Erich Wolfgang Korngold. Eine Auswahl seiner Lieder in analytischer Betrachtung

  • Erich Wolfgang Korngold gehört nicht zu den bedeutenden Liedkomponisten deutscher Sprache. Das liegt nicht an der Zahl der Lieder, die er hinterlassen hat, immerhin sind es sechzig, es liegt auch nicht daran, dass diese nicht ansprechend und von hoher kompositorischer Qualität wären. Das ist bei vielen von ihnen durchaus der Fall. Seinen Grund hat das in einem anderen Sachverhalt: Er vermochte keine originäre, einen hohen Grad an Eigenständigkeit und Innovation beinhaltende Liedsprache zu entwickeln. Hinzu kommt, seine Lieder wie sein gesamtes kompositorisches Schaffen betreffend, das, was man wegen seiner Auffälligkeit das „Korngold-Phänomen“ nennen möchte: Er wurde von einem zu seinen Lebzeiten hoch gefeierten und bewunderten zu einem danach völlig in Vergessenheit geratenen Komponisten. Auch wenn sein Werk in jüngster Zeit wieder ansatzweise zum Vorschein kommt, eine wirkliche Wiederkehr kann man das nicht nennen.

    Was seine Lieder anbelangt, so täte man ihnen unrecht, wenn man sie als Begleitprodukte seines sonstigen kompositorischen Schaffens betrachtete. Auch wenn einige von ihnen aus familiärem Anlass entstanden sind, Korngold hat sein ganzes Leben lang immer wieder Lieder komponiert, so dass man davon ausgehen kann, dass es ihm ein wesentliches Anliegen war, sich in den Gedanken und Empfindungen, die sich in der Rezeption von lyrischen Texten einstellen, über das Medium der Musik personal auszudrücken. Und damit fing er erstaunlich früh an, und das in einer noch erstaunlicheren kompositorischen Perfektion. Drei von den Liedern des 1916 publizierten Opus 9 waren Bestandteil eines Geburtstagsgeschenks in Gestalt von 12 Liedern, das dem Vater am 12. Dezember 1910 überreicht wurde. Das früheste erhalten gebliebene Lied stammt aus dem Jahr 1905. Da war Korngold gerade mal acht Jahre alt.

    Der Vater lehnte das Geburtstagsgeschenk ab. Und mit der Erwähnung dieses Ereignisses ist man bei einem für die künstlerisch-kompositorische Biographie Erich Wolfgang Korngolds höchst bedeutsamen Sachverhalt: Dem tiefen Einfluss, den sein Vater Julius Korngold auf diese genommen hat.
    Wie tiefreichend und weitgehend er war, ist in der in Literatur umstritten. Man muss ihn für nicht so gravierend halten, wie Ernst Krenek ihn einschätzte, dass es ihn aber gab, ist ein nicht bestreitbares Faktum. Krenek vertrat die Auffassung, dass es Erich Wolfgang Korngold nicht gelungen sei, „einen eigenen Kompositionsstil auszubilden, er vielmehr von seinem Vater dazu verdammt worden sei, am Stil seiner frühen Werke festzuhalten: „Einer Art substraussischen, überschwänglichen Gesprudels“.
    Julius Korngold , der bei der „Neuen Freien Presse“ die Nachfolge Eduard Hanslicks antrat, war zu seiner Zeit der wohl mächtigste Musikkritiker Wiens, und er sah seine Lebensaufgabe darin, in einen, wie er selbst das formulierte, „vieljährigen Kampf gegen die Ausschreitungen der Neu- und Zeitmusik“ zu ziehen, womit er die musikalische Moderne, insbesondere die Neue Wiener Schule“, aber auch die „neue Sachlichkeit“, den „Neoklassizimus“, ja sogar den Jazz meinte.

    Die Relevanz dieses biographischen Sachverhalts für den Gegenstand dieses Threads besteht darin, dass man in ihm wohl eine Erklärung für die Genese von Korngolds Liedmusik in ihrer spezifischen Eigenart finden kann. Die musikalische Ästhetik Julius Korngolds stellt in ihren grundlegenden Kategorien im Grunde eine Übernahme derjenigen dar, die Eduard Hanslick in seinem Werk „Vom musikalisch Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst 1854 in geschlossener Form vorgelegt hat.
    Was die für die Liedmusik zentrale Kategorie „Melodik“ anbelangt, so ergibt sich für ihre Struktur und ihre Entfaltung eine normative Bindung an den „Rhythmus im Großen“. Sie ist in Folge davon geprägt durch „gegliederte Periode, Vorder- und Nachsatz, Symmetrie und Parallelismen“, wie Julius Korngold das formuliert hat.
    Grundsätzlich, gültig also für jegliche Art von klassischer Musik, besteht musikalische Form für ihn also immer in einem Gefüge von symmetrisch angeordneten Teilen innerhalb einer tonalen Gesamtarchitektur.

    Schaut man sich nun Erich Wolfgang Korngolds Liedkompositionen hinsichtlich ihrer Anlage und der spezifischen Eigenart der musikalischen Sprache an, dann stellt man fest:
    Die von seinem Vater als zeitlos gültige Parameter für klassische Musik propagierten kompositorischen Leitlinien hat er hier – wie in seinen sinfonischen und kammermusikalischen Werken auch - übernommen, - und dies wohl nicht, weil der Vater ihm das aufgezwungen hat, sondern weil er sie selbst als solche akzeptierte. Geprägt ist seine Liedmusik grundsätzlich von einem symmetrischen Satz. Das Konzept des variierten Strophenliedes kommt bevorzugt zum Einsatz, wobei die melodischen Figuren der ersten Strophe in der Regel als Grundlage für die Variationen im weiteren Verlauf der Liedmusik dienen. Auch wenn sich Korngold in der Harmonisierung der Melodik große Freiheiten herausnimmt, so geschieht das doch im Rahmen einer grundsätzlich geltenden tonal ausgerichteten Kadenz-Harmonik.

    „Mein musikalisches Glaubensbekenntnis heißt: der Einfall“, so bekannte Korngold 1926 in einem Interview mit dem „Neuen Wiener Tagblatt“. Der „Einfall“ stelle die Seele der Musik dar, und ohne ihn nütze selbst „die künstlichste Konstruktion“ und „die exakteste Musikmathematik“ nichts, das musikalische Werk sei wesenhaft seelenlos. Das gilt auch für seine Liedmusik, und hört man sie unter der Maßgabe dieses kompositorischen Glaubensbekenntnisses, so stellt man fest:
    Sie ist in der ihr zugrunde liegenden und sie prägenden Melodik in der Tat zumeist sehr einfallsreich.

    Allerdings handhabt er sie kompositorisch auch nach den Prinzipien, wie sie der Vater Julius vorgeben hat. Die Melodik hält er zwar für das „Primäre“ in der Musik, aber sie kann erst zu mehr als eine „Aneinanderreihung von Tönen“ werden, wenn die Harmonik als das musikalisch „Sekundäre“ mit ihr in Verbindung trete. Erst dann können sich die so wichtigen harmonischen Fortschreitungen ereignen, und „sie sind das Geheimnis jeder sinnvollen, lebendigen Musikrede, wie die von innen getriebene Bewegungsenergie Geheimnis der sinn- und lebensvollen Melodie ist.“

    Gut, dass Erich Wolfgang Korngold diese Worte seines Vaters beherzigt hat, so möchte man denken, wenn man seinen Liedern lauscht. Sie beziehen ihren zuweilen berückenden klanglichen Zauber tatsächlich aus den harmonischen Fortschreitungen der – dem „Einfall“ zu verdankenden - melodischen Figur, wie sie sich für gewöhnlich gleich am Anfang der Liedmusik präsentiert.

    Die Harmonik ist für ihn das maßgebliche liedkompositorische Ausdrucksmittel, was das Erfassen des semantischen und speziell des affektiven Gehalts der lyrischen Aussage und ihrer Metaphorik anbelangt. In den einzelnen Liedern ereignen sich deshalb oft im Quintenzirkel weit ausgreifende Sprünge und Modulationen, am Ende, spätestens im letzten Takt und im Schlussakkord, lässt er die Harmonik in der Regel aber wieder zur vorab angegebenen Grundtonart zurückkehren.
    Seine Liedmusik wirkt dabei wie der Versuch, das Ausdruckspotential der Tonalität bis zu seiner Grenze hin auszuloten, ohne diese dabei aber wirklich zu überschreiten.


    Anmerkung:
    Dieser Thread verdankt sein Entstehen einer Anfrage, die unser Mitglied greghauser2002 an mich richtete. Sie betraf eine Aufnahme der Orchesterfassung von vier Liedern aus Korngolds Opus 9 mit Barbara Hendricks als Interpretin.
    Ich aber sah mich nicht der Lage, seiner Bitte um ein Urteil nachzukommen, weil mir der Liedkomponist Korngold völlig unbekannt war. Nicht ein einziges Lied kannte ich von ihm, und von seinen sonstigen Kompositionen nur die „Tote Stadt“.
    Das wurde für mich zum Anreiz, mich mit diesem Erich Wolfgang Korngold etwas näher zu befassen. Schwerpunkt war dabei natürlich sein liedkompositorisches Schaffen, aber ich versuchte auch Zugang zu seinen Instrumentalwerken zu finden.

    Was dabei herausgekommen ist, die nachfolgenden Liedbesprechungen, sie wollen nur einen Einblick in die spezifische kompositorische Eigenart und die Klanglichkeit seiner Liedmusik geben. Schon von ihrer Zahl her können sie nicht den Anspruch erheben, Korngolds liedkompositorisches Werk in repräsentativer Weise darzustellen.


    In den nachfolgenden Liedbetrachtungen stütze ich mich auf die 2015 erschienene Doppel-CD:
    Erich Wolfgang Korngold, Complete Songs, Sämtliche Lieder, Capriccio, C 5252

  • Lieber Helmut Hofmann, ich freue mich sehr, daß Du zu Korngolds Liedern schreiben willst und bin neugierig auf Deine Analysen. Es grüßt Hans

    ..., eine spe*ifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifi*ierbar.
    -- Aydan Ö*oğu*

  • Da melde ich mich jetzt auch mal wieder und bedanke mich, werter Helmut! [Mit der Müllerin habe ich mich nicht mehr genauer auseinandergesetzt in der letzten Zeit und deswegen auf weitere Kommentare verzichtet. Mal sehen, was die Zukunft bringt.]


    Ich kenne insbesondere den kleinen Zyklus der Lieder des Abschieds von mehrmaligem Hören. Faszinierende Musik!


    :)Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Hab gar nicht mit solchen Bekundungen des Interesses an diesem Thread gerechnet. Umso erfreuter bin ich natürlich, lieber Hans Heukenkamp, WolfgangZ und Wilfried, über eure Beiträge.


    Wahrscheinlich werde ich Euch enttäuschen, denn ich habe mich wieder einmal abgrundtief in die Liedmusik von Korngold vergraben, statt mich auf die sie charakterisierenden und in ihrem Wesen erfassenden Feststellungen zu beschränken.

    Aber ich werde, wie ich das ja auch beim Schöne-Müllerin-Thread gehalten habe, die liedanalytischen Betrachtungen portioniert hier einstellen, in der Hoffnung, dass man darin die in diesem Sinne relevanten Aussagen jeweils herauslesen kann.


    Ich bitte um Verständnis für meine Überzeugung, dass man ein Urteil über Liedmusik - und klassische Musik ganz allgemein - auf eine analytische Betrachtung ihrer kompositorischen Faktur stützen muss, wenn es denn eine sachlich fundierte Gültigkeit beanspruchen will.

  • Anmerkung:
    Dieser Thread verdankt sein Entstehen einer Anfrage, die unser Mitglied greghauser2002 an mich richtete. Sie betraf eine Aufnahme der Orchesterfassung von vier Liedern aus Korngolds Opus 9 mit Barbara Hendricks als Interpretin.
    Ich aber sah mich nicht der Lage, seiner Bitte um ein Urteil nachzukommen, weil mir der Liedkomponist Korngold völlig unbekannt war. Nicht ein einziges Lied kannte ich von ihm, und von seinen sonstigen Kompositionen nur die „Tote Stadt“.
    Das wurde für mich zum Anreiz, mich mit diesem Erich Wolfgang Korngold etwas näher zu befassen. Schwerpunkt war dabei natürlich sein liedkompositorisches Schaffen, aber ich versuchte auch Zugang zu seinen Instrumentalwerken zu finden.

    Was dabei herausgekommen ist, die nachfolgenden Liedbesprechungen, sie wollen nur einen Einblick in die spezifische kompositorische Eigenart und die Klanglichkeit seiner Liedmusik geben. Schon von ihrer Zahl her können sie nicht den Anspruch erheben, Korngolds liedkompositorisches Werk in repräsentativer Weise darzustellen.

    Ich kann mich gut an die Anfrage erinnern und auch darauf, dass du uns versprochen hast, dich mit Korngold auseinanderzusetzen, lieber Helmut Hofmann. Wunderbar, dass du nun deine gewonnenen Erkenntnisse vorstellst. Ich freue mich auf lehrreiche Lesestunden (denn solche werden es wohl werden, ich bin kein schneller Leser ...)! Und enttäuschen wirst du hier wohl sicher niemand.

  • Ja, ich hatte es Dir versprochen, lieber greghauser, und Deine damalige Bitte hat sich als glückliche Fügung erwiesen: Ich habe Korngolds Lieder kennengelernt.

  • „Schneeglöckchen“, op.9, Nr.1

    's war doch wie ein leises Singen
    in dem Garten heute Nacht,
    wie wenn laue Lüfte gingen:
    "Süße Glöcklein, nun erwacht;
    denn die warme Zeit wir bringen,
    eh's noch jemand hat gedacht."

    's war kein Singen, s'war ein Küßen,
    rührt die stillen Glöcklein sacht,
    daß sie alle tönen müssen
    von der künft'gen bunten Pracht!

    Ach, sie konnten's nicht erwarten,
    aber weiß vom letzten Schnee
    war noch immer Feld und Garten,
    und sie sanken um vor Weh.

    So schon manche Dichter streckten
    sangesmüde sich hinab,
    und der Frühling, den sie weckten,
    rauschet über ihrem Grab.

    (Joseph von Eichendorff)

    In ihrer durchweg gleichen Anlage aus vierfüßigen, im Kreuzreim miteinander verbundenen Versen entfalten die vier Strophen, von denen sich die einleitende durch sechs statt vier Versen von den anderen abhebt, das idyllische Bild von den sich dem Winter entringenden und den Frühling ankündigenden Schneeglöckchen.
    Idyllisch ist diese Metaphorik, weil Eichendorff sie auf eine für ihn eigentlich ungewöhnliche Weise, das reale du wesenhaft stille Schneeglöckchen zu einem tönenden Glockenwesen machend, auf den Aspekt „Singen“, tönende Musik also abstellt. Das aber enthüllt alsbald seinen tieferen Sinn und entreißt diese Lyrik dem Verdacht von Kitsch. Denn die da tönen und singen, und es gar nicht erwarten konnten, sich damit in den immer noch von Schnee bedeckten Feldern und Gärten hervor zu wagen, enthüllen sich in der letzten Strophe als Metapher für den Dichter, der, Sänger wie sie, zur Unzeit geistigen Frühling wecken will, und wie sie ins Grab sinkt, über das der, und das ohne das Zutun all dieser „Sänger“, tatsächlich dann aufkommende Frühling ganz einfach hinweg rauscht.

