Strenger Wohlklang oder Interpretation um jeden Preis?

  • Ich denke mal das heute den Sängern nicht so viel Freiheit zugestanden wird, wie sie ihre Rolle gestalten, da das vom Regisseur so vorgegeben ist. Wieviel Einfluss hatten denn die Regisseure früher auf die Sänger?


    Das frage ich mich auch sehr oft. Bin definitiv auch der Auffassung, dass Sänger heute weniger gestalten, ich frage mich nur, ob das nur an den Regisseuren liegt. Klar, ich denke auch das ist auf jeden Fall ein Aspekt, die Sänger werden in ein Konzept eingepasst, im Unterschied dazu, dass sie aus sich heraus etwas entwickeln, was ja durchaus auch in das vorgefasste Konzept passen könnte. Was die früherern Regisseure angeht, auch die hatten ja ihre Konzepte, aber sie haben wohl eher mit den Sängern daran gearbeitet, anstatt sie einfach vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Sänger wurden ein Teil des Werden eines Konzepts. Trotzdem muss ich fragen, liegt es denn nur an den Regisseuren oder mag es nicht auch teilweise an den Sängern selbst liegen? Da ich persönlich keine Sänger kenne, kann ich dazu nicht viel sagen.
    Wenn ich es mal sehr pessimistisch betrachten würde, würde ich sowas sagen wie, es geht nur noch um "angebliche" Makellosigkeit, um irgendeine Form von sachlicher Leistung, noch schlimmer, das echte Gefühl scheint abhanden zu kommen, es sind alles abgegriffene, leere Gefühlshüllen, die ausgestellt werden oder gar keine, die Worte scheinen vielen Sängern nichts mehr zu sagen bzw. zu bedeuten, nichts wird mehr durchdrungen, kaum jemand "stirbt" mehr für seine Rolle.

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • Natürlich, bei großen Festivals, wo eine Produktion in Serie gespielt wird - also z.B. auch in Bregenz, St. Margarethen und Mörbisch - gibt es Mehrfachbesetzungen bei den Hauptrollen. Damit gibt es auch jederzeit Ersatz, man kann schließlich in Mörbisch nicht 6000 Besucher heimschicken, nur weil ein Sänger völlig indisponiert ist. Meine Aussage bezog sich auf den regulären Opernbetrieb im Großteil der Opernhäuser, wo die Einstudierungen sehr oft nur mit einer Sängergarnitur gemacht wird, weil die Zeit gar nicht für mehr reicht.


    Dann frage ich mich schon, warum der erste "Rodolfo"-Ersatz in Salzburg "aus der Gasse" gesungen hat, ebenso wie der Ersatztenor in der dritten "Bohème" und auch der Ersatz-Escamillo in der "Carmen". Haben die alle nicht mitgeprobt?

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

  • An der Rheinoper wird das auch so gehandhabt, wenn Sänger kurzfristig erkranken singt dann der Ersatz von der Bühnenseite und der eigentliche Sänger spielt auf der Bühne. Bei der Bohme Premiere in Duisburg war der vorgesehene Rodolfo am Morgen der Premiere erkrankt und kurzfristig wurde ein Ersatz aus Hamburg eingflogen der kurz vor Beginn der Premiere ankam. Da merkte man natürlich das das " Rollengestalten " auf der Strecke geblieben ist, da er nur kurz Zeit hatte sich in die Insznierung einzuarbeiten. Aber bei so großen Festivals wie z.B. in Salzburg müsste es doch eigentlich wie z.B. an der Met sogenannte Cover Sänger geben, die dann einspringen, wenn die 1, Besetzung erkrankt ist. Und diese Cover Sänger nehmen auch an den Proben teil.

  • Bin definitiv auch der Auffassung, dass Sänger heute weniger gestalten


    Liebe Schall&Wahn,


    das ist aber auch nur ein sehr einseitiger Befund (so gut ich ihn ja verstehe). In der 2010er MET-Inszenierung des Don Pasquale


    (John Del Carlo, Don Pasquale
    Anna Netrebko, Norina
    Matthew Polenzani, Ernesto
    Mariusz Kwiecien, Dr. Malatesta)


    hat mir der Sänger der Titelfigur ungeheuer gut gefallen. Überhaupt, eine wunderbare Spielfreude aller Beteiligten. Und das wirkt nicht so sehr einstudiert, sondern intuitiv befreit, ja improvisiert (wenngleich Del Carlo gewiß über eine große Bühnenerfahrung verfügt). Im Grunde ein Zeugnis für die Unverwüstlichkeit der Commedia dell´arte.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Dann frage ich mich schon, warum der erste "Rodolfo"-Ersatz in Salzburg "aus der Gasse" gesungen hat, ebenso wie der Ersatztenor in der dritten "Bohème" und auch der Ersatz-Escamillo in der "Carmen". Haben die alle nicht mitgeprobt?

