ernste und andere Musik

  • Bei "Filmmusik" will mir das aber überhaupt nicht einleuchten. Hierbei handelt es sich um eine funktional gebundene und von dieser Bindung strukturierte "Gebrauchsmusk", - eine ganz eigene Kategorie also, von der ich meine, dass wir sie hier außen vor lassen sollten.


    Lieber Helmut,


    wenn Du mit Filmmusik die Kompositionen eines Musikstudenten meinst, der für eine Handvoll Dollar den Soundtrack für einen Horrorfilm schreibt, dann ist die funktionale Bindung offenbar. Betrachten wir dagegen das andere Ende der Skala, dann tauchen Filme wie Elvira Madigan oder Der Tod in Venedig auf mit Werken von Mozart und Mahler.


    Gesetzt den Fall, die erwähnte Musik wäre von einem Unbekannten eigens für diese Filme geschreiben worden, was dann? Zwei wichtige Kriterien unterscheiden sie ja von der U-Musik.


    Erstens fällt die funktionale Bindung weg, es sei denn, man ist so mutig und interpretiert diese freistehende, lediglich Emotionen erzeugende Begleitmusik als funktionell gebunden, und zweitens ist sie von hohem künstlerischen Wert.


    Zwischen diesen Extremen hätten wir dann noch die Erzeugnisse eines Korngold, dessen Oper Die Tote Stadt zu den musikalischen Meisterwerken zu rechnen ist.


    Ich finde daher, der Begriff Filmmusik (ähnlich wie auch Hausmusik) ist unbrauchbar für eine Debatte, bei der es hauptsächlich um künstlerische Qualitäten geht, denn er ist nicht viel mehr als eine Ortsbestimmung und daher sowohl in der E- wie auch der U-Musik ansässig.

  • Und ich denke auch, dass die Musikindustrie hier nicht so außen vor gelassen werden kann. Die denken doch auch auf jeden Fall mit. Haben doch das gleiche Problem wie wir hier im Thread.
    Und ich frage ich auch, inwieweit Musikdirektor und Dirigent zu solchen entscheidungen kommen.
    Es wird schon wieder komplizierter
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Zit. Klaus 2: "Die denken doch auch auf jeden Fall mit. Haben doch das gleiche Problem wie wir hier im Thread."


    Da habe ich aber nun mal wirklich erhebliche Zweifel. Die Musikindustrie ist nicht mit Definitionsproblemen beschäftigt und auch nicht mit dem Nachdenken über des Wesen dessen, womit sie ihr Geld verdient.


    Ich meine wirklich, dass wir - unabhängig und abgelöst von solchen Randphänomenen des Musikbetriebes - uns auf die Frage konzentrieren sollten. Was macht eigentlich im substantiellen Kern das Wesen der Klassischen oder "E-Musik" aus, so dass für zu recht von einer eigenen Kategorie von Musik sprechen dürfen?


    Das betrifft uns hier ja ganz unmittelbar, da wir in einem Forum für "Klassische Musik" miteinander kommunizieren ( das übrigens, wie ich bei einem ersmaligen Rundblick im Internet festgestellt habe, einen wirklich singulären Rang beanspruchen darf!). Wir sprechen hier mit völliger Selbstverständlichkeit von "Klassischer Musik". Sie ist - wiederum ganz selbstverständlich - Gegenstand der diskursiven Prozesse hier. Aber seien wir doch einmal ehrlich: Keiner von uns wüsste auf Anhieb zu sagen, was eigentlich die "Klassizität" bzw. den "E-Musik-Charakter" dessen ausmacht, worüber wir hier sprechen.


    Wenn Bernward Gerlach darauf verweist, dass das bei Wikipedia doch alles definiert sein, dann übersieht er, dass auch die dort sich auf die terminologische Konvention berufen und diese einfach wiedergeben. Unsere Sache hier im Forum ist es aber doch eigentlich, wie ich meine, über das Wesen dessen nachzudenken, worüber wir hier sprechen.


  • Wagner hat keinen vorliegenden Text vertont, sondern der stammte auch von ihm selber, insbesondere stammte das Gesamtkonzept von ihm, anders als bei einem Filmkomponisten. Musiktheater ist sicher ein komplexer Sonderfall, aber die Musik ist auf keine Fall in dem Sinne funktional wie die meiste Filmmusik. Wir haben alle die Intuition, dass die Musik beim Musiktheater "primär" ist, im Gegensatz zu einer Film- oder auch Schauspielmusik. (Und der jahrhundertealte prima la musica Streit betrifft Nuancen gegenüber der grundsätzlich anerkannten Priorität der Musik.)


    Meiner Ansicht nach kommt man nicht darum herum, im Zweifelsfalle die "Eigengesetzlichkeit" von Musik konkret aufzuweisen. An ganz simplen Beispielen: Eine dacapo-Arie ist eigengesetzlich musikalisch, denn der Sänger vollzieht keine dramatisch relevante Handlung zweimal. (Üblicherweise vollzieht sich während der Arie gar keine Handlung i.e.S.) Rosen nennt mal als Beispiel (kein dacapo, aber eine Textwiederholung), dass Figaro das Zimmer zweimal ausmessen muss, am Beginn des ersten Duetts in Mozarts Figaro.


    Wagner ist natürlich ein anderer Fall, weil hier die Musik auf den ersten Blick von der Handlung strukturiert wird. Vom Text doch ganz sicher kaum. (Dass das gesungene auf den Text passen müssen, gilt ja für alle Opern.) Wenn man die Leitmotive wie "Schwert", "Walhalla" usw. nimmt, ist keines von denen deklamatorisch nach einer Textphrase gestaltet. (Im Gegenteil habe ich manchmal eher den Eindruck, dass es ungelenk klingt, wenn mal ein Text auf eines der Motive deklamiert wird.) Wie gesagt, bedürfte so etwas der näheren Analyse, für die ich ganz sicher nicht kompetent bin.
    Meinem Eindruck nach vertritt mancher die Ansicht, dass die Einheit von Drama, Text und Musik bei Wagner besonders stark ist. Aber das die Musik nachgeordnet wäre, das meint doch wohl niemand. Eher im Gegenteil (wie viele Platten "Verdi ohne Worte" gibt es....?) Und der Eindruck, den so mancher Anfänger (meiner Erinnerung nach ich selbst vor knapp 25 Jahren) bei Wagner hat, ist doch, dass da Sänger "rumschreien", während das Orchester ziemlich unabhängig davon vor sich hin wabert.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Wie Johannes Roehl bin ich der Meinung, dass man bei Wagner in keinem Fall von einer "funktionalen Bindung" der Musik sprechen kann, wie man das bei Filmusik sehr wohl tun darf. Bei Wagners Konzept des "Gesaamtkunstwerks" bilden Sprache und Musik eine kompositorische Einheit,- was man ja schon daran sehen und hören kann, dass sie gleichsam in Diktion und Klanglichkeit auf die Musik gleichsam zugeschnitten ist.