    Ein durchaus tiefsinniges, weil in seiner Metaphorik hintergründiges Gedicht liegt hier vor, - hintergründig, weil sich in dem Bruch, der sich in seiner Aussage ereignet, die naturhafte Schneeglöckchen-Idyllik als Fassade erweist. Für einen Liedkomponisten stellt es in eben dieser seiner spezifischen Eigenschaft eine Gefahr dar: Er könnte, von dem in den beiden ersten Strophen entworfenen lyrischen Bild in Bann geschlagen, der Idyllik erliegen und dem darin sich ereignenden Bruch nicht hinreichend gerecht werden. Für einen ernsthaften und um zeitgemäß gültige musikalische Aussage sich mühenden Komponisten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sollte das eigentlich eine Entfaltung der Liedmusik in ungebrochen idyllischer Melodik und rein diatonischer Harmonik ausschließen.

    Wie ist das nun mit dem noch jungen, damals gerade mal vierzehn Jahre alten Erich Wolfgang Korngold, der sich diesen Versen im Jahre 1911 kompositorisch widmete?
    Zunächst einmal hört man es in seiner handwerklich-kompositorischen Perfektion als dokumentarischen Beleg für die Historizität des Phänomens „Wunderkind Korngold“. In der berückenden Schönheit seiner vom Klavier sanft umspielten Melodik ist es zweifellos beeindruckend. Aber die jenseits dieses subjektiven Höreindrucks sich stellende Frage ist ja doch:
    Was macht die Liedmusik mit dem lyrischen Text und seiner Aussage? Erfasst sie deren um die Problematik dichterischen Schaffens kreisende Untergründigkeit?
    Dem soll in Gestalt einer sich auf die diesbezüglich relevanten Elemente ihrer Faktur richtenden Betrachtung der Liedmusik nachgegangen werden.


  • „Schneglöckchen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Formal betrachtet handelt es sich hier um ein – von Korngold als Grundmodell zumeist eingesetztes - variiertes Strophenlied, dem ein zwischen vier und drei Vierteln pendelndes Metrum zugrunde liegt. Es steht in F-Dur als Grundtonart und soll „ruhig fließend“ vorgetragen werden. Die melodische Linie setzt noch während des ersten Taktes mit seinen wiegend anmutenden, im Halbton-Sekundschritt auf und ab sich entfaltenden partiell bitonalen Achtelfiguren ein, die in ihrer zwischen F-Dur und des-Moll schillernden Chromatik eine zart idyllische Klanglichkeit entfalten und darin sich als prägend für den Charakter der ganzen Liedmusik erweisen. Diese Entfaltung im Hin und Her zwischen Einzel-Achtel und Achtel-Akkord im Intervall von zumeist kleinen, zwischen Ganz- und Halbton pendelnden Schritten macht die Grundstruktur des ganzen Klaviersatzes aus.

    Er erweist sich darin als vordringlich auf eine die melodische Linie einbettende und tragende Klanglichkeit abgestellt. Zwar folgt er zumeist ihren Bewegungen, lässt deren Figuren auch immer wieder einmal in deren kleinen Pausen wie im Nachhinein erklingen, er tritt aber nie auf eigenständige Weise in ein dialogisches Verhältnis zu ihr ein. Was er allerdings leistet, das ist eine Akzentuierung ihrer Aussage mit seinen klanglichen Mitteln. Das geschieht in Gestalt einer Anreicherung mit dreistimmigen Akkorden immer dort, wo die Metaphorik des lyrischen Textes einen hohen affektiven Gehalt aufweist. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist aber, dass bei den im Rahmen des Strophenlied-Konzepts sich ereignenden melodischen Wiederholungen die Möglichkeit der Variation des Klaviersatzes nicht genutzt wird.
    Das Prinzip der Variation von vorgegebenen Figuren in Melodik und Klaviersatz kommt in dieser Liedmusik nicht zur Anwendung. Und es wird sich zeigen, dass es darin repräsentativ für das liedkompositorische Grundkonzept Korngolds ist.

    Und hinsichtlich der Struktur der Melodik dieses Liedes lässt sich diese Feststellung der Repräsentativität ebenfalls treffen. Sie lässt in ihrer Anlage die zwei Grundprinzipien erkennen, an denen Korngold sich offensichtlich durchweg orientiert: Periodizität und Symmetrie. Die Melodik der ersten Strophe, die in der zweiten unverändert wiederkehrt und in der vierten erst beim letzten Vers eine Variation erfährt, besteht, strukturell betrachtet, aus der permanenten Wiederkehr des Motivs, das auf den Worten „'s war doch wie ein leises Singen“ und „in dem Garten heute Nacht“ liegt. Die in den vier durch kurze und längere Pausen voneinander abgehobenen Melodiezeilen sich ereignenden melodischen Bewegungen muten wie eine Neufassung dieses Motive nach dem Prinzip der Variation an, denn sie setzen alle wie dieses ein: Mit dem auftaktigen Achtel-Sekundsprung wie er auf den Worten „´s war“ liegt. Nur dass dieser Einsatz dann auf unterschiedlichen tonalen Ebenen erfolgt.

    Man kann deshalb von einer identischen Struktur der Melodik in den jeweils ein Verpaar beinhaltenden Zeilen sprechen, weil die melodische Linie allemal die gleiche Grundbewegung beschreibt: Nach dem einleitenden Sekundsprung erfolgt ein in verschiedenen Varianten sich ereignender Anstieg, der in einen in einer Dehnung endenden Fall übergeht. Die Bewegung auf dem zweiten Vers wirkt dabei wie eine Fortsetzung und Zu-Ende-Führen derjenigen, die auf dem ersten stattfindet, und dies deshalb, weil der in einer Dehnung am Ende mündende Fall mit einer Rückung in die Tonika einhergeht. So ist das bei der ersten und der zweiten Melodiezeile.

    Dabei verfährt Korngold, was den Einsatz der Harmonik anbelangt, durchaus kunstvoll. Der klangliche Reiz, der der Melodik innewohnt, kommt nicht nur durch dieses immer wieder in ähnlicher Weise sich wiederholende Ansteigen und in einer über einen Fall erfolgende Ende in einer Dehnung zustande, die Harmonisierung spielt dabei jeweils eine bedeutende Rolle. So setzt die erste Melodiezeile in F-Dur ein, das bei dem Fall auf „singen“ über eine kurze f-Moll-Zwischenrückung in die Dominante C-Dur übergeht. Das Auf und Ab zwischen einem As und einem B im Bass verleiht dem Wort „Singen“ die Anmutung eines geheimnisvollen Zaubers. Der melodische Anstieg auf den Worten „in dem Garten heute“, den das Klavier in Gestalt von bitonalen und dreistimmigen Akkorden im Diskant mitvollzieht, erfolgt nun nicht in Sprungbewegungen, sondern in partiell verminderten Sekundschritten, und er ist in Es-Dur harmonisiert, das bei dem nun über ein größeres Intervall (keine Quarte, sondern nun eine Quinte) erfolgenden Fall bei „Nacht“ zur Tonika F-Dur übergeht.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Schneglöckchen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Die Melodik auf dem dritten Vers ist wieder in Es-Dur mit Rückung nach As-Dur harmonisiert, und sie weicht am Ende vom bisherigen deklamatorischen Gestus ab, denn die Dehnung am Ende erfolgt nicht über einen Fall, sondern über einen kleinen Sekundanstieg in hoher Lage, und sie ist in verminderte Des-Harmonik gebettet, was diesem lyrischen Bild von den „lauen Lüften“ wieder die Aura des Geheimnisvollen verleiht. Der Fall am Ende der Melodik auf den Worten „Süße Glöcklein, nun erwacht“ ist aber wieder mit der Rückung zur Tonika verbunden, und er ist überdies identisch mit dem bei „Nacht“. Auch der zuvor erfolgende Anstieg über kleine Sekundschritte und den verminderten Quartsprung bei „nun erwacht“ ist der gleiche.
    Korngold legt also die Melodik und ihre Harmonisierung tatsächlich nach den Prinzipien Periodizität und Symmetrie an.

    Die Worte „süße Glöcklein“ werden in Gestalt einer eigenen, durch eine vorangehende fast ganztaktige und eine nachfolgende Dreiachtelpause auf markante Weise hervorgehobenen kleinen Melodiezeile wiederholt. Die melodische Figur, auf der das geschieht, ein verminderter Sekundsprung in hoher Lage, der – wie üblich in dieser Melodik – in einen Fall mit nachfolgendem Sekundanstieg und Dehnung übergeht – wird vom Klavier vorgegeben, wodurch ihr hoher klanglicher Reiz, bedingt auch durch die Harmonisierung in der zum Dominantseptakkord gewandelten Tonika, eine Steigerung erfährt. Das Adjektiv „süß“ schlägt hier unüberhörbar auf die Liedmusik durch. Und Korngold lässt das wirken, indem die zugehörigen Worte „nun erwacht“ erst nach einer Zweiviertelpause, in der das Klavier seine zierlichen Achtelfiguren ausführt, auf einer melodischen Figur deklamiert werden, die erneut mit einem Achtelsekundsprung einsetzt und nach einem – nun über eine verminderte Terz erfolgenden – Fall in die übliche Dehnung übergeht. Die Harmonik beschreibt die eine ausdrucksstarke Rückung von Es-Dur nach D-Dur.

    Die melodische Linie auf den Schlussversen „denn die warme Zeit wir bringen, / eh's noch jemand hat gedacht“ bildet in ihren, wieder mit dem üblichen Sekundsprung nun in mittlerer Lage einsetzenden Bewegungen die Grundfigur des Anstiegs und Falls mit Dehnung nun in komplexerer, weil vielschrittiger Weise ab. Bei den Worten „eh´s doch“ ereignet sich eine Aufgipfelung in hoher Lage, danach erfolgt der Fall, dieses Mal über eine nun verminderte Septe, anschließend setzt aber noch einmal eine Anstiegsbewegung ein, bis sich dann bei dem Wort „gedacht“ der nun abschließende Fall über eine Terz mit Folgedehnung ereignet. Das Klavier folgt all diesen Bewegungen mit komplexen, weil mit vorgelagerten Einzeltönen angereicherten dreistimmigen Akkorden, und die Harmonik kommt erneut in Gestalt von ausdrucksstarken, die Aussage der Melodik akzentuierenden Rückungen zum Einsatz: Von einem anfänglichen G-Dur über die Dominante D-Dur hin zu einem e-Moll bei dem gedehnten melodischem Sekundsprung auf „jemand“ zu einem unerwarteten Fis-Dur bei der Fallfigur auf „gedacht“.

    Die Harmonik ist, so lässt dieses erste Lied bereits erkennen, für Korngold ein höchst bedeutsames liedkompositorisches Ausdrucksmittel, und er setzt es, sich darin als dem zwanzigsten Jahrhundert zugehörig erweisend, auf gleichsam radikale, den Quintenzirkel in extremen Sprüngen durchlaufende Weise ein. Dabei schreckt er – wie das nachfolgend vorzustellende Lied „Nachtzauber“ zeigen wird – auch nicht vor der klanglich schroffen Nutzung der Chromatik in Gestalt verminderter Harmonik zurück. Was er aber bei dieser in ihren Rückungen zuweilen extrem freizügigen Harmonisierung der Melodik strikt vermeidet, ist der Übergang zur Atonalität. Er testet gleichsam das Potential der Tonalität bis an deren Grenzen aus, überschreitet sie aber – wie sich zeigen wird – in gar keinem Fall.

    Die nach einer nur kurzen Pause (ein Achtel) einsetzende Melodik der dritten Strophe erweist sich wie eine Schwester der drei anderen, die gleichsam zeigen will, was in dem Potential der Figuren steckt, in denen sich deren Melodik entfaltet. Das tut sie, indem sie diese aufgreift und die jeweils zugrunde liegende Struktur im Ambitus ihrer Entfaltung ausweitet. Auf den Worten „Ach, sie konnten's nicht erwarten“ setzt sie mit dem üblichen Achtelsekundsprung nun in hoher Lage und C-Dur-Harmonisierung ein, geht nach einem Quintfall in einen Anstieg über, um nach einem neuerlichen Fall, nun sogar über eine Septe in der wiederum üblichen, nun über einen Sekundanstieg eingeleiteten Dehnung zu enden. Auch hier vollzieht das Klavier die melodische Bewegung mit, und dies, wie es das, von den wenigen Ausbrüchen in harmonische Chromatik abgesehen, durchweg tut, in Gestalt lieblich wirkender, weil terzenbetonter Akkorde. Und im kurzen Zwischenspiel lässt es die die zweite Fall- und Wiederanstiegsfigur der melodischen Linie in ihrer B-Dur-Harmonisierung noch einmal erklingen.
    (Fortsetzung folgt)

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  • „Schneglöckchen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Mit den Worten des zweiten und dritten Verses wird die kleine Katastrophe eingeleitet, die sich in der Metaphorik des Gedichts ereignet, und Korngolds Liedmusik reflektiert diesen lyrischen Sachverhalt durchaus. Bei „aber weiß vom letzten Schnee“ beschreibt die melodische Linie eine in tiefer Lage ansetzende Aufstiegsbewegung, die mit einem verminderten Sekundschritt eingeleitet und gegen Ende mit einem wiederum verminderten Terzschritt fortgesetzt wird, um wieder in der üblichen Dehnung zu enden. Harmonisiert ist diese melodische Bewegung in einem von dem vorangehenden D-Dur sich deutlich ansetzenden B-Dur. Auch die Melodik auf den Worten „war noch immer Feld und Garten“ ist von ungewöhnlichen deklamatorischen Schritten geprägt. Und nicht nur das: Sie weist ausdrucksstarke, weil über große Intervalle sich erstreckende Fall- und Anstiegsbewegungen auf. Auf dem Wort „immer“ liegt eine aus einem Quintfall hervorgehende lange Dehnung in Gestalt eines erweiterten und in e-Moll harmonisierten (von „E“ nach „Fis“) Sekundsprungs, auf „Garten“ ein – wieder in einer Dehnung endender – verminderter Septfall, der nun wieder in D-Dur-Harmonik gebettet ist.

    Das lyrische Wort „Weh“, in dem der vierte Vers endet, bewirkt, und das ist eigentlich erstaunlich angesichts seines affektiven Gehalts, keineswegs ein Versinken der melodischen Linie in Moll-Harmonik. Diese gibt es schon, in Gestalt eines e-Molls bei dem Quintfall mit nachfolgend gedehntem Sekundanstieg auf den Worten „sie sanken“. Danach geht die melodische Linie aber in einen Sekundanstieg über und endet bei den Worten „vor Weh“ in einer mit einem verminderten Sekundschritt eingeleiteten Dehnung auf der tonalen Ebene eines „Cis“ in hoher Lage, die mit einer ausdrucksstarken, weil das e-Moll stark aufhellenden Rückung nach Fis-Dur verbunden ist.

    Korngold fasst die Aussage dieses Verses durchaus in der kontextlichen Relativität auf, die Eichendorff ihr zugewiesen hat, denn das Bild verweist ja auf die Aussage des letzten Verses, in dem es um den lyrischen Kern des Gedichts geht: Den Dichter. Und hierin zeigt sich seine kompositorische Grundintention: Nicht einfach nur die lyrischen Bilder in ihrem affektiven Gehalt in Liedmusik umzusetzen, sondern die zentrale poetische Aussage zu erfassen, zu deren Zweck sie vom Dichter eingesetzt werden.

