Erich Wolfgang Korngold gehört nicht zu den bedeutenden Liedkomponisten deutscher Sprache. Das liegt nicht an der Zahl der Lieder, die er hinterlassen hat, immerhin sind es sechzig, es liegt auch nicht daran, dass diese nicht ansprechend und von hoher kompositorischer Qualität wären. Das ist bei vielen von ihnen durchaus der Fall. Seinen Grund hat das in einem anderen Sachverhalt: Er vermochte keine originäre, einen hohen Grad an Eigenständigkeit und Innovation beinhaltende Liedsprache zu entwickeln. Hinzu kommt, seine Lieder wie sein gesamtes kompositorisches Schaffen betreffend, das, was man wegen seiner Auffälligkeit das „Korngold-Phänomen“ nennen möchte: Er wurde von einem zu seinen Lebzeiten hoch gefeierten und bewunderten zu einem danach völlig in Vergessenheit geratenen Komponisten. Auch wenn sein Werk in jüngster Zeit wieder ansatzweise zum Vorschein kommt, eine wirkliche Wiederkehr kann man das nicht nennen.
Was seine Lieder anbelangt, so täte man ihnen unrecht, wenn man sie als Begleitprodukte seines sonstigen kompositorischen Schaffens betrachtete. Auch wenn einige von ihnen aus familiärem Anlass entstanden sind, Korngold hat sein ganzes Leben lang immer wieder Lieder komponiert, so dass man davon ausgehen kann, dass es ihm ein wesentliches Anliegen war, sich in den Gedanken und Empfindungen, die sich in der Rezeption von lyrischen Texten einstellen, über das Medium der Musik personal auszudrücken. Und damit fing er erstaunlich früh an, und das in einer noch erstaunlicheren kompositorischen Perfektion. Drei von den Liedern des 1916 publizierten Opus 9 waren Bestandteil eines Geburtstagsgeschenks in Gestalt von 12 Liedern, das dem Vater am 12. Dezember 1910 überreicht wurde. Das früheste erhalten gebliebene Lied stammt aus dem Jahr 1905. Da war Korngold gerade mal acht Jahre alt.
Der Vater lehnte das Geburtstagsgeschenk ab. Und mit der Erwähnung dieses Ereignisses ist man bei einem für die künstlerisch-kompositorische Biographie Erich Wolfgang Korngolds höchst bedeutsamen Sachverhalt: Dem tiefen Einfluss, den sein Vater Julius Korngold auf diese genommen hat.
Wie tiefreichend und weitgehend er war, ist in der in Literatur umstritten. Man muss ihn für nicht so gravierend halten, wie Ernst Krenek ihn einschätzte, dass es ihn aber gab, ist ein nicht bestreitbares Faktum. Krenek vertrat die Auffassung, dass es Erich Wolfgang Korngold nicht gelungen sei, „einen eigenen Kompositionsstil auszubilden, er vielmehr von seinem Vater dazu verdammt worden sei, am Stil seiner frühen Werke festzuhalten: „Einer Art substraussischen, überschwänglichen Gesprudels“.
Julius Korngold , der bei der „Neuen Freien Presse“ die Nachfolge Eduard Hanslicks antrat, war zu seiner Zeit der wohl mächtigste Musikkritiker Wiens, und er sah seine Lebensaufgabe darin, in einen, wie er selbst das formulierte, „vieljährigen Kampf gegen die Ausschreitungen der Neu- und Zeitmusik“ zu ziehen, womit er die musikalische Moderne, insbesondere die Neue Wiener Schule“, aber auch die „neue Sachlichkeit“, den „Neoklassizimus“, ja sogar den Jazz meinte.
Die Relevanz dieses biographischen Sachverhalts für den Gegenstand dieses Threads besteht darin, dass man in ihm wohl eine Erklärung für die Genese von Korngolds Liedmusik in ihrer spezifischen Eigenart finden kann. Die musikalische Ästhetik Julius Korngolds stellt in ihren grundlegenden Kategorien im Grunde eine Übernahme derjenigen dar, die Eduard Hanslick in seinem Werk „Vom musikalisch Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst 1854 in geschlossener Form vorgelegt hat.
Was die für die Liedmusik zentrale Kategorie „Melodik“ anbelangt, so ergibt sich für ihre Struktur und ihre Entfaltung eine normative Bindung an den „Rhythmus im Großen“. Sie ist in Folge davon geprägt durch „gegliederte Periode, Vorder- und Nachsatz, Symmetrie und Parallelismen“, wie Julius Korngold das formuliert hat.
Grundsätzlich, gültig also für jegliche Art von klassischer Musik, besteht musikalische Form für ihn also immer in einem Gefüge von symmetrisch angeordneten Teilen innerhalb einer tonalen Gesamtarchitektur.