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  • ( das übrigens, wie ich bei einem ersmaligen Rundblick im Internet festgestellt habe, einen wirklich singulären Rang beanspruchen darf!).


    Das stimmt nicht. Im englischsprachigen Bereich gibt es Foren mit deutlich mehr aktiven Usern, deutlich mehr Threads und deutlich mehr Beiträgen - insgesamt und pro Tag.


    Die führende Rolle dieses Forums ist auf den deutschsprachigen Bereich beschränkt. Und auch nur dann, wenn man sich auf das reine Zählen beschränkt. Wenn man wiegt, dann könnte man je nach persönlicher Gewichtung und Anspruch auch zu einem anderen Ergebnis kommen. Da sind wir alle noch herausgefordert! Konkurrenz belebt das Geschäft - es gibt nichts Gefährlicheres, als keine Konkurrenz zu haben.


    Das ist aber auch schon aller Ehren wert, ich will das bestimmt nicht kleinreden! Nur sind wir von der Mimeschen Eroberung der Welt doch noch ein gutes Stück entfernt. - Es ist vielleicht ähnlich wie im wissenschaftlichen Umfeld: Wer auf Deutsch veröffentlicht, gehört einfach nicht dazu, Evangelische Theologie und andere deutsche Sonderfälle mal ausgenommen.


    Musiktheater ist sicher ein komplexer Sonderfall, aber die Musik ist auf keine Fall in dem Sinne funktional wie die meiste Filmmusik.


    Na, um ein Beispiel zu nennen: wenn Wagner beim "Mannenruf" in der Götterdämmerung gleichzeitig "c", "cis" und "d" in den Stierhörnern übereinander schichtet, dann ist diese Dissonanz, die nicht einmal durch Tristan-Harmonk zu rechtfertigen ist, alleine funktional bedingt und nicht aus der Musik selbst zu erklären.


    Wir haben alle die Intuition, dass die Musik beim Musiktheater "primär" ist, im Gegensatz zu einer Film- oder auch Schauspielmusik.


    Bereits Monteverdi sah dies anders, und viele andere folgten ihm darin: "prima le parole" - das Wort führt, die Musik richtet sich danach, ist also abhängig vom Wort (oder meinetwegen von der Handlung). Jedenfalls folgt die Musik hier nicht einer ihr innewohnenden Eigengesetzlichkeit wie in einer Sinfonie oder in einem Streichquartett, sondern folgt einer präexistenten Vorlage. - Dass Wagner stellenweise die Musk zuerst komponierte und dann einen passenden Text unterlegte, widerspricht dieser Ansicht nicht grundsätzlich. Der Handlungsverlauf war in jedem Falle vorgegeben, bevor er die erste Note schrieb.


    Im Übrigen kann man bei den Filmen "Spiel mir das Lied vom Tod" oder "Fahrstuhl zum Schafott" oder "Odyssee im Weltall" zumindest stellenweise die Musik durchaus als primär wahrnehmen. Ganz so einfach ist es also nicht. Die Fragestellung, ob die Musik funktionial bzw. abhängig scheint mir auch nicht binär (richtig oder falsch?), sondern nur dem jeweiligen Grade nach beantwortbar zu sein.

  • Ich fürchte, dass es uns nicht gelingen wird, uns auf einen gemeinsamen Nenner für den Begriff "Klassik" zu einigen, schon gar nicht im Hinblick auf eine verifizierbare, eineindeutig bestimmte, formallogisch greifende Bestimmung. Wir werden mit einem Nebeneinander von rezeptionsästhetischen, musikpsychologischen, marktetikettierenden, historisch oder soziologisch bedingten, didaktisch motivierten ... Parametern leben müssen. "Klassische Musik" mag aus begrifflicher Sicht mustergültig, unverwechselbar, notiert, komponiert, elitär sein, stets Emotio und Ratio zugleich fordernd ... ambig ist der Terminus ohnehin (siehe den Rückgriff auf die Antike oder die Wiener Klassik). Mit der sogenannten "E-Musik" als Aufhänger wird es uns genauso gehen und analog mit dem Begriff "Kunstmusik", der mir bislang irgendwie sympathisch war und der mir leider jetzt nicht mehr gefällt ... Von daher habe ich aus diesem Thread schon etwas gelernt.


    Seltsam - in der Architektur gibt es solche Dualismen (E und U, Klassik und Nicht-Klassik) doch auch nicht, und auch nicht in der Literatur oder in der Malerei. Und wenn es sie doch gibt - dann weiß man um die Künstlichkeit und vor allem um die Disproportionalität der Anwendung. "Pop-Art" steht dann quasi gleichberechtigt jeweils neben "Bauhaus", "Expressionismus" oder den "Präraffaeliten". So wünsche ich mir das auch für die Musik!


    Wenn es leider in der Musik anders läuft, so mag das vielleicht daran liegen, dass sich Musik als bloßes Umweltphänomen - bis hin zur Verschmutzung - so penetrant häufiger artikuliert im Vergleich mit der Literatur.


    Ich plädiere dafür, von "(anspruchsvoller) Musik" zu sprechen. Dies grenzt, im Unterschied zu den anderen Termini nicht per definitionem - und oft eben nur per definitionem - von vorneherein eher und proportional stärker aus und ermöglicht stattdessen einen ungezwungeren Diskurs am Material als solchem, um den und um das es uns hier doch hoffentlich geht. Und es verhindert, dass - mir zutiefst zuwider mittlerweile - wir uns als wirkliche Musikliebhaber fortwährend ex negativo um Abgrenzungen bemühen müssen statt uns der begeisternden Materie selbst zu widmen - mit all den Folgen, die man auch an diesem Thread wieder wahrnimmt.