    Und eben deshalb weicht er in der letzten Strophe von seinem auf Wiederholung ausgerichteten Strophenlied-Konzept ab und geht, nachdem auf den ersten drei Versen erneut die unveränderte Liedmusik der Strophen eins und zwei erklingt, beim letzten Vers vom Prinzip der Wiederholung ab. Er wird beim zweiten Mal auf einer melodischen Linie und einer Harmonisierung deklamiert, die wie ein geradezu gewaltsamer Ausbruch aus dem Geist der vorangehenden Liedmusik anmutet. Auf den Worten „rauschet über ihrem Grab“ liegt beim ersten Mal auf dem Wort „über“ ein aus einem verminderten Sekundsprung und einem nachfolgend ebenfalls verminderten Quartfall hervorgehender gedehnter und erweiterter („Des“ zu „F“) Sekundanstieg der in As-Dur gebettet ist. Er geht nach einem Sekundanstieg bei dem Wort „Grab“ in einen Fall über eine Quinte hinab zu einem tiefen gedehnten „Des“ über, das in verminderte Des-Harmonik gebettet ist.

    Dabei bleib es aber nicht, was die Steigerung der Liedmusik zu hoher Expressivität an ihrem Ende anbelangt. Bei der Wiederholung der Worte des letzten Verses beschreibt die melodische Linie ein auf eine gedehnte Tonrepetition in mittlerer Lage folgendes Auf und Ab in Sprüngen über eine verminderte Quinte und eine Quarte, die allemal mit einer Fermate versehen und damit mit einem extremen deklamatorischen Gewicht versehen sind. Die Harmonik beschreibt in den sie dabei begleitenden Akkorden eine Folge von höchst ausdrucksstarken Rückungen zwischen verminderter Des- und Es-Tonalität. Und das Ganze endet dann in einer langen, den Takt überschreitenden Dehnung auf der tonalen Ebene eines tiefen „F“ bei dem Wort Grab.

    Aber das ist nun bemerkenswert, weil typisch und repräsentativ für Korngolds Liedkomposition. Diese Dehnung, wie auch das sich anschließende Nachspiel aus ansteigenden bitonalen und partiell gedehnten Achtelakkorden ist, nach diesem Ausbruch der Harmonik in extrem tonale Chromatik in die Grundtonart F-Dur gebettet. Über die Grenze der Tonalität will er sich nicht hinauswagen.

  • „Nachtwanderer“, Op.9, Nr.2

    Er reitet nachts auf einem braunen Roß,
    Er reitet vorüber an manchem Schloß:
    Schlaf droben, mein Kind, bis der Tag erscheint,
    Die finstre Nacht ist des Menschen Feind!

    Er reitet vorüber an einem Teich,
    Da stehet ein schönes Mädchen bleich
    Und singt, ihr Hemdlein flattert im Wind:
    Vorüber, vorüber, mir graut vor dem Kind!

    Er reitet vorüber an einem Fluß,
    Da ruft ihm der Wassermann seinen Gruß,
    Taucht wieder unter dann mit Gesaus,
    Und stille wird's über dem kühlen Haus.

    Wann Tag und Nacht in verworrenem Streit,
    Schon Hähne krähen im Dorfe weit,
    Da schauert sein Roß und wühlet hinab,
    Scharret ihm schnaubend sein eigenes Grab.

    (Joseph von Eichendorff)

    Die Nacht ist bei Eichendorff der Inbegriff von „Zwielichtigkeit“. Sie kann Ort der Geborgenheit sein, weil Urgrund alles Seins, zu dem das Ich zurück möchte. Aus diesem Grund finden sich bei ihm auch Verse wie „Wie schön, hier zu verträumen / Die Nacht im stillen Wald, / Wenn in den dunklen Bäumen / Das alte Märchen hallt“. Aber Nacht ist auch Inbegriff der existenziellen Gefährdung: Sie kann „des Menschen Feind“ sein, weil sie die Gefahr der Entgrenzung und damit des Verlusts der Individuation in sich birgt.

    Davon spricht dieses Gedicht. Der wilde Reiter, den dieses balladenhafte Gedicht zum Gegenstand hat, ist eine gespenstische Figur, die ziellos auf ihrem Pferd durch die Nacht irrt. Drei Mal beginnen die Strophen mit den Worten „Er reitet“. Das tut dieses geisterhafte Wesen ohne jegliches Ziel. Immer wieder ist da das Wort „vorüber“, das all den lyrischen Bildern eine bedrückende Flüchtigkeit verleiht. Und sie sind ja ihrerseits wie wesenlos flüchtig: Ein bleiches singendes Mädchen, dessen „Hemdlein“ im Wind flattert, ein „Wassermann“, der nach einem flüchtigen Gruß in die grenzenlose Tiefe seines Reiches abtaucht, - und danach wieder Stille.
    Gibt es schrecklichere Erfahrungen?

    Es ist das lyrische Wort „vorüber“, das explizit nicht nur fünf Mal auftaucht, sondern darüber hinaus alle lyrischen Bilder prägt, worin die Aussage dieses Gedichts letzten Endes wurzelt. Elementare Bedrohung durch die Mächte der Nacht, die Macht des Unbewussten also, - darum geht es lyrisch hier. Und das ereignet sich sprachlich-lyrisch als gleichsam atemlose Bewegtheit in der Abfolge der Bilder. Und am Ende steht das Grab.

    Vermag Korngolds Liedmusik die gespenstische Atmosphäre des von Eichendorff hier lyrisch entworfenen unheimlichen, weil in seiner Flüchtigkeit und Unfasslichkeit bedrohlichen Geschehens einzufangen und dabei zugleich den balladenhaften sprachlichen Gestus, in dem das geschieht, zu wahren? Denn darin besteht die Herausforderung, die dieses Gedicht für den Liedkomponisten mit sich bringt. Hans Pfitzner, der es ebenfalls in Musik gesetzt hat, vermochte das auf meisterhafte und beeindruckende Weise. (In diesem und den nachfolgenden Beiträgen ist das Lied besprochen: Hans Pfitzner und seine Lieder)

    Und um es gleich vorab festzustellen: Korngolds Komposition reicht, was die Auslotung der Metaphorik, die musikalische Evokation der Atmosphäre und das Erfassen der poetischen Aussage anbelangt, zwar nicht an Pfitzners Lied heran, sie leistet das aber in einem relativ hohen Grad. Und das ist erstaunlich, bedenkt man, dass da ein gerade mal fünfzehnjähriger, also noch wenig erfahrener Komponist am Werk war.


  • „Nachtwanderer“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Formal betrachtet handelt es sich hier zwar um ein variiertes Strophenlied auf der Basis eines Viervierteltakts, das mit der Vortragsanweisung „Mäßig langsam (gleichsam „im Schritt“)“ versehen ist. Aber der Grad an Variation, den es in Melodik, Harmonik und Klaviersatz aufweist, lässt es fast an eine Durchkomposition heranreichen. Und das gilt auch für das als Grundtonart vorgegebene „B“. Das d-Moll, das es beinhaltet, fungiert zwar tatsächlich als harmonisches Zentrum der Liedmusik, aus ihm ereignen sich aber derart viele Ausbrüche ins andere Tongeschlecht und zu fernab liegenden und häufig verminderten Tonarten, dass auch hier von einem Austasten der Leistungsfähigkeit des Prinzips der Tonalität gesprochen werden kann, wie es für das nicht nur die Liedmusik betreffende kompositorische Schaffen Korngolds typisch ist.

    Diese stark modulierende, tonartlich und tongeschlechtlich komplexe und das Prinzip der Verminderung in hohem Maß in Anspruch nehmende Harmonik erweist sich allerdings als wesentliches liedkompositorisches Ausdrucksmittel, was die Erfassung der Metaphorik des lyrischen Textes und die daraus hervorgehende dichterische Aussage anbelangt. Daneben kommt allerdings auch dem Klaviersatz und der Struktur der melodischen Linie eine diesbezüglich bedeutsame Funktion zu. Das soll im Folgenden aufgezeigt werden, wobei – und das gilt für alle nachfolgenden Liedbesprechungen – nun nicht mehr so detailliert und ausführlich verfahren wird wie bei „Schneeglöckchen“, sondern nur noch die relevanten Strukturmerkmale der Faktur Berücksichtigung finden.

    Die melodische Linie setzt mit einem Quartsprung auftaktig im ersten Takt ein. Derweilen erklingt im Klavierdiskant pianissimo schon eine Figur, die sich über den zweiten und den dritten Takt fortsetzt und danach, nun zwei Takte einnehmend, erneut beginnt. Sie bildet die Begleitung der melodischen Linie auf den ersten beiden Versen, und ihr kommt eine zentrale Funktion und Bedeutung in diesem Lied zu, weil sie, wie auch die melodische Linie infolge des Strophenliedprinzips, auf dem ersten Verspaar der zweiten und der dritten Strophe erneut aufklingt, und dies in komplexerer und damit in der Expressivität gesteigerter Gestalt.

    Sie besteht aus einem in hoher Lage einsetzenden und in Sekundschritten sich ereignenden kontinuierlichen Fall von Achtel-Akkorden, aus denen sich ein Einzel-Achtel im Sekundfall löst. Und die Abwärtsbewegung setzt sich, begleitet von lang gehaltenen Quinten im Bass, gleichförmig bis in tiefe Lage fort, wobei die Harmonik eine ebenfalls kontinuierliche Rückung von der Dominante d-Moll zur Tonika g-Moll beschreibt.
    In der Anmutung, die auf eindrückliche Weise von ihr ausgeht, kann man sie mit guten Gründen als eine klangliche Imagination des narrativen Geschehens aufnehmen und verstehen, - eines Geschehens, das in seiner Unheimlichkeit in der Tiefe des Grabs endet, - wie diese Figur auf der tonalen Ebene eines tiefen „Gs“.

    Die Melodik der ersten Strophe ist mit der Vortragsanweisung „düster“ versehen. Außerdem gilt grundsätzlich die Anweisung „im Schritt“. Auf dem ersten Vers beschreibt sie eine bogenförmige Linie, die mit einem Quartsprung einsetzt und dann in einen Anstieg übergeht, der in seinen Schritten schwer anmutet, weil er aus einem zweimaligen Legato-Sekundfall besteht, der über einen Quartsprung erfolgt. Und auch der nachfolgende Fall mutet gewichtig an, weil er sich nicht kontinuierlich, sondern in einem Auf und Ab von Terzsprüngen ereignet, das bei dem Wort „Roß“ in einem die melodische Linie in tiefe Lage führenden Quintfall endet. Die melodische Linie auf dem zweiten Vers wirkt - und das ist typisch für den an Symmetrie und Parallelismus sich orientierenden Stil Korngolds – wie eine Variante derjenigen, die auf dem ersten liegt. Auch sie endet auf einem tiefen „D“, nur dass der Fall dieses Mal unabgestuft über eine Sekunde und eine Quarte erfolgt. Und immerzu begleitet das Klavier diese ganz und gar in Moll-Harmonik gebettete und an ihrem Ende fallend angelegte Melodik mit seinen seinerseits fallenden Achtelfiguren im Diskant. Ein Anflug von Unheimlichkeit wohnt der Liedmusik von Anfang an inne.

    Und das setzt sich in der Melodiezeile auf dem zweiten Verspaar fort. Zwar steigt die melodische Linie auf den Worten „schlaf droben mein Kind“ aus der tiefen „D“-Lage in Tonrepetitionen an, die nun im Tongeschlecht Dur harmonisiert sind (B-Dur, F-Dur), aber bei dem Wort „Tag“ ereignet sich ein verminderter Sekundfall, bei dem die Harmonik eine unerwartete Rückung nach dem weitab liegenden Cis-Dur beschreibt, das bei dem nachfolgenden erweiterten, weil zu einem „Ais“ führenden Quartsprung unmittelbar in ein dis-Moll übergeht. Und auch die nachfolgende Bewegung der melodischen Linie, die wiederum in langsam ansteigenden und in einer langen Dehnung bei „Feind“ endenden Tonrepetitionen erfolgt und vom Klavier mit ebenfalls repetierenden fünf- bis siebenstimmigen Akkorden begleitet wird, ist durchweg im Tongeschlecht Moll (b-Moll und d-Moll) und sogar kurz in verminderter Cis-Tonalität harmonisiert, bei der deklamatorischen Tonrepetition auf der Ebene eines hohen „Cis“ auf dem Wort „Menschen“. Überdies wird diese latentes Unheil zum Ausdruck bringende Liedmusik in einem anwachsenden Ritardando vorgetragen.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Nachtwanderer“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Auf den ersten beiden Versen der zweiten Strophe kehrt die Melodik der ersten Strophe in ihrer Struktur und ihrer Harmonisierung unverändert wieder, nicht aber der Klaviersatz. Dieser wirkt nun in seiner Expressivität gesteigert dadurch, dass die Achtelfiguren auf ihrem wieder in hoher Lage einsetzenden und in der Tiefe endenden Fall im Bass nicht von lang gehaltenen, sondern repetierenden und die tonale Ebene wechselnden Sechzehntel- und Achtelquinten begleitet werden.

    Das zentrale lyrische Bild, das von dem schönen, bleichen und in ein im Wind flatterndes Hemdlein gekleideten Mädchen ist gar zu unheimlich, und so geht die Melodik hier, in einer Rückung von d-Moll zu verminderter Ges-Tonalität harmonisiert und mit der Anweisung „sempre accel. e cresc.“ versehen, in einen lebhaft-nervösen Anstieg in Gestalt von sich bis in hohe Lage steigernden und leicht rhythmisierten Achtel-Sechzehntel-Fallbewegungen über, die vom Klavier mit zwei- und dreistimmigen Akkorden im Diskant mitvollzogen werden, und sie endet in einer hochexpressiven, geradezu schrill anmutenden, weil aus einer auf einer Sekundfallbewegung mit einem Quartsprung erfolgenden extrem langen und fortissimo vorzutragenden Dehnung in hoher F-Lage bei dem Wort „Kind“. Sie mutet, weil der sonore Konsonant darin so unnatürlich stark gedehnt wird, die Dynamik nach dem so lange ausnahmslos vorherrschenden Pianissimo ins Fortissimo ausbricht und das Ganze in verminderte B-Harmonik gebettet ist, geradezu gewaltsam an.

    Und wieder setzt die melodische Linie beim ersten Verspaar der dritten Strophe mit den gleichen, nun schon zweimal vollzogenen Bewegungen ein, nun aber im Fortissimo und vom Klavier mit den nun gleichsam duplizierten, weil synchron in Diskant und Bass erklingenden Fall-Figuren begleitet. Korngold setzt das Prinzip der Steigerung der Expressivität auf der Basis des Strophenlied-Konzepts also auf höchst gekonnte Weise ein. Und das führt er bei den Worten „Taucht wieder unter dann mit Gesaus“ fort, die er wiederholen lässt. Die melodische Linie bewegt sich in einem permanenten Auf und von Tonrepetitionen, ist darin in Rückungen von b-Moll über G-Dur, C-Dur, F-Dur und B-Dur harmonisiert und wird vom Klavier mit repetierenden sechs- bis siebenstimmigen Akkorden begleitet.

    Und bei dem Wort „Saus“ ereignet sich dann fortissimo ein Terzsprung zur tonalen Ebene eines hohen „Eis“ mit nachfolgender Dehnung daselbst, wobei die Harmonik die höchst ausdrucksstarke Rückung vom vorangehenden B-Dur nach Cis-Dur vollzieht. Den Umschlag der lyrischen Aussage von „Gesaus“ zur Stille über dem kühlen Haus reflektiert die Liedmusik dergestalt, dass die melodische Linie mit ihren Tonrepetitionen sich „verlangsamend“ (Anweisung) in mittlerer tonaler Lage in ein Innehalten übergeht und bei dem Wort „Haus“ nach den vorangehenden harmonischen Rückungen von b-Moll nach A-Dur mit einem Quartsprung zu einer in der Tonika d-Moll harmonisierten Dehnung auf dem Grundton in oberer Mittellage übergeht, und das piano.

