Haydn-Symphonien-Edition 2032 - ein ehrgeiziges Projekt und andere Projekte aus Vergangenheit und Zukunft

  • Die Frage des richtigen Tempos, der richtigen Temperierung ist viel wichtiger als die von „HIP“.

    Wobei ich ja insbesondere bei "HIP" mir die richtigeren Tempos und Temperaturen erwarte, insbesondere wenn auf historischen Instrumenten.

    :)

    Beim Hineinhören in jpc ist mir das jetzt aber nicht so merkwürdig vorgekommen, dabei habe ich auch eine Harnoncourt-Allergie.

    :D

  • Die Frage ist für mich eher, ob die "klassischen Werte" nicht weitgehend eine Projektion sind und rückwirkend aus der Romantik bzw. eher sogar aus dem 20. Jhd., also nach 150-200 Jahren Romantik und Moderne ein Bild von Haydn und Mozart erzeugen, das nicht aus ihrer Zeit heraus, sondern im Kontrast zur Musik von Beethoven bis Wagner oder sogar bis Strawinskij und Schostakowitsch verstanden wird. Eben "klassisch ausgewogen" ggü. romantisch-subjektivem Exzess oder. Was in dieser Vereinfachung offensichtlich falsch ist, da Mendelssohn meistens "ausgewogener", jedenfalls "regelmäßiger" komponiert als Haydn.

    D.h. den Vorwurf der Projektion eigener Vorlieben oder Vorurteile auf Haydns Musik kann man bspw. Böhm genauso machen wie Antonini. (Dazu kommt ja auch, dass gerade Haydn, aber auch ein gut Teil Mozart bis über die Mitte des 20. Jhds. praktisch ignoriert wurde. Es gibt keine ungebrochene Haydn-Tradition, wie das bei Beethoven oder Wagner der Fall sein mag, weil der Komponist ab dem mittleren 19. Jhd. kaum mehr präsent war bzw. Sinfonien selbstverständlich im Aufführungsstil der jeweiligen Zeit angepasst wurden.


    Nun habe ich von Antoninis Haydn noch nichts gehört. Für mich ist aber ziemlich klar, dass "Mikromanagement" wie man es in späteren Aufnahmen Harnoncourts, teils bei Rattle, oder noch extremer bei Th. Fey findet, historisch sehr fragwürdig ist (bei Sinfonien, in Klavierstücken und einzelnen Konzertsoli mag es ganz anders aussehen). Die Sachen wurden fast ohne Proben, oft vom Blatt, gespielt und allein daher sicher ziemlich geradlinig, kaum Rubato, höchstens bei ausdrücklichen Soli, was aber klare Ausnahmen sind. Das heißt natürlich nicht, dass man das nicht machen darf oder dass die Musik nie davon profitieren könnte. Manche dieser Übertreibungen wirken für mich aber so, als ob man Haydn (oder Mozart, Händel etc.) sonst zu langweilig fände und eben etwas "aufpeppen" muss.


    Das heißt auch nicht, dass der "philharmonische Luxussound", der sich historisch ungefähr für und nach Richard Strauss um/ab 1900 entwickelt hat, Haydn näher käme. Obwohl die Besetzungen seinerzeit von minimal (die Eszterhazy-Kapelle dürfte nur etwa ein dutzend Streicher umfasst haben, entsprechend ein recht dünner und "bläserlastiger" Klang) bis opulent (vgl. die Beschreibung Mozarts des Orchesters, für das Haydns "Pariser" komponiert wurden mit 40 violin und 10 Bässen und entsprechend doppelter Holzbläserbesetzung) reichten, dürfte der Klang oft weit "unkultivierter", sozusagen mit den Jagdhörnern direkt von der Pirsch und den Geigen vom Tanzboden, gewesen sein.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • „Projektion“ ist der diskretierend-subjektivierende Begriff für den Prozess erfolgreicher kultureller Aneignung. Auch die Kulturgeschichte ist eine Geschichte der Sieger - und das so genannte Missverständnis ist eigentlich eine Formung des Materials und somit selbst eine kulturelle Leistung.


    Beispiel: Eugen Herrigel wurde vorgeworfen, in seinem Werk „Zen in der Kunst des Bogenschiessens“ beides, sowohl Zen als auch Kyudo, das japanische Bogenschiessen, misszuverstehen. Sein Lehrer in Japan sei ein Esoteriker gewesen, Herrigel hätte gar kein Japanisch verstanden etc. Zugleich wurde sein Buch in Japan geradezu begeistert rezipiert und wird auch heute noch weltweit gelesen.