    Im besseren Fall aber kann ich so wertfrei wie möglich zeigen, warum bestimmte Unterscheidungen im 18. und noch im 19. Jahrhundert noch gar nicht auf dem Papier oder im Bewusstsein existierten, was Dixieland von amerikanischen Folklore der Jahrhundertwende unterscheidet und wo die Einflüsse liegen, inwiefern Bartok von der Volksmusik seiner Heimat, von spätromantischen Tendenzen oder der Avantgarde der goldenen Zwanziger beeinflusst ist, Messiaen von Debussy oder von der Gamelanmusik und indischen Ragas, Peter Michael Hamel wiederum vom amerikanischen Minimalismus, vom Rock'n Roll und vom Free Jazz und was man unter Postmoderne ;) versteht. Und so weiter.


    Erst dann lohnen sich Etiketten, weil sie Wertungen und Einordnungen auf einem gewissen Diskursniveau erlauben. Die Fragestellung des ursprünglichen Threads, die mit dem Fremdgehen, erlaubt gar nichts. Meist ist mit solchen Etiketten die Welt ganz schlicht nicht mehr zu retten.


    Was mich an Slogans wie "Die Gruppe vereint Salsa, Jazz, Tango Nuevo und Klassik" stört - um mich vorsichtig auszudrücken -, hatte ich weiter oben geschrieben (nicht zum ersten Mal, aber natürlich gehört es nicht zum guten Ton, das gelesen zu haben - kleiner Scherz). Ich sehe aber ein wenig die Gefahr, dass wir hier im Forum solchem Geschwätz auch noch Vorschub leisten.


    Schönes restliches Wochenende!


    Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Zit. WolfgangZ: "Ich fürchte, dass es uns nicht gelingen wird, uns auf einen gemeinsamen Nenner für den Begriff "Klassik" zu einigen, schon gar nicht im Hinblick auf eine verifizierbare, eineindeutig bestimmte, formallogisch greifende Bestimmung."


    Wenn wir mit dieser Einstellung an die Fragestellung dieses Threads herangehen, brauchen wir gleich gar nicht weiterzumachen. Gewiss, in einem Punkt hat WolfgangZ recht: In seiner Skepsis, dass wir "uns einigen können". Das wäre in der Tat ein Wunder hier im Forum!


    Auch ich glaube nicht daran, dass es zu schaffen ist, eine Wesensbestimmung klassischer Muisk in der Form zustandezubringen, wie sie hier in der Zielsetzung von WolfgangZ definiert ist. Das wird nicht gelingen, und zwar aus den von ihm aufgezeigten Gründen.


    Was wir allerdings erreichen können, das ist, gemeinsam darüber nachzudenken und bestimmte strukturelle und materiale Elemente herauszuarbeiten, die gleichsam für "klassische Musik" in dem Sinne singulär und damit prägend sind, dass sie in anderen Musikgattungen in dieser starken Ausformung nicht vorkommen.


    Ich nenne mal ein solches strukturelles Merkmal, - wissend, dass ich sofort massiven Einspruch ernten werde.


    Meine These:
    Klassische oder E-Musik zeichnet sich als solche dadurch aus, dass der Komponist ein musikalisches Motiv einsetzt, mit ihm arbeitet und beides, das Motiv selbst wie auch die jeweilige Form des Arbeitens mit ihm, ganz bewusst als Ausdrucksmittel verwendet. Das ist natürlich als Strukturmerkmal nicht in allen Formen Klasischer Musik in gleicher Weise ausgeprägt und dominant, - gleichwohl scheint es mir spezifisch zu sein.


    (Auf auf! Zum fröhlichen Jagen!)

  • Klassische oder E-Musik zeichnet sich als solche dadurch aus, dass der Komponist ein musikalisches Motiv einsetzt, mit ihm arbeitet und beides, das Motiv selbst wie auch die jeweilige Form des Arbeitens mit ihm, ganz bewusst als Ausdrucksmittel verwendet.


    Dazu müssten wir uns auf eine Definition von "Motiv" einigen.


    Aber selbst, wenn wir eine Einigung hätten:


    Die These wird (beispielsweise) falsifiziert durch die Parallelorgana des 9.-11. Jhds, durch Strophenlieder von Haydn bis Brahms (obwohl es da motivische Arbeit geben kann, aber bei weitem nicht in allen Fällen) und durch "Atmosphères" von Ligeti.


    Umgekehrt: Würde man die Strophenlieder als motivische Arbeit durchgehen lassen, so müsste man zähneknirschend dasselbe auch vielen Schlagern zugestehen.


    Aber einen Versuch war es sicher wert und auf viele Werke trifft es ja zu!


    :hello:

  • Also, mit Verlaub:


    Im Strophenlied wird das musikalische Motiv natürlich auch eingesetzt. Ich sitze gerade an einem und versuche es zu beschreiben. Was natürlich nicht stattfindet, das ist das "Arbeiten" mit ihm. Aber der Komponist benutzt es ganz bewusst als musikalisches Ausdrucksmittel.


    Das kann man bei einem Lied sogar sehr schön aufzeigen: Es liegt ein Text zugrunde, und man kann an eben diesem melodischen Motiv erkennen, wie der Komponist diesen lyrischen Text gelesen hat.


    Richtig ist: Auch im "Schlager" gibt es den Einsatz von melodischen Motiven. Den Unterschied sehe ich aber darin, dass dahinter - in der Regel - kein aus der Rezeption von Lyrik resultierender kompositorischer Ausdruckswille steht.

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  • Im Strophenlied wird das musikalische Motiv natürlich auch eingesetzt.


    Auch in "Der Mond ist aufgegangen" nach der Melodie von J. A. P. Schulz (1790) im Satz von Adolf Seifert (1902-1945)?


    Fünf Strophen im selben Satz?


    Auch in "Berliner Luft" von Paul Lincke wird ein Motiv mit Ausdrucksabsichten eingesetzt: Es ist das Motiv des wiederholten Tons ("Luft -Luft - Luft"), das in klangmalerischer und rhythmisch-pointierender Absicht eingesetzt wird. Und zwar auf dissonanten Intervall: Bei "Luft" auf der Sext der Tonika, bei "-pufft" auf der Non der Dominante. Sehr charakteristisch, sehr ausdrucksstark!