    Auch bei der letzten Strophe verfährt Korngold so, dass er auf das erste Verspaar, das Strophenliedkonzept wahrend, die schon drei Mal erklungene Melodik legt, sie nun aber vom Klavier nicht mit der ansonsten eingesetzten Achtel-Fallfigur begleiten lässt, vielmehr, das Bild von den „in Dörfern weit“ krähenden Hähnen klangmalerisch imaginierend, mit einer auf einen lang gehaltenen bitonalen Akkord in tiefer Lage folgenden dreistimmigen Achtel-Fallfigur in extrem hoher Lage, die sich als gleichsam isolierte Partikel aus der kontinuierlich fallenden Achtelfolge erweist, mit der die melodische Linie auf dem ersten Verspaar bislang immer begleitet wurde.
    Hier zeigt sich – wieder einmal – der hochgradig artifizielle Charakter von Korngolds Liedmusik.

    Und das ist auch bei der auf dem zweiten Verspaar der letzten Strophe der Fall. Die melodische Linie steigert sich in der strukturell immer gleichen Grundfigur aus am Ende kurz innehaltenden und dabei in die harmonische Verminderung übergehenden Sekundanstiegen in immer höhere tonale Lage hinauf, wobei Harmonik ausdrucksstarke Rückungen von d-Moll zu verminderter Gis-Tonalität beschreibt, die sich in den partiell lang gehaltenen Akkorden niederschlägt, mit denen das Klavier hier begleitet. Und das endet in einer Wiederholung der Worte „sein eigenes Grab“, bei der die melodische Linie auf einer um eine Terz sich absenkenden tonalen Ebene die Variation der gleichen Grundfigur beschreibt: Ein Fall erst über eine Sekunde, beim zweiten Mal aber über eine Quarte, der eine Fortsetzung in Gestalt von sich in der tonalen Ebene absenkenden Sprungbewegungen nachfolgt, die in einem ausdrucksstarken und in eine Dehnung auf dem tiefen Grundton mündenden Quintfall endet.
    Das Klavier begleitet dieses Versinken der ritardando und mit Portati vorzutragenden melodischen Grundfigur in der Tiefe nur noch mit einem einsamen g-Moll-Akkord, bevor es nach einer fast ganztaktigen Pause nach einer kurzen Rückung nach D-Dur den g-Moll-Schlussakkord erklingen lässt.

    Auf beeindruckende Weise bringt die Liedmusik die Ungeheuerlichkeit zum Ausdruck, in der die Metaphorik der Eichendorff-Verse endet, und sie wird der darin der zu ihrem Kern findenden Aussage des Gedichts auf durchaus angemessene Weise gerecht.

  • „Das Ständchen“, op.9, Nr.3

    Auf die Dächer zwischen blassen
    Wolken scheint der Mond herfür,
    Ein Student dort auf den Gassen
    Singt vor seiner Liebsten Tür.

    Und die Brunnen rauschen wieder
    Durch die stille Einsamkeit,
    Und der Wald vom Berge nieder,
    Wie in alter, schöner Zeit.

    So in meinen jungen Tagen
    Hab´ ich manche Sommernacht
    Auch die Laute hier geschlagen
    Und manch lust'ges Lied erdacht.

    Aber von der stillen Schwelle
    Trugen sie mein Lieb zur Ruh,
    Und du, fröhlicher Geselle,
    Singe, sing´ nur immer zu!

    (Joseph von Eichendorff)

    Dieses 1833 entstandene Gedicht lebt lyrisch aus der Binnenspannung zwischen Metrum und Sprachrhythmus, in der eine ans Herz rührende Geschichte erzählt wird. Das lyrische Ich, das sie erzählt, ist von der Jugend weit weg, hat man doch sein „Lieb“ schon vor langer Zeit „von der stillen Schwelle zur Ruh“ getragen. Und wenn es nun eine Szene erlebt, in der ein Student „vor der Liebsten Tür“ sein Lied singt, kommen die Bilder seiner eigenen Jugend wieder, in der es selbst „manch lust´ges Lied“ erdacht hat.

    Die Wehmut des Rückblicks vermag Eichendorff auf eine lyrisch-sprachlich beeindruckende, weil von jeglicher Sentimentalität freien Weise zum Ausdruck zu bringen. Der Rhythmus der Sprache setzt sich über das trochäische Metrum fließend hinweg und macht auf diese Weise die Kraft der Emotionen spürbar. Die lyrischen Bilder der zweiten Strophe sind typischer Eichendorff: Stille Brunnen rauschen, Wald und Berge sind da, und alles ist wie in alter schöner Zeit.

    Aber genau diese Bilder verleihen dem Geschehen und der Erfahrung, von der das lyrische Ich erzählt, seine existenziell relevante Dimension. Es ist eine das menschliche Sein in seinem Kern berührende Erfahrung: Die von Zeit und Vergänglichkeit. Der letzte Vers bringt sie in seiner imperativischen Lakonie auf eine tief berührende Weise zum Ausdruck: „Singe, sing nur immerzu!“

    Wie Korngold bei der vorangehenden Eichendorff-Vertonung gleichsam in Konkurrenz zu Hans Pfitzner trat, so in diesem Fall zu Hugo Wolf. (Eine Besprechung des Liedes findet sich hier: (Hugo Wolf und Eichendorff)

    War ihm das eigentlich bewusst, wusste er um die Existenz dieser – in beiden Fällen großartigen, weil den Eichendorff-Geist voll und ganz erfassenden – Liedkompositionen?
    Wie dem auch sei, - es ist nicht von Bedeutung, denn das dürfte für ihn, jung wie er damals noch war, kein irgendwie relevanter Sachverhalt gewesen sein.
    Und im übrigen gilt hier dasselbe wie bei dem Lied „Nachtwanderer“: Es reicht an die „Konkurrenz“ nicht heran, und in diesem Falle zögere ich sogar auch mit der Feststellung es könne sich durchaus neben ihr hören lassen.
    Denn, wie im Folgenden aufzuzeigen sein wird: Die Liedmusik wird, jedenfalls so wie ich das sehe, in der beindruckenden Ausdrucksstärke ihres Auftritts – und eben deshalb - der lyrischen Aussage des Eichendorff-Gedichts nicht gerecht.

    Hochkomplex ist sie, darin die zwischen zwei temporalen Ebenen hin und her wechselnden und im affektiven Gehalt der Metaphorik stark divergente Aussage der einzelnen Strophen reflektierend. Das ist kompositorisch zwar gut gemeint, beraubt sie aber ihrer inneren Einheit und Geschlossenheit. Und dies, obgleich die Melodik in dem Sich-Wiederholen auf den beiden Verspaaren der ersten und dem dritten Vers der vierten Strophe gleichsam Strophenlied-Geist atmet.


  • „Das Ständchen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Das Lied wirkt in dem noch innerhalb der lyrischen Strophen häufig wechselnden deklamatorischen Gestus der Melodik, ihrer Harmonisierung und dem ihr zugrunde liegenden Metrum – dieses pendelt zwischen zwei und drei Vierteln insgesamt zehn Mal – ein wenig wie eine additive Aneinanderreihung von ausdrucksstarken, aber innerlich nicht verbundenen liedmusikalischen Einzelpartikeln.
    Die Ausrichtung auf maximale Expressivität in der Umsetzung der lyrischen Aussage und der sie transportierenden Metaphorik ist wohl für diesen Sachverhalt verantwortlich. Man begegnet dieser liedkompositorischen Intention Korngolds – die sich darin wohl in ihrer Jugendlichkeit manifestiert – auf besonders markante Weise in der extremen Modulation der Harmonik und dem fortissimo und ritardando auszuführenden und in verminderte Harmonik gebetteten melodischen Glissando-Fall auf der Wiederholung der Worte „sing nur immerzu“.

    Mit einem dreitaktigen Vorspiel setzt die Liedmusik ein. Es erklingt, weil dort die Melodik der ersten Strophe wiederkehrt und darin den Strophenlied-Geist verkörpert, vor den Worten des dritten Verses der letzten Strophe noch einmal. „Frisch“, soll es vorgetragen werden, geht aber am Ende in ein Ritardando über, um den Einsatz der melodischen Linie vorzubereiten, für die die Vortragsanweisung „gemäßigter“ gilt. Fast ein wenig wild anmutende Lebhaftigkeit wohnt diesem Vorspiel in der Tat inne. Auf zwei ansteigend angelegte akkordische Sechzehntel-Achtelfiguren, bei denen sich eine Rückung von verminderter zu Es-Dur-Harmonik ereignet, steigen Sechzehntel-Triolen in hohe Lage empor und münden in einen lang gehaltenen C-Dur-Akkord.
    Man könnte darin eine klangliche Imagination des – ja wohl sicher unter Lautenbegleitung vorgetragenen – Ständchens vor der Liebsten Tür vernehmen.

    Die sich auf dem zweiten Verspaar wiederholende und nur am Ende eine Kadenzvariation aufweisende Melodik der ersten Strophe ist bogenförmig angelegt. Mit einer Wellenbewegung schwingt sie sich bei dem Worten „Wolken“ in hohe Lage empor, geht dort in eine kleine Dehnung über und senkt sich danach erst in Sechzehntel-Sekundschritten, dann aber bei den Worten „Mond herfür“ in solchen über ein gedehntes Achtel auf die tonale Ebene eines „E“ in tiefer Lage ab, um sich dort einer Dehnung zu überlassen. Diese tritt auch deshalb zu markant hervor, weil das Metrum an dieser Stelle von zwei zu drei Vierteln übergeht.

    Dieses kompositorische Mittel setzt Korngold nachfolgend immer wieder ein, um sich eine bestimmte melodische Bewegung in ihrer den lyrischen Text reflektierenden Aussage vom deklamatorischen Kontext abheben zu lassen. Der Bogenbewegung der melodischen Linie verleiht er dadurch Nachdruck, dass er sie vom Klavier mit einer aufsteigenden Kette von Staccato-Sechzehntel-Akkorden begleiten lässt, die beim Fall dann in Terzen übergehen. Im Bass erklingen dazu arpeggierte Akkorde, wobei die melodische Dehnung auf „Wolken“ dadurch noch eine besondere Akzentuierung erfährt, dass hier im Diskant ein leicht gedehnter fünfstimmiger Akkord in verminderter Harmonik erklingt.
    Das ist ein repräsentatives Beispiel für die dem ganzen Lied zugrunde liegende kompositorische Intention, die lyrische Aussage und ihre Metaphorik maximal expressive Liedmusik umzusetzen.

    Die zweite lyrische Strophe ist von lyrischen Bildern der Stille und Einsamkeit geprägt, die – typisch für Eichendorff – „die alte schöne Zeit“ lyrisch evozieren. Korngolds Liedmusik will das einfangen, indem die melodische Linie in ihrer Entfaltung nun lange in mittlerer Lage verbleibt, und dies in reiner Dur-Harmonisierung (As-Dur mit Rückungen in die beiden Dominanten). Aber sie entfaltet sich dabei in einer Lebhaftigkeit, vom Klavier darin mit aufsteigenden Sechzehntelketten und einem Auf und Ab von Achtel-Sechzehntelfiguren in hoher Lage unterstützt, die dem Bild von den in der „stillen Einsamkeit“ rauschenden Brunnen ganz und gar unangemessen erscheint.

    Auf dem Wort „rauschen“ liegt ein lang gedehnter zweischrittiger Legato-Sekundfall, der ihm ein melodisches Gewicht verleiht, das ihm von Eichendorffs lyrischer Aussage-Intention gar nicht zukommt. Und ausgerechnet hier laufen die Staccato-Sechzehntel in partiell verminderten Sekundschritten in hohe Lage empor. In ähnlich unangemessener Weise sind die Melodik und der Klaviersatz bei den Worten „und es rauscht der Wald“ angelegt: Die melodische Linie beschreibt eine in einen Quartsprung übergehende Anstiegsbewegung in Sekundschritten, die vom Klavier mit der schon einmal – bei den Worten „zwischen blassen Wolken“ – erklingenden Staccato-Folge von dreistimmigen Akkorden begleitet wird, und das mit einem Crescendo.

    Bei dem Wort „Wald“ hält die melodische Linie in einer kleinen Dehnung auf der tonalen Ebene eines hohen „E“ kurz inne, um danach, bei den Worten „vom Berge nieder“ in eine, nun wieder im Dreivierteltakt erfolgende Fallbewegung in Sechzehntel-Sekundschritten überzugehen, wie sie das schon einmal bei den Worten „scheint der Mond“ in der ersten Strophe tat. Und wieder wird sie darin vom Klavier nun mit dreistimmigen Akkorden im Diskant begleitet, und im Bass erklingen arpeggierte Akkorde.

    Die lyrisch höchst bedeutsamen Worte „wie in alter, schöner Zeit“ setzt Korngold dergestalt in Liedmusik um, dass er die melodische Linie, nun im Zweivierteltakt aber in einem Ritardando und in C-Dur-Harmonisierung mit Zwischenrückung in die Dominante, nach einem kleinen Fall in relativ ruhigen Achtel-Sekundschritten bei dem Wort „schöner“ einen Quintsprung zu einer langen Dehnung wieder auf der tonalen Ebene eines hohen „E“ beschreiben lässt, die noch auf diesem Wort in einen ausdrucksstarken doppelten Fall erst über eine Sexte und dann über eine Quarte, also insgesamt das Intervall einer Dezime, übergehen lässt, dem nach einem Sechzehntel-Sekundsprung ein Terzfall zu einem tiefen „C“ nachfolgt.
    Das Klavier begleitet diese so hochexpressive melodische Passage mit einer fallend angelegten Folge von drei- bis vierstimmigen Akkorden im Diskant, denen im Bass teilweise arpeggierte Akkorde beigegeben sind.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Das Ständchen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    In der dritten Strophe geht die Melodik, darin die Bilder der Erinnerung reflektierend, in einen expressiv-innigen Gestus über (Anweisung „espress.“) Nach ruhigem Ansteigen beschreibt sie immer wieder aufs Neue einen ausdrücklich mit einem Ritardando versehenen und dem lyrischen Wort jeweils einen starken Akzent verleihenden Fall über ein größeres Intervall: So bei „Tagen“, „Sommernacht“, „geschlagen“ und – besonders expressiv, weil aus hoher Lage über eine Septe erfolgend, in einem verminderten „As“ harmonisiert und vom Klavier in Gestalt von Akkorden mitvollzogen – bei den Worten „Lied erdacht“.

    Das innere Leid, das das lyrische Ich mit den Worten „Aber von der stillen Schwelle / Trugen sie mein Lieb zur Ruh“ zum Ausdruck bringt, greift die Liedmusik mit einem nun wieder ganz anderen deklamatorischen Gestus in der Melodik und einer neuen Struktur des Klaviersatzes auf, wobei das Metrum nun eine viermalige Rückung von drei nach zwei Vierteln vollzieht. Zwei Mal beschreibt die melodische Linie auf den Worten des ersten Verses einen ruhigen mehrfachen Sekundfall in tiefer Lage, erst im leicht wiegenden Rhythmus des Dreivierteltakts und in C-Dur-G-Dur-Harmonisierung, dann, mit einem lang gedehnten Quartfall auf dem Wort „stillen“ eingeleitet, in dem eines Zweivierteltakts.

