Die Bachkantate (116): BWV187: Es wartet alles auf dich

  • BWV 187: Es wartet alles auf dich
    Kantate zum 7. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 4. August 1726)




    Lesungen:
    Epistel: Röm. 6,19-23 (Der Tod ist der Sünde Sold; Gottes Gabe aber ist das ewige Leben)
    Evangelium: Mark. 8,1-9 (Die Speisung der Viertausend)



    Sieben Sätze, Aufführungsdauer: ca. 25 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choral: Hans Vogel (1563)



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Chor SATB, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Es wartet alles auf dich, dass du ihnen Speise gebest zu seiner Zeit.
    Wenn du ihnen gibest, so sammlen sie; wenn du deine Hand auftust,
    so werden sie mit Güte gesättiget.


    2. Recitativo Bass, Continuo
    Was Kreaturen hält das große Rund der Welt!
    Schau doch die Berge an, da sie bei tausend gehen;
    Was zeuget nicht die Flut? Es wimmeln Ström’ und Seen.
    Der Vögel großes Heer zieht durch die Luft zu Feld’.
    Wer nähret solche Zahl,
    Und wer vermag ihr wohl die Notdurft abzugeben?
    Kann irgendein Monarch nach solcher Ehre streben?
    Zahlt aller Erden Gold ihr wohl ein einig’ Mahl?


    3. Aria Alt, Oboe I, Streicher, Continuo
    Du Herr, du krönst allein das Jahr mit deinem Gut’.
    Es träufet Fett und Segen
    Auf deines Fußes Wegen,
    Und deine Gnade ist’s, die allen Gutes tut.


    Parte 2


    4. Basso solo Bass, Violino I/II, Continuo
    Darum sollt ihr nicht sorgen noch sagen:
    Was werden wir essen? was werden wir trinken? womit werden wir uns kleiden?
    Nach solchem allen trachten die Heiden.
    Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr dies alles bedürfet.


    5. Aria Sopran, Oboe I, Continuo
    Gott versorget alles Leben,
    Was hienieden Odem hegt.
    Sollt’ er mir allein nicht geben,
    Was er allen zugesagt?
    Weicht, ihr Sorgen! Seine Treue
    Ist auch meiner eingedenk
    Und wird ob mir täglich neue
    Durch manch’ Vaterliebs-Geschenk.


    6. Recitativo Sopran, Streicher, Continuo
    Halt’ ich nur fest an ihm mit kindlichem Vertrauen
    Und nehm’ mit Dankbarkeit, was er mir zugedacht,
    So werd’ ich mich nie ohne Hülfe schauen,
    Und wie er auch vor mich die Rechnung hab’ gemacht.
    Das Grämen nützet nicht, die Mühe ist verloren,
    Die das verzagte Herz um seine Notdurft nimmt;
    Der ewig reiche Gott hat sich die Sorge auserkoren;
    So weiß ich, dass er mir auch meinen Teil bestimmt.


    7. Choral SATB, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Gott hat die Erde zugericht’,
    Lässt’s an Nahrung mangeln nicht;
    Berg und Tal, die macht er nass,
    Dass dem Vieh auch wächst sein Gras;
    Aus der Erden Wein und Brot
    Schaffet Gott und gibt’s uns satt,
    Dass der Mensch sein Leben hat.


    Wir danken sehr und bitten ihn,
    Dass er uns geb’ des Geistes Sinn,
    Dass wir solches recht versteh’n,
    Stets in sein’ Geboten geh’n,
    Seinen Namen machen groß
    In Christo ohn’ Unterlass:
    So sing’n wir recht das Gratias.






    Auch in dieser Kantate wird (wie in den Kantaten der Vorjahre BWV 186 und BWV 107) Bezug auf das Evangelium des heutigen Sonntags genommen: Die Speisung der Viertausend durch Jesu’ wundersame Vermehrung von Brot und Fisch.
    In dieser Kantate nun wird besonders Wert auf das Lob der globalen Fürsorge Gottes - nicht nur für den Menschen, sondern für alle Kreaturen der Erde - gelegt. Die Textdichtung dieser Kantate hat bei mir an einigen Stellen für spontane Erinnerung an Stellen aus Haydns Schöpfung und Jahreszeiten gesorgt...


    Die Kantate beginnt wieder einmal mit einem Bibelwort-Chor (die thematisch gut passenden Verse 27 und 28 aus Psalm 104).
    Der grandiose Chorsatz deutet den Bibeltext sehr sorgfältig aus (in einzelnen Abschnitten nach Art einer Motette inklusive einer Chorfuge in der Satzmitte), wirkt aber überhaupt nicht „zerfasert“ oder episodenhaft, sondern ausgesprochen „rund“ und wie aus einem musikalischen Guss, was ja durchaus eine große Kunst ist, bei einem doch eher sperrigen Text, wie dem hier vertonten.


    Wie in dem 14 Tage vor dieser Kantate hier aufgeführten Werk (BWV 88) betitelt Bach auch diesmal wieder einen Satz mit Basso solo – wiederum handelt es sich musikalisch gesehen um eine schwer zu definierende freie Mischform zwischen Arioso und Arie, die erneut vom Bass als traditioneller „Vox Christi“ vorgetragen wird. Es handelt sich hierbei um ein weiteres Bibelwort, diesmal aus der Bergpredigt (Matthäus Kapitel 6, Vers 31-32).


    Zur Abwechslung bietet Bach in dieser Kantate gleich zwei aufeinanderfolgende Strophen des Schlusschorals an.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Hallo MarcCologne,



    Du bringst mit großer Regelmäßigkeit neue Threads über Bach-Kantaten ins Forum, u.z. in einer Form, bei der es mir leid tut, daß Du ohne Antwort bleibst.


    Eigentlich solltest Du alle Deine Beiträge bündeln und mal zusammenhängend präsentieren.


    Ich weiß natürlich nicht, wie diese Breiträge zustandegekommen sind, ob Du darauf ein Autorenrecht hast oder ob Du sie aus einer Quelle entnimmst.


    Es wird kaum eine Diskussion darüber entstehen können.
    Wer kennt schon außer ein paar Spezialisten (in Leipzig z.B.) alle diese Werke. ich kenne keines.


    Deine Beiträge werden sicher von dem Einen oder dem Anderen gelesen. Insofern wirst Du schon Deine stumme Gemeinde haben.


    Mit Gruß aus Bonn :hello:

    Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu

  • Guten Abend



    Ich lese die Beiträge und zähle mich zur (fast) "Stummen Gemeinde" :hello:


    Gruß aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Hallo Stabia,


    finde ich ja lieb, dass Du Dir Gedanken machst :yes:


    Zitat

    Stabia schrieb:
    Du bringst mit großer Regelmäßigkeit neue Threads über Bach-Kantaten ins Forum, u.z. in einer Form, bei der es mir leid tut, daß Du ohne Antwort bleibst.


    Die "große Regelmäßigkeit" besteht immerhin darin, dass ich an jedem Sonn- und Feiertag des laufenden Kirchenjahres die für diesen Tag entstandenen Bachkantaten vorstelle - bis jetzt hat es immer pünktlich hingehauen :]


    Und was die "ausbleibenden Antworten" angeht: Ich habe Zeit - Geduld ist eine meiner Tugenden :D;)


    Außerdem ist es ja nicht so, dass nie jemand antwortet... schau Dir nur mal die einzelnen Threads an.


    Zitat

    Ich weiß natürlich nicht, wie diese Breiträge zustandegekommen sind, ob Du darauf ein Autorenrecht hast oder ob Du sie aus einer Quelle entnimmst.


    Nun, ich schlage schon einiges nach (ist ja logo) aber ich formuliere und verfasse alles selber - mehr dazu wollte ich eigentlich in Kürze mal in einem eigenen Thread schreiben...
    "Breiträge" gefällt mir übrigens in dem Zusammenhang - ich hoffe, die Texte von mir sind nicht so zäh wie ebensolcher sprichwörtlich gern zu sein pflegt :D


    Zitat

    Eigentlich solltest Du alle Deine Beiträge bündeln und mal zusammenhängend präsentieren.


    Genau dies geschieht hier in recht übersichtlicher Form (alles in einem einzigen Thread zusammenzufassen wäre wohl eher ein gegenteliger Effekt).
    Die Idee zu diesem Projekt ist im letzten Herbst geboren worden - es bestand damals ein allgemeines Interesse an einer Bachkantaten-Ecke.