    Außerdem würde ich das Motiv (nach C-Dur transponiert) c'-c'-g'-g'-e"-e" aus Tina Turner's "I can't stand the rain" dazuzählen wollen, welches des Regen malt und den Ausdruck des Stücks ungemein verstärkt - natürlich absichtlich.


    :hello:


  • Na, um ein Beispiel zu nennen: wenn Wagner beim "Mannenruf" in der Götterdämmerung gleichzeitig "c", "cis" und "d" in den Stierhörnern übereinander schichtet, dann ist diese Dissonanz, die nicht einmal durch Tristan-Harmonk zu rechtfertigen ist, alleine funktional bedingt und nicht aus der Musik selbst zu erklären.


    Inwiefern funktional? Ich verstehe etwas anderes unter funktional . Ein funktionaler Rest könnten zB Wiederholungen in Tanzformen sein. Oder die Zweiteilung einer Kantate in vor und nach der Predigt. Oder dass in vielen Messen die erste Credo-Zeile nicht vertont wird, weil der Priester sie solo intoniert. Nicht eine "Einschränkung" durch die Imitation oder Verwendung primitiver Instrumente.


    Wie auch immer. Das historische Verdikt, dass in der Oper, egal was Komponisten selbst geäußert haben, die Musik prima inter pares (und oft keineswegs pares) ist, scheint mir sehr eindeutig. So eindeutig, dass ich zögern würde, es als großes Missverständnis zu werten.


    Zitat


    Bereits Monteverdi sah dies anders, und viele andere folgten ihm darin: "prima le parole" - das Wort führt, die Musik richtet sich danach, ist also abhängig vom Wort (oder meinetwegen von der Handlung). Jedenfalls folgt die Musik hier nicht einer ihr innewohnenden Eigengesetzlichkeit wie in einer Sinfonie oder in einem Streichquartett, sondern folgt einer präexistenten Vorlage. - Dass Wagner stellenweise die Musk zuerst komponierte und dann einen passenden Text unterlegte, widerspricht dieser Ansicht nicht grundsätzlich. Der Handlungsverlauf war in jedem Falle vorgegeben, bevor er die erste Note schrieb.


    Ich habe mich da vorher vielleicht selbst ungenau ausgedrückt, weil ich ebenfalls "absolute" Instrumentalmusik als Idealfall funktionsloser Musik angeführt habe. Aber das sind zwei verschiedene Unterscheidungen. Mit funktional ist Musik als Tanzmusik, geistliche Musik oder für Repräsentation (und vielleicht noch ein paar Dinge) gemeint. Nicht jede Vertonungen von Worten, die sich nach Prosodie oder Bedeutungsgehalt der Dichtung richtet. Ich will ja keineswegs bestreiten, dass seit Beginn des Musiktheaters immer wieder eine Einheit von Handlung und Musik angestrebt wurde. Einheit bedeutet aber nicht, dass die Musik funktional wäre. Man kann das ja am einfacheren Fall des Kunstliedes überlegen, zumal es sich da fast immer um vorher und unabhängig bestehende Texte handelt. Da hat Helmut irgendwo sicher auch schon was dazu geschrieben.


    Vermutlich ist geistliche Musik der Fall, in dem sich historisch über den längsten Zeitraum beobachten lässt, wie schon sehr früh immer wieder Komponisten in Konflikt mit kirchlichen Autoritäten geraten, weil die Musik sich dem Ritual nicht ausreichend "unterordnet", weil die Texte wegen komplexer Polyphonie (oft mehrere Texte zugleich) nicht zu verstehen sind, weil die Stücke zu lang, zu schwierig sind, sich in den Vordergrund drängen usw. Natürlich haben viele Komponisten es auch geschafft, diese Konflikte zu vermeiden, aber die Spannung lässt sich immer wieder feststellen. Und ähnliches findet man vermutlich auch in der Populärmusik, wenn man plötzlich nicht mehr drauf tanzen konnte.


    Zitat


    Im Übrigen kann man bei den Filmen "Spiel mir das Lied vom Tod" oder "Fahrstuhl zum Schafott" oder "Odyssee im Weltall" zumindest stellenweise die Musik durchaus als primär wahrnehmen.


    Fahrstuhl zum Schafott könnte man streiten, da gibt es ein paar Szenen, die auf "Stimmung" setzen, in denen man die Musik primär wahrnehmen könnte (wenn die Frau minutenlang durch die Straßen läuft, ohne dass viel passiert) Bei 2001 ist es Musik, die schon vorher, nicht für den Film komponiert wurde. Bei Spiel mir... kann ich es nicht nachvollziehen. Das Mundharmonikaspielen ist ja keine Filmmusik, sondern Musik im Film; die restliche Musik ist meiner Erinnerung nach teils ziemlich schmalziger Bombast, die stand für mich jedenfalls nie im Vordergrund


    - Dann haben wir ja ein Pferd zu wenig mitgebracht...
    - Im Gegenteil, ihr habt zwei zuviel!

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  • Zwischenruf: Der Eindruck wächst, dass das, was uns hier verbindet, nicht wirklich definieren lässt.


    damit aber will ich mich nicht abfinden. ich fühle, dass es genau diese Grenze gibt. die Grenze zwischen der Musik, die wertvoll, tief und berührend ist und der Musik, die allgegenwärtig ist. Zwischen der Aufführung und dem Abspielen. Zwischen dem Ereignis und dem Event.


    Dieser Thread macht mich wahnsinnig. ich kann mich nicht damit abfinden, dass das, was ich so klar empfinde, nicht ausgedrückt werden kann.


    Klaus
    (Relativ verzweifelt)

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Inwiefern funktional? Ich verstehe etwas anderes unter funktional .


    Ja. "Funktional" ist sicher das falsche Wort. Gemeint ist eher: Nicht aus der Musik "von innen" zu erklären (wie etwa der letzte Akkord in einer Kadenz), sondern durch einen außermusikalischen Vorgang bedingt.


    Wie auch immer. Das historische Verdikt, dass in der Oper, egal was Komponisten selbst geäußert haben, die Musik prima inter pares (und oft keineswegs pares) ist, scheint mir sehr eindeutig. So eindeutig, dass ich zögern würde, es als großes Missverständnis zu werten.