Schaut man sich nun Erich Wolfgang Korngolds Liedkompositionen hinsichtlich ihrer Anlage und der spezifischen Eigenart der musikalischen Sprache an, dann stellt man fest:
Die von seinem Vater als zeitlos gültige Parameter für klassische Musik propagierten kompositorischen Leitlinien hat er hier – wie in seinen sinfonischen und kammermusikalischen Werken auch - übernommen, - und dies wohl nicht, weil der Vater ihm das aufgezwungen hat, sondern weil er sie selbst als solche akzeptierte. Geprägt ist seine Liedmusik grundsätzlich von einem symmetrischen Satz. Das Konzept des variierten Strophenliedes kommt bevorzugt zum Einsatz, wobei die melodischen Figuren der ersten Strophe in der Regel als Grundlage für die Variationen im weiteren Verlauf der Liedmusik dienen. Auch wenn sich Korngold in der Harmonisierung der Melodik große Freiheiten herausnimmt, so geschieht das doch im Rahmen einer grundsätzlich geltenden tonal ausgerichteten Kadenz-Harmonik.
„Mein musikalisches Glaubensbekenntnis heißt: der Einfall“, so bekannte Korngold 1926 in einem Interview mit dem „Neuen Wiener Tagblatt“. Der „Einfall“ stelle die Seele der Musik dar, und ohne ihn nütze selbst „die künstlichste Konstruktion“ und „die exakteste Musikmathematik“ nichts, das musikalische Werk sei wesenhaft seelenlos. Das gilt auch für seine Liedmusik, und hört man sie unter der Maßgabe dieses kompositorischen Glaubensbekenntnisses, so stellt man fest:
Sie ist in der ihr zugrunde liegenden und sie prägenden Melodik in der Tat zumeist sehr einfallsreich.
Allerdings handhabt er sie kompositorisch auch nach den Prinzipien, wie sie der Vater Julius vorgeben hat. Die Melodik hält er zwar für das „Primäre“ in der Musik, aber sie kann erst zu mehr als eine „Aneinanderreihung von Tönen“ werden, wenn die Harmonik als das musikalisch „Sekundäre“ mit ihr in Verbindung trete. Erst dann können sich die so wichtigen harmonischen Fortschreitungen ereignen, und „sie sind das Geheimnis jeder sinnvollen, lebendigen Musikrede, wie die von innen getriebene Bewegungsenergie Geheimnis der sinn- und lebensvollen Melodie ist.“
Gut, dass Erich Wolfgang Korngold diese Worte seines Vaters beherzigt hat, so möchte man denken, wenn man seinen Liedern lauscht. Sie beziehen ihren zuweilen berückenden klanglichen Zauber tatsächlich aus den harmonischen Fortschreitungen der – dem „Einfall“ zu verdankenden - melodischen Figur, wie sie sich für gewöhnlich gleich am Anfang der Liedmusik präsentiert.
Die Harmonik ist für ihn das maßgebliche liedkompositorische Ausdrucksmittel, was das Erfassen des semantischen und speziell des affektiven Gehalts der lyrischen Aussage und ihrer Metaphorik anbelangt. In den einzelnen Liedern ereignen sich deshalb oft im Quintenzirkel weit ausgreifende Sprünge und Modulationen, am Ende, spätestens im letzten Takt und im Schlussakkord, lässt er die Harmonik in der Regel aber wieder zur vorab angegebenen Grundtonart zurückkehren.
Seine Liedmusik wirkt dabei wie der Versuch, das Ausdruckspotential der Tonalität bis zu seiner Grenze hin auszuloten, ohne diese dabei aber wirklich zu überschreiten.
Anmerkung:
Dieser Thread verdankt sein Entstehen einer Anfrage, die unser Mitglied greghauser2002 an mich richtete. Sie betraf eine Aufnahme der Orchesterfassung von vier Liedern aus Korngolds Opus 9 mit Barbara Hendricks als Interpretin.
Ich aber sah mich nicht der Lage, seiner Bitte um ein Urteil nachzukommen, weil mir der Liedkomponist Korngold völlig unbekannt war. Nicht ein einziges Lied kannte ich von ihm, und von seinen sonstigen Kompositionen nur die „Tote Stadt“.
Das wurde für mich zum Anreiz, mich mit diesem Erich Wolfgang Korngold etwas näher zu befassen. Schwerpunkt war dabei natürlich sein liedkompositorisches Schaffen, aber ich versuchte auch Zugang zu seinen Instrumentalwerken zu finden.
Was dabei herausgekommen ist, die nachfolgenden Liedbesprechungen, sie wollen nur einen Einblick in die spezifische kompositorische Eigenart und die Klanglichkeit seiner Liedmusik geben. Schon von ihrer Zahl her können sie nicht den Anspruch erheben, Korngolds liedkompositorisches Werk in repräsentativer Weise darzustellen.
In den nachfolgenden Liedbetrachtungen stütze ich mich auf die 2015 erschienene Doppel-CD:
Erich Wolfgang Korngold, Complete Songs, Sämtliche Lieder, Capriccio, C 5252