Walter Legge und das Philharmonia Orchestra

  • Ich hab ein paar Fragen zu Walter Legge - aber es darf auch ein umfangreicher thread zu ihm und "seinem" Orchester werden.


    Walter Legge arbeitete also seit den dreissiger Jahren für die EMI als Produzent. 1945 "gründete er" (wie überall zu lesen ist) das Philharmonia Orchester in London. Erste Frage: Gründete er das Orchester im Auftrag der EMI oder als freischaffender Impressario?


    Und welche kapitale Laus muß ihm im März 1964 über die Leber gelaufen sein, daß er quasi über nacht beschlossen hat, das Orchester für aufgelöst zu erklären. Und wie konnte er einfach so ein Orchester auflösen? War das Orchester eine Körperschaft, die tatsächlich ihm gehört hat?


    Und als die Mitglieder des Orchesters dann beschlossen hatten, es als New Philharmonia Orchestra wieder auferstehen zu lassen, mit Otto Klemperer als "Präsidenten" des Orchesers, wie hat Legge dann aus der Wäsche geschaut? Gab es dann seither totale Funkstille zwischen ihm und Klemperer und war er so verärgert, daß er seine Tätigkeit bei EMI beendet hat?


    Gruß,
    Markus

  • Lieber Markus,


    ein paar Erinnerungsbrocken aus lang vergangener Lektüre der Klemperer-Biographie von Heyworth:


    Legge hat sich nach der Neugründung des Orchesters als New Philharmonia Orchestra sogar geweigert, dem Orchester die von diesem bis dahin genutzte Notenbibliothek zu verkaufen - er hat sie lieber für einen lächerlich geringen Preis an ein anderes Orchester verkauft.


    Außerdem hat er 1964 auch bei der EMI gekündigt, er und Klemperer hatten danach also nichts mehr miteinander zu tun. Legge hatte davor eine Klemperer-Büste an prominentem Platz in seinem Haus, die dann auch nicht mehr gesehen ward.


    Mehr Details zu dieser Geschichte würden mich auch brennend interessieren!


    LG,
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Zitat

    War das Orchester eine Körperschaft, die tatsächlich ihm gehört hat?


    Ich denke, daß das Philharmonia Orchestra ausschlieslich für Aufnahmen der EMI gegründet wurde und jederzeit von Legge, dem es als Hauptproduzenten der EMI quasi gehörte, aufgelöst werden konnte.
    Es wurde also m.W. von Legge im Auftrage der EMI gegründet.


    Die Mitglieder des Orchesters erhielten die Kündigung bei einer morgendlichen Probe ohne Vorwarnung.
    Der legendäre Herr Legge war halt ein Riesenar....
    Er war despotisch, aufbrausend, intolerant und soweit ich mich erinnere gelesen zu haben, am Ende überall total verhaßt.


    Suvi Raji Grubb, sein Nachfolger als Produzent von Klemperer, beschreibt dies sehr anschaulich in seinen leider nicht mehr erhältlichen Memoiren "Kann der Partitur lesen, fragte Otto Klemperer" .


    LG,
    Michael

  • Mir fehlen natürlich die überlieferten Insiderinformationen aus Orchesterkreisen, aber kann man es sich wirklich so einfach machen, Legge auf eine abstoßende Mischung für seine Umwelt unangenehmer Charakterzüge zu reduzieren? Legge war wohl ohne Zweifel ein Perfektionist, und jemand der hundertprozentige Loyalität erwartete - weshalb es ihn zum Beispiel schwer traf, als der von ihm für EMI "entdeckte" Karajan zur Deutschen Grammophon wechselte. Dass mit solchen Menschen nicht immer leicht umzugehen ist, ist eine bekannte Tatsache. Allerdings ist ein gerüttelt Mass an Perfektionismus, Besessenheit und der damit verbundenen Halsstarrigkeit doch wohl nichts Unübliches bei denen, die in der klassischen Musik Großes errreicht haben oder wollen. Solange es sich dabei um "Künstler", also um Komponisten, Dirigenten oder Interpreten handelte, werden ihnen diese Charakterzüge im einem gewissen Maße auch durchaus zugestanden, sie werdenvielleicht am Rande negativ bemerkt, schmälern aber nicht wirklich den Ruhm des von einem Künstler geschaffenen Werkes.


    Walter Legge jedoch wird ein Recht auf ein vergleichbares Verhalten abgesprochen, weil er ja selbst kein "ausübender Künstler" war. Damit wird meines Erachtens ignoriert, welchen Anteil Legge am dem Zustandekommen der von ihm beaufsichtigten künstlerischen Produktionen hatte. Er hat bestimmte Komponisten durch die Erfindung des "Subskriptionsverfahrens" erst aufnahmefähig gemacht. Er hat den Grundstein für die Qualität der Aufnahmen, für die er verantwortlich war, gelegt durch eine unerbittliche Auswahl von Orchestern, Dirigenten und Solisten höchster Güte. Zu eben diesem Zwecke hat er auch das Philharmonia Orchestra gegründet.


