Im Anschluss an die bereits in entsprechenden Threads vorgestellten und besprochenen „Mörike-Lieder“ und die auf Gedichte Goethes soll hier auf den dritten Schwerpunkt in Hugo Wolfs Liedschaffen eingegangen werden. Der „Eichendorff-Band“, jene Lieder auf Gedichte Eichendorffs, die Wolf dann (mit finanzieller Untersützung durch Eckstein) über den Wiener Verlag C. Lacom im September 1889 publizierte, entstand während seiner liedkompositorisch so intensiven Auseinandersetzung mit der Lyrik Mörikes. Das ist ein Sachverhalt, der für die Wolf-Biographen Anlass zum Nachdenken über die Gründe bot. Denn es ist ja doch eine Eigenart Wolfs, sich in den fieberhaft-schöpferischen Phasen seines Liedschaffens ganz auf einen Lyriker zu konzentrieren und dabei nicht nach links und rechts zu blicken. Warum also dieser Griff nach den Gedichten Eichendorffs, - mitten im „Mörike-Fieber“?
Eine durchaus plausible Erklärung hat Erik Werba in seinem Buch „Hugo Wolf und seine Lieder“ geliefert. Er meint:
„Wolf hat sich durch Mörike ganz gefunden und scheint sich bei Eichendorff einigermaßen zu entspannen. (…) Der große Mörike-Band scheint uns ein Seelenbrevier, der kleine Eichendorff-Band ein Bilderbuch der Typen und Charaktere.“
Einmal abgesehen davon, dass ich letzteres so nicht gelten lassen würde, weil der „Eichendorff-Band“ doch ein wenig mehr als nur ein „Bilderbuch der Typen und Charaktere“ ist, könnte an dem Gedanken „Eichendorff als Entspannung“ doch etwas dran sein. Wolf hat selbst das kompositorische Sich-Einlassen auf Mörike als einen fieberhaften Rauschzustand empfunden. In einem Brief an Edmund Lang heißt es: „Einfälle, lieber Freund, sind schrecklich. Ich fühl´s. Meine Wangen glühen vor Aufregung wie geschmolzenes Eisen und dieser Zustand der Inspiration ist mir eine entzückende Marter, kein reines Glück.“
Vielleicht brachte die Begegnung mit der – im Vergleich mit Mörike – stärkeren Formgebundenheit und Einfachheit der lyrischen Sprache Eichendorffs so etwas wie eine „Abkühlung“ seines innerlichen Glühens mit sich. Auffällig ist jedenfalls dass die Liedsprache seiner Eichendorff-Vertonungen weniger komplex ist als bei den Mörike-Liedern. Die bei letzteren voll und ganz ausgeprägte Eigenständigkeit und Gleichrangigkeit von Melodik und Klaviersatz ist bei den ersteren nicht in diesem Maß gegeben. Auch neigt Wolf bei Eichendorff dazu, die melodische Linie der Singstimme zu periodisieren. Alles dies spricht tatsächlich dafür, dass er an den Tagen der kompositorischen Beschäftigung mit der Lyrik Eichendorffs eine „andere Art von Liedmusik“ machen und sich darin von der gewaltigen Anspannung und Herausforderung, die Mörikes Lyrik für ihn mit sich brachte, zumindest phasenweise lösen wollte.
Nicht nur Erik Werba, auch der Wolf-Biograph Frank Walker vertritt diese These der Genese der Eichendorff-Lieder aus einer „Phase der Entspannung“. Es gibt aber ein biographisches Faktum, das einen diesbezüglich stutzig werden lässt: Die meisten Lieder dieses „Eichendorff-Bandes“ sind – nicht anders als die auf die Gedichte Mörikes – einem eruptiven Schöpfungsprozess entsprungen. Von ruhig-entspanntem Komponieren kann eigentlich nicht die Rede sein. Das gilt allerdings nicht für alle, denn einige von ihnen liegen, was ihre Entstehungszeit betrifft, zeitlich zurück, andere sind sozusagen „unterwegs“ entstanden. Womit das „Opus“ in seiner konkreten Gestalt selbst angesprochen wäre.