    Na ja, wenn es so war, dann werden sie eben nicht geprobt haben. In Salzburg gibt es sieben Boheme-Aufführungen, da wäre eine komplette Doppelbesetzung schon Luxus. Da behilft man sich offenbar mit Sängern, die die Rolle drauf haben und abrufbereit sind. In Mörbisch gibt es z.B. ca. dreißig Vorstellungen einer Produktion, da MUSS man mit zwei oder teilweise sogar drei Besetzungen arbeiten.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Wobei, seien wir doch einmal ganz ehrlich, bei vielen Sachen die einem heute auf der Bühne "geboten" werden, kann es doch eigentlich nur von Vorteil sein, wenn der kurzfristige Einspringer mit dem Edelschwachsinn des Regiesseurs nicht vertraut ist und eine eigene passende Rollengestaltung vornimmt.
    Es würde mit Sicherheit sowieso keiner Bemerken.
    Denn wenn ich mit dem Text einer Rolle vertraut bin, weiß ich auch worum es in dem Stück geht und kann mich dem Entsprechend bewegen.
    Kritisch wird es immer dann, wenn der Regiesseur nicht weiß worum es geht und den größten Schwachsinn produziert hat.
    Hier ist aber dann die Intendanz gefragt.
    Die sich sollte sich nämlich schon im Vorfelde fragen, wenn ich eine Inszenierung habe, die der Handlung des Stückes zuwiederläuft und ich kurzfristig keinen Ersatz bekommen kann, ob man dann nicht besser beraten ist, gleich von vornherein den Regiesseur zu ersetzen.
    Das ist auf lange Sicht fürs Publikum befriedigender, als wenn ich bei Erkrankungen pauschal davon ausghen kann, keinen befriedigenden Ersatz zu bekommen.
    Vielleicht bietet es sich hier ja auch an eine Aufführung so mitzuschneiden, das eben alle Stimmen, bei gravierenden Ausfällen, aus dem Off kommen.

  • Um mal ein bisschen zum eigentlichen Thema zurückzukommen...

    Liebe Schall&Wahn,


    das ist aber auch nur ein sehr einseitiger Befund (so gut ich ihn ja verstehe)


    Das mag sein, ich wollte letztlich auch nicht pauschalisieren. Sicherlich gab es auch früher Sänger ohne die Eigenschaften, die ich oben benannt habe und sicher gibt es auch heute noch welche, die sie besitzen, nur hat sich denke ich das Vorhandensein verschoben, die Ausnahmen haben gewechselt.
    Ich finde, im Gesang hat sich eine Art internationaler Ton festgesetzt, der Makellosigkeit über echte Wort-Sing-Bedeutung stellt und selbst die Ausdrucksgesten sind vereinheitlicht, vielleicht auch klischeesiert, das Individuelle geht sehr oft baden.
    Keine Ahnung, ob man das nun die Rückkehr zum Belcanto-Stil nennen soll, nachdem sich die "intellektuelle" Ausdruckswut-Welle totgelaufen hat (alles sehr zugespitzt formuliert).
    Was die oben erwähnten Kriterien zum Gesang angeht, ich kann über gewisse Makel bei der Intonations äußerst gut hinwegsehen, wenn der rest einfach umwerfend ist. Mit dem Timbre, ganz zu Anfang war mir das äußerst wichtig, heute sehe ich das etwas gelassener und kann auch da Einschränkungen machen, wenn mich die Darstellung ansonsten umhaut. Ebenso ist es mit der Diktion, die mir früher weniger wichtig war, mir heute aber immer wichtiger ist, ich verstehe die Leute einfach gerne (auch wenn ich nicht immer die Sprache spreche)...letztlich glaube ich auch, dass nur wer einigermaßen gute Diktion hat, kann auch wirklich groß darstellen, oder irre ich da?...Vielleicht gibt es ja Gegenbeispiele?

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • Und das wichtigste ist das ein Sänger auch versteht was er da singt, denn nur so kann er auch die Rolle gestalten. Bei vielen habe ich aber den Verdacht das sie ihre Rolle runterspulen ohne sie zu verstehen.

  • Ja, das ist auch so ein Aspekt. Natürlich fehlt dann etwas. Man zieht sich dann darauf zurück "nur noch" zu singen, anstatt eine Figur darzustellen. Die Sänger klingen vielleicht schön, aber sie bleiben immer Sänger, die singen, sie werden nie zu Bühnenpersonen.
    Sie scheinen sich auch nicht mehr damit auseinanderzusetzen, also mit ihrer Rolle, deswegen greift man dann auch zu Schablonen des Ausdrucks.
    Manchmal habe ich aber das Gefühl, das vielen Zuschauern/-hörern, das auch gar nicht mehr wichtig ist. Oberflächlichkeit, wo man geht und steht.

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)