Was versteht Ihr unter "klassische Moderne"?

  • Gemeint ist natürlich "klassische Moderne" in der Musik.
    Wann fängt das an, wann hört das auf, was gehört dazu, was nicht?


    Ich würde annehmen, man geht mal aus von - Schönberg, Berg, Webern - Strawinsky, Bartòk, Prokofieff, Schostakowitsch - Hindemith, Orff, Weill, Honegger, Milhaud, Poulenc - Ives, Varèse, Gershwin, Copland. Was macht man mit den älteren Komponisten und was mit den Spätwerken der Komponisten, die auch in der 2. Jahrhunderthälfte arbeiteten? Oder gehört womöglich die Nachkriegsavantgarde der 50er und 60er mit Stockhausen, Boulez, Nono, Cage u.a. auch noch dazu?

  • Ich würde Debussy und Ravel noch dazu zählen, ebenso Stücke von "langlebigen" Komponisten (wie Stravinsky) bis in die 1960er. Die Nachkriegsavantgarde eher nicht mehr, aber das muss man vielleicht demnächst ändern. Es kommt vielleicht darauf an, ob man einen Schnitt, etwa mit dem 2. WK machen möchte oder ob man einfach sagt, was sich inzwischen etabliert hat gehört dazu. Im letzteren Fall gehören "Gruppen" oder "Turangalila" oder "Pli selon pli" sicher schon dazu. Vermutlich sprechen für beide Optionen gewisse Gründe.

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    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Dessau, Eisler, Kabalewski, Martinu. Villa Lobos
    Meines Erachtens bezieht sich dieser Begriff auf die erste Hälfte des 20. Jhdt. ist aber grundsätzlich noch offen. Außerdem umfaßt er auch recht heterogene Sachen, so dass man die Frage vielleicht dahin gehend erweitern soll, wer oder was aus dieser Zeit definitiv nicht dazugehört.


    Viele Grüße
    John Doe

  • Auch ich würde etwa die Musik von 1910 bis etwa 1945 dazu zählen, wobei aber meiner Meinung nach noch der Faktor der "Akzeptanz" durch eine eher konservativ geprägte Publikumsschicht dazukommt., und zwar auch dann, wenn der gesteckte zeitliche Rahmen überschritten wurde. Mit fällt hier spontan Schostakowitsch ein, dessen Werke ja diesen Zeitrahmen übersteigen. Es gibt meiner Meinung nach so etwas wie einen Konsens, welche Werke man dieser "Richtung", zuordnet.
    Werke, wo der "zeitliche Rahmen" zwar passt, die aber nie wirklich Aufmerksamkeit bekommen haben, oder aber solche, die nie wirklich umstritten waren, werden die der "klassischen Moderne" zugerechnet ? Pfitzner (der ja nie wirklich "modern war), Richard Strauß, sowie Weinberg, Weingartner , Copland und Schuman - känn man die dazurechnen ? Und wie sieht es mait Carl Orff und Werner Egk aus ? - waren die eigentlich je wirklich "modern" - Ich sehe, daß der Kurzstückmeister einige davon dazuzählt.
    Vielleicht kann man - ohne dies als Regel zu etablieren, einfach davon ausgehen, daß es sich bei "klassischer Moderne" einfach um Werke handelt, die ab ca 1900/1910 bist heute entstanden sind, sich "allgemeiner Akzeptanz" - auch beim eher konservativen Publikum erfreuen, und nicht mehr als Fremdkörper des Genres "Klassik" empfunden werden.
    Mir wird hierbei klar, daßß dies auf einige Werke der sogenannten"Postmoderne" ebenso zuträfe - dennoch passen sie offensichtlich nicht in dieses Schema. Ein interessanter Ansatz für einen weiteren Thread......


    Wir müssen aber irgendwie akzeptieren, daß - ebenso wie bei anderen Richtungen und Zeitströmungen der Klassik - klare Abgrenzungen nicht möglich sind.....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    POLITIKER wollen stets unser Bestes - ABER WIR GEBEN ES NICHT HER !!!



  • Das mit der "Akzeptanz" ist für die Abgrenzung vielleicht nicht so brauchbar - schließlich müssen Webern und Varèse dabei sein, und die sind beim Klassikpublikum sehr unbeliebt und werden extrem selten aufgeführt, oft eher im "Neue-Musik"-Kontext. Oder würde hier jemand Webern (nach der Passacaglia) und Varèse (außer seinem spätromantischen Klavierlied) aus der klassischen Moderne ausgliedern?