    Niemand redet von einem Missverständnis. Aber die Abgrenzung Opernmusik/Filmmusik ist vielleicht nicht ganz einfach. Von Operetten mal ganz zu schweigen - zählen wir diese überhaupt zur Klassik? Auch Musicals wie "Cats"?


    :hello:

  • Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ernst ich diesen Notruf des „relativ verzweifelten“ Klaus 2 nehmen muß:
    „Dieser Thread macht mich wahnsinnig. ich kann mich nicht damit abfinden, dass das, was ich so klar empfinde, nicht ausgedrückt werden kann.“

    Ich nehme ihn aber einfach mal ernst und halte Klaus vor: Etwas, das man „klar empfindet“, kann man auch ausdrücken. Nur „unklare“ Empfindungen sperren sich dem Versuch, sie in Worte zu fassen. Darin gründet zum Beispiel der Unterschied zwischen guter und schlechter Lyrik.


    Wenn Klaus feststellt: „Ich fühle, dass es genau diese Grenze gibt. die Grenze zwischen der Musik, die wertvoll, tief und berührend ist und der Musik, die allgegenwärtig ist.“, dann muss sich diese „Grenze“ doch mindestens ungefähr bestimmen lassen. Ich sage „ungefähr“, weil es vermutlich keine scharfe und gleichsam lineare Grenze ist. Die Grenze zwischen „E-Musik“ und „U-Musik“ ist fließend, - wie hier schon mehrfach festgestellt und mit Beispielen belegt wurde. Aber es gibt sie. Man muss sich nur die Mühe machen, sie wirklich einmal definieren zu wollen.


    Die Grundvoraussetzung dafür, dass man Musik „ernst nehmen“ kann, dass sie also – um die Worte von Klaus zu wählen – „wertvoll“ ist, scheint mit der in der musikalischen Faktur erkennbare subjektive und personale Aussagewille des Komponisten zu sein. Wenn John Lennon etwa „Nowhere Man“ schreibt, dann ist ein solcher „Aussagewille“ im Song selbst zu vernehmen. Diese Musik ist also – im Unterschied zum „Schlager“, der nur zur Unterhaltung, zum Erzeugen guter Laune und Stimmung oder zum Aufmischen einer Disco geschrieben wurde, ernst zu nehmen. Das macht sie aber nicht zu dem, was dem Begriff „E-Musik“ inhaltlich zu subsumieren ist. Da muss noch mehr dazu kommen. Was ist das?


    Ich habe einen ersten Versuch gemacht, dieses musikstrukturelle Plus näher zu bestimmen. Der entscheidende Unterschied zwischen John Lennon und Aribert Reimann beispielsweise, was die Komposition eines „Songs“ bzw. eines „Liedes“ betrifft, ist die Wahl der musikalischen Sprache und die Art und Weise, wie aus den Worten dieser Sprache ein „musikalischer Text“ gemacht wird. Nun meine ich:


    1. In beiden Fällen liegt eine subjektiv-personale musikalische Aussageabsicht vor. Bei Aribert Reimann ist sie jedoch radikaler und kompromissloser als bei John Lennon. Bei ihm fällt die Intention des „Gefallen-Wollens“ und der auf das breite Massenpublikum abzielende Wille zur Eingängigkeit von Melodik weg. Die Folge dieses gleichsam kompromisslosen Ausdruckswillens ist die Radikalität im Umgang mit der musikalischen Sprache: Sie wird dadurch in Melodik und Harmonik ungleich komplexer, als John Lennon sie sich – von der zugrundeliegenden Intentionalität seiner Musik – gleichsam „leisten kann“.


    2. Ein konstitutives Wesensmerkmal klassischer bzw. E-Musik ist das Arbeiten mit dem musikalischen Motiv nach der jeweils gattungsspezifischen musikalischen Syntax. Eine solche „Syntax“ stellt zum Beispiel die jeweilige musikalische Gattung (z.B. die Sonate) zur Verfügung. Auch der Komponist, der sich von dieser gattungsspezifischen Syntax emanzipieren will, um eine neue Syntax zu entwickeln, setzt sich mit ihr auseinander. Er muss sich ihr stellen, und dieses „Sich-Stellen-Müssen“ bringt ihn dann zur Entfaltung der ihm eigenen Kreativität. Insofern wurzelt „klassische Musik“ ganz wesentlich in der Dialektik von subjektiv-kompositorischer Expressivität und übersubjektiv vorgegebener gattungsspezifischer Form.


    3. In allen Fällen folgt aus diesem – dem subjektiv-personalen Aussagewillen entspringenden – Arbeiten mit dem musikalischen Motiv auf der Grundlage der gattungspezifischen musikalischen Syntax eine im Vergleich mit der „U-Musik“ ungleich größere Komplexität der kompositorischen Faktur. Mit „Komplexität“ ist dabei nicht der quantitative Aspekt eines Werkes gemeint, sondern seine musikalische Binnenstruktur. Auch ein „einfaches“ Lied oder ein „Impromptu“ weist einen in diesem Sinne diesen höheren Grad an musikalischer Komplexität auf, weil Melodik und Harmonik dem Prozess einer reflexiven Auseinandersetzung mit der gattungspsezifischen Sprache auf der Grundlage des subjektiv-kompositorischen Aussagewillens entspringen.

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  • Danke, Helmut, dass du meinen Notruf ernst nimmst!
    Dein Punkt 2 ist einer, den ich auch immer wieder ventiliere, aber auch immer wieder verwerfe. Das wäre natürlich eine schöne elegante Lösung, dass sich die ernste Musik an eine definierbare Struktur hielte. (Wie z.b. die sonatenform). ICh bin mir aber ziemlich sicher, dass man haufenweise Ausnahmen finden würde. Zu Viele. Trotzdem hat diese Idee nach wievor einen Zauber. Denn es entstehen ja immer wieder solche Strukturen und weden wahrgenommen und klar definiert. Nicht gerade ein neues Beispiel aber ein sehr deutliches wäre die Zwölftonmusik. Aber auch Minimal-Music ist so eine Sache. (Obwohl es eine gleichnamige Strömung in der Pop-Musik gibt).


