Wiener Konzerthaus, Großer Saal
Samstag, 22. Oktober 2016, 19.30 Uhr
FRANZ SCHUBERT: Symphonie Nr. 7 (8) in h-Moll D 789 „Unvollendete“ (1822)
ANTON BRUCKNER: Symphonie Nr. 7 in E-Dur (1881—1883)
Bamberger Symphoniker — Bayerische Staatsphilharmonie
HERBERT BLOMSTEDT
Oberflächlich betrachtet ist das Verhältnis zwischen Herbert Blomstedt, 89, und Wien ein eher distanziertes. Erst 2011, im Alter von 84 Jahren, debütierte der schwedisch-amerikanische Dirigent bei den Wiener Philharmonikern und hält damit den Rekord als ältester Dirigentendebütant bei diesem Orchester. Nun ist dies indes nicht automatisch ein Zeichen für Geringschätzung. Auch Leopold Stokowski, der weltberühmte Stardirigent, debütierte erst mit 82 Jahren beim genauso berühmten Boston Symphony Orchestra.
Blomstedt, der von der Neuen Zürcher Zeitung kürzlich zurecht als „der Doyen unter den großen Dirigenten“ bezeichnet wurde, ist einer der allerletzten Vertreter einer Dirigentengeneration, die bis auf wenige Ausnahmen heute ausgestorben ist. Allein im Jahre 2016 verließen uns mit Nikolaus Harnoncourt und Sir Neville Marriner zwei Grundpfeiler dieser langsam verfließenden Epoche. Umso erstaunlicher ist die grenzenlos erscheinende Vitalität Blomstedts, eines bekennenden Siebenten-Tags-Adventisten, der zudem ein geradezu perfektes Deutsch spricht. Auswendig, ohne Partitur und auch ohne Taktstock, dirigierte er stehend und ohne erkennbare Alterserscheinungen gestern Abend im Wiener Konzerthaus ein zunächst konventionell erscheinendes Konzertprogramm: Schuberts „Unvollendete“ und nach der Pause Bruckners Siebente.
Die Kombination von jeweils zwei Symphonien verschiedener Komponisten mit derselben Ordnungszahl, welche Blomstedt schon in den letzten Jahren häufiger praktizierte (erinnern wir uns nur an Beethovens‘ und Sibelius‘ Zweite), klappt in diesem Falle freilich nur bedingt, ist doch die „Unvollendete“ vielen unausrottbar auch heute als die Achte bekannt. Mit den Bamberger Symphonikern, die sich seit 2003 mit dem klingenden Titel „Bayerische Staatsphilharmonie“ schmücken dürfen, hatte er ein kongeniales Orchester auf Gasttournee bei sich, dem er bereits seit zehn Jahren als Ehrendirigent vorsteht (eine Position, welche Blomstedt auch bei der Staatskapelle Dresden, beim Gewandhausorchester Leipzig, beim San Francisco Symphony und beim NHK-Symphonieorchester Tokio einnimmt). Dasselbe Programm dirigierte Blomstedt bereits am 20. Oktober in Bamberg und wird damit auch kommende Woche auf große Korea- und Japan-Tournee gehen.
Die h-Moll-Symphonie von Schubert ist wohl eines jener Stücke, die zuweilen als „zu Tode gespielt“ bezeichnet werden. Interessanterweise könnte ich mich indes nicht entsinnen, sie bisher jemals live gehört zu haben. Nichtdestotrotz ist sie mir aufgrund vieler Tonaufnahmen so präsent wie wenige andere Werke. Die nur zwei Sätze machen sie recht „handlich“ und für eingehendere Vergleiche prädestiniert. Den mit Allegro moderato umschriebenen Kopfsatz nahm Blomstedt relativ zügig und ließ sämtliche Wiederholungen spielen (was er in seiner alten Einspielung mit der Staatskapelle Dresden unterließ). Dies kam dem Satz zweifellos zu Gute, kann man sich an der schieren Melodiösität kaum satthören. Mit etwa 16 Minuten Spieldauer bewegte sich Blomstedt völlig im Rahmen und vermied Extreme. Das folgende Andante con moto, welches trotz der Satzbezeichnung fraglos eine fröhlichere Grundstimmung besitzt, erwies sich wieder einmal als grandioser Kontrast zum dramatischen Auftakt. Die kontemplativen Momente kosteten die Bamberger Symphoniker wunderbar aus. Mit einer Spielzeit von circa 12 Minuten waren auch hier keine Ausreißer festzustellen. Bereits nach eher kurzen Einführungswerk gab es begeisternden Beifall für die Darbietenden.
