Nabucco (Verdi), Hamburgische Staatsoper, 19.09.2010

  • Es war die 4. von mir seit 1964 gesehene Nabucco-Aufführung und die zweite der Anfang des Jahres erstaufgeführten Serebrennikov-Inszenierung. Dazwischen lag nur eine Gruber-Inszenierung im Jahre 2004 mit einer nicht erträglichen Abigaille (Georgina Lucacs), aber auch die beiden anderen Sängerinnen (Edith Lang und im Frühjahr Oksana Dyka) erfüllten nicht die Erwartungen, die man bei dieser, zugegebenermaßen sehr schweren Rolle hat. Heute riss die Sopranistin Liudmyla Monastyrska alles heraus und lieferte sängerisch und darstellerisch eine Bilderbuch-Abigaille. Mit einem Bombenvolumen und großer Strahlkraft ausgestattet, bewältigte sie die technisch hohen Anforderungen dieser Partie mit Bravour, ihre Spitzenattacke überzeugte (ihre ganz hohe Höhe verlor vielleicht etwas an Farbe, aber ohne schrill zu werden), die geforderten exorbitanten Tonsprünge meisterte sie tadellos, vor allem auch mit vollem Klang in der Tiefe. Darüber hinaus verfügte sie im Mezzopiano über eine weich fließende Tonemission, welche die Seele berühren konnte (ihr Sterbegesang z.B.).


    Der Bariton Dimitri Platanias sang wieder den Nabucco, schönstimmig und, gezielt eingesetzt, mit im Forte großer Strahlkraft. Wenn auch der Zacharias der Frühjahrsaufführung (Alexander Vinogradov) eingesetzt worden wäre, hätte es eine Sternstunde des Opergesangs werden können. Leider hatte Tigran Martirossian einen schlechten Tag oder seine ohnehin nicht sehr weit tragende Stimme war mit den Erfordernissen dieser Rolle schlichtweg überfordert. Martirossian war zu leise, seinem Bass fehlte der tragende Kern, in der häufiger geforderten Tiefe wurde die Stimme zudem schwach und farblos. Dabei wurde er nicht vom Orchester zugedeckt, denn der Dirigent Paolo Carignani nahm durchaus Rücksicht auf den Sänger. Jedenfalls mehr als auf Dovlet Nurgeldiyev (Ismaele), dessen schöner, wohlklingender Tenor hier zum Teil an seine physischen Grenzen stößt. Fenena wurde von Nadezhda Karyazina gesungen. Ihr starker Mezzo konnte mit dem Sopran von Monastyrska von der Lautstärke her durchaus konkurrieren. Vielleicht hätte sie ihre an sich schöne Stimme etwas zurückfahren können, um mit Nurgeldiyevs Ismaele, den sie ja liebt, harmonischer zusammen zu klingen. Da passte Nurgeldiyevs Stimme besser zum betörenden Mezzoforte Monastyrskas. Aber das hat Verdi ja offenbar so gewollt. Die Nebenrollen waren gut mit Martin Summer (Oberpriester), Hiroshi Amako (Abdallo) und Na’ama Shulman (Anna) besetzt. Die Orchesterleistung gefiel mir insgesamt nicht so, es schleppte sich manchmal nur so dahin. Das lag wohl eher nicht am Orchester, sondern am Dirigat oder war vielleicht auch von der Inszenierung her gewollt, um dem gefühlswallenden Verdiduktus die Kraft zugunsten der Nebenhandlung zu nehmen.


    Diese Nebenhandlung nimmt etwa 20% der Aufführungsdauer in Anspruch. Es handelt sich u.a. um Musikeinlagen vor dem herabgelassenen Vorhang, um sog. Intermedien (Hana Alkourbah, Gesang, und Abed Harsony, Gesang und Oud), zu denen Flüchtlingsschicksale auf eine herabgelassene Leinwand projeziert werden. Es ist ein schwieriges Thema, dem sich das Publikum nicht entziehen kann. Beim zweiten Sehen dieser Inszenierung kam mir heute durchaus der Gedanke, das Serebrennikov hier doch das traurige Schicksal der gezeigten Menschen (über-)ästhetisiert und den Zuschauer in eine leicht peinliche Situation bringt. Ich will nicht verschweigen, dass der Auftritt der (echten) Flüchtlinge, die den Gefangenenchor „Va pensiero“ a capella vor dem Vorhang wiederholen, auch mich berührt hat. Was sollen aber die Flüchtlinge, wenn sie wirkliche Flüchtlinge sind, von denen da unten denken, die für ihre Abendunterhaltung 50 bis 100 Euro je Karte ausgegeben haben? Das Publikum jubelt ihnen jedenfalls zu. Es ist aber wohl auch diese Politisierung des Stücks durch Serebrennikov, welche ein Publikum in das Haus holt, welches sonst nicht so opernaffin ist. Das zeigt sich auch daran, dass die herausragenden gesanglichen Leistungen von Monastyrska und Platanias wohl gewürdigt, aber nicht eigentlich bejubelt wurden. Mit diesem Stück kann die Hamburgische Staatsoper aber gut das Haus füllen. Für die heutige und für die vier folgenden Vorstellungen gibt es nur noch wenige Karten.