    Nach wie vor schwebt mir aber auch vor, dass die Instrumentierung eine rolle spielt. Zumindest dass elektrische Verstärkung eher verpönt ist, scheint mir wichtig. (unplugged Pop-Musik als Besonderheit bleibt da außen vor und auch z.B. Klavierpopmusik muss kein Gegenargument sein. Denn dass man mit einem Baseballschläger Nüsse knacken kann spricht nicht dagegen, dass er ein Sportgerät bleibt. )


    Wir bleiben am Ball!
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Ich meine, am Umfang der Definitionsbemühungen ablesen zu können, wie schwierig die gestellte Aufgabe ist!

    Bei ihm [Ergänzung Wolfram: Aribert Reimann] fällt die Intention des „Gefallen-Wollens“ und der auf das breite Massenpublikum abzielende Wille zur Eingängigkeit von Melodik weg. Die Folge dieses gleichsam kompromisslosen Ausdruckswillens ist die Radikalität im Umgang mit der musikalischen Sprache: Sie wird dadurch in Melodik und Harmonik ungleich komplexer, als John Lennon sie sich – von der zugrundeliegenden Intentionalität seiner Musik – gleichsam „leisten kann“.


    Rossini wollte auch gefallen - und viele andere klassische Komponisten auch. Darum haben sie eingängige Musik komponiert, ohne Extravaganzen. Fallen die damit durch das Raster?


    Auch Jazz-Musik will nicht unbedingt gefallen, auch dort gibt es "unbedingten Ausdruckswillen" und "Radikalität im Umgang mit der musikalischen Sprache". Von "Komplexität" in Melodik und Harmonik ganz zu schweigen - die meisten moderneren Standards hängen diesbezüglich jede Mozart-Sinfonie ab, ganz zu schweigen von Liedern wie "Die Forelle" u. ä.


    Ein konstitutives Wesensmerkmal klassischer bzw. E-Musik ist das Arbeiten mit dem musikalischen Motiv nach der jeweils gattungsspezifischen musikalischen Syntax.


    Nun, "Motiv" wäre nochmal zu definieren. In einer Chaconne oder Passacaglia würde ich die gattungsspezifische Syntax weniger am Motiv festmachen, sondern am gleichbleibenden Bass bzw. an einer gleichbleibenden Harmoniefolge (Letzteres trifft etwa auf die Ciacona für Violine solo von J. S. Bach viel eher zu als ein gleichbleibender Bass).


    Wenn wir aber die Arbeit mit der gleichbleibenden Harmoniefolge als gattungsspezifisch gelten lassen - wo ist dann der Unterschied zum Jazz? Ein großer Teil des Jazz lässt sich als Arbeit über einer gleichbleibenden Harmoniefolge (sog. "Changes") auffassen. Wenn ein Jazz-Musiker für seine Arbeit sogar ein Motiv aus dem Thema abspaltet und weiter verwendet, so gereicht es ihm zum Lob. Hier taugt das vorgeschlagene Kriterium m. E. nicht recht, um Klassik und Jazz hinreichend scharf zu trennen.


    Auch bei Ravels "Boléro" würde ich das sogenannte "Arbeiten mit dem musikalischen Motiv nach der jeweils gattungsspezifischen musikalischen Syntax" gerne nochmal hinterfragen. Von Kompositionen wie den bereits erwähnten "Atmosphères" von Ligeti ganz zu schweigen.


    In allen Fällen folgt aus diesem – dem subjektiv-personalen Aussagewillen entspringenden – Arbeiten mit dem musikalischen Motiv auf der Grundlage der gattungspezifischen musikalischen Syntax eine im Vergleich mit der „U-Musik“ ungleich größere Komplexität der kompositorischen Faktur. Mit „Komplexität“ ist dabei nicht der quantitative Aspekt eines Werkes gemeint, sondern seine musikalische Binnenstruktur. Auch ein „einfaches“ Lied oder ein „Impromptu“ weist einen in diesem Sinne diesen höheren Grad an musikalischer Komplexität auf, weil Melodik und Harmonik dem Prozess einer reflexiven Auseinandersetzung mit der gattungspsezifischen Sprache auf der Grundlage des subjektiv-kompositorischen Aussagewillens entspringen.


    Ist "Take five" wirklich weniger komplex als "Das Veilchen" von W. A. Mozart ... ? Liegt "Take Five" wirklich eine deutlich geringere reflexive Auseinandersetzung mit der gattungsspezfischen Sprache zugrunde? Ist die Grundlage des subjektiv-kompositorischen Aussagewillens in "Take Five" wirklich geringer als im "Veilchen" Mozarts?


    Das wäre jedenfalls ein höchst subjektives Urteil. Damit hätten wir die Diskussion, was "U" und was "E" ist, lediglich verlagert - subjektiv wäre sie nach wie vor.


    :hello:

  • In beiden Fällen liegt eine subjektiv-personale musikalische Aussageabsicht vor. [ ... ] Die Folge dieses gleichsam kompromisslosen Ausdruckswillens ist die Radikalität im Umgang mit der musikalischen Sprache:


    Die Annahme einer "subjektiv-personalen musikalischen Aussageabsicht" und die daraus gefolgerte "Radikalität" geraten in furchtbaren Erklärungsnotstand, wenn man geistliche/weltliche Kontrafakturen betrachtet.


    "Mein G'müth ist mir verwirret, das macht ein Jungfrau zart" - oder "O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn" - welchem Text kam denn nun der "kompromisslose Ausdruckswille" und die daraus gefolgerte "Radikalität" zugute?


    :hello:

  • Ich glaube, lieber Klaus, Du hast mich missverstanden - oder ich habe mich nicht präzise genug ausgedrückt - , wenn Du sagst: "Das wäre natürlich eine schöne elegante Lösung, dass sich die ernste Musik an eine definierbare Struktur hielte."


    Das tun die Komponisten in der Regel ja gar nicht. Sie finden bei einer bestimmten Gattung, in der sie sich musikalisch ausdrücken wollen, eine aus der musikalischen Tradition kommende, sich also historisch entwickelt habende Form und eine dieser innewohnende "musikalische Syntax" vor. Mit dieser setzten sie sich auseinander, greifen Elemente von ihr auf und entwickeln daraus ihre ganz eigene "musikalische Sprache". In diesem Sinne wurde zum Beispiel die Sonatenform immer weiter entwickelt und schließlich sogar "gesprengt". Aber selbst wenn sie sie "überwunden" wurde, geschah dies aus einer reflexiv-kompositorischen Auseinandersetzung mit ihr.


