Ernst Krenek. „Reisebuch aus den österreichischen Alpen“, op.62

  • „Heimkehr“ (III)

    Bemerkenswert ist, dass mit dem vierten Vers die Melodiezeilen nicht mehr jeweils den ganzen Vers umfassen, sondern aus kleineren Einheiten bestehen, die durch halbtaktige Pausen voneinander abgehoben werden. Darin schlägt sich die Zukunftsorientiertheit der textlichen Aussagen nieder, die sich sprachlich in den Worten „und so werd´ ich“ und „will es“ ausdrückt. Bei den beiden Zeilen, die mit diesen Worten eingeleitet werden, reflektiert die melodische Linie die Haltung des Wollens dergestalt, dass sie ein ruhiges, in gewichtigen, weil zumeist in deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten erfolgendes Auf und Ab über größere Intervalle beschreibt. Das Klavier akzentuiert dies mit im Bass legato ausgeführten Sprung- und Fallbewegungen von Einzeltönen in Gestalt von halben Noten, und die Harmonik moduliert, die Entschiedenheit des Ichs unterstreichend, indem sie C-Dur nur zweimal kurz verlässt, - einmal mit einer Rückung in die Subdominante, und ein anderes Mal mit einem nur kurzen Ausgriff nach b-Moll, der bezeichnenderweise auf dem gedehnten Terzfall bei dem Wort „reisen“ erfolgt, - all die Emotionen musikalisch reflektierend, die sich für das Ich mit diesem Wort verbinden.

    Wenn dann aber, wie dies beim drittletzten Vers der Fall ist, der Wunsch und die Sehnsucht nach „Heimat“ angesprochen werden, kommt eine deutlich vernehmbare emotionale Komponente in die Liedmusik. Schon in der Harmonik kommt dies in gleichsam einleitender Weise dadurch zum Ausdruck, dass sie im kurzen Zwischenspiel vor dem Einsatz der melodischen Linie auf den Worten „Doch möge mir vergönnt sein“ eine Rückung in die Dominantsepte der Tonart „As“ vollzieht, diese auch beibehält, bevor sie bei dem melodischen Quartsprung auf den Worten „vergönnt sein“ nach Des-Dur rückt. Die melodische Line selbst weist einen deutlich ausgeprägten immanenten Steigerungseffekt auf. In ruhigen, wieder zumeist in Gestalt von halben Noten erfolgenden deklamatorischen Schritten beschreibt sie zunächst zwei in obere Mittellage führende Aufstiegsbewegungen, wobei die tonale Ebene, zusammen mit einer harmonischen Rückung nach B-Dur eine Anhebung erfährt.

    Und wie stark hier Emotionen in die Liedmusik einfließen, das wird ganz besonders darin vernehmlich, dass die melodische Linie bei den Worten „Heimat dann zu finden, wenn ich wiederkehre“ nach einem gedehnten Quintfall sich erst noch einmal zu einem Quartsprung aufzuraffen scheint, danach aber über einen ausdruckstarken Sextfall in tiefe Lage absinkt und dort, nach einem neuerlich kurzen Sich-Aufraffen in Gestalt zweier Sekundschritte aufwärts, in ein sehr lange, zwei Takte einnehmende Dehnung in tiefer Lage auf dem Wort „wiederkehre“ übergeht. Sie erfolgt aus einem Quintfall und ereignet sich als Sekundanstieg von einem tiefen „Es“ zu einem lang gedehnten „F“ und einer Rückkehr zum „Es“. Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung von Es-Dur über B-Dur nach c-Moll.
    Man meint in diesem, mit einem Decrescendo vom Forte ins Piano verbundenen, Sich-Zurücknehmen der Liedmusik in verhaltene Innigkeit den Ausdruck des großen existenziellen Gewichts zu vernehmen, den „Heimat“ für dieses Ich hat.
    Und die beiden letzten Melodiezeilen vernimmt man als eindrucksvolle Bestätigung dafür. Dies allerdings, bedingt durch die nach langer Pause erklingende letzte Zeile, in durchaus ambivalenter Weise.

  • „Heimkehr“ (IV)

    Bei den Worten „Möchtest du, unser schönes Land, mir Heimat sein!“ nimmt die melodische Linie einen Grad an klanglicher Innigkeit an, wie er in diesem Zyklus tatsächlich singulär ist. Man ist ihm bislang nicht begegnet und das wird auch im nachfolgend letzten Lied nicht mehr der Fall sein. Auf den Worten „möchtest du“ liegt ein – „calando“ vorzutragender – gedehnter Terzfall, nach dem die melodische Linie mit einem Sekundsprung in eine lange, den ganzen Takt einnehmende Dehnung übergeht. Die Harmonik vollzieht dabei die klassische Rückung von der Dominante Es-Dur zur Tonika As-Dur, und das Klavier begleitet mit nun klanglich zart anmutenden, weil erst aus einer Terz und danach aus einem Einzelton bestehenden Tonrepetitionen im Diskant. Und danach steigert sich die melodische Linie noch in diesem Gestus. Bei den Worten „Heimat sein“ tritt zur Anmutung von Innigkeit noch die der Lieblichkeit hinzu. Sie beschreibt einen kleinen Sekundsprung in der hohen Lage eines „Es“, und dies in Gestalt eines zwei Takte einnehmenden deklamatorischen Schrittes. Danach kehrt sie wieder zum Ausgangston „Es“ zurück.
    Das Klavier begleitet hier nun mit repetierenden Quinten und Quarten im Diskant und arpeggierenden Akkorden im Bass, und die Harmonik beschreibt nun die, wiederum klassische, Rückung über die Dominante B-Dur zur Tonika Es-Dur.

    Eine zweieinhalbtaktige Pause folgt für die Singstimme nach, in der das Klavier einen klanglich lieblich wirkenden Bogen aus dreistimmigen Es- und B-Dur-Akkorden erklingen lässt, der aber in überraschender Weise in einen Ces-Dur-Akkord mündet. Nach einer Viertelpause, die eine Generalpause darstellt, weil die Singstimme ja noch immer schweigt, setzt diese – „sostenuto“ – zum Vortrag der melodischen Linie auf den Worten „Liebes Vaterland“ an. Dies geschieht in Gestalt von sehr ruhigen, weil nur im Wert von halben Noten erfolgenden deklamatorischen Schritten. Die melodische Linie beschreibt dabei erst einen Terzfall in tiefer Lage und geht danach mit einem Quartsprung zu einer kleinen Bogenbewegung über, die auf der Terz der Tonika Es-Dur endet. Das Klavier begleitet dies mit aus hoher in tiefe Lage fallenden und pianissimo angeschlagenen Oktaven und lässt zum dem letzten Ton der melodischen Linie einen Es-Dur-Akkord erklingen.

    Das klanglich Seltsame ist dabei freilich: Die Liedmusik steht bei dieser letzten Zeile anfänglich unter dem Bann des zuvor erklingenden Ces-Dur-Akkords. Und im Zusammenspiel von melodischer Linie und den fallenden Oktaven im Klaviersatz bildet sich sogar eine kurze harmonische Rückung nach Fes-Dur, bevor der Schluss-Akkord Es-Dur erklingen kann.
    Was ereignet sich liedmusikalisch hier? Und wie ist es zu deuten?
    Ungewöhnlich ist ja auch, dass das Ich erst bei diesen letzten Worten, in denen aus der „Heimat“ das „Vaterland“ wird, in den Gestus der Frage übergeht. Dieser letzte Vers weist ein Fragzeichen auf, der vorangehende, mit dem Wort „Heimat“ als Zentrum, aber ein Ausrufezeichen.
    Will die Liedmusik mit diesem ungewöhnlichen und überraschenden Bruch in der Harmonisierung der letzten kleinen Melodiezeile die tiefe innere Ungewissheit des Ichs hinsichtlich der existenziell so gravierenden Frage zum Ausdruck bringen, ob „Vaterland“ zugleich auch „Heimat“ sein könne, - bergend und identitätsstiftend zugleich sein, wie es sich das so sehr wünscht?
    Man kann diesen Liedschluss sehr wohl so verstehen.

  • Lied 20: „Epilog“

    Am Tag nach meiner Heimkehr geh´ ich durch das Weindorf im Osten der Stadt.
    Seltsam ist die Straße, die hinführt.
    Kein Haus an ihrem Rand, kein Fenster, das dich grüßt –
    und doch Bauten die ganze lange Straße hin,
    niedrig, düster, mit schmalen Pforten wie die Gräber orientalischer Könige.
    Schläft auch ein König drin, still hinter den dichten grünen Läden: der Wein.
    Auf einem Tor steht ein merkwürdiger Spruch, einem Grab so angemessen wie einem
    Weinkeller auch:
    Ich lebe, und weiß nicht, wie lang.
    Ich sterbe, und weiß nicht, wann.
    Ich geh´, und weiß nicht, wohin,
    mich wundert´s, daß ich noch fröhlich bin.
    Betroffen steh´ ich still. Letzte Weisheit alles Reisens, ja des ganzen Lebens?
    Hier so nahe? Ewiger Zwiespalt der Kreatur!
    Und doch ist´s anders, denk´ ich drüber nach:
    Ich lebe, und weiß nicht, wie lang.
    Ich sterbe, und weiß nicht, wann.
    Ich geh´, und weiß nicht, wohin,
    doch mich wundert´s trotzdem nicht, daß ich trotzdem fröhlich bin!

    Dieses letzte Lied des Zyklus, das am 26. Juli 1929 entstand, will als „Epilog“ gehört und verstanden werden, und es ist, wenn man dem nachkommen möchte, durchaus reizvoll, der Frage nachzugehen, was es einem im Sinne einer Bilanz und eines Kommentars zu sagen hat.
    Vielsagend tritt es gleich mit den ersten Takten auf. „Andante sostenuto, lugubre (düster, erzählend) lautet die Vortragsanweisung für die ganze Komposition, und das Klavier nimmt sie gleich am Anfang, im fünftaktigen Vorspiel, beim Wort: Nach einem fortissimo ausgeführten triolischen Sechzehntel-Anstieg in tiefer Basslage erklingen dort, staccato angeschlagen, und von Viertelpausen unterbrochen, also wie stockend daherkommende Achtel-Sekundakkorde, wobei das anfängliche Forte mit einem Decrescendo ins Piano übergeht. Danach ereignet sich das Gleiche noch einmal, bevor die Singstimme dann im fünften Takt mit einem Terzanstieg in tiefer Lage auf den Worten „Am Tag“ einsetzt.

    Das aber geschieht a cappella. Das Klavier ist nach den letzten beiden Staccato-Sekunden verstummt, und es lässt die Singstimme den ganzen, und ja doch recht langen ersten Vers ohne jegliche Begleitung deklamieren. Nachdem dies geschehen ist, setzt es erneut, während die Singstimme für zwei Takte schweigt, mit dieser Figur des Vorspiels ein, und dieser Wechsel zwischen deklamatorischem a-Cappella-Auftritt der Singstimme und einem gleichsam monologisch sich artikulierenden Klavier setzt sich bis zum Ende des dritten Verses fort. Erst dann kommt es zu einem Zusammenspiel der beiden. Das reicht aber nur bis zum sechsten Vers einschließlich. Die Worte „Auf einem Tor steht ein merkwürdiger Spruch, einem Grab so angemessen wie einem Weinkeller auch“ (Vers 7), „und weiß nicht, wann“ (Vers 9), „Betroffen steh´ ich still“ (Vers 12) und „und weiß nicht wann“ (Vers 16) werden erneut ohne Begleitung durch das Klavier deklamiert, und in allen Fällen geschieht dies in einem ausgeprägt rezitativischen Gestus.


  • „Epilog“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die Melodik dieses Liedes, und damit auch sein spezifischer klanglicher Charakter, sind ganz und gar von diesem Gestus rhetorischer, eng wortbezogener Deklamation geprägt. Das macht an sich ja den liedkompositorischen Geist des ganzen Zyklus aus, aber in diesem letzten unter seinen Liedern steigert sich das noch, erreicht dieser Geist also seine Kulmination, indem sich die Liedmusik über ganze Passagen ins reine, nicht accompagnierte Rezitativ zurückzieht. Das ist natürlich dem zugrundeliegenden Text geschuldet, der sich seinerseits in der deskriptiven und gedanklich-reflexiven Prosa eines „Epilogs“ ergeht. Musikalische Lyrik ist damit ausgeschlossen.

    Das alles mutet aber in sich höchst stimmig an. Denn dieser Liedmusik wohnt Dunkelheit und Düsternis inne. Die tiefen und harten, wie Trommelwirbel und –schläge anmutenden Sechzehntel-Triolen und bitonalen Sekund-Akkorde, mit denen sie im Vorspiel auftritt, erweisen sich als gleichsam programmatisch. Sie wirken in ihrer Wiederkehr in den drei Pausen am Ende der Singstimmen-Rezitative wie Kommentare, die deren Aussage nicht nur bestätigen, sondern sogar mit ihren klanglichen Mitteln in ihrem Gehalt noch steigern. Und in dessen Zentrum steht ein Ich, das sich in der „Heimkehr“ mit einem Mal wie ein Fremder vorkommt, auf einer seltsam-befremdlich anmutenden Straße einhergehend und nicht gegrüßt von den Häusern und Fenstern an ihrer Seite. Und das Gefühl der Einsamkeit, ja vielleicht sogar Verlorenheit, das sich dabei einstellt, findet seinen adäquaten Ausdruck in der klanglichen Einsamkeit des auf jegliche Begleitung, kantabel gebundene Melodik und harmonische Verortbarkeit verzichten müssenden Rezitativs.

    Mit den Worten „und doch Bauten die ganze lange Straße hin“ treten Singstimme und Klavier zwar in ein Zusammenspiel ein, aber beide lassen dabei nicht von ihrem wesenhaft monologischen Gestus ab: Die Singstimme nicht von ihrem rezitativisch deklamatorischen Habitus, der sich in einem häufig repetierenden Verharren auf der gerade eingenommenen tonalen Ebene und dem Staccato-Gestus ihrer Schritte niederschlägt; das Klavier nicht, indem es sich weiterhin, nun allerdings in Bass und Diskant, auf das Sich-Ausdrücken in klanglich markant auftretenden Einzeltönen (Halbe, punktierte Viertel und Achtel) beschränkt.

    Ein wirkliches Zusammenspiel ist das nicht, was sich hier ereignet. Es mutet eher an wie eine Fortsetzung der liedmusikalischen Expression von Einsamkeit, und so lässt denn das Klavier konsequenterweise die Singstimme wieder allein, wenn sie Worte „wie die Gräber orientalischer Könige“ auf einer melodischen Linie deklamiert, die nach vielen Tonrepetitionen in tiefer Lage sich zwar mit einem triolischen Sprung zu mittlerer erhebt, aber danach mit einem Sextfall in noch tiefere abstürzt. Auch hier geht der Harmonik jegliche Verortbarkeit in einer bestimmten Tonart ab, sie moduliert permanent in eminent chromatischem Moll und tonartlicher Verminderung.

    Bei den Worten „Schläft auch ein König drin, still hinter den dichten grünen Läden: der Wein“ entfaltet sich die melodische Linie in stärker gebundenen deklamatorischen Schritten. Auf den Worten „König drin“ liegt eine ausdrucksstarke Kombination aus gedehntem Terzsprung und Septfall, die das Klavier mit zwei länger gehaltenen Akkorden akzentuiert, wobei sich eine Rückung von G-Dur nach E-Dur ereignet. Danach steigt die melodische Linie schon wieder in partiell triolischen Achtelschritten in obere Mittellage empor. Die Worte „Läden“ und „der Wein“ werden dann wieder durch melodische Fall- , bzw. Sprungbewegungen mit einem Akzent versehen.
    Verwunderlich mutet an, dass das Klavier am Ende der melodischen Dehnung, die auf dem Wort „Wein“ liegt, einen stark dissonanten und mezzoforte ausgeführten arpeggierten Akkord erklingen lässt, der vom Bass bis in den hohen Diskant reicht. Die ganze melodische Linie auf diesem Vers mutet ohnehin so an, als rede das Ich hier von einem fernen, geheimnisvollen und ihm im Grunde fremden Wesen. Der nachträglich erklingende dissonante Akkord wirkt wie eine Bekräftigung dieser Aussage.

  • „Epilog“ (II)

    Mit dem siebten Vers („Auf einem Tor steht ein merkwürdiger Spruch…“) kommt das Lied zu seinem zentralen Thema. Die Singstimme führt dahin, indem sie wieder in den Gestus des Rezitierens ohne Klavierbegleitung verfällt, der sich längst als Ausdruck der Einsamkeit erwiesen hat, von der das Ich sich bei seinem Gang durch die Straßen und Gassen umgeben fühlt. Hier aber kommt dieser rezitativischen Passage des Liedes noch eine zusätzliche Funktion zu: Sie steigert die herausragende Stellung noch, die dem Zitieren des „seltsamen Spruches“ infolge seiner spezifischen liedmusikalischen Faktur an sich schon zukommt. Jedem dieser kleinen Verse ist eine eigene Melodiezeile zugeordnet, die Worte „ich sterbe“ erhalten sogar eine eigene, und längere Pausen, und in einem Fall eine melodische Dehnung, bewirken dabei, dass die Aussagen ein starkes liedmusikalisches Gewicht erhalten.

    Aber es kommen noch weitere kompositorische Elemente hinzu, die vernehmlich werden lassen, dass die Liedmusik hier zu ihrem Zentrum gefunden hat: Die Melodik entfaltet sich nun – auf geradezu überraschende Weise – in gebundenen, liedhaft wirkenden deklamatorischen Schritten, das Klavier leistet in Gestalt von in Bass und Diskant gegenläufigen Akkordfolgen einen eigenständigen, die melodische Linie in ihrer Aussage bereichernden Beitrag, und die Harmonik beschreibt, auch das ungewöhnlich in diesem Lied, Rückungen in Gestalt länger gehaltener Tonarten, bzw. Tongeschlechter.

    So liegt auf den Worten „ich lebe“ ein aus einem Quartsprung hervorgehender gedehnter Oktavfall, zu dem das Klavier fortissimo einen reinen, lang gehaltenen sechsstimmigen Es-Dur-Akkord erklingen lässt. Auf den Worten „ich sterbe“ liegt eine zweischrittige, partiell gedehnte und sich über eine ganze None erstreckende melodische Fallbewegung, die das Klavier mit einem hochexpressiven, in hoher Diskantlage ansetzenden Fall von Viertel- Akkorden begleitet, dem im Bass Oktaven entgegenlaufen. B-Moll-Harmonik herrscht vor. Diese Fallbewegung der melodischen Linie wiederholt sich noch einmal bei den Worten „ich geh´, und weiß nicht, wohin“, aber höher ansetzend, in mehr deklamatorischen Schritten und in f-Moll harmonisiert, und sie wird vom Klavier in gleicher Weise begleitet.

    Die Verse des „seltsamen Spruches“ werden noch einmal in unveränderter Weise wiederholt, - bis auf den letzten, der eine tiefgreifende Wandlung erfährt, in der das Lied, und nicht nur dieses, sondern der ganze Zyklus, zu seiner zentralen Aussage findet. Voraus geht eine mit den Worten „Betroffen steh´ ich still“ eingeleitete Passage der reflexiven Auseinandersetzung des Ichs mit dem „Reisen“ als Wesensmerkmal des „ganzen Lebens“. Liedmusikalisch geschieht dies in Gestalt kleiner, stark rhetorisch-deklamatorisch angelegter Melodiezeilen, wobei sich bei den Worten „ewiger Zwiespalt der Natur“ ein über den tonalen Raum einer Septe sich erstreckender und in eine lange Dehnung in hoher Lage mündender Aufstieg der melodischen Linie ereignet, den das Klavier am Ende mit einem mächtigen C-Dur-Akkord begleitet. Man empfindet diese mit den Worten „Hier so nahe“ eingeleitete Melodiezeile als Ausdruck tiefer innerer Betroffenheit des Ichs von all den Fragen, von denen es sich hier gegenübergestellt sieht.

    Mit dem Schlussvers findet die Liedmusik zu ihrem Höhepunkt und zum Kern ihrer Aussage. Krenek hat in das Original ein geradezu demonstrativ auftretendes, weil in sprachlich sperriger Weise dupliziertes „trotzdem“ eingefügt, und das „Dennoch“, das dahintersteht, erinnert ein wenig an Paul Flemings berühmten Vers: „Sei dennoch unverzagt. Gib dennoch unverloren.“
    Vielsagend ist, wie Krenek diesen Vers liedmusikalisch gestaltet und ihn damit in eine Kontraposition zur Musik auf den Vers des Spruches bringt. Bei dieser beschreibt die melodische Linie innerhalb des Wortes „wundert´s“ einen Quintsprung, der sie in hohe Lage führt, und diesen nach oben gerichteten Weg setzt sie sogar noch um einen Sekundschritt weiter fort.
    Danach aber ereignet sich Bemerkenswertes. Bei den Worten „noch fröhlich“ geht sie erst in einen Sekund- und dann in einen Terzfall über, und erst nach einer Dehnung auf der ersten Silbe von „fröhlich“ gelingt ihr mit einem Quartsprung wieder der Aufstieg in hohe Lage. Das Klavier vollzieht diese ganze Bewegung mit zwei- und dreistimmigen Akkorden mit, und die Harmonik verbleibt, mit einer kurzen Rückung nach B-Dur, im Bereich von es-Moll.