    Bei den Worten „trugen sie“ geht die melodische Linie dann in einen, wieder eine Dehnung beschreibenden und nun in c-Moll harmonisierten Anstieg in mittlere Lage über, und vollzieht dann bei „mein Lieb´ zur Ruh“ einen in seiner Ritardando-Expressivität übertrieben anmutenden Oktavsprung zu einer langen Dehnung in hoher D-Lage, aus der heraus ein Rückfall über wieder dieses Intervall einer Oktave erfolgt, nicht ohne freilich auf dem Wort „Ruh´“ am Ende dann noch einen Legato Sekundfall in Gestalt von deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten zu beschreiben, - begleitet von einem fermatierten und mit der Anweisung „morendo“ versehenen siebenstimmigen G-Dur-Akkord.

    Das ist, so empfinde ich das, ein wenig zu viel an liedmusikalischer Expressivität, angesichts der wesenhaft in Stille auslaufenden Aussage des lyrischen Textes.
    Und dann macht Korngold etwas, was man regelrechten kompositorischen Fehler empfindet. Er lässt das rhythmisch lebhafte und in seinem triolischen Achtelfiguren höchst beschwingte Vorspiel noch einmal erklingen und die Worte „Und du, fröhlicher Geselle, / Singe, sing´ nur immer zu!“ auf der melodischen Linie des Liedanfangs noch einmal deklamieren.

    Als einen Fehler muss man das nicht nur deshalb betrachten, weil der Kontrast zu dem „Morendo“-Ausklang der Liedmusik auf „Lieb`zur Ruh“ geradezu schroff anmutet, schließlich gilt für das Vorspiel die Anweisung „frisch“. Der Rückgriff auf die Liedmusik des Anfangs verkennt auch völlig, dass den lyrischen Worten hier am Ende des Eichendorff-Gedichts der Geist eines unendlich müden und wesenhaft hoffnungslosen „Dennoch“ zugrunde liegt.

    Den will die Wiederholung der Worte „sing nur immer zu“ dann zwar doch aufgreifen. Aber das geschieht in dem für die ganze Liedmusik so typischen Gestus hochgeschraubter Expressivität, - und geht deshalb daneben.
    Bevor die melodische Linie nach einer zweitaktigen Pause erneut einsetzt, steigen im Diskant wieder die dreistimmigen Staccato-Akkorde in Sekundschritten aus tiefer in obere Lage auf, und dann ereignet sich auf den Worten „sing nur“ - und das „ff“ und „subito rit.“ - ein in verminderte E-Harmonik gebetteter melodischer Legato-Fall über das Intervall einer Sexte, der die Taktgrenze überschreitet, nach einer Dehnung auf „nur“ in einen neuerlichen, nun über eine Quarte erfolgenden Fall übergeht, der dann in Kadenz-Manier mit einer Kombination aus Sekundsprung und Terzfall auf einem „C“ in tiefer Lage endet. Das ist der Grundton, denn die Harmonik beschreibt hier eine Rückung von G- nach C-Dur.

    Und als wäre dessen an liedmusikalischer Expressivität noch nicht genug, erklingt im fünftaktigen Nachspiel „sempre accel.“ immer wieder die aufsteigend angelegte dreistimmige Staccato-Akkordkette und schraubt sich bis in hohe Diskant-Oktavlage empor, um schließlich in einen lang gehaltenen achtstimmigen Forte-Fortissimo-C-Dur-Akkord in extrem hoher Diskantlage überzugehen, der in einen fünfstimmigen, mit der Anweisung „sffz“ versehenen in tiefer Basslage abstürzt.

    Das alles ist – ich muss das leider so hart feststellen - dem Geist und der poetischen Aussage dieses Eichendorff-Gedichts völlig unangemessen, und darin offenbart sich diese Liedkomposition als ein Jugendwerk. Korngold konnte damals die aus der Retroperspektive fortgeschrittener Lebenszeit hervorgegangene Lyrik Eichendorffs in ihrem Gehalt wohl nicht voll erfassen.

  • Zwischenruf

    Ich lese, was ich zu dem Lied "Das Ständchen" geschrieben habe, und Zweifel melden sich, - Zweifel und Unsicherheit, ob das sachlich richtig, angemessen und vertretbar ist, was ich hier tue. Meine Beschreibung der kompositorischen Faktur des Liedes - und nicht nur dieses Liedes, sondern auch weiterer Korngold-Liedkompositionen - ist in hohem Maß mit kritischen Anmerkungen meinerseits angereichert.

    Sollte ich mich, so muss ich mich fragen, nicht darauf beschränken, die innere Anlage der Komposition darzustellen, zu zeigen, wie Korngold den lyrischen Text in Musik gesetzt hat und die subjektive Komponente dabei allenfalls auf Vermutungen darüber beschränken, welche musikalische Aussageabsicht er damit verfolgt?

    Sind wertende Urteile nicht zu unterlassen, weil sie zwangsläufig in hohem Grad subjektiv sind? Sollte man es nicht den Lesern der Besprechung überlassen, wie sie, gestützt auf eine rein sachliche Beschreibung der Liedmusik, das gerade anstehende Lied beurteilen?

    Meine Kritik an Korngolds Liedmusik leitet sich ja von dem Gedicht Eichendorffs her, so wie ich es lese und interpretiere, und ich komme von daher zu der kritischen Feststellung, dass sie der lyrischen Aussage ganz und gar unangemessen ist, diese regelrecht verfehlt. Aber sollte ich Korngold nicht zubilligen, dass er dieses Eichendorff-Gedicht ganz anders gelesen hat und diese seine subjektive Rezeption in die Liedkomposition einfließen ließ?

    Und überhaupt: Ist dies, die Adäquatheit von lyrischem Text und Liedmusik, überhaupt ein legitimes Kriterium zur Beurteilung einer Liedkomposition? Stellt diese nicht ein genuines musikalisches Werk, dar, das in seiner Qualität ausschließlich auf der Grundlage von ihm eigenen kompositorischen Sachverhalten beurteilt werden sollte?


    Das sind so die Fragen, die mich beschäftigen. Und überdies habe ich auch noch ein schlechtes Gewissen, - jenen Tamino-Mitgliedern gegenüber, von denen ich annehmen muss, dass sie Korngolds Liedmusik schätzen. Eben deshalb hat mich ja greghauser2002 um ein Urteil darüber gebeten, und Hans Heukenkamp, den ich immer wieder einmal (zu meiner Freude) lange lesend hier vorfinde, dürfte hinsichtlich der Qualität von Korngolds Liedmusik auch zu einem ganz anderen Urteil kommen als ich.


    Und schließlich bin ich in diesem Fall auch noch befangen. Während ich mich mit Korngolds Vertonung von "Das Ständchen" beschäftigte, hatte ich immerzu die von Hugo Wolf im Ohr, die mit ihren Mitteln die lyrische Aussage voll und ganz trifft, in ihren Tiefen auslotet und deshalb so sehr zu berühren vermag. Die seelische Befindlichkeit des lyrischen ich, wie sie sich in den Worten "Aber von der stillen Schwelle / Trugen sie mein Lieb zur Ruh" artikuliert, wird von Wolfs Liedmusik auf tief anrührende Weise zum Ausdruck gebracht. Gleiches kann ich, so leid mir´s tut, von der Korngolds nicht feststellen.

    Ich stelle mal eine Aufnahme davon hier per Link ein, damit man vielleicht versteht, warum ich mich bei Korngolds Lied zu kritischen Kommentaren geradezu gedrängt fühlte.


  • Sind wertende Urteile nicht zu unterlassen, weil sie zwangsläufig in hohem Grad subjektiv sind? Sollte man es nicht den Lesern der Besprechung überlassen, wie sie, gestützt auf eine rein sachliche Beschreibung der Liedmusik, das gerade anstehende Lied beurteilen?

    Meine Kritik an Korngolds Liedmusik leitet sich ja von dem Gedicht Eichendorffs her, so wie ich es lese und interpretiere, und ich komme von daher zu der kritischen Feststellung, dass sie der lyrischen Aussage ganz und gar unangemessen ist, diese regelrecht verfehlt. Aber sollte ich Korngold nicht zubilligen, dass er dieses Eichendorff-Gedicht ganz anders gelesen hat und diese seine subjektive Rezeption in die Liedkomposition einfließen ließ?

    Lieber Helmut Hofmann, Deine Urteile sind überaus kenntnisreich und sanft. Sie regen mich an, die eigenen, viel oberflächlicheren, beim erneuten Hören zu prüfen. Mir sind Deine Beiträge zu Korngolds Liedern eine großes Vergnügen. Dafür danke ich Dir. Es grüßt Hans

    ..., eine spe*ifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifi*ierbar.
    -- Aydan Ö*oğu*

  • Ich danke Dir für Deine Stellungnahme, lieber Hans, und werde, weil mir der Gedanke der Prüfung des eigenen Urteils durch die Begegnung mit einem anderen einleuchtet, weiter so verfahren wie bisher.

    Es wird im übrigen ja auch kein für mich so krasser Fall wie "Das Ständchen" mehr auftreten.

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  • „Liebesbriefchen“, op.9, Nr.4

    Fern von dir denk' ich dein, Kindelein,
    Einsam bin ich, doch mir blieb treue Lieb'.
    Was ich denk', bist nur, nur du, Herzensruh.
    Sehe stets hold und licht dein Gesicht.
    Und in mir immer zu tönest du.
    Bist's allein, die die Welt mir erhellt.
    Ich bin dein, Liebchen fein,
    Denke mein, denk' mein!

    (Elisabeth Honold)

    Dieses lyrische Ich beschwört in einer Sprache, der in ihrer Alltagsschlichtheit jegliches lyrisch-evokative Potential abgeht, aus der Situation des Fern- und Getrennt-Seins vom geliebten Du dessen Wesen, das es in seiner Einsamkeit in sich fühlt, das seine „Herzensruh“ darstellt und ihm „die Welt erhellt“. Korngold mag zu diesem recht bedeutungslosen lyrischen Text gegriffen haben, weil er in ihm eben diese Schlichtheit im sprachlichen Ausdruck von Emotionen vorfand, die er mit dem Titel seines Opus 9 ausdrücklich beschwört, in den Eichendorff-Vertonungen jedoch nicht so recht getroffen hat. Hier aber, in diesem Lied, konnte er sie - man könnte sagen: weil ihm vom lyrischen Text her gar nichts anderes übrig blieb – tatsächlich auf kompositorisch überzeugende Weise einfangen. In der Anmutung von Innigkeit, die von der Melodik ausgeht und insbesondere bei den beiden Schlussversen vernehmlich wird, vermag diese Komposition ihre Hörer stark anzusprechen.

    Ein Dreivierteltakt liegt dem Lied zugrunde, als Grundtonart ist E-Dur vorgegeben, und die Vortragsanweisung lautet „Im Volkston, herzlich und innig (mäßig langsam“). Schlicht ist schon das eintaktige Vorspiel. Es besteht zwei aus im Diskant in Legato-Sekundschritten ansteigenden Oktaven im Wert eines Viertels, die bei der dritten in eine sogar den nachfolgenden Takt überspannende Dehnung übergehen: Ein lang gehaltenes oktavisches „H“, in dem sich der Einsatz der melodischen Linie Gestalt einer Wiederholung genau dieser Anstiegsbewegung der Oktaven ereignet und wie dort auf dem Wort „dir“ in eine Dehnung übergeht.

    Ihr folgt bei den Worten „denk´ ich dein“ ein Terzfall mit nachfolgendem Sekundsprung und in eine Dehnung mündendem Terzfall nach, bei dem die bislang vorherrschende E-Dur-Harmonik eine Rückung zur Dominante H-Dur beschreibt. Das ist das harmonische Muster, das die Harmonik bis zum Ende der melodischen Linie auf dem zweiten Vers regelmäßig und ohne jegliche Abweichung davon befolgt. Erst mit den Worten des dritten Verses kommt die Subdominante modulatorisch ins Spiel, das dann aber ebenso regelmäßig, das heißt ohne Einbeziehung der Dominante abläuft. Harmonisch schlichter geht es in der Tat nicht.


  • „Liebesbriefchen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Korngold hält die Schlichtheit zumindest in der Harmonik nicht durch. Und das ist auch nicht verwunderlich, hat sich doch bei den ersten drei Liedern schon gezeigt, dass die Harmonik für ihn ein wichtiges liedkompositorisches Ausdrucksmittel ist, bei dessen Einsatz er große Kühnheit entfaltet, ohne freilich über die Stränge der Tonalität zu schlagen. Mit der Melodik auf den Worten des vierten Verses verlässt er das Prinzip des schlichten Hin und Hers zwischen Tonika und Dominante und bezieht die Tonarten Dis und Gis und auch das Tongeschlecht Moll in die Harmonisierung der melodischen Linie ein.
    Gleichwohl, und das ist typisch für den Charakter seiner Liedkomposition ganz allgemein, kehrt die Harmonik bei all ihren – hier gar nicht ausgeprägten – Abschweifungen in extreme Gefilde am Ende immer zur Tonika zurück. So auch hier: Die Worte „denk´ mein“ werden auf dem Grundton „E“ in tiefer Lage deklamiert, vom Klavier mit aus tiefer in hohe Diskantlage aufsteigenden E-Dur-Akkorden begleitet.

    Worin Korngold das Prinzip „Schlichtheit“ aber durchhält, das ist die Melodik. Und die entfaltet eben darin einen durchaus ansprechenden Zauber. Es ist der einer zarten verhaltenen Innigkeit, und damit vermag sie das Wesen des lyrischen Textes und seiner Aussage nicht nur einzufangen, sie veredelt ihn gleichsam sogar, indem sie seine Banalität auf die Ebene künstlerischer Bedeutsamkeit hebt.

    In ihrer Grundstruktur weist sie eine strophenartige Dreigliedrigkeit auf. Die Art und Weise, wie sie sich auf der ersten drei Versen entfaltet, kehrt bei den letzten drei wieder. Im deklamatorischen Grundgestus, aber auch in der Harmonisierung und im begleitenden Klaviersatz heben sich die Verse vier und fünf davon ab. Die Liedmusik auf ihnen mutet, weil sie in diesen drei Bereichen eine neue Struktur aufweist und vom Ausdruck zarter Innigkeit zum Gestus des expressiven Bekenntnisses übergeht, dem dann die Rückkehr zum Gestus des Anfangs nachfolgt, wie eine Art Zentrum des Liedes an.
    Diese Dreigliedrigkeit in der Faktur weist das Lied als das Resultat einer durchaus kompositorisch reflektierten Umsetzung des lyrischen Textes in Musik aus, die mehr aus ihm macht, als er es als solcher in seiner Sprachlichkeit darstellt.

    Wenn man einmal angesichts dieser Dreigliedrigkeit von einem A- und einem B-Teil der Liedmusik sprechen möchte, dann zeichnet sich die Melodik des ersten durch einen deutlich ausgeprägten und darin durchgehaltenen deklamatorischen Gestus aus. Der lyrische Text wird in kleine Melodiezeilen umgesetzt, die alle nach dem gleichen deklamatorischen Grundmuster angelegt sind: Auf eine steigend oder fallend angelegte melodische Linie in ruhigen deklamatorischen Schritten folgt am Ende durchweg über einen Fall über Intervalle von der Sekunde bis zur Terz eine lange Dehnung. Auf den Worten „Fern von dir denk' ich dein“ ist diese melodische Grundfigur, weil bogenförmig mit einer Aufgipfelung in Gestalt einer Dehnung auf „dir“ angelegt und in einer Dehnung auf „dein“ endend, im Ambitus noch relativ groß angelegt. Bei dem Wort „Kindelein“ besteht sie aus einem Legato-Sekundfall und einem über einen Sekundanstieg erfolgenden und wieder in einer Dehnung mündenden Terzfall.