    Auch die „edle Einfalt der Griechen“ war eine Projektion - aber eine sehr produktive. Dass die Skulpturen der Antike ursprünglich keineswegs weiß, sondern grässlich bunt waren, hat man zwischen zeitlich zwar zur Kenntnis genommen, aber auch schnell wieder ignoriert.


    Auf die Musik zurückübertragen: Die Orchesterkultur des 20. Jahrhunderts inklusive des berühmten „dunklen deutschen Orchesterklangs“ hat mit „authentischer Aufführungspraxis“ wenig zu tun, ist aber ihrerseits als Leistung, als Weltkulturerbe, zu sehen.


    Und wenn wir ehrlich sind: Zu allen wirklich großen Werken der klassischen Musik wurden bereits letztgültige Interpretationen vorgelegt. Es ist nur der menschlichen Sucht nach dem immer Neuen, Anderen geschuldet, dass immer noch neue Einspielungen der klassischen Schlachtrösser erscheinen. Aber es wird eben nur anders - nicht mehr grandioser. Das gleiche gilt für Kompositionen wie für Gedichte wie für Malerei. In Sachen Kultur sind wir eben Spätgeborene, die sich bei Musik als Ersatzbefriedigung noch an HiFi-Spielereien und Soundverbesserungen ergötzen - die aber eben einen Furtwängler nicht mehr persönlich erleben werden.

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Manche dieser Übertreibungen wirken für mich aber so, als ob man Haydn (oder Mozart, Händel etc.) sonst zu langweilig fände und eben etwas "aufpeppen" muss.

    DAS trifft es ganz genau.

    Diese "Modernisierungen" unter dem Mäntelchen einer historischen Aufführungspraxis kommen von Leuten, die in ihrer Jugend die ihnen auferlegten gesellschaftlichten Spielregeln hassten und sie jetzt zu vernichten versuchen.

    Es genügt ihen aber nicht, ihre Geschmacklosigkeiten und rüpelhaftes Grundverhalten selbst auszuleben, nein sie möchten es auf uns übertragen und uns aufzwingen. Ich warte nur noch auf den Zeitpunkt, wo man, um einen Arbeitsplatz zu bekommen, tätowiert sein muß.....

    Man kann Haydn durchaus "brav" aufführen, auch, BAch und Vivaldi, Bei Beethoven funktioniert das nicht.

    Allerdings sollten wir und hierfür einen anderen Thread suchen - ich glaube es gibt da schon was.

    grundsätzlich sind bei den Genannten die Maßnahmen zur "Belebung" längst gesetzt - mehr ist weder notwendig - noch gut.


    mgf aus wien

    Alfred

    Die Tamino Moderation arbeitet 24 Stunden am Tag - und wenn das nicht reicht - dann fügen wir Nachtstunden hinzu.....



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  • Karl Böhm mit den Wienern hätte hier bessere Chancen gehabt, aber entweder er oder die Deutsche Grammophon wollten sich auf ein solches Projekt gar nicht erst einlassen. Es ist interessant, daß Böhm nur ganz wenige Haydn Sinfonien aufgenommen hat - zumindest in Stereo.

    Wenn ich das richtig überblicke, hat Böhm für die DG ja 1972-1974 lediglich die "Lücke" zwischen den Pariser und den Londoner Symphonien eingespielt, sprich Nr. 88 bis 92. Die "Londoner" machte die DG bekanntlich 1972/73 mit Jochum, die "Pariser" erst 1980 mit Karajan (jedenfalls fand ich keine frühere DG-Einspielung der "Pariser"). Das Ganze hatte also durchaus ein gewisses Konzept. Damit gibt es von Böhm interessanterweise mit Nr. 89 und 91 die vermutlich unbekanntesten aller späten Haydn-Symphonien (ab Nr. 82).

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Die Frage ist, warum es besser sein sollte, dass Haydn möglichst ähnlich wie Richard Strauss klingt, als so wie bei Antonini. Ob man das eine nun mit dem Gütesiegel einer Tradition (die Haydn über 100 Jahre lang weitgehend ignoriert oder als halb verzopften, halb albernen "Papa" kaum ernst genommen hat) verteidigt, oder das andere mit einer angeblich wissenschaftlichen Authentizität, ist dann zweitrangig, weil beides mal eher eine Rationalisierung dessen, was man eh machen will.


    M.E. sollte man schon den musikalischen Text und seine Erfordernisse und den historischen Kontext beachten. Das legt natürlich nicht alle Details einer Interpretation fest. Aber Haydn im Sound von und als meist harmloser Vorläufer von Bruckner oder Strauss überzeugt mich ebensowenig wie ständige Übertreibungen und Knalleffekte. Wobei einige der Knalleffekte bei Haydn tatsächlich einkomponiert sind.