    Zitat

    Bernhard schrieb:
    Ich lese die Beiträge und zähle mich zur (fast) "Stummen Gemeinde"


    Das weiß ich und ich freue mich sehr darüber - es gibt derer noch ein paar mehr, wie ich aus Feedbacks weiß.


    Zitat

    ... und Stabia schrieb:
    Wer kennt schon außer ein paar Spezialisten (in Leipzig z.B.) alle diese Werke. ich kenne keines.


    Dann solltest Du diese bedauerliche Kenntnislücke aber unbedingt mal schließen, wie ich finde! Anregungen findest Du hier bestimmt genügend :hello:


    Zitat

    Es wird kaum eine Diskussion darüber entstehen können.


    Wir werden sehen - in einigen Threads ist sie bereits entstanden (schau z. B. mal bei der bekannten Kantate BWV 82 rein)


    Außerdem befinden wir uns noch in der Aufbauphase - ich selber habe bisher noch zu den wenigsten Kantaten neben der Vorstellung derselben auch etwas zu den Aufnahmen geschrieben.
    Das hatte ich mir eigentlich für den "zweiten Durchgang" aufgehoben - dann kommt quasi "Fleisch" auf die im Moment noch oft blank liegenden Knochen :]
    Und es kann ja auch jederzeit ein weiterer Bachfreund dazustoßen, der sich hier austoben möchte - gerade, weil es hier im Forum so detailliert um die Bachkantaten geht... ich hätte nix dagegen.
    Und niemand hier im Forum muss etwas hochwissenschaftliches zu irgendeinem Thema beitragen - das ist doch hoffentlich allgemein bekannt.
    Beiträge wie "Ich hätte da mal 'ne Frage zu..." oder "Ich höre gerade diese Kantate/ diese Arie besonders gern..." sind oft schon eine Bereicherung und lösen wiederum mitunter eine neue Diskussion aus, usw.
    Ich möchte dazu alle Taminos weiterhin ermutigen! :hello:


    Wer sich nicht für Bachkantaten interessiert, braucht hier ja auch nicht reinzuschauen - ich selber schreibe in der Regel ja auch nix zu Themen, die mich überhaupt nicht interessieren ;)

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Lieber Marc,


    Leider hat Glockenton (noch) keinen Internetzugang, denn sonst würde er sich hier aktiv beteiligt haben.


    LG, Paul

  • Hallo Paul,


    wie könnte ich mich bei dieser Vorlage verweigern ;)


    Ich werde also Deinen Worten nunmehr Taten folgen lassen und mich in die Besprechung der von mir bekannten Aufnahmen dieser Kantate stürzen.


    Wegen des umfangreichen Eingangschors widme ich diesem einen eigenen Beitrag.
    Die späteren Sätze werde ich dann bei Gelegenheit nachtragen.


    Mir liegen momentan zwei Aufnahmen vor:


    Gustav Leonhardt



    bei JPC: Track 12



    Ton Koopman



    bei JPC: Track 30


    Satz 1 Chor: Es wartet alles auf Dich


    Zunächst ein kleiner eigener Versuch einer oberflächlichen, stichprobenmässigen Analyse, die zur Beurteilung von Aufnahmen, aber vielleicht auch zur Erarbeitung einer eigenen Interpretation unter Umständen hilfreich sein könnte.


    Dieser Satz ist von Bach umfangreich und prachtvoll angelegt, auch wenn er auf Trompeten, Pauken oder Hörner verzichtet.
    Er beginnt mit einem Orchestervorspiel, welches für sich genommen schon ein eigenes kleines “ Präludium“ sein könnte, wenn man nur direkt vor dem Choreinsatz ein Schlussritardando machen würde.


    Dieses Vorspiel scheint mir in sich schon einige textausdeutend-dialogische Aspekte zu beinhalten.
    Die Streicher beginnen mit einer auftaktig-synkopischen Geste, so als ob sie auf eine große hungrige Menschenmasse mit einer zeigenden Bewegung hinweisen wollen.
    Darauf folgt dann eine Figur der Oboen, die mich ein bisschen an das Betteln von Jungvögeln erinnern könnte. Dadurch, dass die Figur zweimal hintereinander erklingt, wird die wiederholte Dringlichkeit der Bitte deutlich.

    Dies sind alles natürlich nur subjektive Erklärungsversuche in bildhafter Sprache, denn eigentlich ist die Bachsche Klangrede in der Lage, gerade dass Unsagbare zu sagen.


    Mit offenen Ohren kann man es hören, wenn man es will.


    Kleiner Abstecher zum Vibrato-Thread: die Anfangssynkope der ersten Violinen vertrüge m.E. aufgrund ihres sehnsüchtig-drängenden Wartecharakters und der melodischen Emphase eine Bebung; ein mittelschnelles und mittelstarkes Vibrato also, das spätestens beim zweiten darunterliegenden Continuo-Ton einschwingen müsste. ..
    Bei Leonhardt geht es in diese Richtung.


    Im Material dieser hier beschriebenen Anfangstakte sind eigentlich schon die Keimzellen für nahezu alles enthalten, was sich bis zum Fugen-Einsatz „wenn du ihnen….“ abspielen wird.
    Natürlich wechseln die Figuren nun dialogisch imitierend hin- und her, und aus der kurzen beschriebenen Eingangssynkope der ersten Violinen entwickelt sich im Verlauf des Vorspiels eine Synkopenkette , die noch einmal aufgrund der harmonischen Zusammenhänge ( jede scheinbare Auflösung ist wieder ein neuer Vorhalt) den Affekt des sehnsüchtigen Wartens und Bittens aufgreift, während die darunterliegenden Mittelstimmen die „Bitte-Bitte-Idee“ vertieft, die man am Anfang von den Oboen gehört hat.


    Die Noten dieser Synkopenkette sollten zwar dynamisch belebt werden, aber nicht einfach schematisch „Messa di voce“ sondern entsprechend ihrer überbindenden Funktion in der Harmonik, aber eben auch entlang der übergreifenden, melodisch-harmonischen Progression.


    Mit anderen Worten: Insgesamt sollte die Abwärtsbewegung auch dynamisch hörbar werden, d.h. ein über die ganze Sequenz gedachtes Diminuendo, bei gleichzeitiger Kleindynamik der Einzeltöne.
    Sofort danach muss die Dynamik m.E. schon wieder auf die nächste Schlussphrase des Orchester hinstreben.


    All diese Dinge finden nun auf dem Fundament eines in Achteln gehenden Continuos statt.
    Vielleicht gibt es einen Zusammenhang zum in Achteln gesungenen Chortext: „…dass Du ihnen Speise gebest….“.
    Man könnte sich vorstellen, wie die Jünger durch die Reihen gehen und die Speisen austeilen.


    Wichtig finde ich bei solchen Bässen übrigens, dass die erste Note einer Gruppe von jeweils 4-Achteln gegenüber den anderen 3 Noten mit etwas mehr dynamischen Gewicht und auch etwas breiter artikuliert wird. Aber auch hier gilt: Bloß nicht nach Schema-F klingen, immer flexibel und musikalisch wach bleiben.


    Der Choreinsatz und die folgenden Takte erklären den „Sinn“ des Orchestervorspiels eigentlich von selbst.
    Zwischen den Stimmen der Sänger und der Instrumente entspinnt sich nun ein geistreicher Dialog, bei dem die Hauptgedanken immer wieder von verschiedenen „Personen“ beleuchtet werden.


    Es schließt sich ein ritornell-ähnliches Zwischenspiel des Orchesters an, wodurch dem Hörer Gelegenheit gegeben wird, über die vom Chor vorgetragenen Gedanken noch einmal zu reflektieren.


    Danach hebt Bach das kompositorische Niveau noch einmal an, und schreibt eine großartige Chor-Fuge über den Text „Wenn Du ihnen gebest, so sammeln sie….“
    Plastisch wird die Tätigkeit des Sammelns mit einer langen Melisma auf diesem Wort ausgedrückt. Einige der Elemente dieser Figur könnten ewig in sich wiederholt werden.


    Wichtig wäre für mich, dass man aus der langen Melisma mit einer leichten Betonung wieder herauskommt, und die einzelnen Teile durch eine gliedernde Auf- und Ab-Dynamik zu hören sein sollten (schön besonders bei Koopman zu hören)
    Man sollte sich hüten, so etwas als virtuos hämmernde Koloraturen zu interpretieren.


