuten in jedem kleinen Dorf etwas anders praktiziert wird...


    Ich neige also schon dem " SterbeGLÖCKLEIN" als Deutung zu.


    Herzliche Grüße von
    Stefan

    Psalmen sprechen und Tee trinken kann niemals schaden!

  • Ich bin zwar nicht aus Thüringen, sondern aus Bayern (also nicht ganz so nah dran an Bach wie Stefan), kenne aber das auch so, dass als Sterbeglocke eine sehr kleine Glocke (mit einem recht fahlen, charakteristischen Klang) geschlagen wird. Wann genau diese Glocke zum Einsatz kommt (Bestattung, Gottesdienst, Aussegnung, ...), kann ich nicht sagen, ich habe ihren Klang aber noch gut im Ohr (meine Eltern wohnen gegenüber des örtlichen Friedhofs...).

  • Liebe Bachiana, lieber Stefan,


    danke für eure Hinweise. Mir war die Unterscheidung zwischen Beisetzungs- und Totengeläut tatsächlich nicht klar. Jetzt habe ich es verstanden.


    Der Streit über die Bedeutung der Flöte (und der Begleitinstrumente) scheint mir beim heutigen Wiederlesen unergiebig. Sinnvoller scheint mir, schlicht von zwei Bedeutungsebenen bzw. Verständnisweisen zu sprechen. Eine Frage von Richtig oder Falsch scheint mir das nicht (mehr) zu sein.


    Neu gekauft habe ich mir in der letzten Woche die sehr günstige Leonhardt-Aufnahme, weil auf der Bach-Cantatas-Seite jemand von dem dortigen Tenor schwärmte. Und tatsächlich, Kurt Equiluz singt den zweiten Satz, das Duett mit der Oboe d´amore traumhaft schön! (Knabengesang mag ich leider nicht).



    Viele Grüße
    Thomas