    Ich will und kann das hier nicht im einzelnen mit Beispielen belegen, verweise nur auf den "Entwicklungsprozess" der beispielsweise von Beethoven, über Schubert bis etwa hin zu Chopin verläuft. Die Exposition von dessen b-Moll-Sonate ist zum Beispiel so kontrastiv, dass der Versuch einer Synthese in der Durchführung nicht mehr gelingt, - sonatenformmäßig betrachtet. Gleichwohl hat sich Chopin mit der Sonatenform auseinandergesetzt und dabei eine neue Form von musikalischer Sprache entwickelt.


    Mir ging es ja doch aber um den Kern der Sache: Meine These war, dass sich die spezifische musikalische Sprache der Klassischen oder E-Musik in einer Art von dialektischer Spannung zwischen dem subjektiven kompositorischen Ausdruckswillen und der gleichsam situativ vorgefundenen gattungsspezifischen musikalischen Syntax entwickelt. Auch die "Zwölftonmusik" ist ja ein kompositorischer Reflex auf das die bisherige Musiksprache beherrschende Prinzip der Tonalität.

  • Hmm?!?! Ich glaube, da treffen sich zwei Entwicklungen in der Mitte: Es gibt ein Publikum, das grundsätzlich empfänglich ist für Blödsinn à la Privatfernsehen, aber die Privaten haben sich ihr Publikum auch hübsch abgerichtet in den letzten 25 Jahren. Das heißt, Nachfrage nach Schwachsinn wurde künstlich erzeugt. Hätte man vor dreißig Jahren - also vor Einführung des Privatfernsehens einmal 'zeitreisemäßig' eine Folge 'Dschungelcamp' oder Bohlens Casting-Beschimpfungen von Unterschicht-Jugendlichen (und biiiiiitte, bevor der politisch korrekte Furor losheult wie die getretene Kreatur: Nein, ich habe wirklich nichts gegen diese Jugendlichen an sich - sie sind die weitgehend unschuldigen Opfer) der damaligen bundesdeutschen Öffentlichkeit vorgeführt - ein Aufschrei des Entsetzens wäre sicher die Folge gewesen.


    :jubel::jubel::jubel:
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Mir fällt auf Anhieb von Brahms die Festouvertüre ein. Das ist doch nie als ernsthafte Musik gedacht gewesen. Das war ein Schrerz!


    Dieser Thread macht mich wahnsinnig. ich kann mich nicht damit abfinden, dass das, was ich so klar empfinde, nicht ausgedrückt werden kann


    Wenn ich beide Zitate lese, wundert mich das 2.nicht.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Klassische Musik" mag aus begrifflicher Sicht mustergültig, unverwechselbar, notiert, komponiert, elitär sein


    Ich plädiere dafür, von "(anspruchsvoller) Musik" zu sprechen.


    Das 2. Zitat finde ich sehr gut (am 1. stört mich das Wort "elitär"). Und der Begriff "anspruchvoll" kann
    das umfassen, was unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Zeiten in den verschiedensten Musikmerkmalen gehört und empfunden haben, jenseits snobistischer und elitärer Gedankensprünge.


    zweiterbass


    Nachsatz: Es ist immer wieder ärgerlich, wenn die Vorschau in der Formatierung nicht dem entspricht, was dann als Beitrag kommt.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Einen Nachtrag noch, - meine letzten Beiträge hier betreffend.
    Ich lese gerade, dass man angeblich in einen "furchtbaren Erklärungsnotstand" kommen könne, wenn man mit dem Begriff eines "subjektiv kompositorischen Ausdruckswillens" arbeitet, wie ich das hier tue. Es wird dabei u.a. auf J.S. Bach verwiesen und speziell "O Haupt voll Blut und Wunden" zitiert.


    Dazu ist zu sagen:
    Selbstverständlich gibt es diesen subjektiven und ausgeprägt personalen musikalischen Ausdruckswillen auch bei Bach. Die Art und Weise, wie er den biblischen Text der "Matthäus-Passion" kompositorisch liest, ist eine zutiefst protestantisch-pietistisch geprägte und insofern überaus subjektive. Es gibt hierzu neuere Untersuchungen, die diese Subjektivität der Rezeption des biblischen Textes nicht nur auf der musikalischen, sondern auch auf der sprachlichen Ebene von Bachs Passionen in detaillierter Weise aufzeigen.

  • Oh - da habe ich mich sicher nicht präzise ausgedrückt.


    Mitnichten war es meine Absicht, dem J. S. Bach einen "subjektiven und ausgeprägt personalen musikalischen Ausdruckswillen" abzusprechen.


    Wohl aber wollte ich Bedenken erheben gegen die Behauptung, die von Helmut unter 3. aufgestellt wurde. Er postuliert dort:


    In allen Fällen folgt aus diesem – dem subjektiv-personalen Aussagewillen entspringenden – Arbeiten mit dem musikalischen Motiv auf der Grundlage der gattungspezifischen musikalischen Syntax eine im Vergleich mit der „U-Musik“ ungleich größere Komplexität der kompositorischen Faktur. Mit „Komplexität“ ist dabei nicht der quantitative Aspekt eines Werkes gemeint, sondern seine musikalische Binnenstruktur. Auch ein „einfaches“ Lied oder ein „Impromptu“ weist einen in diesem Sinne diesen höheren Grad an musikalischer Komplexität auf, weil Melodik und Harmonik dem Prozess einer reflexiven Auseinandersetzung mit der gattungspsezifischen Sprache auf der Grundlage des subjektiv-kompositorischen Aussagewillens entspringen.


    Ich gebe das mal mit meinen Worten wieder:


    1. E-Musik hat eine größere Komplexität als U-Musik
    2. Dies gilt auch dort, wo die E-Musik vordergründig nicht als komplex erscheint (Beispiele: ein "einfaches" Lied, ein Impromptu)
    3. Denn der höhere Grad an musikalischer Komplexität liegt darin begründet, dass Melodik und Harmonik dem Prozess einer reflexiven Auseinandersetzung mit der gattungsspezifischen Sprache auf der Grundlage des subjektiv-kompositorischen Aussagewillens entspringen.


    Die Kette der Helmutschen Logik hat also ihren Anker in der Feststellung, dass Werke der E-Musik einer reflexiven Auseinandersetzung entspringen, deren Grundlage ein subjektiv-kompositorischer Aussagewille ist.