    Die 1950 etablierte Avantgarde kann man sehr gut abgrenzen, und ich würde sie auch gern draußen lassen. Ebenso würde ich Mahler lieber nicht dabei haben wollen.


    Egk und Villa-Lobos sind eigentlich klare Fälle, Neoklassizismus muss nicht immer so schräg sein wie Strawinskys Oktett.


    Wenn man es vom Stilistischen und Kompositionstechnischen angeht, wären wohl Bitonalität, Polytonalität, freie Atonalität, Zwölftontechnik, Neoklassizismus, sofern zwischen 1910 und 1950 praktiziert, ausreichende Merkmale. Die Frage ist nur, was man mit den Komponisten macht, die Strauss, Mahler und Debussy weiterentwickeln, ohne "sehr schräg" zu werden, z.B. Schoeck, Szymanowsky, Zemlinsky und zahllose andere. Ich würde sie zur klassischen Moderne dazuzählen.


    Was meint Ihr?

  • Das "konservative Publikum" ist sicher ein ganz schlechter Maßstab. Das springt erst auf den Zug, nachdem er abgefahren ist.
    Für die war bekanntlich Mahler teils in den 1950ern noch zu "modern" (oder aus anderen Gründen nicht genehm) und Debussy und Stravinsky erst recht. Schostakowitsch wurde bis in den 1980er von den Konservativen negiert, weil er als Sowjetkomponist galt, und von den Progressiven, weil er, gemessen an deren Standard, hoffnungslos nicht-avantgardistisch war.


    Meiner Ansicht nach muss man danach gehen, was verbreitet gespielt und aufgenommen wird und nicht mehr als "Spezialistenrepertoire" gilt. Ob R. Strauss nun zur Moderne oder zur (Zu-)Spätromantik zählt, ist hier nicht so ein Problem, denn etabliert sind seine Werke ohne Frage. Meinem Eindruck nach wurden Debussy und Ravel als "moderner" wahrgenommen als Strauss, von Salome und Elektra vielleicht abgesehen, und galten bis in die 1960er im deutschsprachigen Raum tendenziell als Spezialistenrepertoire. (Haben Dirigenten wie Böhm oder Jochum, die sich immerhin für Werke Bergs und Orffs eingesetzt haben, jemals Debussy oder gar Stravinsky dirigiert?).
    Ist aber auch nicht so wichtig, man mag Debussy auch als Klassiker knapp vor der klassischen Moderne sehen, obwohl der zeitliche Überlapp sicher da ist.


    Orff und Egk waren in den 1930ern bis 1950ern durchaus modern, aber letzterer interessiert heute kaum jemanden mehr (egal ob "konservativ" oder "progressiv") und Orff wird weitgehend als Ein-Werk-Komponist wahrgenommen.


    Die Nachkriegsavantgarde sollte man vielleicht doch lieber draußen lassen. Obwohl einige Werke davon dabei sind, zu Klassikern zu werden. Wenn Rattle mit den Berliner Philharmonikern mehrfach "Gruppen" vor ausverkauftem Haus produzieren kann, ist das eine andere Situation als wie wenn das Stück hauptsächlich im Rahmen von Neue-Musik-Festivals gespielt wird. Wenn es von Pli selon pli eine Handvoll? Aufnahmen (nicht nur unter dem Komponisten) gibt oder noch mehr von einigen Messiaen-Werken aus den 1950er/60ern, also vermutlich mehr als von irgendeinem Orff-Werk außer Carmina Burana, sollte man dann nicht von einer Etablierung sprechen, selbst wenn sich dem typischen "Konservativen" hier noch immer die Fußnägel aufrollen?


    Aber vielleicht ist es sinnvoller zu sagen "Klassiker der Nachkriegsavantgarde"? Bloß, wie lange soll, wenn es inzwischen zwei Generationen jüngerer Komponisten gibt, noch eine Avantgarde nach einem beinahe 70 Jahre vergangenen Krieg datieren...?

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  • Dann haben wir die nächste Frage: Wann endete die Nachkriegsavantgarde?
    Wenn wir die klassische Moderne schon 1950 enden lassen, dann ist die Nachkriegsavantgarde sehr kurz, denn dann endet sie 1970. Um die Zeit ist sie nämlich endgültig in der Krise und die Komponisten bröckeln weg, was das Zeug hält. Was nicht heißt, dass die Strömung nicht fortlebt, aber selbst die Götter der ersten Stunde haben sich mit der Tradition eingelassen und Distanz zur eigenen Avantgarde der 50er und 60er eingenommen (Boulez, Stockhausen als prominenteste Beispiele).