    Nach einem weiteren instrumentalen Zwischenspiel werden die Gedanken des ersten Choreinsatzes noch einmal von den Chorstimmen wie bei einem Fazit aufgegriffen und zum Ende geführt.
    Man sieht, dass Bach ähnlich wie Mattheson dachte, und auch diesen Eingangschor vom Aufbau her ähnlich wie eine gut vorbereitete und strukturierte Predigt in Tönen – Klangrede eben- angelegt hat.


    Für eine Interpretation finde ich es wichtig, dass man aus einer derartigen Betrachtungsweise heraus versucht, die vermeintlich erkannten Intentionen dem Hörer zu vermitteln, und zwar einerseits mit großem innerem Feuer, aber andererseits auch mit einem Bewusstsein für ästhetische Eleganz .


    Nun aber zu den Interpretationen auf den CDs:


    Der auffälligste Unterschied zwischen Leonhardts- und Koopmans Aufnahme ist zunächst einmal das Tempo.
    Bei Leonhardt klingt alles in sich ruhend, schreitend und mächtig zugleich, während es bei Koopman leichtfüßig- behender und um einiges schneller zugeht.


    Es ist schon wahr: aufgrund der durchaus komplexen kontrapunktischen Konstruktion sollte man sich m.E. von allzu raschen Tempi fernhalten, um der Musik und dem Hörer Gelegenheit zu geben, sich zu entwickeln bzw. die gespielten Gedanken zu verstehen.
    Das gilt nicht zuletzt auch dann, wenn dem Publikum das Stück zum ersten Mal präsentiert wird.
    Trotzdem kann ich mit beiden Tempi gut leben, wobei ich zwischendurch doch leichte Präverenzen für Koopmans Darstellung habe, wenngleich ich auch froh bin, Leonhardts Interpretation immer wieder hören zu können.


    Es gibt eben mehrere legitime Möglichkeiten.


    Bei Koopmans Eingangschor klingt es noch nicht verhetzt, beim Leonhardt „groovt“ es aber trotzdem noch, allerdings „erdiger“ und nicht so motorisch vorantreibend wie bei Koopman.


    Die Soprane des Knabenchors Hannovers können erwartungsgemäß mit denen des Amsterdam Baroque Choir nicht wirklich verglichen werden, obwohl sie ihre Sache schon ganz gut machen.
    Die übrigen Stimmen bei Leonhardt sind ja von Sängern des Collegium vocale Gents ( Einstudierung: Herreweghe) besetzt worden. Aus meiner Sicht eine kluge Entscheidung, die sich gelohnt hat.
    Mir gefallen diese Chorstimmen ausgenommen gut, vor allem die männlichen Altstimmen.


    Insgesamt gibt es bei Koopman jedoch mehr chorsängerische Brillianz und elegante Virtuosität zu hören.
    Gewisse, aus einigen Takten bestehende Teilabschnitte der Orchesterstimmen werden bei ihm auch bewusster einer dynamischen Schattierungen unterworfen, während Leonhardt eher auf die innere Kraft der Musik setzt, auf dass sie aus sich selbst heraus wirken möge.


    Beides kann überzeugen.


    Klanglich gefällt mir Leonhardts Violinen besser, weil sie –im Gegensatz zu den Violinen des ABO- mit bewussterem Vibratoeinsatz an bestimmten Stellen den Eindruck des Saftlos-Anämischen besser zu verhindern wissen.


    Insgesamt klingt das Leonhardt-Consort kerniger und obertonreicher als das ABO, auch die Oboen.
    Dies wird auch auf die dichtere Platzierung der Mikrophone zurückzuführen sein, aber wohl nicht nur.


    Während es bei Leonhardt im Mittelteil einige spannungslose Durststrecken im Sopran gibt, leistet sich Koopmans Aufnahme solche Schwächen nicht. Auch der Schlusston ist bei Leonhardt merkwürdig abrupt und nüchtern, während es bei der neueren Einspielung doch stimmiger und zur Pracht des Eingangschors passender klingt.

    Fazit für den Eingangschor:


    Beide Einspielungen haben hier ihre starken Seiten, und ich bin froh, beide zu besitzen.
    Im Zweifel sehe ich gewisse Vorteile für Koopmans virtuoser gestalteten Eingangschor, manchmal geniesse ich aber auch das in sich ruhende Tempo Leonhardts .
    In den oberen Streichern des ABOS wünschte ich mir die definiertere und ausdrucksstärkere Klanglichkeit des Leonhardt-Consorts.
    Die Oboen des ABOs klingen angenehm weich und schalmeienhaft.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • 2. Recitativo Bass, Continuo: Was Kreaturen hält…


    Dieses kleine Stück Musik scheint mir ein schönes Beispiel für Bachs hohe Rezitativkunst zu sein.


    Eine textbezogene Analyse der melodischen Wendungen und der harmonischen Fortschreitungen kann mich immer wieder neu in Erstaunen versetzen.
    Doch auch sie kann letztlich nicht erklären, wieso sich diese Tonfolgen so gut im Bewusstsein einprägen, und weshalb sie so unglaublich gut zu singen, bzw. zu rezitieren sind.
    Sicher ist es auch die gekonnte Verbindung von Sprache und musikrhetorischem Ausdruck.
    Der Text ist wohl weniger als lyrisches Kunstwerk, sondern vielmehr als eine in Reimen gefasste Kurzpredigt gedacht, die wiederum ein Teil eines größeren Predigtentwurfes ist.
    Eben durch die melodischen und harmonischen Wendungen wird der predigthafte Charakter unterstrichen.


    Einige Beispiele:
    a)„…das große Rund der Welt“ ; hier wird die schiere Größe durch einen ausholenden Oktavsprung verdeutlicht.
    b)„Schau doch die Berge an“ singt der Bass auf der 5. 6. und 7. Stufe der mixolydischen Skala der noch liegenden Dominante.
    Man kann sich die Weite und Majestät der Bergwelt vorstellen.
    Das Wort „Berge“ wird durch die Septime emotional hervorgehoben und der Continuobass lässt es sich daraufhin nicht nehmen, ebenfalls eine pathetische Septime unter den B-Dur-Akkord auf „…die Berge anzu setzen, wodurch er seiner Funktion, gleichzeitig elegant zur nächsten Subdominaten Es-Dur zu modulieren, besonders ausdrucksvoll gerecht wird.

    Dieses, wie auch das vorhergehende Beispiel könnte man übrigens den in der Literatur nicht genau klassifizierten Hypotyposis-Figuren zuordnen.
    Was sich hier möglicherweise ziemlich theoretisch anhört, wird einem ganz plastisch deutlich, wenn man es singt, bzw. dazu auch spielt.


    Dort, wo der Text mit einer Frage endet, setzt Bach als gelehrter Komponist selbstverständlich einen Dominante und nicht etwa eine Tonika, wie sie z.B. beim Satzende „ …zieht durch die Luft zu Feld“ zu finden ist.
    Der Text endet mit drei (eigentlich vier) rhetorischen Fragen.
    Die Figur der Interrogatio lässt sich an aufsteigenden Melodieverläufen erkennen, z.B. auf „….nach solcher Ehre streben?“ .
    Wegen des vorherrschenden Charakters von rhetorischen Fragen beließ es Bach am Textende wohl dabei, die Melodie auf dem schwebenden Quint-Ton „a“ der Dominante D-Dur zur parallelen Molltonart g-moll enden zu lassen.
    Dadurch, dass das Rezitativ eben so und nicht etwa auf einer Tonika endet, wirkt der Schluss wie eine Mischung aus Fragezeichen und Doppelpunkt. Man spürt, dass es weitergehen muss, meiner Ansicht nach auch Atacca.


    Dass die darauffolgende Arie wieder in der ursprünglichen Rezitativtonart B-Dur und nicht etwa in g-moll steht, ist passt natürlich zum Affekt der Arie.
    Es ist aber auch ein verstecktes Kennzeichen für einen großen Komponisten: Man wird auf eine Fährte gelockt ( die Erwartungshaltung Dominante D-Dur ->Moll-Tonika g-moll wird aufgebaut), aber es kommt dann doch zu einer anderen legitimen Lösung, (legitim weil sowohl g-moll als auch B-Dur zur gleichen harmonischen Welt, nämlich B-Dur gehören), als wie man es erwartet hätte.