    Oper lebt von den Stimmen, Stimmenbeurteilung bleibt subjektiv

  • Lieber Ralf Reck, erneut danke ich Dir für Deinen ausführlichen Bericht und Deine Gedanken zur Inszenierung. Es grüßt Hans

    ..., eine spe*ifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifi*ierbar.
    -- Aydan Ö*oğu*

  • Leider hatte Tigran Martirossian einen schlechten Tag oder seine ohnehin nicht sehr weit tragende Stimme war mit den Erfordernissen dieser Rolle schlichtweg überfordert. Martirossian war zu leise, seinem Bass fehlte der tragende Kern, in der häufiger geforderten Tiefe wurde die Stimme zudem schwach und farblos.

    Ein Manko, welches mir bei ihm leider immer wieder auffällt; z.B. als Sparafucile, als Fasolt, als Kontschak (in Knjaz Igor) oder als Mephisto: Das ist zwar immer einigermaßen solide, aber für ein großes Haus, wie die Staatsoper Hamburg eigentlich zu wenig.

    Beim zweiten Sehen dieser Inszenierung kam mir heute durchaus der Gedanke, das Serebrennikov hier doch das traurige Schicksal der gezeigten Menschen (über-)ästhetisiert und den Zuschauer in eine leicht peinliche Situation bringt. Ich will nicht verschweigen, dass der Auftritt der (echten) Flüchtlinge, die den Gefangenenchor „Va pensiero“ a capella vor dem Vorhang wiederholen, auch mich berührt hat. Was sollen aber die Flüchtlinge, wenn sie wirkliche Flüchtlinge sind, von denen da unten denken, die für ihre Abendunterhaltung 50 bis 100 Euro je Karte ausgegeben haben? Das Publikum jubelt ihnen jedenfalls zu.

    Natürlich sind die gezeigten Bilder, es handelt sich ja um Arbeiten des Pulitzer-Preisträgers für aktuelle Nachrichtenfotografie Sergey Ponomarev [Wikipedia; aufgerufen am 21.09.2019], trotz ihrer peinvollen Unmittelbarkeit auch ästhetisch. Aber alles andere wäre heutzutage angesichts der zur Verfügung stehenden Technik auch einfach unglaubwürdig. Jeder von uns kennt solche Bilder inzwischen aus Print und TV, und die Situation wird möglicherweise nur deshalb als "peinlich" empfunden, weil das Betrachten dieser Bilder nicht privat, sondern quasi öffentlich geschieht: Es ist ein wenig so - und man verzeihe mir diesen Vergleich, dass ich mich nackt einigermaßen unbefangen vor meinem Ehegatten oder meinem Arzt bewegen kann, aber dies nicht mehr tun kann, wenn beide zugleich im Raum sind.

    Weiter ist Frage, ob es wirklich von Interesse ist, was die Flüchtlinge auf der Bühne über uns denken? Wichtiger ist doch, was wir in diesem Moment eigentlich denken und ob wir in der Lage sind bzw. sein werden, die Ergebnisse dieser Gedanken in Handlungen umzusetzen, die es zukünftig unmöglich machen, dass hunderte von Menschen einfach so im Mittelmeer ertrinken. Ich denke, Serebrennikovs Inszenierung arbeitet mit einer Form der Umkehr des "klassischen" Ihr da oben, wir hier unten: Plötzlich sind es die Flüchtlinge, die oben (auf der Bühne) sind und wir unten im Parkett haben die Konfrontation, für die wir sogar bezahlt haben, zu ertragen. Denn immerhin, und auch das zeigt die Inszenierung ja ganz deutlich, sind wir, die wir das Geld und die Macht haben, ja sogar trotz eines eventuell vorhandenen guten Willens nicht in der Lage, das Leid der Flüchlinge zu mildern. Genauso, wie Zaccaria oder der am Ende "geläuterte" Nabucco an jedem gestorbenen aus der Heimat Verschleppten oder Flüchtling gescheitert ist, so scheitert der UN-Sicherheitsrat, auf den die Inszenierung ja rekurriert, heute an jedem ertrunkenen Flüchtling. - Und vielleicht sind dann 50 bis 100 Euro für eine Abendunterhaltung sogar noch viel zu billig, um sich diese Ohrfeige abzuholen ...

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.