    1910-50 Kernzeit der klassischen Moderne
    1950-70 Kernzeit der Nachkriegsavantgarde
    1970- Postmoderne


    Wobei alles über seine Kernzeit fortlebt, es leben und schaffen heute auch noch Neoklassizisten, die in den 50ern ihre Strawinsky-Hindemithnachfolge begannen und jetzt weitgehend immer noch so klingen.

  • Die Frage ist nur, was man mit den Komponisten macht, die Strauss, Mahler und Debussy weiterentwickeln, ohne "sehr schräg" zu werden, z.B. Schoeck, Szymanowsky, Zemlinsky und zahllose andere. Ich würde sie zur klassischen Moderne dazuzählen.


    Ich wohl auch. Es ist im Einzelfall Abwägungssache, was man als "Spät- oder "Nachromantik" und was als klass. Moderne sieht. Elgar zB klar Spätromantik, auch wenn wichtige Werke aus den 1910er Jahren stammen. Zemlinsky eher klass. Moderne, aber Rachmaninoff? Franz Schmidt? Die sind für mich dann doch eher Spätromantiker.

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  • Vielleicht kann man - ohne dies als Regel zu etablieren, einfach davon ausgehen, daß es sich bei "klassischer Moderne" einfach um Werke handelt, die ab ca 1900/1910 bist heute entstanden sind


    Im Prinzip sehe ich das auch so. Allerdings gibt es im Zeitraum ab 1900/10 so einige Werke die man locker in die Spätromantik einsortieren kann. Von daher ist der Beginn der klassischern Moderne sehr schwammig. Ein konservativer Klassikhörer wird dann vieles, das weit vor 194/50 entstanden ist, als klassisch Modern beschreiben, während weniger konservative Hörer das Gleiche wertfrei in die Klassik einsortieren.


    Wenn ich eine aktuelles Orchesterwerk betrachte und es nur "Modern" nenne , so habe ich mit dieser Bezeichnung keine Abgrenzung zu anderen Musikgenres.
    :!: Aus der, wie ich meine, richtigen Bezeichnung "Klassische Moderne" geht dann viel eindeutiger hervor, dass es sich um heutige aktuelle Musik im klassischen Sinne auch mit weitestgehend klassischer Orchesterbesetzung und/oder Instrumentation geht.


    Beispiel:
    Nenne ich das aktuelle Werk von Daugherty - Deux ex Machina für Klavier und Orchester (2007) nur Modern, so hat das allgemein wenig Aussagekraft, welche Musikrichtung das nun geht !?!
    :thumbup: Das ist eindeutiger und klarer ausgedrückt ein Werk der klassischen Moderne!

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Mit Sicht auf den neuen Thread: Deutschsprachige Komponisten der "klassischen Moderne" möchte ich - sozusagen als Trailerfunktion auf (erhofftes) Zukünftiges - noch die Nordischen Komponisten der ersten hälte des 20. Jahrhundert in den Raum stellen, welche hier zuzuordnen sind, welche nicht. Ob eine weitere Aufschlüsselung nach Ländern anzuraten ist - das eäre dann eine weitere Frage...


    mfg aus Wien


    Alfred

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  • Ich glaube, im Norden gibt es hauptsächlich unklare Fälle ...
    Eindeutig dazu gehört der Zwölftöner Fartein Valen (1887 - 1952).
    Die meisten anderen seiner Generation sind eher noch in der Spätromantik verwurzelt (wie überall sonst auch).
    Ture Rangström (1884 - 1947) wendet sich in seiner letzten Sinfonie schon in Richtung Neoklassizismus, zumindest die kann man sicher zur klassischen Moderne zählen.
    Paul von Klenau (1883 - 1946), der zwischen Schönbergnachfolge und Spätromantik schwankt, kann man auch nehmen.
    Kurt Atterberg (1887 - 1974) und Leevi Antti Madetoja (1887 - 1947) sind schon sehr "unverseucht" von modernen Strömungen ...


    Dann kommt die Neoklassizismus-Generation: Hilding Rosenberg (1892 - 1985), Yrjö Kilpinen (1892 - 1959), Rued Langgaard (1893 - 1952), Harald Saeverud (1897 - 1992), Jón Leifs (1899 - 1968), Dag Wirén (1905 - 1986), Herman Koppel (1908 - 1998) - die gehören sicher hierher.
    :hello: