Kann ein Stück zu lang sein? Und wenn ja, warum?

  • Für mich liegt das Problem dieses Finales eher darin, dass es *zu wenig* mit den vorhergehenden Sätzen zu tun hat. Es wirkt, ungeachtet der Zitate beinahe wie ein völlig neuer Anlauf, ein ganz eigenständige sinfonische Dichtung, auf die die vorhergenden drei Sätze schlecht vorbereiten.

    Wenn man sich an das Programm Mahlers hält bzw. an die verarbeiteten Lieder, dann spiegeln die ersten beiden Sätze die Naturnaivität und der dritte Satz ist das abstoßende "Haar in der Suppe" - die verkehrte Menschenwelt als "Lügenwelt". Diese beiden Erfahrungen, die Natur als "schöne Welt" (wie es auch im Lied heißt) und die böse Menschenwelt prallen im Finale mit aller Gewalt aufeinander, das Subjekt ist zerrissen und hin- und hergerissen zwischen diesen extremen Gegensätzen. Am Schluß gibt es dann in der Coda eine Versöhnung: das Naturthema wird von einer Art antikem Triumpfmarsch sozusagen als "Beute" zur Schau getragen, d.h. die Naturnaivität erscheint für die Menschenwelt "erobert".


    Zu lang ist es m.E. nicht absolut gesehen, aber ich finde die 2. Hälfte stellenweise dramaturgisch unplausibel, weil das Triumph/Choral-Thema eigentlich zu früh kommt und dann nochmal eine Rücknahme erfolgen muss (und die Steigerungen danach teils äußerlich und hypertroph)

    Das wäre eine Frage für eine genauere Analyse. Ich habe das immer als Ausdruck von Verzweiflung gehört, als trügerische "Scheinsiege" mit folgenden Abstürzen, durch die sich das Subjekt bis zum endgültig befreienden Sieg "durchkämpfen" muß. Mahler-typisch ist ja auch, dass immer dann, wenn sich der Triumpf besonders prahlerisch gebärdet, der Absturz um so sicherer folgt. ;)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zur Fadenfrage: ich denke schon, daß es Stücke gibt, die ich als "zu lang" empfinde ("zu lang" steht dann in enger Beziehung zu: schlecht). Will aber keine konkreten Beispiele nennen, weil sich zwei Posts später dann die Freunde des betreffenden Werkes zu Wort melden werden.


    Ich denke, wir alle sind uns darüber einig, daß es eine "perfekte Länge" für klassische Stücke nicht gibt. Sie können lang sein, sie können kurz sein - das ist kein zwingendes Kriterium dafür, ob sie gut oder schlecht sind.


    Ein Stück sollte aus meiner Sicht:


    - reizvolle musikalische Ideen haben, diese gut verarbeiten, fortführen
    - einen guten Spannungsbogen, bzw. Spannungsbögen, aufbauen
    - Kontraste sind oft ein wirksames Mittel (grandios - dann lyrisch, usw.)
    - nie "langweilig" werden, mich als Zuhörer "drin" halten können


    Dann finde ich ein Stück gelungen. Das kann bei einem langen Stück genauso der Fall sein, wie bei einem kurzen.


    LG Chris

  • Kann ein Musikstück zu lang sein? Ja, wenn z.B. wirklich jede Wiederholung gespielt wird, wie es Mackerras in seiner HIP-Einspielung (!) von Schuberts 9. gemacht hat. Trotz des forschen Zugriffs findet gerade der Finalsatz kein Ende.


    John Doe

  • Lieber John Doe -
    das sind doch sicher die "Himmlischen Längen", von denen Schumann schrieb. Trotzdem gebe ich Dir, mit Einschränkung, Recht: Ich empfinde das manchmal auch so, mache das aber an meiner eigenen, aktuellen Situation fest. Und die hat, jeder kennt das, nicht immer die nötige innere Ruhe - weil es immer wieder häusliche Störungen gibt.


    Es liegt Jahre zurück, da wurde in dem Programmheft zu einem Sinfoniekonzert in Duisburg das Ausspielen aller Wiederholungen vom Dirigenten als "Ernstnehmen" des Komponisten verteidigt. Mir kam es - ich erinnere mich genau! - keineswegs langweilig und zu lang vor. Folglich denke ich, dass ein Live-Erlebnis wieder anders zu beurteilen ist, als das Hören einer Konserve...


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Kann ein Musikstück zu lang sein? Ja, wenn z.B. wirklich jede Wiederholung gespielt wird


    Ich stimme zu... Wiederholungen können ein Werk schon hier und da mal zu lang machen. Dann genügt es mir, die musikalische Idee einmal zu genießen (und nicht mehrfach... wobei dann schon eben der Gewöhnungseffekt und die Langeweile eintreten können).

