Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Komponist Martin Scherber vielen Tamino-Mitgliedern bekannt ist - es sei denn, dass er in oder um Nürnberg herum wohnt. Dann wäre es denkbar, weil es dort eine Scherberstraße oder einen Scherberplatz geben könnte. Ich habe jedenfalls den Namen dieses Komponisten noch nie gehört, auch noch nie gelesen, und meine Musiklexika kennen Martin Scherber auch nicht. Immerhin weiß Wikipedia einiges über den Nürnberger Musiker: https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Scherber
Im Thread über Musik des 20./21. Jahrhunderts - gerade gehört - kurz kommentiert habe ich Scherbers zweite Sinfonie anerkennend erwähnt und lutgra hat das Cover von des Komponisten dritter Sinfonie eingestellt. Warum ich diesem Komponisten und seiner Musik einen Beitrag widme? Weil ich zufällig in der hiesigen Stadtbibliothek auf zwei CDs mit Sinfonien von Scherber stieß, die mir, der von atonalen Klängen Schüttelfrost kriegt, gefiel und die mich ansprach. Ich werde gewiss Widerspruch ernten, aber ich bleibe dabei: Musik ist für mich mehr als reine Klangerzeugung (analog dazu lassen mich moderne Kleckseleien auf Leinwänden kalt), sie muss klingen. Und Scherbers Musik klingt.
<--- Scherbers zweite Sinfonie f-Moll (nicht h-Moll wie es auf der CD und dem Titel des Booklets steht, im Einführungstext jedoch richtig benannt ist), besteht aus einem Satz, und wird gespielt vom Russischen Philharmonischen Orchester Moskau unter der Leitung von Samuel Friedman. Auffällig ist, dass der Komponist die Formel „Sinfonie durch Martin Scherber“ und nicht „Sinfonie von“ wählte. Eine Erklärung liefert das Beiheft (Beitrag von Friedwart M. Kurras): „Wer sich wie Martin Scherber ein wandlungsfähiges Erkenntnisleben anzueignen vermag, lernt zu eigenen Schöpfungen einen neutralen Standpunkt einzunehmen. Er wird unter den angedeuteten Voraussetzungen in die Partituren 'durch' […] und nicht 'von' schreiben.“ Über seine zweite Sinfonie schrieb der Komponist selbst, dass er in ihr
immer bewußt im ganzen Tongeschehen [lebe]; sorgfältig wache ich, daß der geistige Faden nicht abreißt. D.h. daß es eine durchlaufend durchorganisierte Gestalt bleibt. Etwas den Weltwesen Abgelauschtes. Auf die Frage: Harmonie oder nicht, lasse ich mich gar nicht ein, weil ich ja Inhalte einfange, die wir heutigen Menschen eben noch nicht haben. Und um diese im Tonleib sich darleben zu lassen, brauche ich eben alles. Jedes Ausschließen von irgend etwas würde ja verarmen. Wer z.B. Harmonien ausschließt, kann ja bestimmte Dinge überhaupt nicht mehr aufleben lassen. Der Maler wäre in der gleichen Falle, wenn er z. B. die Gerade oder eine bestimmte Farbe nicht gebrauchen wollte. Der wahren Wirklichkeit gegenüber sind das Mätzchen! Ein technischer Apparat läßt sich mit dem gewöhnlichen Bewußtsein herstellen. Ein Kunstwerk, das den anderen Menschen in eine höhere Wirklichkeit weisen soll, kann nur aus einem höheren Bereich durch höheres Bewußtsein geholt werden. Bewußtsein - nicht Trieb, wie Schönberg sagt.
Auch die dritte Sinfonie besteht aus nur einem Satz, der aber in zwölf miteinander verbundenen Themenkreisen unterteilt ist. Hier ist die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter dem Dirigenten Elmar Lampson zu hören. In beiden Sinfonien wird Scherbers Affinität zu Anton Bruckner deutlich.
Der 1966 in Krefeld von dem Dirigenten Fred Thürmer und Musikfreunden gegründete Bruckner-Kreis hatte sich zum Ziel gesetzt, (u.a.) das Werk Martin Scherbers allgemein bekannt zu machen. Eigentlich wollte Scherber die „Metamorphosensinfonien“ erst nach seinem Tode veröffentlicht wissen, gab dann aber dem an ihn herangetragenen Wunsch einer früheren Publizierung nach. So kamen die erste und dritte Sinfonie als Faksimile zum Nürnberger Albrecht-Dürer Jahr 1971 heraus. Die Drucklegung der Zweiten folgte zwei Jahre später.
Aber: Sind diese Äußerungen aus der Entstehungszeit der Werke berechtigt:
„Diese Musik gehört verboten.“ (Hans Börnsen, 1957 nach der Uraufführung der zweiten Sinfonie.
„...[ohne] musikalische Schöpferkraft[...]“ (Bruno Walter, Brief zur Dritten an den Komponisten).
„So eine Musik wollen wir nicht!“ (Alfons Dressel, Nürnberger GMD vor und nach dem Kriege).
In diesem fast einstündigen kolossalen Satz jedenfalls tritt die Metamorphose auf der Stelle. Bruckners geniales Wissen um Kontraste und Ergänzung in Harmonik und Bewegung hat sich trotz aller Meditation nicht offenbart. (Peter T. Köster in Klassik heute 11/2001, zur Dritten).
Scherbers Dritte Sinfonie ist „[...]ein schöpferischer Widersinn“ [...] „Die Musik klebt an Bruckner so sehr, dass selbst der Begriff des Epigonen merkwürdig blass bleibt.“ [Das Werk ist] "am ehesten lästig in seiner Chimäre der Zeitlosigkeit[...]“ (Reinhard Schulz, NMZ 2001/2002).
Die Gegenstimmen, denen ich mich ohne zu Überlegungen anschließen kann, lesen sich so:
„Das ist ja wieder Musik! Aufführen lassen! [...]“ (Siegfried Horvath, in den 1950er Jahren).
„[...] weit wie das Meer, nirgends konstruiert, immer interessant, nie intellektuell - und immer lebendig [...]“ (Karl Winkler, ehemaliger Klavierlehrer Scherbers, später Professor in Wien; in den 1970er Jahren, zur Dritten).
„Der Komponist hat die Form der Gattung radikal erneuert, und das auf eine Art und Weise, welche die Wahrnehmung keineswegs erschwert[...]“ „Um so erstaunlicher kam für mich die Symphonie Scherbers vor: sie ist modern und trotzdem nicht modern, sie ist zeitlos. [...]“ (Georg Balan zur Dritten im Jahr 2004).
Man kann übrigens auf Youtube Schnipsel aus der zweiten und dritten Sinfonie hören. Ich kann mir vorstellen, dass Taminos/Paminas mit Affinität zur Avantgarde mit dieser Musik nicht viel anfangen können - mir hat sie gefallen...