    Sowohl Max van Egmond ( Leonhardt) als auch Klaus Mertens (Koopman) erweisen sich hier wieder einmal als erfahrene und stilsichere Bachsänger. Ich kann keinem den Vorzug geben und mag auch beide Timbres für Bachs Musik sehr.
    Ich vermute, dass Ton Koopman seinen Sänger bat, den Teilschluss „….das grosse Rund der Welt“ zu „verweiblichen“, als mit einem Vorhalt von oben zu singen.
    Für mich ist die oben beschriebene Bachsche Figur an sich schon ausdrückend genug, weshalb ich den Vorhalt an dieser Stelle als „zu viel des Guten“ empfinde. Aber wir wollen nicht kleinlich werden, denn beide Rezitative sind sehr schön interpretiert, bei Koopman natürlich in der rechten Hand des Orgelcontinuos freier.


    Den Klang beider Truhenorgeln empfinde ich übrigens in den hier verwendeten gedackten Registern als ausgesprochen angenehm, besonders Leonhardts Orgel hat es mir angetan. Es harmoniert auch sehr gut zum Klang des Barockcellos.


    An dieser Stelle schiebe ich einen Hinweis auf einen eigenen neuen Thread ein.


    Wer Psalm 104 nachschlägt, wird feststellen, dass der unbekannte Textdichter (Bach selbst+) im Sinne einer Elaboratio vertieft, in dem er auf andere Verse des Psalmes eingeht (der Eingangschor gibt ja die Verse 27 und 28 wieder)
    Das Motiv der Berge ("Schau doch die Berge an") wird man z.B. in den Versen 8, 13, 18 und 32 wiederfinden. Mit den Vögeln, den Fluten und den Fischen ("...es wimmeln Ström und Seen...") verhält es sich genauso.


    Dass die gesamte Kantate tatsächlich nachdem Prinzip einer guten Predigt entworfen ist, wird man noch an den kommenden Sätzen erkennen, auf die ich später zu sprechen kommen werde.


    Bis dahin,


    Gruss
    :hello:Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • 3. Aria Alt, „Du Herr, du krönst allein das Jahr mit deinem Gut“


    Textliche Grundlage für diese Arie ist der biblische Psalm 65, Verse 11 und 12, hier in der letzten, zu Luthers Lebzeiten herausgegebenen Version von 1545 wiedergegeben:


    11: Du trenkest seine furchen vnd feuchtest sein gepflügtes /Mit Regen machstu es weich / vnd segenest sein Gewechse
    12: Du krönest das Jar mit deinem Gut / Vnd deine Fusstapffen trieffen von fett.


    Man sieht, dass der Textdichter sich ziemlich genau an die Vorgabe des Psalters gehalten hat, in der theologisch gesehen mit Aussagen wie „und deine Fußtapfen triefen von Fett“ die versorgende Eigenschaft Gottes beschrieben wird, die ja auch in einem der bekannten alttestamentlichen Namen Gottes ( Jahwe - Jirah = Der eine, aus sich selbst existierende Gott, der ein Versorger ist) schon enthalten ist.


    Der Mensch, der Gott in seinen „von Fett triefenden“ Fußtapfen (ein Bild für den Überfluss, aus dem er Allmächtige immer schöpft) Gottes nachfolgt, wird demnach also reichlich versorgt.


    In den Sätzen 1 und 2 werden die Eigenschaften des Jahwe – Jirah eher allgemein auf die gesamte Schöpfung bezogen, in der Arie Nr. 3 hingegen wird der Schwerpunkt der „Predigt in Tönen“ nun darauf gelenkt, dass Gott nicht nur der Ernährer und Erhalter der Schöpfungsnatur allein ist, sondern der Versorger all jener Menschen, die ihm nachfolgen ( s. auch Fußstapfen)


    Mit diesen dreien, bisher allesamt alttestamentlichen Betrachtungen geht der erste Teil der musikalische „Predigt“ zu Ende.
    Vielleicht hat der Pastor in Bachs Kirche nun die Gelegenheit gehabt, in seiner Predigt thematisch anzuknüpfen…?


    Welche der beiden mir vorliegenden Aufnahmen mir bei dieser Arie besser gefällt, kann ich ziemlich kurz und schmerzlos erwähnen: Koopmans Version ist hier runder, flüssiger, auch etwas schneller musiziert und vor allem schöner gesungen als Leonhardts Ersteinspielung.
    Bei Leonhardt klingt es mir im Vergleich doch etwas zu eckig, obwohl sonst sehr schön musiziert wird.
    Klanglich können vor allem die Streicher gefallen, doch wenn die Artikulationen vielleicht ein wenig zu buchstabiert klingen, wünscht man sich zwischendurch doch einen etwas mehr eleganten Ansatz.


    Ich bin nicht grundsätzlich dem Timbre eines männlichen Altus abgeneigt, muss aber bekennen, dass mir Esswoods mehr ins Dramatische tendierender Grundtonfall nie besonders zugesagt hat.
    Jahrelang konnte früher ich meine Frau nicht zum Hören der Bachkantaten bewegen, weil sie wusste, dass „der da“ auch wieder vorkommen wird. Merkwürdig genug sind mir solche Dinge früher weniger ( störend) aufgefallen als heute.


    Die bei Koopman singende Bogna Bartosz singt diese Partien für mein jetziges Urteilvermögen ohne Fehl und Tadel.
    Manchmal hört man zwar ganz leicht, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache ist, doch ich finde, dass man hier um der Sache willen zwar streng, aber dann doch nicht zu streng sein sollte, denn sonst dürften nur noch Sänger aus deutschsprachigen Ländern diese Kantaten singen, was natürlich eine vollkommen undenkbare Vorstellung wäre.
    Zwar versucht Bartosz nicht, irgendwie nach Altus zu klingen (man liest ja, dass es Frauen geben soll, bei denen es stimmlich in diese Richtung geht) , erinnert aber nie altbacken an die alte glorreiche Garde à la H.Tö. & Co.


    Auf die rhetorischen Figuren in den Orchesterstimmen gehe ich nicht weiter ein, da ich dazu zeitlich keine Möglichkeit sehe.
    Sehr interessant wäre das sicherlich, schon allein wegen der Generalpausen im Orchestervorspiel.
    Hier möchte ich es aber damit bewenden lassen, dass wohl für jeden die Träufel-Figur im Alt zu hören ist ( B-Teil), während das Orchester es an dieser Stelle schön tropfen lässt ( immer jeweils zwei Tropfen hintereinander, und das Ganze bitte vor der Predigt akustisch einnehmen ... ;) )


    Durch Koopmans schöne Interpretation stellen sich solche Assoziationen wie von selbst ein, was vor allem auch für die spätere Sopran-Arie Nr. 5 gilt.
    Mit dem zweiten neutestamentlichen Teil der Kantate (der wohl nach der Predigt erklang) werde ich in den nächsten Tagen weitermachen.


    Man liest sich bis dahin,


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Nachtrag zu Satz 3:


    Als ich heute noch einmal diese Arie in beiden Interpretationen hörte, kamen mir meine gestern hierzu geäußerten Meinungen plötzlich zu voreilig und unausgewogen vor.


    Ich möchte nun ergänzend hinzufügen, dass Leonhardts Orchester hier sehr kultiviert und mit einer schönen Tonqualität musiziert. S
    Sehr gut finde ich auch, dass auf den emphatischen Synkopen des Orchesterthemas ein entsprechendes Vibrato bewusst eingesetzt wurde.
    Dies klingt so überzeugend und natürlich, wie es nur sein kann -> hier gehört es hin!
    Wenn man es auf solchen Tönen und in solchen Zusammenhängen weglässt, dann verniedlicht man den Ausdruck der hier dringend geforderten Emphase zugunsten eines anämisch klingenden Alte-Musik-Einerleis.


    Bei Koopman spielen die Streicher auf diesen Tönen fast vibratofrei, weshalb es mich nicht so recht überzeugt.


    Wenn man den „romantischen“ Streichern ein gedankenloses Dauervibrato anlastet, dann müssen sich HIP-Streicher auch fragen, ob sie nicht in Gefahr sind, das Non-Vibrato zur zur gedankenlosen Gewohnheit werden zu lassen.


    Beides klingt nicht sehr musikalisch.


    Das Orchester kommentiert hier ja den gesungenen Text in Form eines äußerlich gefassten, aber doch innerlich begeisterten und bewegten Lobpreises, worauf die nach oben hin gebrochenen reinen Dreiklänge und auch die ausdrucksstarken, septimischen Vorhalts-Funktionen der betonten Synkopen des Vorspiels schließen lassen, die wiederum durch hinweisende Aufwärtsbewegung effektvoll vorbereitet werden.