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  • Schuberts Neunte kann mir gar nicht lang genug sein, so wunderbar ist diese Musik. :hello: Aber grundsätzlich halte ich es für legitim, Wiederholungen wegzulassen, ohne damit dem Komponisten allzu großes Unrecht zu tun. Wahrscheinlich sind viele Wiederholungen wohl doch für die zeitgenössischen Zuhörer geschrieben, die das Stück zum ersten Mal hörten und durch die Wiederholungen Gelegenheit hatten, das thematische Material und dessen Verarbeitung besser zu erfassen. Heute sind wir natürlich zumindest bei den gut bekannten Stücken des Standardrepertoires in einer anderen Situation.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Aber grundsätzlich halte ich es für legitim, Wiederholungen wegzulassen, ohne damit dem Komponisten allzu großes Unrecht zu tun. Wahrscheinlich sind viele Wiederholungen wohl doch für die zeitgenössischen Zuhörer geschrieben, die das Stück zum ersten Mal hörten und durch die Wiederholungen Gelegenheit hatten, das thematische Material und dessen Verarbeitung besser zu erfassen.


    So etwas in der Richtung glaube ich auch. Zudem kommt hinzu, daß man mit steigender Übung im Hören musikalisches Material auch immer besser schon beim erstenmal Hören genügend "versteht" und wahrnimmt.


    Eine andere Erklärungsmöglichkeit wäre: Komponisten wollten durch Wiederholungen "Zeit herausschinden" ;) Wiederholungen sind wohl die einfachste Art, ein Werk länger zu machen.

  • Zeit herausschinden halte ich für eher unwahrscheinlich.
    Wiederholungen sind vermutlich seit Anbeginn struktureller Bestandteil vieler Musik. Man denke an Lieder mit Strophe/Refrain.
    In den typischen klassischen Instrumentalformen kommen die Wiederholungen überdies meistens aufgrund deren Herkunft aus Tanzformen hinein. Eine gliedernde Funktion haben sie natürlich weiterhin.


    Bloß ist es eben ein Unterschied, ob in einem Menuett, Walzer o.ä. zweimal 12 oder 24 Takte, meinetwegen auch dreimal, wörtlich wiederholt werden oder 100 oder 400 Takte in einem Sonatensatz, der dann, wie im Finale von Schuberts 9. knapp 15 statt gut 10 Minuten dauert.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • das sind doch sicher die "Himmlischen Längen", von denen Schumann schrieb.

    Zu denen hat doch auch Strawinski bemerkt, dass man dabei gelegentlich schon einschlafen kann, selbiges aber nicht weiter schlimm ist, weil man immer wieder im Paradies aufwacht.
    Aber Spaß bei Seite, es sind nicht die himmlischen Längen als solche, sondern deren Wiederholungen, die sie dann wirklich lang werden lassen können!



    Bloß ist es eben ein Unterschied, ob in einem Menuett, Walzer o.ä. zweimal 12 oder 24 Takte, meinetwegen auch dreimal, wörtlich wiederholt werden oder 100 oder 400 Takte in einem Sonatensatz, der dann, wie im Finale von Schuberts 9. knapp 15 statt gut 10 Minuten dauert.

    Genau, besonders wenn der zu wiederholende Teil auch noch so gespielt wird, als würd er nicht wiederholt werden, also flott und energisch aufs Finale hinführend.
    Meiner Meinung nach hat der Interpret doch soviel künstlerische Freiheit auch eine Eins zu Eins - Wiederholung vom Ausdruck her so zu gestalten, dass sie ein bisschen anders klingt als ihre Vorlage.
    Ein gutes Beispiel dafür ist Mozarts Jupiter-Sinfonie in der Interpretation von Harnoncourt mit ihren 41 Minuten. Harnoncourt nimmt dort auch jede Wiederholung mit, nur dass das beim Hören gar nicht auffällt.


    John Doe
    :)

  • (Im Jupiterfinale ist die Ereignisdichte allerdings auch erheblich höher als bei Schubert, da kann es nichts schaden, einiges mehrfach zu hören... ;))
    Harnoncourt macht meiner Erinnerung nach aber auch alle Wdh. in Schuberts 9. , außer evtl. den "doppelten" im Scherzo, d.h. beim dacapo des Scherzo-Teils werden die Doppelstrich-Whd. nicht beachtet.[1] Das ist selbst unter HIPisten m.E. nach wie vor umstritten. Ich sehe nicht, warum man so etwas nicht pragmatisch, u.a. je nach Länge des Stücks, handhaben sollte.


    [1] normalerweise sieht ein Menuett/Scherzo etwa so aus (Abweichungen sind natürlich möglich)
    /:A://:B:/ Trio (meistens analog /: E ://: F :/) A B da capo oder eben wieder mit allen Wdh. /:A://:B:/

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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