    Und dieses deklamatorische Muster, das man als Ausdruck der wesenhaft innigen Introvertiertheit der lyrischen Aussage empfindet, wiederholt sich in der Melodik bis zum Ende des dritten Verses immer wieder, wobei auf dessen Worten die Melodik allerdings den längsten Weg in Gestalt eines Auf und Abs in größtenteils Legato-Schritten zurücklegt, bevor sie am Ende wieder zu der für den ihren Geist so prägenden Dehnung in Gestalt eines Sekundfalls von einem „Fis“ zum Grundton „E“ in tiefer Lage finden kann.

    Hier, auf der letzten Silbe des Wortes „Herzensruh“ erstreckt sie sich gar, in einer Rückung von der Subdominante A-Dur zur Tonika harmonisiert und vom Klavier mit lang gehaltenen und über Achtel- und Viertel-Einlagerungen strukturierten Akkorden begleitet, über eineinhalb Takte. Diese Struktur der durch Viertel und Achtel im Bass strukturierten lang gehaltenen Akkorde im Diskant weist der Klaviersatz durchweg auf den ersten beiden Versen auf. Beim dritten geht er dann allerdings, dem gewandelten deklamatorischen Gestus der melodischen Linie entsprechend, zu Legato-Folgen von vierstimmigen Viertelakkorden im Diskant über.

    Die lyrischen Bilder des vierten und fünften Verses, die Vergegenwärtigung der Geliebten im immerzu gegenwärtigen Gesicht und in einem In-sich-Tönen, stellen für Korngold ganz offensichtlich den Höhepunkt der Liebeserklärung dar, als die dieses Gedicht gelesen werden will. In die Melodik tritt nun, und das hebt sie von der vorangehenden ab, ein Steigerungseffekt in ihrer Aussage. Zwar ist sie auch hier aus dem deklamatorischen Grundmodell aufgebaut, dieses wird nun aber in leicht variierter zur Wiederholung auf ansteigender tonaler Ebene eingesetzt, was eine Steigerung in der Expressivität bewirkt.

    Dieser Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass das Klavier nun, abweichend von seiner bisherigen Verfahrensweise, der melodischen Linie in ihren Bewegungen mit mehrstimmigen Akkorden im Diskant und Einzeltönen im Bass folgt. Und den hohen affektive Gehalt der lyrischen Aussage reflektiert die Liedmusik darin, dass sich die Harmonik in den Bereich der Tonalitäten „Dis“ und „Gis“ steigert und dort mehrfach Rückungen vom Tongeschlecht Dur nach Moll vollzieht.
    Schließlich setzt Korngold auch noch – einmalig in diesem Lied – das Mittel der Textwiederholung ein. Die zweimalige, jeweils in eine Dehnung mündende Anstiegsbewegung auf den Worten „Sehe stets“ und „hold und licht“ erfährt eine Wiederholung, nun aber ohne Dehnungspause dazwischen und sich bei „hold“ mit einem Quintsprung bis zu einem hohen „Fis“ steigernd, um danach in einen gestaffelten Fall mit langer Dehnung in Form eines Sekundfalls auf der zweiten Silbe von „Gesicht“ überzugehen.

    (Fortsetzung folgt)

  • „Liebesbriefchen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Auf den Worten des fünften Verses nimmt sich die Liedmusik auf beeindruckende Weise aus dem Gestus der Expressivität wieder in die Innerlichkeit zurück, in der sie ja von Anfang an die lyrische Aussage in ihrem Wesen reflektiert. Auf „Und in mir“ beschreibt die melodische Linie einen mit einer harmonischen Rückung von Gis-Dur nach gis-Moll einhergehenden und in eine Dehnung mündenden Anstieg in Sekundschritten. Der wiederholt sich, wieder in einer Dehnung auf der gleichen tonalen Ebene endend, auf den Worten „immerzu“. Dies aber in einer durchaus kompositorische Raffinesse verratenden Variante: Aus dem anfänglich kleinen Sekundanstieg bei „und“ in wird nun auf „immer“ ein großer, und die Dehnung am Ende ist jetzt nicht in gis-Moll, sondern in E-Dur harmonisiert. Hinzu tritt, dass das Klavier diese variierte melodische Anstiegsfigur nicht nur nicht mehr mitvollzieht, wie es das bislang tat, sondern sich regelrecht fernhält. Beim Sekundanstieg der melodischen Linie schweigt es. Erst am Ende der Dehnung lässt es beim ersten Mal arpeggierte Gis-Moll-Akkorde in hoher Oktavlage erklingen, beim zweiten Mal dann in Diskant und Bass E-Dur-Oktaven, als wolle es die Aussage der Melodik im Nachhinein auf kommentierende Weise akzentuieren.

    Diesen Gestus der oktavischen Begleitung der melodischen Linie behält es auf bei den Worten „tönest du“ bei. Allerdings nicht durchweg. Bei dem wieder in eine Dehnung mündenden Quintfall auf dem Wort „du“ vollzieht es diesen in Gestalt von vierstimmigen, in ein H-Dur übergehenden Akkorden im Diskant mit. Es wird darin dem Gestus der melodischen Linie gerecht, die mit der lang gedehnten Kombination aus Terzfall und Sekundanstieg auf dem Wort „tönest“, die es in Gestalt von Oktaven mitvollzieht, und dem nachfolgenden Terzsprung mit wiederum gedehntem Quintall dessen Semantik zum Tönen bringen will.

    Bei Worten „Bist´s allein“, dem Anfang des nächsten Verses also, setzt die melodische Linie ihre Bewegung ohne jede Pause fort, sie bindet sogar direkt an die Linie auf den Worten „tönest du“ an, indem sie einen Sekundsprung beschreibt, der auf dem „Fis“ in eine Dehnung übergeht, auf dem der Quintfall bei „du“ endet. Allerdings tritt nun erneut ein leichter Steigerungseffekt in sie, indem das Metrum von drei zu vier Vierteln übergeht. Schon bei dem dreischrittigen Legato-Sekundfall auf dem nachfolgenden Wort allein, kehrt die Liedmusik aber wieder zum Dreiviertakt zurück, um ihn bis zum Ende beizubehalten.

    Die Tendenz, immer wieder in gesteigerte Expressivität auszubrechen, bleibt freilich erhalten. Schließlich fordert der lyrische Text mit seiner im Ausruf „ich bin dein“ aufgipfelnden Emphase dazu auf. Und prompt ereignet sich auf diesen Worten, bei denen die melodische Linie eine auf einem hohen „E“ ansetzende wellenartige Legato-Fallbewegung beschreibt, die auf dem Wort „dein“ in einer langen, mehr als einen Takt einnehmenden Dehnung eine Oktave tiefer endet, ein singulärer Ausbruch der Dynamik in Forte. Singulär ist er, weil sich die Liedmusik bislang, mit Ausnahme eines Mezzofortes bei den Worten „Was ich denk', bist nur, nur du“, im Bereich des Pianos entfaltete, zu dem sie auch schon gleich bei den Worten „Liebchen fein“ wieder zurückkehrt.

    Aber nicht nur die Dynamik und die lang gedehnte, sich über eine ganze Oktave erstreckende Fallbewegung der melodischen Linie heben dieses Liebesbekenntnis auf markante Weise hervor. Das Klavier begleitet hier „molto espress.“ mit der melodischen Linie in ihren Bewegungen folgenden vierstimmigen Akkorden im Diskant und bitonalen Akkorden mit einem „E“ als repetierende Oberstimme im Bass. Und während der langen Dehnung auf dem Wort „dein“ lässt es – nun allerdings bemerkenswerterweise pianissimo – einen arpeggierten cis-Moll-Akkord erklingen, dem einer in A-Dur nachfolgt.
    Korngold setzt, so wird hier wieder einmal deutlich, in seiner Liedkomposition auf geradezu exzessive Weise alle nur denkbaren kompositorischen Mittel ein, um dieser zu dem – von ihm intendierten – Grad an Expressivität zu verhelfen.


    Am Ende, bei dem beschwörenden Appell „denke mein“, ist es die in den Bereichen Melodik, Harmonik und Klaviersatz geradezu raffiniert angelegte Wiederholung. Zuvor lässt er die melodische Linie auf den Worten „Liebchen fein“ noch einmal die wellenartige Fallbewegung beschreiben, die sie gerade auf „ich bin dein“ beschrieb, - nur nun auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene und in Rückungen von A-Dur über E-Dur nach fis-Moll harmonisiert, aber wieder am Ende mit einem arpeggierten Akkord begleitet. Dann aber geht sie in einem höchst eindrucksvollen, legato einsetzenden und bei den Worten „mein“ und „dein“ extrem lang gedehnten Fall über, der auf einem „H“ in mittlerer Lage beginnt und auf dem Grundton „E“ in tiefer Lage endet. Ritardando ereignet er sich, übergehend sogar in ein „Molto Ritardando“.

    Begleitet wird er vom Klavier mit der Melodik im Diskant folgenden Oktaven und wieder dem repetierenden „E“ im Bass, aus dem sich wechselnde bitonale Akkorde bilden. Bei der langen Dehnung auf dem Wort „mein“ beschreibt die Harmonik eine ausdrucksstarke Rückung von E-Dur nach fis-Moll, und die Deklamation der noch einmal, allerdings apostrophisch wiederholten Worte „denk´ mein“ werden auf dem mit einem Auftakt-Achtel versehenen, dann aber in eine taktübergreifende Dehnung übergehenden Grundton deklamiert, bei dem das Klavier einen aus tiefer in extrem hohe Oktav-Diskantlage springenden Pianissimo-E-Dur-Akkord erklingen lässt.
    Und dann, nach so viel liedmusikalischer Expressivität, ist Ende. Ein Nachspiel gibt es nicht.

  • „Das Heldengrab am Pruth“, op.9, Nr.5

    Ich hab ein kleines Gärtchen im Buchenland am Pruth,
    betaut von Perlentropfen, umstrahlt von Sonnenglut.
    Und bin in meinem Gärtchen im Traume wie bei Tag
    und trink den Duft der Blumen und lausch dem Vogelschlag.

    Wenn auch der Tau erstarret, der Herbst die Blümlein bricht,
    die Nachtigall enteilet, der Lenz entflieht mir nicht.
    Es schmückt mein kleines Gärtchen im Buchenland am Pruth,
    mit welkem Laub die Liebe dem Helden, dem Helden der drinn ruht.

    (Heinrich Kipper)

    Heinrich Kipper (1875-1959), war ein bukowinadeutscher Lehrer, betätigte sich als Dramatiker und Mundartdichter, war aber auch als Vertreter der Deutschnationalen im Czernowitzer Gemeinderat tätig. Im ersten Weltkrieg wurde er als leidenschaftlicher Verfechter des Krieges im Rang eines Bataillonskommandant schwer verwundet. Dieses Gedicht, in dem mit idyllisch-lyrischen Bildern eines „Helden“ in einem „Gärtchen“ am moldauisch-rumänischen Grenzfluss Pruth gedacht wird, ist also in seiner Entstehung stark biographisch motiviert. Korngold, dem Kriegsheldenverehrung ganz und gar fremd war, hat wohl wegen der sentimental-affektiv hochgradig aufgeladenen Metaphorik zu diesen Versen zwecks Liedkomposition gegriffen.

    Die Liedmusik vermag die lyrische Idyllik in ihrer wesenhaften Traumhaftigkeit auf durchaus überzeugende und beeindruckende Weise einzufangen. Schließlich bekennt das lyrische Ich ja, dass es in seinem „Gärtchen“ „im Traume wie bei Tag“ sei, und Korngold legt die Melodik und den ihr zugeordneten Klaviersatz ganz bewusst darauf hin an, diesen lyrischen Sachverhalt musikalisch erfahrbar werden zu lassen, - bis hin zu der ausdrücklichen Vortragsanweisung „ziemlich rasch, traumhaft (wie aus der Ferne“), die im Verlauf des Liedes noch zwei weitere Mal gegeben wird: Bei der geradezu unendlich langen melodischen Dehnung auf dem Worten „Vogelschlag“ am Ende der ersten Strophe und „ruht“ an dem der zweiten. Ohnehin weist die Liedkomposition ungewöhnlich zahlreiche Vortragsanweisungen auf, - Indiz dafür, dass sie, typisch für Korngold, stark auf den klanglichen Effekt hin ausgerichtet ist.


  • „Das Heldengrab am Pruth“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein Zweivierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, der allerdings – auch das ein von Korngold gern eingesetztes kompositorisches Mittel – nicht durchgehalten, sondern mehrfach durch ein Dreiviertel-Metrum ersetzt wird. Als Grundtonart ist E-Dur und seine Mollparallele vorgegeben, und die Liedmusik bezieht einen wesentlichen Teil ihrer Aussage aus dem permanent fließenden Übergang zwischen beiden, gleichwohl fungieren sie nur insofern als „Grundtonart“, als die Harmonik in diesem Lied, wie generell bei Korngold, nach dem Kadenzprinzip angelegt ist, dazwischen aber Ausgriffe im Quintenzirkel vollzieht. Diese sind allerdings – anders als bei den vorangehenden Liedern dieses Opus – hier, der lyrischen Metaphorik geschuldet, weniger weit ausgreifend, insofern sie im Kreuzton-Bereich bleiben.

    Mit welchen kompositorischen Mitteln Korngold die „traumhafte“ Aura der lyrischen Aussage einfängt, das macht das Vorspiel auf eindrückliche Weise vernehmlich. Und eben deshalb lässt er es als Zwischenspiel vor der Melodik der zweiten lyrischen Strophe unverändert und als Nachspiel in verkürzter Weise noch einmal erklingen. Triolische, über einen Sekundanstieg fallend angelegte Sechzehntel-Achtel-Figuren senken sich über sieben Takte aus extrem hoher in mittlere Diskantlage ab. Das geschieht pianissimo und mit der ausdrücklichen Anweisung „fast unhörbar“ versehen, und weil die Harmonik dabei eine permanente und klanglich irrlichternde, die Verminderung einbeziehende Rückung von cis-Moll nach E-Dur beschreibt, und dabei „poco a poco“ in ein Ritardando übergeht, das es in seiner ohnehin vorgegebenen „Fast-Unhörbarkeit“ nahezu zum Erlöschen bringt, mutet dieses Vorspiel wie die musikalische Evokation der zwischen Tag und Traum sich entfaltenden lyrischen Szene an.

    „Getragen (sehr gehalten)“ soll die nun nach einer Achtelpause einsetzende melodische Linie vorgetragen werden. Sie beschreibt bei den Worten „Ich hab ein kleines“ auf der Grundlage eines Dreivierteltaktes und in cis-Moll-Harmonisierung einen Sekundanstieg in vier deklamatorischen Achtel-Schritten aus tiefer Cis-Lage zu einem „Gis“ in mittlerer Lage, den das Klavier im Diskant „esp.“ In Gestalt von Oktaven mitvollzieht, während es im Bass fallend angelegte Figuren erklingen lässt, die in ihrer Kombination aus Sechzehnteln und einem Achtel an die des Vorspiels erinnern. Bei dem Wort „Gärtchen“ geht sie, nun im Zweivierteltakt, in einen Quartfall über, dem ein Sekundfall nachfolgt, der, weil er in deklamatorischen Schritten im Wert von Vierteln erfolgt, leicht gedehnt wirkt. Das Klavier lässt hier im Diskant zweimal einen Sechzehntel-Fall erklingen.