    Ich frage mich nun, ob der fröhlich-frische, durchaus tanzartige Zugang Koopmans für ein immerhin noch kirchliches Musikstück in diesem Falle wirklich angemessen ist und nicht stattdessen nivellierend wirkt.


    Die Gefahr, dass die Musik in Koopmans Darstellung tendenziell zu unterhaltend und oberflächlich vor sich hin gespielt wirken könnte, wird durch die ständig mitgehende Theorbe und das in Pausen lustig dazwischen improvisierende Orgel-Continuospiel Koopmans nicht eben geringer.


    Lebendigkeit und innere Freude durch ein frisches Tempo statt durch eine markantere Ausarbeitung in den Bereichen Vibratodosierung, Dynamik/Artikulation und Minimal-Agogik bei einem in sich ruhenden Tempo darzustellen, könnte auch einen gewissen Mangel an substanziell- interpretatorischer Durchdringung geschickt kaschieren….


    Vielleicht stellt ja das Konzept Leonhardts, den äußerlich „kirchlich“-gesitteten, aber innerlich doch stark erkennbaren Enthusiasmus durch eine differenzierte Tongebung und eine stärkere rhythmische Innenspannung zum Ausdruck zu bringen, doch die langfristig überzeugendere Lösung dar.


    Auch Esswoods Gesangs fand ich nun gar nicht mehr so schlecht.
    Immerhin macht er eine schöne Dynamik und zeigt an den Trillern seine technische Versiertheit. Nun gut, das Timbre ist zwar Geschmackssache, aber es stört mich hier nicht besonders.


    Ich denke, dass ich mit diesen nachdenklichen Hinweisen einen ab und zu auftauchenden Aspekt des koopmanschen Musizierens angesprochen habe, an dem man, bei aller großen Bewunderung für die vielen herausragenden Dinge, die bei ihm künstlerisch passieren, mit einer differenzierten Kritik ansetzen könnte.


    Wir sollten vielleicht einmal versuchen, die Charakteristika der verschiedenen HIP-Dirigenten der Bachkantaten in einem besonderen Thread sachlich und differenziert aufzuzeigen und zu diskutieren.


    Vielleicht ist aber die Zeit dazu noch nicht ganz reif, denn man muss ja möglichst viele verschiedene Aufnahmen dafür kennen, was auch ein finanzielles und zeitliches Problem ist.


    Doch nun zur nächsten Arie…

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • 4. Basso solo :“Darum sollt ihr nicht sorgen noch sagen…“


    Inhaltlich ist die Kantate im neuen Testament angekommen.
    Der Text der Arie ist eine direkte Vertonung von Matthäus 6. 31-32.
    Den Bibelkundigen unter den damaligen Hörern mag der textliche Zusammenhang zu den vorausgehenden bekannten Versen aus Matthäus 6. 26 vor Augen gestanden haben
    (wieder ein Auszug aus meiner alten Luther-Übersetzung):


    „Sehet die Vogel vnter dem Himel an / Sie seen nicht / sie erndten nicht /sie samlen nicht in die Schewnen /Vnd ewer himlischer Vater neeret sie doch“


    …womit der theologisch verbindende Bogen zu den ersten Sätzen erkennbar bleibt, siehe z.B. Satz 2 :


    „…Der Vögel großes Heer zieht durch die Luft zu Feld’“.


    Interessant finde ich immer wieder die plastische Art der rhetorischen Verarbeitung des Textes in Form von Wortwiederholungen.


    Beispiel: "...womit.....womit.....womit sollen wir uns kleiden?"


    Oder auch:" ....dass ihr dies alles bedürfet, dass, ....dass ihr dies alles bedürfet."


    Durch die rhetorisch gegliederte Form der betonenden Textwiederholungen wird das Textverständnis auf eine gelehrte und eindrucksvolle Art vertieft.
    Bach knüpft hier an eine alte Tradition an, die man auch schon von Schütz her kennt.


    Die unison gesetzten Streicher dialogisieren in dieser Arie mit der Basslinie des Continuos in stellenweise nahezu kanonisch anmutender Imitation.
    Das Figurenmaterial ist rhythmisch zunächst einmal durch den Daktylus geprägt ( LANG –kurz kurz, d.h.eine 4tel, gefolgt von zwei 8teln), der sich ganz natürlich aus den Worten „ was werden wir essen, was werden wir trinken“ ergibt
    (wenn man das erste „was“ als 4tel-Auftakt zur folgenden Figur auffasst, dann erhält man schon den Anfang des Streicher-Themas) .

    Diesem in allen drei Stimmen verarbeitetem Material wird ein synkopiertes Grundton->Leitton->Grundton-Motiv in halben Notenwerten gegenübergestellt, das ebenfalls in verschiedenen Abwandlungen und Entwicklungen auftaucht, so z.B. auch in synkopischer, abwärtsgehender Verkettung, sowohl bei den oberen Streichern als auch im Continuo.
    Es könnte das Sorgen zum Ausdruck bringen, da das Motiv direkt nach dem gesungen Wort "Sorgen" erklingt.


    Vor der konventionellen Schlussphrase des Orchestervorspiels taucht dann noch ein 3-faches hintereinander gespieltes 8tel-Motiv auf, das nach einem mordentartigen Anfang eine angedeutete, in drei Tonstufen abwärts führende Zweistimmigkeit enthält, wobei nur die untere „Stimme“ eine Tonhöhenänderung erfährt.
    (Da ich im Moment keine Noten einfügen kann, kann ich es leider nicht anders formulieren...)
    Einfach gesagt ähnelt diese Figur ein wenig dem Fugenanfang der berühmten „Toccata und Fuge d-moll, BWV 565“…, und zwar dort bis zum 9.ten Ton.


    Diese Figur taucht etwas später als isolierter Einwürf auf, nämlich nach den Worten des Basses [„was werden wir essen?“ --->[Figur) ->“was werden wir trinken?“---> (Figur).]


    Ob dieses Ping-Pong-artige Hin- und Herwerfen von gesungenem Text und Orchesterfiguren hier eine humorvoll versteckte Anspielung auf das murrend- schnatternde Palaver von besorgten Familienvorständen sein könnte?
    „ Der Vorratskeller ist leer, der Kühlschrank ;) auch, was werden wir essen…Streichernoten in 8teln: D,C,D,B,D,A,D,G….was werden wir trinken..C,B,C,A,C,G,C,F …?“


    Natürlich kann man auf keine Fall behaupten, dass die Noten genau diese aussagen. Eine Eindeutigkeit kann es hier nicht immer geben.
    Es lohnt m.E. jedoch, sich darüber einige Gedanken zu machen, weil jene Figuren mit ihren den Affekten unterworfenen Gesten einen enormen Einfluss auf die wichtigen Fragen der Interpretation gewinnen können, und zwar sowohl hinsichtlich Tempo, Artikulation/Dynamik als auch in Bezug auf die hörbar zu machenden Einschnitte ( musikalische Interpunktion) der Klangrede ( heute nennt man es etwas unscharf oft „Phrasierung“).


    Auch für den "geneigten" Hörer sollte es interessant sein, denn es hilft einem bei der Beurteilung von Interpretationen und es fördert allgemein das bessere Verständnis der Musik, woraus wiederum ein grösseres emotionales Erleben entsteht.


    Die von mir angesprochenen Aspekte hört man besser in Leonhardts Version als bei Koopman.
    Beim Leonhardt- Consort kann man die Struktur der Figuren, besonders auch die angedeutete "virtuelle" Mehrstimmigkeit, wesentlich besser erkennen. Die Artikulation der oben detailliert beschriebenen Figur wird hier klarer nach den Regeln des Barocks ausgeführt: Die Sekund-Intervalle gebunden ( der Mordent-artige Teil ) die grösseren Intervallsprünge Non-Legato. Leonhardt ließ hier die untere "Stimme" durch kleine Akzente recht deutlich markieren, was mir gut gefällt.
    Bach hat hier übrigens keine Eintragungen zur Artikulation gemacht, was nicht heißt, dass man alles in lockerem detaché herunterspielen sollte.