Nach der Pause folgte die 7. Symphonie von Bruckner, die gemeinhin als sein eigentlicher Durchbruch gilt und zu seinen populärsten Werken gezählt wird. Umso erstaunlicher zumindest aus meiner Sicht, dass mir die Siebte im Vergleich zur Fünften, Achten und Neunten immer eher relativ wenig nahestand, was freilich nur eine ganz persönliche Randnotiz sein kann. Im Kopfsatz fühlte man sich tatsächlich an Wagner erinnert. Großartig diverse Anspielungen auf diesen von Bruckner so verehrten Komponistenkollegen. Allein der Lautstärkeunterschied, den man im Vergleich zum vorhergehenden Schubert gerade im Parkett selbstredend feststellen konnte, zeigte doch die Weiterentwicklung der Gattung Symphonie in den etwa sechzig Jahren, die zwischen beiden Werken liegen. Einen Gänsehautmoment erzielte Blomstedt in der Coda des ersten Satzes, in der das Orchester seine wahre Größe offenbaren durfte und den Satz nach 22 Minuten glorreich abschloss. Der wohl populärste Satz, das Adagio, folgte und vermittelte die berühmte Grundstimmung zum nahenden Tode Wagners. Die hier erstmals eingesetzten Wagnertuben verstärkten diesen Eindruck freilich außerordentlich und machten diesen langsamen Satz zu einer der packendsten Trauermusiken der romantischen Ära. Spieldauer: 25 Minuten. Das mit „sehr schnell“ überschriebene, 10-minütige Scherzo bildete den Gegenpol hierzu. Hier durften die Bamberger Symphoniker wiederum ihre Klasse zeigen, auch wenn minimalste Unsauberkeiten der Blechbläser kurzzeitig auftraten. Anders als in der Fünften oder in der Achten stellt das erstaunlich kurze Finale (hier 14 Minuten) wohl im Falle der Siebten nicht unbedingt den absoluten Höhepunkt der Symphonie dar. Das Wiederaufgreifen der Thematik des Kopfsatzes musste auch einem Laien auffallen. Am spektakulärsten geriet zweifelsohne der krönende Abschluss des Werkes, wo Blomstedt und „sein“ Orchester noch einmal in die Vollen gingen. Hier konnte man noch einmal ein Paradebeispiel einer Bruckner’schen „Klangkathedrale“ hautnah und am eigenen Leibe erleben. Verdienter und tosender Applaus war die Folge. Blomstedt, von den beiden großen Herberts der Dirigentenszene der bescheidenere, blieb seinem Ruf treu und ließ vor allem die Orchestermusiker feiern. Schließlich eine amüsante Szene, als das Orchester sich weigerte, den Applaus gemeinsam mit ihm entgegenzunehmen und sich Blomstedt etwas widerwillig, aber wie immer humorvoll gezwungen sah, sich allein feiern zu lassen. Diese kleinen, menschlichen Momente, die sich schon während des Konzerts in der Mimik des Dirigenten zeigten, führten vor Augen, wieso sich Herbert Blomstedt weltweit einer solch hohen Wertschätzung der großen Orchester erfreut. Als Zuhörer konnte man sich diesem Eindruck nur nachdrücklich anschließen. Die innere Uhr Blomstedts muss übrigens erstaunlich sein: Beinahe auf die Sekunde genau sind die Spielzeiten der einzelnen Sätze identisch mit der bei Querstand erschienenen „offiziellen“ Aufnahme der Siebten von Bruckner mit dem Gewandhausorchester von November 2006.
Zuletzt noch ein Hinweis: Ö1 wird dieses Konzert am 26. Oktober 2016 um 11.03 Uhr in seiner Matinee übertragen.