    Diese auf dem ersten Vers liegende melodische Figur wurde deshalb so genau beschrieben, weil ihr, wie das in Korngolds Liedmusik immer wieder anzutreffen ist, eine Art leitmotivische Funktion zukommt. Sie prägt die Struktur der Melodik in diesem Lied maßgeblich, weil sie auf unterschiedlichen tonalen Ebenen und in leicht variierter Gestalt auf den Worten des ersten Verspaares beider Strophen immer wieder erklingt. Und die melodischen Figuren, die – durch eine Viertelpause voneinander abgesetzt – auf den sich wiederholenden Worten „und lausch“ und „dem Helden“ liegen, muten wie eine verkürzte Variante derselben an, der jeweils eine extrem lange melodische Dehnung nachfolgt, so dass ihr hier eine auftaktige Funktion zukommt, die in Einheit mit der Dehnung der lyrischen Aussage auf den Schlussworten der beiden Strophen eine hochgradige musikalische Expressivität verleiht.

    Auf den Worten „im Buchenland am Pruth“ kehrt sie in nur leicht variierter und nun ganz und gar im Dreivierteltakt verbleibender Gestalt wieder. Auf durchaus höchst artifizielle Art und Weise – wie das für Korngolds Liedkomposition durchaus typisch ist – geht das tiefe „Cis“, auf dem der Sekundfall auf „Gärtchen“ endet, legato in den Ansatz der melodischen Linie auf „im Buchenland“ über, und sie steigt auch wieder in den gleichen Achtel-Sekundschritten an. Zu den Worten „am Pruth“ geht sie aber, um ihnen einen Akzent zu verleihen, erst in einen nun gedehnten weiteren Sekundanstieg über und beschreibt danach einen in einen lange, den ganzen Takt in Anspruch nehmende Dehnung auf „Pruht“, bei der die Harmonik eine Rückung vom vorangehenden E-Dur nach H-Dur vollzieht, und die das Klavier mit einem klanglich effektvollen Auf und Ab von Sechzehntel-Sexten begleitet, die sich am Ende zu Quarten verengen.

    Auch auf den Worten „betaut von Perlentropfen“ und „umstrahlt von Sonnenglut“ steigt die melodische Linie in diesen Achtel-Sekundschritten an, geht aber bei „Perlentropfen“, dieses lyrische Wort mit einem Akzent versehend, in einen lang gedehnten, sogar mit einer Tonrepetition gestreckten Fall über das Intervall einer Sexte über. Und auch bei „Sonnenglut“ ereignet sich eine solche Dehnung, nun in Gestalt eines taktübergreifenden Verbleibens der melodischen Linie auf der tonalen Ebene eine hohen „E“. Das Klavier, das bislang die Anstiegsbewegungen der Melodik in Gestalt von Oktaven und Akkorden im Diskant mitvollzog, geht hier, bei dieser Dehnung auf der Silbe „-glut“, zu ansteigenden Achteltriolen im Diskant über, die im Bass mit einem arpeggierten E-Dur-Akkord begleitet werden.

    Das ist auch der Klaviersatz, der der Melodik auf dem dritten und dem vierten Vers der ersten Strophe zugeordnet ist, wobei die Achtel-Triolen in immer höhere Lage emporsteigen und der arpeggierte E-Dur-Akkord nur noch einmal erklingt, bei dem lang gedehnten Terzfall auf „Gärtchen“ nämlich, ansonsten aber bilden zwei- bis dreistimmige Akkorde den Klaviersatz im Bassbereich.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Das Heldengrab am Pruth“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Strukturell anders ist auf diesem Verspaar die melodische Linie angelegt. Sie reflektiert darin, dass die lyrische Aussage vom Gestus der Deskription zu dem des Bekenntnisses übergeht: Das lyrische Ich spricht davon, wie es diese kleine Gartenwelt erfährt und wie es sich darin verhält. Und deshalb ist nun sie nun in ihrer Struktur gänzlich frei von dieser Achtel-Sekundanstiegsfigur, entfaltet sich vielmehr in relativ ruhigen, weil im Wert von Vierteln deklamatierten Schritten, die mit nur geringen Abweichungen auf der tonalen Ebene verbleiben und nur dort zu Sprung- oder Fallbewegungen übergehen, wo ein bestimmtes Wort von seiner lyrischen Bedeutsamkeit her eine Hervorhebung erfahren soll. Dies bei „Gärtchen“ (gedehnter Terzfall), „Träume“ (Terzsprung in hoher Lage) „Tag“ (taktübergreifende Dehnung, der ein aus einem doppelten Terzsprung bestehender Anstieg auf den Worten „wie bei“) vorausgeht, und schließlich „Blumen“ (ein wiederum taktübergreifende Fall über eine Quarte).

    Auch die Harmonik weicht in diesem Teil der Liedmusik vom Gestus ihrer Modulationen beim ersten Verspaar ab. Beschrieb sie dort nach dem nur kurz währenden cis-Moll auf den Worten „Ich hab´ ein kleines Gärtchen“ durchweg nur Rückungen von der Dur-Parallele E-Dur zu ihrer Dominante H-Dur, so ereignen sich diese nun zwischen cis-Moll und E-Dur mit einem Ausgriff nach Fis-Dur, der die lange Dehnung auf dem Wort „Tag“ gewissermaßen zum klanglichen Leuchten bringen soll. Wieder Mal ein schönes Beispiel dafür, wie kunstvoll Korngold die Harmonik als liedkompositorisches Ausdrucksmittel einsetzt.

    Weil dieses Gedicht erst am Ende zum Kern und Ziel seiner Aussage findet und dies mit der Wiederholung des Wortes „Held“ auf markante Weise manifestiert, lässt auch Korngold seine Liedmusik in allen Bereichen, ihrer Melodik, deren Harmonisierung und dem Klaviersatz, sich auf markante Weise von der vorangehenden abheben. Die Wahrung des von ihm so sehr geschätzten Strophenliedkonzepts hat dann zur Folge, dass dies auch am Ende der ersten lyrischen Strophe geschieht, bei den Worten „und lausch dem Vogelsang“, wobei er, darin nicht dem lyrischen Text folgend, auch die Worte „und lausch“, wiederholt, dies allerdings in einer Melodik, in der tonalen Ebene und ihrer Harmonisierung von der Version am Ende des Liedes abweicht.

    Nach dem gedehnten und mit einer harmonischen Rückung von der Tonika E-Dur zur Dominante versehenen Quartfall auf „Blumen“ tritt eine Pause im Wert von drei Achteln in die Melodik. Forte setzt darin im Klavierdiskant ein auftaktiger Anstieg von Achteln ein, in den sich die melodische Linie auf den Worten „und lausch“ einfügt, das aber gleichsam stockend, weil sie nach einem Sekundanstieg die Bewegung auf einer Tonrepetition nicht fortsetzt, sondern abbricht. In der Wiederholung dieser Worte, die nun nicht auf der Grundlage eines Dreivierteltakts wie zuvor, sondern eines von zwei Vierteln erfolgt, setzt sie dann aber „poco accel. rit.“ die Anstiegsbewegung in Gestalt eines gedehnten, aber verminderten Sekundanstiegs ein, um auf der Ebene des „Ais“, die damit erreicht wird, nun in einer sehr lange, in Dis-Dur harmonisierte Dehnung auf der ersten Silbe des Wortes „Vogelschlag““ überzugehen, der auf der Silbe „gel“ ein Sekundfall und auf „-schlag“ eine wahrlich gigantische, nämlich zweieinhalb Takte einehmende Dehnung nachfolgt, bei der die Harmonik vom vorangehenden Dis-Dur nach gis-Moll rückt. Die Vortragsanweisung lautet hier „Wieder ziemlich rasch und traumhaft“, und das Klavier begleitet das alles mit lebhaften, auf und ab sich entfaltenden triolischen Achtelfiguren in Diskant und Bass, die vom anfänglichen Forte über ein Decrescendo ins Pianissimo übergehen.

    Noch während dieser so ungewöhnlich langen melodischen Dehnung setzt das Klavier mit der Wiederholung der triolischen Figuren des Vorspiels ein und führt das sechs Takte lang fort, bevor die melodische Linie dann mit den Worten der zweiten lyrischen Strophe einsetzt. Das alles ist auf in allen Bereichen – Melodik, Harmonik, Klaviersatz und Dynamik – auf hohe Expressivität hin angelegte Liedmusik, und es wiederholt sich noch einmal bei den Worten „dem Helden, der drinn ruht“. Wieder dieser stockende, auf einer Repetition innehaltende Sekundanstieg der melodischen Linie auf „dem Helden“, - nun allerdings auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene und in gis.Moll harmonisiert. Bei der Wiederholung dieser Worte geht die melodische Linie erneut in eine Dehnung über, dieses Mal aber auf der tonalen Ebene eines „Dis“ in hoher Lage und nicht so weit ausgreifend, vielmehr nur eineinhalb Takte in Anspruch nehmend. Denn die große Dehnung folgt erst nach. Es ist die wieder mit der Anweisung „Ziemlich rasch und traumhaft“ versehene auf dem Wort „ruht“.

    Sie liegt auf einem „Cis“ in oberer Mittellage, nimmt zweieinhalb Takte ein und wird vom Klavier wieder mit den mittendrin pianissimo einsetzenden Figuren des Vorspiels begleitet, deren Vortrag das Klavier nach dem Verstummen der Singstimme über weitere drei Takte fortsetzt, um die Liedmusik schließlich in einer Folge von mit aufsteigenden Achteln im Bass begleiteten Oktaven im Diskant ausklingen zu lassen, wobei sich eine harmonische Rückung von cis-Moll nach E-Dur ereignet.

  • „Sommer“, op.9, Nr.6

    Unter spärlich grünen Blättern,
    unter Blumen, unter Blüten
    hör' ich fern die Amsel schmettern
    und die kleine Drossel wüten.

    Auch ein Klingen fein und leise,
    schneller Tage schneller Grüße,
    eine wehe Sommerweise,
    schwer von einer letzten Süße.

    Und ein glühendes Verbrennen
    schwebt auf heißen Windeswellen,
    taumelnd glaub' ich zu erkennen
    ungeschriener Schreie Gellen.

    Und ich sitze still und bebe,
    fühle meine Stunden rinnen,
    und ich halte still und lebe,
    während Träume mich umspinnen.

    (Siegfried Trebitsch)

    Der lyrische Text stammt von dem 1868 in Wien geborenen und 1956 in Zürich gestorbenen österreichischen Lyriker, Dramatiker und Erzähler Siegfried Trebitsch, der sich vor allem durch Unterhaltungsliteratur einen Namen machte.

    Impressionen, als Ich-Erfahrungen von Sommer pointillistisch gereiht, erst akustisch laute bis heftige, das „Schmettern“ einer Amsel, das „Wüten einer Drossel, dann aber leise verklingend eine „wehe Sommerweise“, der schwer der Nachklang letzter Süße innewohnt. Dann aber, mit der dritten Strophe, sind diese Impressionen im seelischen Innenraum des lyrischen Ichs angelangt und stoßen sich an dessen Wänden, werden zu grellen Bildern glühenden Verbrennens, heißem Windeswehen bis hin zu einem hochexpressiven Gellen von Schreien, die nie geschrieen wurden und zu schmerzender Erfahrung von Vergänglichkeit werden.
    Und daher, wie ein Nachklang der kontrastiv-schroffen Gegensätzlichkeit der Metaphorik, die Aussage der letzten Strophe. Auch da der Gegensatz, aber wie ein Nachbeben nur noch. Ein stilles Sitzen, dem zugleich ein „Beben“ innewohnt, ein Stillhalten, das von Träumen umsponnen ist, zugleich aber mit der Erfahrung des Rinnens von Lebensstunden einhergeht.

    Das ist zwar keine wirklich große, das Wesen von „Sommer“ sprachlich einfangende, aber durchaus gekonnt gemachte Lyrik, die im hohen evokativen Potential ihrer den Effekt kontrastiver Binnenspannung nutzenden Metaphorik eine zweifellos eine Herausforderung an den Komponisten darstellt, der sie in eine adäquate Liedmusik umsetzen will.
    Dem Komponisten Korngold, der, wie das die bislang vorgestellten Lieder seines Opus 9 gezeigt haben, seine Liedmusik auf hohe klangliche Effektivität hin anlegt, und der eben deshalb vermutlich nach diesem lyrischen Text gegriffen hat, ist das durchaus gelungen.

    Eine klanglich beeindruckende Komposition ist dabei entstanden, - freilich eine, der es an der für ein Lied so wichtigen inneren musikalische Einheit ein wenig fehlt. Die Gründe dafür liegen nicht in der in ihrer inneren Geschlossenheit sehr wohl stimmigen Melodik, vielmehr in ihrer Harmonisierung und im sie begleitenden Klaviersatz.
    In beiden Bereichen der Liedmusik lässt sich Korngold in der Absicht, dem lyrischen Text in seiner Aussage und seiner Metaphorik gerecht zu werden, von dessen kontrastiver und evokativ hochgradiger Expressivität in zu weit gehender Weise hinreißen.

    Dass sich darin ein Wesensmerkmal seiner Liedkomposition ganz allgemein ausdrückt, lässt sich in diesem Fall ganz besonders gut aufzeigen. Von dieser Liedkomposition liegen nämlich zwei Fassungen vor. Die ursprüngliche, die 1910 entstand, und eine Überarbeitung, die im Jahr 1916 erfolgte und dieser Besprechung zugrunde liegt. Ein Vergleich, der hier in detaillierter Weise nicht durchgeführt werden soll, auch weil mir die Noten der Erstfassung nicht vorliegen, lässt deutlich die Absicht Korngolds erkennen, der Liedmusik in ihrer Reflexion der lyrischen Aussage einen höheren Grad an Expressivität zu verleihen. Die Melodik ist identisch, der Klaviersatz aber komplexer, und die Worte des Schlussverses erfahren, anders als in der Erstfassung, eine Wiederholung mit einer exzessiv langen melodischen Dehnung auf dem Wort „umspinnen“.


  • „Sommer“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Der Komposition liegt – wie häufig bei Korngold - das Modell des variierten Strophenlieds zugrunde. Auf den Worten der vierten Strophe liegt bis hin zu den Worten „während Träume“ die Melodik der ersten Strophe, und dies in unveränderter Struktur, gleicher Harmonisierung und mit identischem Klaviersatz. D-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, was angesichts der Handhabung der Harmonik als wesentliches kompositorisches Ausdrucksmittel nur bedeutet, dass die Liedmusik auch in dieser Tonart endet. „Nicht zu langsam (zart bewegt)“ lautet die Vortragsanweisung. Ein eintaktiges Vorspiel erklingt im Pianissimo, bevor die melodische Linie einsetzt. Es besteht aus einer Abfolge von Sechzehntel-Figuren im Diskant, die mit einem Oktavsprung einsetzen und danach in einen Fall übergehen, der über zwei Intervalle zur tonalen Ausgangsebene zurückkehrt.

    Diese Figur stellt in ihrer Grundstruktur den Inhalt des Diskants bis hin zum Nachspiel dar, nur dass sie höchst vielgestaltige Variationen durchläuft, von Verkürzungen des Fall-Intervalls bis hin zu verkürzten triolischen Varianten. Der Bassbereich des Klaviersatzes weist in seiner Komplexität keine durchgehende Grundstruktur auf. Die ihn prägenden Figuren reichen von mehrstimmigen, in Einzeltöne auslaufenden triolischen Akkordfolgen, aufsteigend angelegten, partiell triolischen Achtelketten bis zu aus tiefe in hohe Lage aufschießenden mehrstimmigen, aber wiederum als Triolen angelegten Achtel- und Sechzehntel-Akkorden.