Der „Eichendorff-Band“ besteht aus zwanzig Liedern. Drei davon, nämlich „Die Zigeunerin“, „Waldmädchen“ und „Nachtzauber“, sind in der Zeit zwischen März und Mai 1887 entstanden. Der eigentliche „Schöpfungsakt“ dieses Bandes setzte jedoch Ende August 1888 ein. Wolf war damals nach Wien zurückgekehrt und bezog Quartier in Ecksteins Wohnung in der Siebenbrunnengasse. Dort entstand am 31.August das Lied „Verschwiegene Liebe“, über dessen Genese wir aus dem Bericht von Freunden gut unterrichtet sind. Wolf ging im Garten, die Verse laut lesend, auf und ab, - eine schöpferische Haltung, die ganz typisch für ihn ist. Wie in einer Art Anfall stürzte er dann auf einmal ins Haus und schrieb das Lied am Schreibtisch von Eckstein in einem Zug nieder.
Die beiden chronologisch folgenden Lieder kamen auch sozusagen „unterwegs“ zustande. „Der Schreckenberger“ erblickte am 14.9.1888 auf einer Wanderung durch die Wildnis von Rettenbach (bei Ischl) das musikalische Licht der Welt, und zwei Tage später ereignete sich dieses bei dem Lied „Der Glücksritter“ in der Postkutsche auf dem Weg von Ischl nach Weissenbach. Und dann setzte ein größerer Schub ein. Nach der Ankunft von Wolf im Ferienhaus Ecksteins in Unterach entstanden innerhalb von neun Tagen zehn Eichendorff-Lieder, - in eben der gleichen gleichsam rauschhaften Weise, wie das auch bei den Mörike-Liedern der Fall war.
Die kompositorische Auseinandersetzung mit der Lyrik Eichendorffs in den Jahren 1887/88 war nicht die erste Begegnung mit diesem Dichter. Eichendorff war für Hugo Wolf damals schon ein „alter Bekannter“. Er war nicht nur vertraut mit dieser Lyrik, er hatte sich in den Jahren 1880 bis 1883 sogar schon auf sechs Liedkompositionen auf Gedichte Eichendorffs eingelassen, die er allerdings dann nicht in seinen „Eichendorff-Band“ aufnahm. Bis auf ein Lied hätten sie das eigentlich alle verdient gehabt.
Was die Auswahl der Gedichte anbelangt, so verfuhr Wolf hier ähnlich wie im Falle Goethes. So wie er dort – bis auf bestimmte Sonderfälle – die Konkurrenz mit Schubert mied, so hier die mit Schumann, dessen Eichendorff-Vertonungen ihm natürlich bekannt waren. Er wollte ganz bewusst einen anderen Schwerpunkt setzen, weil ihm sehr wohl bewusst war, dass der Eichendorff der „alten schönen Zeit“, der „Burgen und Wälder, der „Nacht“ und der „Marmorbilder“ von Robert Schumann in wahrlich unübertrefflicher Weise im Musik gesetzt worden war. Er wollte sich aus diesem Grund eher dem Eichendorff der „Taugenichtse“, Musikanten, Soldaten und wandernden Studenten widmen. In einem Brief an Humperdinck (vom 12. März 1891) erklärte er, er wolle „übereinstimmend mit der realistischen Kunstrichtung“ den genuin romantischen Eichendorff zurücktreten lassen zugunsten der „ziemlich unbekannten, der keck humoristischen, derb-sinnlichen Seite des Dichters.“
Letzten Endes hat er aber, wenn auch der Schwerpunkt der Lieder tatsächlich dort liegt, doch fast den „ganzen Eichendorff“ in seine Kompositionen einbezogen, - wenn auch nur mit jeweils einem Lied auf ein repräsentatives Gedicht. Was er voll ausklammerte, das ist die religiöse Lyrik des Dichters. Aber mit Liedern wie „Nachtzauber“ und „Die Nacht“ hat er sich sehr wohl auf das Terrain Schumanns begeben und dem „romantischen Eichendorff“ auf herausragende und voll angemessene Weise liedkompositorische Reverenz erwiesen.