    Das Problem bei solchen "klassischen Werten" wie Symmetrie, Balance etc. ist fast immer die Mehrdeutigkeit. Es gibt keine Musik ohne irgendeine Symmetrie und Balance, aber natürlich besteht ebenso bei fast aller Musik/Kunst die Attraktivität in einer bestimmten Mischung aus Symmetrie und ihrer Brechung, aus Erfüllung und Enttäuschung von Erwartungen etc. Komplett vorhersehbar und komplett chaotisch ist normalerweise beides langweilig.

    D.h. als pauschale Aussage bedeutet das praktisch nichts; es sind wohlfeile Floskeln, mit denen man alles und sein Gegenteil begründen kann. Das gilt auch für andere Schlagworte wie "Formen sprengen" etc. Dazu kommt ja noch, dass offen ist, wie sich diese Eigenschaften der Stücke in den Interpretationen zeigen sollten. D.h. man müsste, wofür man fast nie Muße und Energie hat (aber wir haben es vielleicht bei einigen der Einzeltthreads zu Haydn-Sinfonien u.a. zumindest mal angerissen) ziemlich ins Detail einzelner Stücke gehen.


    Und letztgültige Interpretationen kann es bei Musik, die immer wieder neu gespielt wird, nicht geben. Das ist auch nur so ein nostalgisches (oder kommerzialisiertes, es klingt schon sehr nach FonoForum oder Gramophone) Gütesiegel. Aber ganz abgesehen davon, ist bei vielen Haydn-Sinfonien bzgl. Interpretationen einige Luft nach oben, da die Lordsiegelbewahrer von Furtwängler bis Karajan so wenig Haydn dirigiert haben (und dann nicht mal immer besonders gut).

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  • weil beides mal eher eine Rationalisierung dessen, was man eh machen will.

    Das ist eine sehr gute Beobachtung, die eigentlich für fast alles gilt, was man uns heute einreden will.


    Und letztgültige Interpretationen kann es bei Musik, die immer wieder neu gespielt wird, nicht geben. Das ist auch nur so ein nostalgisches (oder kommerzialisiertes, es klingt schon sehr nach FonoForum oder Gramophone) Gütesiegel.

    ich wüsste zwar nicht was an einem FonoForum- oder Gramophone- Gütesiegel schlecht sein soll, aber natürlich hat die Glaubwürdigkeit aller dieser Auszeichungen bis hin zum Oscar an Aussagekraft verloren.

    Dereinst konnte man auf Rezensione - zumindest im Großen und Ganzen - vertrauen.

    Wenn ich heute bei einer Rgietheaterinszenierung die Anmerkung "empfehlenswert" oder "großartig" etc etc. lese

    dann hat der Rezensent - und mit ihm sein veröffentliches Blatt mein Vertrauen verloren - und ich boykottiere es.


    Über "interpretationen" gab es mal interessante Threads. Muß mal nachsehen, ob sich die ausgraben und weiter verwenden lassen...


    mfg aus Wien

    Alfred

    Die Tamino Moderation arbeitet 24 Stunden am Tag - und wenn das nicht reicht - dann fügen wir Nachtstunden hinzu.....



  • Der Oscar war gerade in seiner Frühzeit sehr unzuverlässig, Cimarron (1931) und Cavalcade (1933) sind weit davon entfernt, heute für besonders gute Filme gehalten zu werden. Ansonsten steht der Oscar für das, was Du gerne beschimpfst, nämlich eine Art Mittelmaß, und zwar in dem Sinn, dass das wirklich Geniale hier eigentlich fast nie ausgezeichnet wurde (bspw. Citizen Kane, 1941; Vertigo, 1958; Taxi Driver, 1976; Mulholland Drive, 2001), und das über die gesamte Zeit der Oscarverleihungen hinweg.


    Eine Verklärung der Vergangenheit ist jedenfalls auch bei den Gütesiegeln nicht angebracht.

  • Eine Verklärung der Vergangenheit ist jedenfalls auch bei den Gütesiegeln nicht angebracht.

    D' accord.

    Ich danke (und das ist nicht ironisch gemeint) für die Belehrung.

    Daß der Oscar heutzutage keine Aussagekraft hat, war mir bekannt, aber das das immer schon so war - bislang nicht. So werde ich von mal zu mal klüger und gebildeter - bis es eines Tages nicht mehr auszuhalten ist......:hello:


    LG

    Alfred

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