    Dieser Klaviersatz ist in seiner vielgestaltigen Komplexität durchaus repräsentativ für die wesenhaft auf klangliche Expressivität und Effektivität angelegte Liedmusik Korngolds. Hier, bei diesen als „einfache“ deklarierten Liedern seines Opus 9, hält sich das noch in relativen Grenzen, in den nachfolgenden Opera aber erfährt der Klaviersatz in der Komplexität seiner kompositorischen Faktur noch eine Steigerung. Und von daher war es nur konsequent, dass Korngold zu einer Orchestrierung seiner Klavierlieder übergegangen ist.

    Die, weil in der letzten wiederkehrende und deshalb das musikalische Zentrum des Liedes bildende und seinen klanglichen Charakter prägende Melodik der ersten Strophe entfaltet sich in ruhigen-gebundenen deklamatorischen Sekund-Schritten und steigert sich auf eindrückliche Weise in zwei bogenförmigen Bewegungen aus tiefer in obere Mittellage, um danach unter Beibehaltung dieser wellenartigen Grundstruktur mit einem Sekundfall auf dem Wort „wüten“ in Kadenzmanier auf dem Grundton „G“ in Mittellage zu enden. Das Klavier folgt ihr darin durchgehend mit seinen sprunghaft einsetzenden Sechzehntel-Figuren im Diskant.

    Darin, in dieser wesenhaft gleichförmigen, weil deklamatorisch stark vom Intervall der Sekunde geprägten und zunächst in schlichter Rückung von der Tonika zur Subdominante harmonisierten Entfaltung reflektiert sie die Ruhe, die von den lyrischen Bildern der ersten Strophe ausgeht. Um deren metaphorischem Gehalt aber voll und ganz gerecht zu werden, behält sie diese Gleichförmigkeit nicht bis zum Strophenende bei. Bei den Worten „hör´ ich fern die Amsel schmettern“ tritt nach dem anfänglichen Sekundfall auf dem Wort „Amsel“ ein Legato-Terzsprung in sie, und schon vorher beschreibt die Harmonik eine durchaus überraschende Rückung von der vorangehenden Subdominante C-Dur nach E- Dur, um von dort erst zu einem A-Dur überzugehen und schließlich bei dem Sekundfall auf dem Wort „schmettern“ in eine geradezu befremdlich wirkende Rückung nach F-Dur überzugehen.

    Das ist ein typisches Beispiel für die Art und Weise, wie Korngold die Harmonik als liedkompositorisches Ausdrucksmittel benutzt. Kühn, völlig losgelöst von der Tradition der harmonischen Fortschreitung verfährt er dabei. Und es mutet oft durchaus schroff, weil ganz und gar modulatorisch unvermittelt an. Nach diesem F-Dur auf „schmettern“ ist der in drei Sekundschritten erfolgende melodische Anstieg auf den Worten „und die kleine“ in E-Dur mit Rückung nach a-Moll harmonisiert. Und auf dem nachfolgenden Wort „Drossel“ beschreibt die melodische Linie dann eine vom Gestus ihrer bisherigen Entfaltung markant abweichende, weil mit einem Quartsprung einsetzende, in einen Legato-Sekundfall übergehende und sich in einem weiteren, nun aber lang gedehnten Sekundfall fortsetzende Bewegung, die nun in C-Dur harmonisiert ist und schließlich in dem schon erwähnten Kadenz-Sekundfall hin zum Grundton endet, der natürlich in die Tonika G-Dur gebettet ist.

    Bei der aus dem Grund-Gestus der Melodik dieser Strophe herausragenden Figur auf „Drossel“ weicht auch der Klaviersatz von seinem bislang praktizierten Verfahren ab, der Bewegung der melodischen Linie mit seinen Diskant-Sechzehntelfiguren zu folgen und im Bass dazu in der tonalen Ebene weit ausgreifende, aus einer Akkordfolge hervorgehende Achtel erklingen zu lassen. Hier, beim lang gedehnten melodischen Sekundfall auf „Drossel“ schwingen sich die Sechzehntelfiguren in hohe Lage auf und werden dabei von einem Legato-Sprung eines aus einem arpeggierten Akkord vorgehenden vierstimmigen C-Dur-Akkord begleitet.

    In all diesen auf markante Weise aus der liedmusikalischen Grundlinie ausbrechenden Ereignissen in Melodik, Harmonik und Klaviersatz manifestiert sich, und das auf durchaus repräsentative Weise, die Intention Korngolds, der Aussage des lyrischen Textes und seiner Metaphorik unter Einsatz hochgradig expressiver kompositorischer Mittel gerecht zu werden. Die Liedmusik auf den Strophen drei und vier liefert dafür weitere Beispiele, die kurz aufgezeigt werden sollen.

    Auf den Worten „Auch ein Klingen fein und leise“ beschreibt die melodische Linie, darin das Strophenlied-Konzept reflektierend, den gleichen Sekundanstieg wie auf dem ersten Vers der ersten Strophe, nun allerdings auf einer um eine Quarte angehobenen tonalen Ebene und in D-Dur harmonisiert. Bei den beiden nachfolgenden Versen geht sie in einen lang gestreckten und durch einen Sekund- und einen Terzsprung bei dem Wort „schneller“ gestaffelten Fall über das Intervall einer ganzen Oktave über, der in Sekundschritten erfolgt, von denen allerdings zwei verminderte darstellen. Dies deshalb, weil sich die Harmonik hier auf markante Weise von der Tonika G-Dur entfernt. Über C-Dur geht sie zu Rückungen nach Es- und As-Dur über, und bei dem melodischen Terzsprung auf dem wiederkehrenden Wort „schneller“ ereignet sich gar eine Rückung vom vorangehenden A-Dur nach Fis-Dur, und der Sekundfall, der auf dem Wort „Grüße“ liegt, ist in E-Dur harmonisiert.
    Die Liedmusik fängt auf diese Weise die Erfahrung der Vergänglichkeit ein, die sich im zweiten Vers ausdrückt.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Sommer“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Erfahrung on Vergänglichkeit wohnt auch dem zweiten Verspaar inne, hier aber ist sie nun angereichert mit der Anmutung von Wehmut und dem Nachklang einer „letzten Süße“. Und das hat zur Folge, dass die melodische Linie zu dem Wort „Sommerweise“ hin in einen starken, weil über eine Terz, einen Sekunde und eine Quinte erfolgenden Anstieg aus tiefer Dis-Lage bis zu einem hohen „E“ übergeht, der in Gis-Dur mit Rückung nach A-Dur harmonisiert ist und vom Klavier mit sprunghaft angelegten Triolen im Diskant mitvollzogen wird. Dieser Anstieg setzt sich auch noch bei dem Wort „Sommerweise“ bis in extrem hohe Diskantlage fort, die melodische Line geht hier aber in einen Fall in eine Abwärtsbewegung in Gestalt von einem zweimaligen Fall über eine Quarte über, wobei die Harmonik eine Rückung von D-Dur nach C-Dur vollzieht.

    Dass Korngold dem lyrischen Bild von der „letzten Süße“ besondere musikalische Expressivität verleiht, liegt ganz auf der Linie seiner liedkompositorischen Grundintention. Er lässt deshalb die melodische Linie auf diesen Worten erst nach einer Pause im Wert von einer halben Note einsetzen. Und dann darf sie nach einer Folge von zwei im Intervall von der Sekunde zur Quinte sich steigernden Sprungbewegungen, die in Gis-Dur harmonisiert und von in extrem hoher Diskantlage ansteigenden Triolen begleitet sind, auf dem Wort „Süße“ in einen lang gedehnten und in einem Legato einsetzenden und sich über fast den ganzen nachfolgenden Takt erstreckenden Fall über eine ganze Oktave übergehen, der in E-Dur mit Zwischenrückung zur Dominante harmonisiert ist.

    Das hochexpressive evokative Potential der lyrischen Bilder der dritten Strophe lässt die Melodik in einen dramatischen Gestus übergehen, der in dem ihm innewohnenden Steigerungseffekt an Richard Wagner erinnert. Die hochgeschraubte lyrische Sprachlichkeit legt das ja geradezu nahe. Bei den Worten „Und ein glühendes Verbrennen“ beschreibt die melodische Linie einen geradezu rasanten und aus einem verminderten Sekundsprung eben diese Rasanz beziehenden Legato Septsprung aus tiefer F- zu hoher E-Lage und geht bei dem Wort „Verbrennen“ nach einer Tonrepetitionen in einen ebenso ausdrucksstarken Fall über eine Sexte über, dem zu „schwebt“ hin ein verminderter Sekundanstieg nachfolgt. Genauso expressiv ist der begleitende Klaviersatz angelegt: Die triolischen Figuren überspannen nun im Diskant das extreme Intervall von mehr als zwei Oktaven, während im Bass auf dem ersten Verspaar durchweg lang gehaltene bitionale Akkorde auf der konstanten Ebene eines tiefen „E“ erklingen.

    Auf den Worten „schwebt auf heißen Windeswellen“ setzt die melodische Linie diesen Gestus der dramatischen Steigerung weiter fort, indem sie einen bis zu einem hohen „G“ ausgreifenden Bogen beschreibt, der in einer Rückung von C-Dur nach F-Dur harmonisiert ist. Und das „Taumeln“ des „Erkennens“, um das es lyrisch im zweiten Verspaar geht, reflektiert sie in der Weise, dass sie, mit der Anweisung „immer steigernd“ versehen, zur Entfaltung in vier kleinen, durch Achtelpausen voneinander abgehobenen Melodiezeilen übergeht, die, nun ganz und gar in Moll gebettet (a-Moll, c-Moll), in der tonalen Ebene ansteigen, um am Ende, bei den Worten „Schreie Gellen“ den Gipfelpunkt der Expressivität zu erreichen. Dies in Gestalt einer Folge von zwei Fallbewegungen über eine Quinte, von denen die zweite eine Terz höher ansetzt. Und das Klavier imaginiert nachfolgend diese „Schreie“, indem es fortissimo einen in hoher Lage ansetzenden Fall von vier- und fünfstimmigen, mit Portato-Zeichen versehenen B- und Es-Dur- Akkorden erklingen lässt, der über einen d-Moll-Akkord in einen B7-Akkord in tiefer Lage endet.

    Danach setzen im Klavierdiskant die Sechzehntelfiguren der ersten Strophe ein, und die Worte der letzten Strophe werden auf deren Melodik deklamiert, wobei auch Harmonik und Klaviersatz die gleichen sind. Diese Wiederholung der Anfangs-Liedmusik erstreckt sich nicht über die ganze vierte Strophe. Bei dem gedehnten Doppel-Sekundfall auf „Träume“, der noch mit dem auf dem Wort „Drossel“ in der ersten Strophe identisch ist, reißt die Wiederholung ab.

    Das lyrische Bild des letzten Verses ist für Korngold zu vielsagend und bedeutsam, als dass er auf eine Wiederholung verzichten könnte. Und so geht die melodische Linie denn ohne Pause bei dem Wort „während“ wieder in einen Sekundanstieg über, nun allerdings auf einer um eine Quarte angehobenen tonalen Ebene, beschreibt bei „Träume“ erneut einen Fall, dieses Mal aber einen, der mit einem Quintsprung in hohe Lage einsetzt und sich legato und „poco a poco rit.“ über das Intervall einer Sexte erstreckt, um in einem ausdrucksstark gedehnten Legato-Sextfall auf „mich“ zu enden.

    Und dann überlässt sich die melodische Linie ungehemmt einer geradezu endlos wirkenden Dehnung auf dem Wort „umspinnen“, und dies in Gestalt eines Sich-Absenkens in Sekundschritten von der tonalen Ebene eines „H“ über das eines „A“ bis hin zu der des Grundtons „G“, das sich über zweieinhalb Takte erstreckt, wobei die Harmonik eine Zwischenrückung von der Tonika G-Dur zur Dominante beschreibt und das Klavier seine triolischen Sechzehntel-Figuren einen Anstieg aus mittlerer bis in extrem hohe Diskantlage beschreiben lässt, um am Ende, nachdem die melodische Dehnung ausgeklungen ist, in einen Pianissimo-Fall hin zu mittlerer Lage überzugehen, auf dass die Liedmusik in einem achtstimmigen G-Dur-Akkord ausklingen kann.
    Aber da wäre nicht der das ganze Potential klanglicher Effekte nutzende Korngold am Werk, wenn es dabei bliebe. Ein vierstimmiger G-Dur-Akkord muss pianissimo in hoher Diskantlage noch nachklingen.

  • „Lieder des Abschieds“, op.14

    Die vier Lieder dieses Opus 14, das1921 publiziert wurde, reflektieren in der Wahl der ihnen zugrunde liegenden lyrischen Texte und dem spezifischen Charakter der Musik, in die sie umgesetzt sind, die lebensweltlichen Erfahrungen, die Korngold in der Zeit des Ersten Weltkriegs gemacht hat. Vermutlich gründet darin das hohe klanglich evokativ-affektive Potential, durch das sie sich auszeichnen und zu aus seinem kompositorischen Werk herausragenden Liedern geworden sind.

    „Sterbelied“, op.14, Nr.1

    Laß Liebster, wenn ich tot bin,
    Laß du von Klagen ab.
    Statt Rosen und Cypressen
    Wächst Gras auf meinem Grab.

    Ich schlafe still im Zwielichtschein
    In schwerer Dämmernis -
    Und wenn du willst, gedenke mein
    Und wenn du willst, vergiß.

    Ich fühle nicht den Regen,
    Ich seh' nicht, ob es tagt,
    Ich höre nicht die Nachtigall,
    Die in den Büschen klagt.

    Vom Schlaf erweckt mich keiner,
    Die Erdenwelt verblich.
    Vielleicht gedenk ich deiner,
    Vielleicht vergaß ich dich.

    (Georgina Rossetti)

    Der lyrische Text stammt von der 1830 in London geborenen und 1894 daselbst auch gestorbenen, also dem viktorianischen Zeitalter zugehörigen Dichterin Christina Georgina Rossetti, deren Lyrik ihre Schwerpunkte in den Themen Liebe, Leid, Schmerz und Tod hat. Diese Verse, die Alfred Kerr ins Deutsche übertragen hat, sind in der Art und Weise, wie das Thema „Tod“ abgehandelt wird, durchaus repräsentativ für ihr lyrisches Schaffen.
    Ein depressiver Grundton von Leid und Klage wohnt ihnen inne. Der Tod wird als Eingang ins Nichts erfahren, - eine Sphäre ewigen Schlafs in „Zwielichtschein“ und „schwerer Dämmernis“, in der es keinerlei Nachklang irdischen Lebens mehr gibt, so dass jegliches Bemühen, in Gestalt von Totenklage und Gedenken von dort eine Brücke hierher zu schlagen, sinnlos erscheinen muss.

    Korngolds Liedmusik vermag diesen lyrischen Grundton auf durchaus adäquate und deshalb überzeugende Weise einzufangen. Sie ist zwar als variiertes Strophenlied angelegt, wobei der Faktor Variation aber so stark ausgeprägt ist, dass im Grunde eine Durchkomposition vorliegt. Auf den Worten der dritten Strophe kehrt die Liedmusik der ersten wieder, von dem Wort „Nachtigall“ an nimmt die melodische Linie dann aber eine neue Gestalt an. Und bei der vierten Strophe beschränkt sich die Wiederkehr der Melodik der zweiten auf die Worte des ersten Verses, aber selbst hier ereignet sich schon eine Variation gegen Ende der Zeile, von der Tatsache abgesehen, dass auch die Harmonisierung eine andere ist.
    Ganz offensichtlich hat die Absicht, die affektive Tiefendimension des lyrischen Textes liedmusikalisch zu erfassen, Korngold dazu genötigt, vom von ihm ansonsten bevorzugten Konzept des variierten Strophenlieds weitgehend abzuweichen.


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