    Nun hat Hans Leo Hassler die Melodie (und einen fünfstimmigen Chorsatz) zu dem Text "Mein Gmüth ist mir verwirret, das macht en Jungfrau zart" komponiert. Der eventuell zu Recht vergessene Christoph Knoll hat diese Melodie dann dem Text "Herzlich tut mich verlangen nach einem selgen End" unterlegt. Der Komponist Johann Crüger schließlich unterlegte diese Melodie dem Text "O Haupt voll Blut und Wunden". (Dass Bach diesem Choral in der Mt-Passion eine zentrale Stellung zuwies, hat damit erst mal gar nchts zu tun.)


    Wenn nun die Melodie Hasslers tatsächlich Ausdruck eines subjektiv-kompositorischen Aussagewillens wäre - wie kann es dann sein, dass diese Melodie sich so wunderbar und und allen wohlvertraut unter die Worte "O Haupt voll Blut und Wunden" fügt?


    :hello:


  • Das 2. Zitat finde ich sehr gut (am 1. stört mich das Wort "elitär"). Und der Begriff "anspruchvoll" kann
    das umfassen, was unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Zeiten in den verschiedensten Musikmerkmalen gehört und empfunden haben, jenseits snobistischer und elitärer Gedankensprünge.


    zweiterbass


    Die Zustimmung freut mich. "Elitär" kann gerne entfallen. Es ging mir auch nur darum, typische Erklärungskonzepte zu reihen. Gekennzeichnet sind sie durch ihre bequeme Widerlegbarkeit, durchwegs. Das kann ich diesem Faden nun in der Tat entnehmen.


    Wann immer ich mich mit Aufgeschlossenen über mein Hobby unterhalten, spreche ich davon, dass ich Musik liebe, vielleicht ergänze ich, warum und wie und wie oft. Und dann fällt mehr oder minder immer der Gedanke des "Anspruchs" in irgendeiner Weise und Formulierung. Denn auf diesen Anspruch dürfen wir doch stolz sein - nicht aber auf beständige Ab- und Eingrenzung - oder?


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

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  • Mal ganz was anderes: Diejenigen, die unsere Musik nicht hören, die wissen das alles recht genau. Die wissen, klassische Musik mögen sie nciht und sie erkennen sie sofort. DIESE Ausschlusskriterien würden uns hier vielleicht helfen. Wobei die Instrumentierung, so denke ich, eine große rolle spielt. Das Fehlen der durchgängigen Bass-Drum. Auf jeden Fall wichtig ist für sie, dass der Gesang entweder fehlt oder eine gänzlich andere Rolle spielt. Außerdem dass es nicht die unverwechselbare Stimme des Sängers (der Sängerin) ist, das die Art der Musik bestimmt.
    Dass Melodie zwar da ist, aber nicht regelmäßig wiederholt wird. - Ja, das ist ganz, ganz wichtig. :!::!::!: Ich glaube, ich habe jetzt gerade zufällig DAS Ausschlusskriterium gefunden. wir hören Musik, in der Melodien nicht wiederholt werden. Strophe/Refrain das ist die andere Musik und wir meinen die Musik, die das nicht hat. Das ist jetzt sehr einfach, aber ich habe das Gefühl, die bisher beste Definition hier gefunden zu haben :jubel:
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • wir hören Musik, in der Melodien nicht wiederholt werden. Strophe/Refrain das ist die andere Musik und wir meinen die Musik, die das nicht hat.


    Die bereits genannten Strophenlieder (Haydn, Mozart, Schubert, Brahms, ... ) sind leider Gegenbeispiele.


    Zur durchgängigen Bass-Drum: Die hat "Yesterday" auch nicht - und vieles in der Folk- oder Weltmusik erst recht nicht.

  • Nicht unbedingt.
    Wir haben gesehen, dass viele von uns auch bestimmte Rockstücke eher hier ansiedeln würden, und da läge es nahe, dass auch diese Strophenlieder nicht direkt hierzu gehören. sondern eben Grenzfälle sind. (Bei dem blöden Láptop kriege ich die richtige orthogafie mit Groß- und Klienschriebung einfach nicht hin, sorry).
    Klaus 8|

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Zit. Klaus 2:
    "Ich glaube, ich habe jetzt gerade zufällig DAS Ausschlusskriterium gefunden. wir hören Musik, in der Melodien nicht wiederholt werden. Strophe/Refrain das ist die andere Musik und wir meinen die Musik, die das nicht hat. Das ist jetzt sehr einfach, aber ich habe das Gefühl, die bisher beste Definition hier gefunden zu haben"


    Das verstehe ich nun wirklich auch nicht. Eben beschäftige ich mich gerade mir Mendelssohn-Liedern (wie hier nachzulesen). Der größte Teil davon sind Strophenlieder oder sogenannte variierte Formen davon. Mendelssohn liebt dieses liedkompositorische Konzept. Von Schubert und all den Lied-Komponisten vor ihm möchte ich gleich gar nicht sprechen. All das fällt ja doch wohl unter die Kategorie "KLassische Musik".


    Also mit Verlaub: Das ist ein Holzweg!

  • Zitat

    Mal ganz was anderes: Diejenigen, die unsere Musik nicht hören, die wissen das alles recht genau. Die wissen, klassische Musik mögen sie nciht und sie erkennen sie sofort.


    Was erkennen sie sofort? Ich erkenne sofort, dass Musils "Mann ohne Eigenschaften" ein dickes Buch ist, wenn ich ein Exemplar sehe. Und was sagt das jetzt über mich aus?


    Wer so redet, hat entweder überhaupt keine Ahnung von anspruchsvoller Musik oder er ist nicht bereit, sich mit Musik emotional und gedanklich ernsthaft zu befassen. Musik dient dann der Berieselung, um die Stille zu umgehen.


    Gruß, Wolfgang


    PS: Bitte nicht falsch verstehen und nichts für ungut! Was ist überhaupt "unsere Musik"? Ich interessiere mich nicht für "unsere" Musik und ganz bestimmt auch nicht für eine "Kategorie" :cursing: von Musik, ich interessiere mich für Musik, die ich interessant finde, die meinen Ansprüchen genügt. So einfach ist das, quasi eine formallogische Tautologie.


    PPS: Irgendwie hat diese Diskussion etwas Fatales. Eigentlich möchte ich mich nicht mehr daran beteiligen.

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