    Wiederum wählte Leonhardt ein deutlich gemesseneres Tempo als Koopman, dass er jedoch mit Innenspannung und klanglich differenzierterem Streicherspiel erfüllen konnte. Langsam erklingt es bei Leonhardt jedoch nicht. Man hört sehr deutlich den von Bach vorgeschriebenen Alla Breve-Puls, der eine gedachte Betonung auf den halben Notenwerten sein soll.


    Bei Koopman wird – wie in der vorhergehenden Arie – eher „locker flockig“ und „frisch von der Leber weg“ ein sehr unbekümmert flottes Tempo angeschlagen.
    Wie gesagt, ob dem kirchlichen Anlass nicht eine etwas weniger tanzartige Grundhaltung angemessener gewesen wäre, ist eben die Frage.
    Damit will ich - um Missverständnissen vorzubeugen- nicht der schwerfälligen Interpretation der Pre-HIP-Jahre das Wort reden, aber das von Leonhardt gewählte Tempo scheint mir langfristig die tragfähigere Lösung zu sein, zumal er innerhalb des Tempos die Feinheiten deutlicher herausarbeiten ließ.

    Die Stelle, an der Forkel davon spricht, dass Bach normalerweise ein flotteres Tempo wählte, ist mir zwar bekannt.
    Da wir heute aber anders hören als früher, muss man solche Aussagen relativierend zur Kenntnis nehmen.
    Als Persilschein zum Rasen durchs Bachs Partituren kann die Textstelle nicht herhalten.


    Auch hier hätte Koopman die Laute nach meinem Geschmack weglassen sollen.
    Sowohl hier, als vor allem auch in der vorangegangenen Arie, hätte ich es als angemessener empfunden, wenn das Instrument geschwiegen hätte.


    Rein vom meinem inneren Empfinden her, scheint mir die Laute (oder die Theorbe) zur Darstellung spezieller Affekte ( vor allem Leid, Trauer, innige Zartheit und dergl. ) in einigen Fällen als Continuoinstrument geeignet zu sein.
    Es sollte aber die Ausnahme bleiben.
    Ein ständiges Mitgehen hingegen wirkt auch mich etwas fragwürdig, auch unter historischen Gesichtspunkten.


    Beide Sänger bewältigen hier ihre Partien tadellos und überzeugend.
    Bei van Egmond wird das Wort „werden“ an wenigen Stellen ein bisschen zu „würden“, was einem aber nicht auffallen oder stören muss.


    Mit dem Rest der Kantate geht es demnächst weiter….


    Viel Freude beim Hören der Kantate(n)


    wünscht :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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  • Im vorangegangenen Beitrag waren einige inhaltliche Flüchtigkeitsfehler enthalten, die ich heute zum Glück noch korrigieren konnte.
    Auch einige Ergänzungen habe ich vorgenommen.


    Nun zu
    Satz 5, Aria : “Gott versorget alles Leben…“


    Der Text reflektiert mit alttestamentlichen Anspielungen über den soeben erklungenen Evangelientext, und führt diesen weiter durch Bezugnahmen auf alle lebenden Kreaturen und auch auf die eigene, persönliche Situation weiter aus.


    „…was hinieden Odem hegt“ spielt auf eine typisch alttestamentliche Wortwahl an, und bedeutet in heutigen Worten sicherlich soviel wie „alles, was lebt“.


    Man findet diese Ausdrucksform in vielen Psalmen wieder, so auch im letzten Psalm 150, der in Vers 6 mit den bekannten Worten endet:


    „ALles was Odem hat / Lobe den Herrn /Halelu ia. “


    Der Arientext
    „…seine Treue / Ist auch meiner eingedenk / Und wird ob mir täglich neue/…“
    erinnert an Klagelieder 3.22 und 23:


    „…Seine barmhertzigkeit hat noch kein ende / Sondern sie ist alle morgen new /vnd deine Trew ist gros“


    Bach setzt hier den Text ebenso meisterhaft wie in den vorangegangen Sätzen um.
    Während die A-Teile der Arie einen getragenen Affekt ausdrücken, nutzt Bach den B-Teil zum Affektwechsel.
    In einem beschleunigten Dreiertakt wird dort der Text „Weicht ihr Sorgen…“ in beschwingte und leichtgewichtigere Musik umgesetzt.
    Danach kehrt er wieder zum getragenen Affekt des A-Teils zurück.


    In diesem legt das Continuo ein beruhigendes Fundament, bei dem eine gravitätisch- punktierte Figur vorherrschend ist.
    Über diesem Fundament entwickelt sich eine herrliche Sopranmelodie, die teilweise das zunächst von der Solo-Oboe im Vorspiel vorgetragene melodische Material aufgreift.
    Interessant finde ich auch die an aufsteigende Girlanden erinnernden Figuren der Oboenstimme, die man auch als ausgeschriebene Verzierungen im italienischen Stil auffassend könnte.
    Allerdings fungieren sie hier elementarer Bestandteil der Komposition und könnten daher niemals durch eigene Improvisationen ersetzt werden.
    Ein bisschen erinnern mich diese dreifach zum melodischen Höhepunkt ausholenden Figuren an den Gesang von Vögeln, allerdings nicht auf der Ebene einer eher primitiven lautmalerischen Imitation, sondern schon eher als Allegorie.


    Der Gesang von Vögeln stünde demnach für die von Gott versorgte Schöpfung, die ihn dafür dankbar preist.
    Im ersten Rezitativ werden solche Gedanken ja auch explizit aufgegriffen. Wie gesagt, es könnte von Bach so gemeint sein, aber ich kann mich hier auch sehr irren.


    Das instrumentale Niveau ist wiederum in beiden Aufnahmen außerordentlich hoch.
    Vom Oboisten wird einiges an Virtuosität abverlangt.
    Der an diesem Sonntag zur Verfügung stehende Oboist müsste also ein Könner gewesen sein.
    Bei Koopman spielt Alfredo Bernardini, bei Leonhardt könnten es Ku Ebbinge oder Bruce Haynes gewesen sein ( in der Bach2000-Ausgabe werden die Spielernamen leider nicht mehr aufgeführt)


    Auf jeden Fall hört man hier neben schöner Klangqualität auch eine virtuose Technik und eine mit Innenspannung beseelte Ausführung.
    Bei Koopman wurde ein Fagott, bei Leonhardt ein Barockcello als Bassinstrument verwendet. Beides hat für mich seinen Reiz.
    Leonhardts Cellist (Wouter Möller?) trifft hier von der Tongebung her sehr meinen Geschmack, Wouter Verschurens Barockfagott klingt herrlich holzig und sonor.
    Wenn ich letztendlich Koopmans Version den Vorzug geben muss, so liegt das am sehr unterschiedlichen gesanglichen Niveau und auch am flüssigeren Tempo Koopmans, was vor allem im Mittelteil deutlich wird.
    Dieser dürfte m.E. jedoch nicht noch schneller gespielt werden.
    Der B-Teil kommt mit seiner tänzerischen Anmut dem Interpreten Koopman sehr entgegen. Möglicherweise musste Leonhardt auch auf den Knaben hinsichtlich des Tempos etwas Rücksicht nehmen. Wahrscheinlich hätte er es aber auch mit einer Sängerin immer noch langsamer als Koopman interpretiert, bei der Sandrine Piau zu hören ist.
    Ihr muss man für ihre hervorragende, bis ins Detail wunderbar musikalisch durchgestaltete Darstellung der Arie ein großes Lob aussprechen. :jubel:


    Zwar wäre ich schon sehr froh, wenn meine Kinder so wie dieser Knabensolist singen könnten. Schade ist eben nur, dass der Junge das internationale Spitzenniveau, dass Leonhardts Instrumentalisten vorlegen, naturgemäß nicht erreichen konnte, was ein bisschen nach einem Stilbruch klingt und die künstlerische Gesamtqualität der Aufnahme doch ein wenig beeinträchtigt.


    Dieser Aspekt ist sicherlich immer wieder ein Ansatzpunkt für Kritik an der TELDEC H+L-Gesamtaufnahme. Im historischen Kontext gesehen muss man aber auch sehen, dass es am Anfang des Projekts noch nicht eine reichliche Auswahl an derart spezialisierten Sängerinnen gab, wie es heute mit Künstlerinnen wie etwa Piau, Zomer oder Kirkby schon eher der Fall ist.
    Gegenüber dem opernhaft dramatischen Timbre der Sopranistinnen früherer Zeiten waren die „unschuldigen“ Knabenstimmen durchaus eine wichtige Korrektur im stilistischen Bewusstsein.


    Mit dem Rezitativ und dem Schlusschoral soll es demnächst weitergehen.


