Joseph-Maurice Ravel (1875-1937):
L'ENFANT ET LES SORTILÈGES
(Das Kind und der Zauberspuk)
Fantaisie lyrique in zwei Teilen - Libretto von Colette (Sidonie Gabrielle Colette)
Uraufführung: 21. März 1925 im Grand Théâtre von Monte Carlo
DIE PERSONEN DER HANDLUNG
Das Kind (Mezzosopran)
Die Mutter (Alt)
Der Sessel (Bariton)
Die Standuhr (Bariton)
Die Teekanne (Tenor)
Die chinesische Tasse (Alt)
Das Feuer/Die Prinzessin/Die Nachtigall (Sopran)
Die Hirtin (Sopran)
Der Hirte (Sopran)
Der kleine alte Mann/Der Baumfrosch (Tenor)
Tiere, Pflanzen, Möbel (Kinder-Chor)
Ort des Geschehens: Zimmer eines Landhauses in der Normandie; Zeit: Gegenwart.
INHALTSANGABE
ERSTER TEIL
Das Kind ist schlecht gelaunt; es sitzt lustlos an seinem Schreibtisch und hat keinen Bock, die Schulaufgaben zu erledigen. Als dann auch noch die Mutter kontrollierend nachschaut, reagiert das Kind genervt: Es streckt der Mama die Zunge heraus. Die Reaktion der entsetzten Mutter ist allerdings eindeutig: Hausarrest, Basta! Als maman die Zimmertür hinter sich zugeschlagen hat, lässt das Kind seine Wut heraus und zertrümmert Möbel, quält die Katze und das zahme Eichhörnchen, zerreißt selbst das geliebte Buch und schreit: „Ich bin böse und frei!“ Nach einem Augenblick der Stille wird es im Raum geradezu unheimlich: Die Möbel und sonstigen Gegenstände wie die Uhr, eine Tasse, ja selbst die Tapete, werden lebendig und erheben schwere Anklagen gegen das Kind. Plötzlich aber verschwindet der Spuk...
ZWEITER TEIL
...und der Wüterich findet sich in einem wilden Garten wieder. Und auch hier geht es für das Kind hart zur Sache: Alle Tiere dieser Wildnis wie Frösche, Libellen oder Fledermäuse, ja sogar die Pflanzen und Bäume beklagen und attackieren es sogar. Dann aber schlägt die Stimmung plötzlich um: Die Tiere streiten sich untereinander, scheinen das Kind völlig vergessen zu haben. Und dann geschieht etwas recht merkwürdiges: Das Kind bemerkt in dem tierischen Kampfgetümmel ein verletztes Eichhörnchen, zeigt Mitleid mit der kleinen Kreatur und verbindet ihm die Pfote. Dieses Verhalten haben einige der Kämpfer gesehen, beenden aus Verwunderung ihren Streit - und der Spuk hat plötzlich ein Ende. Mit dem Schlussgesang „Es ist gut, das Kind, es ist artig“ endet die Kurzoper; die Tiere rufen die Mutter herbei, die ihr Kind voll Liebe umarmt.
INFORMATIONEN ZUM WERK
Ravel schuf seine zweite Oper im Jahre 1924. Eine Parallele zu „Alice im Wunderland“ ist deutlich erkennbar, aber Ravels Opus ist durch die tiefe, raffinierte musikalische Sprache doch originär anders: Es erklingen modische Tänze, wobei die Auftritte der Tiere Revuecharakter haben und ungewöhnliche Instrumentalkombinationen (auffällig zum Beispiel der Einsatz einer Käseraspel) eingesetzt werden. Wenngleich das Orchester groß besetzt ist, gelingt Ravel eine kammermusikalische Ausdrucksweise.
Der Komponist hatte die Autorin Colette bereits im Jahre 1900 kennen gelernt, und zwar im Salon der Marguerite de Saint Marceaux; dort verkehrten z. B. auch Debussy und sein Lehrer Fauré. Colette schrieb später über Ravel, er sei ihr dazumal „distanziert-trocken“ vorgekommen.
Kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs bat Jacques Rouché, der Direktor der Pariser Oper, Colette um den Entwurf zu einem Feenballett und war von der innerhalb von acht Tagen entstandenen Prosa-Skizze überzeugt. Er schlug ihr Maurice Ravel als Komponisten vor, der nach Kenntnisnahme des Librettos auch sofort zusagte. Rouchés Annahme, die er der Autorin auch mitteilte, erfüllte sich tatsächlich: Die Arbeit zog sich aus unterschiedlichen Gründen längere Zeit hin. Erst nach dem Tode seiner Mutter nahm Ravel die Arbeit wieder auf und vollendete L'ENFANT ET LES SORTILÈGES im Jahre 1924. Die Uraufführung fand ein Jahr später in der Opéra in Monte Carlo statt.
© Manfred Rückert für Tamino-Opernführer 2013
unter Hinzuziehung folgender Quellen:
Beiheft zur DGG-Aufnahme von Lorin Maazel
Opernführer von Reclam und Könemann
Theo Hirsbrunner: Maurice Ravel. Laaber-Verlag, 1989