Hallo, liebe Orgelfreunde,
der Boellmann-Thread hat eine sehr interessante Wendung genommen. Allerdings kann die Orgelbewegung nicht auf den Orgelbau (Wiederaufgreifen der frühbarocken Orgeln) beschränkt werden, auch wenn sie darin einen programmatischen Ausdruck gefunden hat. Den Thread zum Orgelbau finde ich sehr gelungen, möchte ihn jedoch um das Thema Orgelbewegung ergänzen.
Beispiel einer Compenius-Orgel aus der Zeit von Michael Praeteorius (1571-1621)
So wie in Frankreich Komponisten von Vierne bis Alain ihre Antwort auf die aufwühlenden Fragen der Zeit gesucht haben, so gab es in Deutschland etwas Eigenes, die Orgelbewegung. Da dann einige ihrer Vertreter mehr oder weniger stark im Nationalsozialismus engagiert waren, wurde es einfach, sie pauschal zurückzuweisen, ohne sich den von ihr aufgeworfenen Fragen zu stellen. Ich bin sicher, dass dies einer der Gründe für den von Sebastian beklagten „Französismus“ ist, ein Ausdruck, der mir allerdings auch nicht besonders gefällt.
Vom Ansatz her ist aber die Frage nach den „deutschen Wurzeln“ völlig berechtigt und bewegt mich sehr. So merkwürdig es klingen mag, kann ich sehr gut nachvollziehen, von einer „landschaftsorientierten ‚Musikerseele’“ zu sprechen.
Sicher droht die Gefahr, in Klischees und Vorurteile abzurutschen, wenn von der „ins Detail gehenden“ deutschen Sprache im Unterschied zur Eleganz und Leichtigkeit der Franzosen gesprochen wird. Es gibt seit Anfang des 19. Jahrhunderts, d.h. seit der zur Zeit der Kämpfe gegen die napoleonische Vorherrschaft entstandene Romantik ein Selbstbild des Deutschen: Tiefsinn, Arbeit, Gründlichkeit sowie die Fähigkeit zum verbindenden Universalismus. Tiefsinn zeigt sich in tieferem Verständnis von Harmonie gegenüber den bloßen Melodien etwa in Italien, gelehrt gegenüber galant, der Natur näher als bloßes Produkt der Kunst, echte Wahrheit und nicht nur lokale Charakteristik (so wie etwa Sibelius den charakteristischen Ton Finnlands getroffen hat), poetisch und nicht nur prosaisch, metaphysisch über das Physische hinausgehend, organisch und nicht nur mechanisch, wahre Entwicklung statt bloßer Reihung, Kultur statt Zivilisation, Ideenrepräsentation, die nichts mehr mit einfacher Unterhaltung zu tun hat. (So kurz zusammengefasst Sponheuer in „Deutsche Meister – böse Geister?“.)
Diese Ideen wurden von der Orgelbewegung (und der ihr verwandten Singbewegung) aufgenommen. Sie war Teil der Jugend- und Wandervogelbewegung am Beginn des 20. Jahrhunderts, für mehr Gemeinschaft statt der drohenden Anonymität und Kälte in den modernen Städten und der industriellen Arbeitswelt.
Während in Frankreich versucht wurde, die neuen Impulse etwa das Jazz aufzugreifen und aus in ihnen auf Grundlage der eigenen Tradition etwas Neues zu gewinnen, überwiegte in Deutschland die Sehnsucht nach der Zeit des Frühbarock und der Wunsch, an diese Tradition anzuknüpfen und ihr zu neuem Ausdruck zu verhelfen.
Max Reger nahm eine Zwischenposition ein. Sein Freund, der Organist Karl Straube, entwickelte sich von einem führenden Vertreter der Romantiker zu einem Wortführer der Orgelbewegung. Wichtige spätere Vertreter der Orgelbewegung wiederum wie Helmut Walcha waren dann so konsequent, Reger ganz aus ihrem Programm zu streichen, ( Quelle )weil er ihnen zu romantisch und insofern in gewissem Sinn zu „französisch“ war !
Wird diesen Fragen weiter nachgegangen, ergeben sich also ganz überraschende Perspektiven. Abschließend sei erwähnt, dass der Schriftsteller Hans Henny Jahnn ebenfalls Orgelbauer und Vertreter der Orgelbewegung war.
So dürfte Stoff und Anregung genug für ein wichtiges Thema zum Selbstverständnis der deutschen Musik gegeben sein.
Viele Grüße,
Walter