    Gruß :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • 6. Recitativo „Halt’ ich nur fest an ihm mit kindlichem Vertrauen“


    Inhaltlich richtet sich die Aufmerksamkeit jetzt nicht mehr auf die biblischen Texte, sondern ganz auf die persönliche Reaktion des gläubigen Zuhörers. Um die intime Emotionalität des Satzes zu unterstreichen, setzte Bach eine Streicherbegleitung in ausdrucksstarken, liegenden Akkorden.
    Der dissonante Akkord auf „Grämen“ ist da nur ein Beispiel.


    Die im vorherigen Beitrag erwähnten Unterschiede im Vokalbereich sind auch bei diesem Rezitativ deutlich hörbar.
    Bei Leonhardt ein wackerer, am Limit seiner noch nicht voll ausgebildeteten Möglichkeiten singender Knabe, bei Koopman die wunderbare Sandrine Piau mit einer angenehm beweglichen Stimme und einem sehr überzeugenden musikalischen Ausdruck.


    Leonhardts Streicher klingen kerniger und silbriger zugleich.
    Man kann nur mutmaßen, ob es wohl daran liegt, dass einige Streicher des Leonhardt-Consorts auch zur „ Petite Bande “ Kuijkens gehörten, der ja die Schule der frei auf der Schulter ruhenden Geigenhaltung ins Leben gerufen hat. Jedenfalls setzen sie –trotz der Haltung- an einigen Stellen ein schönes, mittel- langsames Vibrato ein, während die ABO-Streicher Koopmans mit vornehmlich herkömmlicher Geigenhaltung ( eingeklemmt am Kinn) nahezu vibratofrei spielen.
    Aufgrund des großen Unterschiedes im Vokalbereich höre ich hier jedoch wiederum Koopmans Aufnahme etwas lieber.


    7. Choral: „Gott hat die Erde zugericht’“


    Der Schlusschoral wirkt wie ein Fazit, er fungiert hier als „Conclusio“ der sowohl musikalisch als auch rhetorisch mustergültig angelegten „Predigt in Tönen“.
    Ich möchte an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass die Ideen zu den theologischen Bezügen nicht von mir, sondern von einem im Internet zugänglichen Beitrag Dick Wurstens aus dem Jahre 2002 stammen.
    Für mich war das, was er hier herausgefunden hat, so erstaunlich, dass ich es den Tamino-Lesern und Mitgliedern nicht vorenthalten wollte.


    Unter anderem hat er aufgezeigt, dass dieser Schlusschoral als eine rhythmisierte Version von Psalm 104, Verse 13 -15 gesehen werden kann.
    „DV feuchtest die Berge von oben her / Dv machest das Land vol früchte die du schaffest. DV lessest gras wachsen fur das Vieh / vnd saat zu nutz den Menschen. Das du Brot aus der erden bringest. VND das der Wein erfrewe des Menschen hertz / vnd seine gestalt schön werde von Ole / Vnd das Brot des Menschen hertz stercke.“


    Dazu im Vergleich der Choral:
    “…Berg und Tal, die macht er nass, dass dem Vieh auch wächst sein Gras; / Aus der Erden Wein und Brot / Schaffet Gott und gibt’s uns satt/….“


    Wursten weißt auf das von Luther eingeführte „ Gratias nach dem Essen“ hin, welches, gefolgt vom „Vater unser“ mit den Worten aus Psalm 104, 27-28 nach jeder Mahlzeit als ein Dank rezitiert werden sollte:


    „Es WARTET ALLES AUFF dich /Das du jnen Speise gebest zu seiner zeit. Wenn du jnen gibst / so samlen sie….“


    Wie am sieht, schließt sich damit der Kreis der vorbildlich aufgebauten musikalischen Predigt, denn wir sind wieder beim Text des Eingangschors angekommen!


    Bachs Kantate BWV 187 bedient somit alle Aspekte, die für einen Komponisten der Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts wichtig waren:
    Die Musik diente zur inneren Erbauung, der Belehrung und auch zur „zulässigen Ergötzung“, und damit der allgemeinen „Recreation des Gemüths“
    Gott mit der Musik die Ehre zu geben war für Bach „Finis und Endursache“, was ja auch durch die obligatorische Unterschrift S.D.G. ( Soli Deo Gloria) immer wieder zum Ausdruck kommt.


    Ich kenne Musiker, die mir berichtet haben, dass sie, nachdem sie eine völlig andere Musik spielen mussten, das Bedürfnis hatten, sich zu Hause wieder mit der Musik Bachs „innerlich reinigen “ zu lassen.
    Die Funktion der Bachschen Musik zur „Recreation des Gemüths“ hat also für viele nicht an Kraft verloren, bis heute nicht.


    Wie erwartet schlägt Koopman ein zügigeres Tempo als Leonhardt an, weswegen der so ausgeführte Choral schon gefährlich nahe an den Charakter eines Menuets erinnern mag, oder vielleicht sogar erinnern soll.
    Man könnte es möglicherweise nicht ganz so schnell machen und trotzdem noch den Puls des Dreiertaktes spüren.
    Doch aufgrund der wunderschönen Gestaltung Koopmans und des tadellos intonierenden und homogen klingenden Amsterdam Baroque Choir (ABC) fällt es mir schwer, daran etwas wirklich Negatives finden zu wollen. Beckmessereien möchte ich vermeiden.


    Es erstaunt mich auch immer wieder, wie souverän gerade dieser Chor die von Bach vorgeschriebenen (im Sopran) und von Koopman hinzugefügten ( z.B. im Tenor) Triller singen kann….


    Bei Leonhardt klingt es auch im Dreiertakt bewegt, jedoch deutlich gemessener.
    Er gestaltet hier weniger durch dynamische Abstufungen als Koopman.
    Das Collegium Vocale Gent klingt in den Stimmen A, T, B auch recht schön und die Soprane des Knabenchor Hannover singen zwar nicht schlecht, aber nicht so ausgereift und virtuos.


    Beide Aufnahmen sind technisch übrigens schön aufgenommen.
    Bei TELDEC klingt es transparenter, bei Marchand räumlicher, d.h. man hört besser, dass der Chor hinter dem Orchester steht.


    Mein Fazit:
    In beiden Interpretationen kann man sich das Meisterwerk sehr schön zu „Gemüthe“ führen.
    Insgesamt wird die virtuosere Koopman-Version den meisten Hörern gefälliger erscheinen.
    Ich möchte jedoch auch nicht die Aufnahme mit Gustav Leonhardt missen und genieße es, zu verschiedenen Gelegenheiten die eine oder die andere Aufnahme wählen zu können.


    Schön wäre es nun, wenn wir noch andere relevante Einspielungen als Ergänzung heranzuziehen könnten, die sich ebenfalls auf hohem Interpretationsniveau bewegt.
    Besonders gelungen hören sich für mich z.B. die JPC-Auszüge dieser Aufnahme an:



    Viele der in meinen Beiträgen angesprochenen Aspekte kann man auch hier sehr deutlich ab Track 16 nachvollziehen.
    Sehr offensichtlich werden die Unterschiede auch im Schlusschoral, aber nicht nur dort:


    Koopman: Track 32 / Leonhardt: Track 18 /Kuijken: Track 22


    Wenn man einmal von der OVPP-Frage (= One- Voice- Per- Part, so nennt man das in der globalisierten Welt…) absieht, dann wird man feststellen, dass Kuijken sich für einen „kirchlich“- getrageneren Vortrag des Chorals entschieden hat, was einen schon sehr überzeugen kann, siehe oben.


    Überhaupt interessiert mich an Kuijkens Kantateneinspielungen neben der Umsetzung aufführungspraktischer Erkenntnisse oder Meinungen
    ( große Continuoorgel, OVVP, etc…) vor allem der eigentliche künstlerische Inhalt, der interpretatorische Ansatz.
    Ohne bisher eine Aufnahme dieser Art von ihm zu besitzen, kann ich nur sagen, dass sich vieles sehr transparent, klar, sauber ausformuliert und federnd anhört. Manches klingt konturenschärfer als etwa beim sanfter artikulierenden Koopman.
    Dazu kommt dann die von früheren Aufnahmen bekannte, eher „nüchterne“ , rationale Grundhaltung, die vor allzu großen theatralischen oder sentimentalen Gefühlsausbrüchen zurückschreckt, wodurch die Kantaten etwas kühler als bei anderen Interpreten wirken können.
    Ich denke jetzt z.B. an Harnoncourt oder auch an Gardiner, sowohl von der Musizierhaltung her, als auch vom Klang.
    So empfinde ich den Streicherklang des Concentus immer als deutlich „wärmer“ als bei der Petite Bande, was wohl auch besser in die analytischere Ästhetik Kuijkens passt, der vor allem das Klare in der Musik Bachs zu suchen scheint.