    Walter Legge hatte eine unglückliche Eigenschaft: konnte er die nach seiner Ansicht richtige künstlerische Richtung nicht mehr durchsetzen, so war er zu Kompromissen völlig unfähig. Er warf lieber den Büttel hin. So geschehen in der Auflösung des Philharmonia Orchestra, aber auch in seiner Kündigung bei EMI, als diese es wagten, seinen Arbeitsbereich beschneiden / beeinflussen zu wollen. Und er war in dieser hinsicht absolut radikal, wie auch das Beispiel der Notenbibliothek zeigt. Ein vergleichbares Beispiel ist auch das, wie er später seine anscheinend ihres Gleichen suchende Sammlung von frühen klassischen Aufnahmen komplett vernichtete (zerbrach und in einen See warf, wenn ich mich recht entsinne, weil die Institution, der er diese Sammlung als Geschenk angeboten hatte diese nicht oder nicht in vollem Umfang annehmen wollte. Wenn er einmal rot sah, dann kannte seine Reaktion kein Mass mehr. Es ist tragisch, dass er sich damit am meisten selbst schädigte, indem er sich für den Rest seines Lebens eines ihn erfüllenden Tätigkeitsfeldes beraubte (die Aufnahmen und Meisterkurse seiner Frau Elisabeth Schwarzkopf können im Vergleich zu seinen früheren Aufgaben nur eine klägliche Beschäftigungstherapie). gewesen sein) ist.


    Legge war ohne Zweifel ein zu fürchterlichen Anfällen fähiger Choleriker - aber er war - ohne selbst ausübender Künstler zu sein - ein Mann von auserlesenem Kunstverstand und -geschmack. Und er war jemand, der anderen die Treue hielt, wie gerade das Beispiel Otto Klemperers zeigt, der es in nicht geringem Masse Walter Legge und dem von ihm geschaffenen und unterhaltenen Philharmonia Orchester verdankte, dass er den musikalischen Nachlass auf Tonträgern schaffen konnte, den er hinterlassen hat.


    Ich persönlich halte Walter Legge letztendlich eher für eine tragische Figur als für eine verabscheuungswürdige. Dennoch nötigt mir ein derartiges Mass an "sich selber treu bleiben bis zum bitteren Ende" auch ein gewisses Mass an widerstrebendem Respekt ab.


    Gruß


    katlow

  • Lieber katlow,
    vielen Dank für Deinen tollen Beitrag.
    Ich bin eigentlich sehr Deiner Meinung, möchte aber auf einige Punkte eingehen:


    Zitat

    und jemand der hundertprozentige Loyalität erwartete


    "Sein" Orchester war sicherlich 100% loyal und hat zum Dank dafür einen Tritt in den Hintern bekommen.


    Zitat

    aber er war - ohne selbst ausübender Künstler zu sein - ein Mann von auserlesenem Kunstverstand und -geschmack


    ohne Zweifel, aber das macht ihn mir trotzdem nicht symphatisch.


    Zitat

    Und er war jemand, der anderen die Treue hielt


    Sein Orchester hat er einfach weggeschmissen.
    Soweit mir bekannt ist, gab es damals sogar einen Suicid eines Orchestermitgliedes.
    Diese plötzliche Kündigung eines Elite-Orchesters muß ein irrer Schock gewesen sein.


    Zitat

    Ich persönlich halte Walter Legge letztendlich eher für eine tragische Figur als für eine verabscheuungswürdige. Dennoch nötigt mir ein derartiges Mass an "sich selber treu bleiben bis zum bitteren Ende" auch ein gewisses Mass an widerstrebendem Respekt ab.


    Diesen Satz finde ich sehr gut und schließe mich dieser Einschätzung an.


    LG :hello:


    Michael

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Wir verdanken Walter Legge wunderbare LP Aufnahmen, er
    hat nach dem Kriege Otto Klemperer in Arbeit und Brot gebracht.


    Seine Schlussaktionen mit Auflösung des Philharmonia Orchesters
    sind Spielraten von Altersstarrsinn. Schade!

    :):):)

  • Ich kann mich sehr gut in diesen Perfektionisten hineinversetzen, zudem ist er in gewisser Hinsicht kein einzelfall: Karl Münchinger beispielsweise wünste, daß nach seinem Tod "sein" Orchester, die klassische Philharmonie Stuttgart aufgelöst würde - niemand sollte sie mehr dirigieren. Aber die Orchestermitglider entschieden anders.



    Ich finde dieser Thread sollte sich nicht nur auf die schlechten Charaktereigenschaften von Walter Legge beschränken, vielleicht wäre es ganz interessant wenn hier "Sternstunden des Orchesters" soweit auf Tonträger dokumentiert (und das sind eine ganze Menge) genannt würden..


    mfg
    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    klassische Philharmonie Stuttgart aufgelöst würde


    Lieber Alfred,
    Ich denke, Du meinst das Stuttgarter Kammerorchester :O

    Zitat

    Aber die Orchestermitglider entschieden anders


    Das ist ja hoffentlich nicht schlimm, anscheinend wollten die gerne weiter Geld verdienen....
    LG,
    Michael