    Doch hierzu können sich ja vielleicht diejenigen äußern, die diese neue Aufnahme bereits besitzen.
    Auf meinem JPC-Merkzettel ist sie bereits gelandet.


    Einspielungen von Gardiner, Herreweghe oder Suzuki habe ich im Netz leider nicht gefunden.


    Gruß :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)


  • Lieber Glockenton,


    ich besitze diese Aufnahme zwar, das Problem ist aber: Ich höre die Kantaten dem Kirchenjahr folgend und bis zum 7. Sonntag nach Trinitatis ist es ja noch eine Weile hin. Mal eben schnell hineinhören könnte ich natürlich aber damit würde ich Deinen interessanten Ausführungen ganz sicher nicht gerecht, damit möchte ich mich - zu gegebener Zeit - mit angemessener Gründlichkeit befasssen.


    Allgemein zu den Kuijken-Aufnahmen gibt es bereits hier
    einen Faden....


    Ansonsten: Was hältst Du davon, mit BWV 54, für den Sonntag Oculi weiter zu machen? Die ist am 24. Februar dran.


    Mit Gruß von Carola

  • Zitat


    Original von Carola


    Ansonsten: Was hältst Du davon, mit BWV 54, für den Sonntag Oculi weiter zu machen? Die ist am 24. Februar dran.


    Liebe Carola,


    ich halte von der Idee grundsätzlich sehr viel, doch bezweifle ich, dass es sich übers Jahr hinweg immer so durchführen lässt....
    Die meisten von uns werden es wohl erst nach Jahren geschafft haben, sich zu allen Kantaten schriftlich im Forum zu äußern.


    Aber gut Ding hat ja bekanntlich Weile.
    Hören geht ja zum Glück schneller als Schreiben, und noch mehr Freude macht es ja ohnehin, obwohl der Meinungsaustausch im Forum ja auch sehr bereichernd sein kann.


    BWV 54 werde ich mir in meinen Kalender also für den 24.02, vormerken.
    Sei aber nicht enttäuscht, wenn ich es nicht zu diesem Termin schaffe.


    Wenn Du Dir BWV 187 vornimmst, könntest Du mir vielleicht eine PN schicken, damit ich auf jeden Fall darauf aufmerksam werde.


    Herzlichen Gruß :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Liebe Kantaten-Freunde!


    Schade-, die prallen und lebensfreudigen Bilder, die Bach in seiner Musik und hier im Besonderen in BWV 187 entwirft, entgehen den Hörern und Kantaten-Liebhabern, die sich nicht auf die Chöre, sondern auf die Solisten konzentrieren!


    Meinen Ärger, dass viele der Beiträge zu dieser wundervollen Erntedank-Kantate sich überwiegend auf die Fähigkeiten der Dirigenten, Solisten oder der Tempi konzentrieren, muss ich doch mal ablassen !!!


    Jedenfalls höre und sehe ich im Eingangschor Bilder von wogenden Kornfeldern und übervollen Ernteerträgen, die nicht von einem Star, sondern dankbar von Vielen Musizierenden aufgesammelt werden. Dazu passt auch der voluminöse Bariton von W.Schöne und der volle und mütterliche Wärme ausstrahlende Alt von Hildegard Laurich. In noch heute gültiger Weise hat dies Rilling in seiner Aufnahme von 1971 herausgestellt. Rillings Interpretation wurde bisher hier sträflich vernachlässigt.


    Die Aufnahmen der Gächinger Kantorei sind heute wohlpfeil zu erstehen-, es lohnt sich.
    Für mich persönlich war diese Kantate vor 45 Jahren die 'Einstiegsdroge' in Bach's überirdisches Klang-Reich (nicht bei den Gächingern!).


    Darum-, mit Satz 4 gesprochen- sollt ihr nicht so sorgen um Solisten, Tempi und Dirigenten. Den Kantaten-Rahmen und damit den Gesamteindruck bestimmt immer noch ein abgerundeter und stimmiger Chorklang.


    Gruß


    Adamo

    Magnificat anima mea

  • 8oDa sind mir wohl die ganzen prallen und lebensfreudigen Bilder, die Bach in seiner Musik und insbesondere in BWV 187 entwirft, völlig entgangen, da ich mich überwiegend auf die Fähigkeiten der Dirigenten, Solisten oder der Tempi konzentriert habe.
    In meiner Verblendung ging es mir sogar darum, einen Starkult zu etablieren, statt richtigerweise auf die Bilder von wogenden Kornfeldern und übervollen Ernteerträgen, die von den vielen Musizierenden aufgesammelt werden, zu hören und diese zu beschreiben. :no:


    Vor allem Rillings Interpretation habe ich wirklich STRÄFLICH vernachlässigt, vor allem auch die mütterlich :lips:klingende Frau H. Laurich.


    Ich werde mir also in Zukunft keine Sorgen mehr um Solisten, Tempi und Dirigenten machen müssen – eine befreiende Erkenntnis.


    Stattdessen will ich von nun an Besserung geloben:


    Ich werde ich mir also endlich die längst überfällige Rilling- Gesamtaufnahme :jubel:bestellen, mich freimütig aller meiner (fehlleitenden) Harnoncourt/Leonhardt/Koopman/Herreweghe/Gardiner/Coin/Suzuki/Kuijken/
    Rifkin/Parrot/CC/Ricercar…..-Aufnahmen :kotz: entledigen, mich anschließend, der wahren Größe der Musik hingebend, in andächtiges Schweigen hüllen und bei den noch ausbleibenden Kantaten-Threads lediglich per copy + past -mit Verlaub- den immer gleichen Satz einfügen:




    "Leute, macht Euch keine Gedanken mehr um Solisten, Tempi, Dirigenten.
    Holt Euch nur den Rilling!
    Der hat nämlich einen stimmig klingenden Chor, welcher maßgeblich den Kantaten-Rahmen und den Gesamteindruck bestimmt.
    Denn um "Stars" kann es hier nun wirklich nicht gehen.




    Gruß an all die lieben Kantatenfreunde :pfeif:


    :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)


  • Was soll das denn???


    Glockenton hat sich doch in seinen Ausführungen mehrfach und ausführlich gerade auch mit den theologischen Aspekten dieser Kantate beschäftigt.


    Davon abgesehen: Sollte ein Meisterwerk nicht auch möglichst meisterhaft umgesetzt werden und spielen dabei nicht neben dem Chor durchaus auch "Solisten, Tempi und Dirigenten" eine Rolle, um die man sich zwar nicht "sorgen", mit deren Interpretation man sich aber auf jeden Fall auseinandersetzen sollte, wenn man der Kantate gerecht werden will? Was den Chor angeht, so taucht er ja bei dieser Kantate lediglich am Anfang und im Schlusschoral auf. Wäre es da nicht etwas seltsam, wenn man die Rezitative und Arien vernachlässigen würde? Warum sollte man das tun?


    Schließlich: Wenn Du Rillings Aufnahme bisher für "sträflich vernachlässigt"hältst, wer oder was hindert Dich, ihre Berücksichtigung selber zu gewährleisten? Es ist doch klar, dass wir hier alle nur über die Aufnahmen etwas schreiben können, die wir auch selber haben oder jedenfalls kennen.


    Mit Gruß von Carola

  • Dass diese wunderschöne, aber relativ selten gespielte und nicht sehr bekannte Kantate einen im Verhältnis so ausführlichen Thread hat, freut mich. Der mitreißende Eingangschor mit seiner großen Eingangssinfonia und dem voranschreitenden Duktus darf zu den großen Chorsätzen der Bachkantaten gezählt werden. Der zunächst motettisch-blockhaft vorgetragene Text wird am Ende des langen Satzes sogar nochmal vollständig wiederholt - typisch für den reifen Leipziger Stil Bachs. Dieser Bibelwort-Chor entfaltet wirklich einen richtigen 'Flow', dem man sich nicht entziehen kann, was besonders für die Chorfuge im Mittelteil ("Wenn du ihnen gibest so sammeln sie...") gilt.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)