  • „Epilog“ (III)

    Ganz anders, und wie ein Widerspruch wirkend, ist die Liedmusik auf den Schlussvers angelegt. Am Anfang ereignet sich ebenfalls ein Quartsprung in der melodischen Linie. Der erfolgt aber mit einem Ansatz auf einem tiefen „E“, so dass die nachfolgende kleine Bogenbewegung auf den Worten „mich wunderts´s trotzdem“ in mittlerer Lage stattfindet.
    Dann aber geschieht Überraschendes:
    Zu dem Wort „nicht“ hin vollzieht die melodische Linie einen veritablen Oktavsprung, der ihm einen starken Akzent verleiht. Und eine solche, ein Wort akzentuierende melodische Sprungbewegung ereignet sich gleich darauf noch einmal, bei dem Wort „trotzdem“ über das Intervall einer Quarte nämlich. Und nun beschreibt die melodische Linie zu dem Wort „fröhlich“ hin genau den gleichen Sekundsprung zu einem hohen „F“, den sie bei der Originalfassung des Verses bei den Worten „daß ich“ vollzog. Danach geht sie aber nicht in einen als Bogen angelegten Fall in mittlere Lage über, sondern kehrt mit einem gedehnten Sekundfall zu ihrem hohen „Es“ zurück und überlässt sich dort einer ihren Weg beschließenden Dehnung. Gerade in diesem Aufgreifen einer melodischen Figur aus der Liedmusik auf den Originalvers und ihrer Modifikation kann Krenek auf markante Weise das „trotzdem“ musikalisch zum Ausdruck bringen.

    Das Klavier, das bislang mit akkordischen Figuren, einer Kombination aus Akkord und sich daraus lösendem Einzelton begleitet hat, begleitet und akzentuiert den in eine Dehnung mündenden Fall der melodischen Linie mit einem fortissimo ausgeführten Akkordsprung in hohe Diskantlage, und in der Harmonik ereignet sich hier eine bemerkenswerte Rückung vom anfänglichen es-Moll über B-Dur hin nach Es-Dur.

    Auf diese Weise erhält die Schlussaussage des Liedes die Eindeutigkeit, die ihr in ihrer Relevanz nicht nur für dieses Lied, sondern für den ganzen Zyklus zukommt. Und wie zur Bestätigung dieses Sachverhalts greift das Klavier im dreitaktigen Nachspiel auf die Figuren des Vorspiels zurück. Nun folgt aber auf den triolischen Sechzehntel-Anlauf in tiefer Lage keine Folge von bitonalen Sekund-Akkorden, sondern es erklingen Einzeltöne. Und das Klavier lässt zum Schluss forte-fortissimo einen mächtigen, weil achtstimmigen und lange gehaltenen Es-Dur-Akkord erklingen.

  • Die liedanalytische Betrachtung von Kreneks „Reisebuch aus den österreichischen Alpen“ ist an ihr Ende gelangt. Was ich dazu zu sagen habe, ist gesagt.
    Deshalb überlasse ich das Schlusswort einem, der über Liedmusik aus anderer Perspektive als ich zu urteilen vermag, aus der des sie realisierenden Praktikers nämlich. Es ist der Bassbariton Florian Boesch:

    »Ich brenne für Ernst Kreneks ›Reisetagebuch aus den österreichischen Alpen‹, das ich für einen der bedeutendsten Liederzyklen überhaupt und sicher des 20. Jahrhunderts halte. Aber das Publikum reagiert immer noch angstvoll, wenn es diesen Namen auf dem Programmzettel liest, weil es den späten Krenek mit der atonalen Musik im Ohr hat. Damit ist das ›Reisebuch‹, 1929 entstanden, ein Manifest dafür, dass man selbst in der Schönberg-Doktrin noch eine tonale, individuelle Klangsprache entwickeln konnte.«
    (Zitiert aus dem dieses Forum bereichernden Thread des Kollegen hart: Der besondere Liederabend)

  • Großartig!

    Ich bedanke mich auf das Herzlichste, dass du diese wertvolle, unendlich aufwändige Arbeit zu Ende gebracht hast!

    Lieber Helmut Hofmann, jeder, der sich für diesen Zyklus interessiert, kann sich in diese Lektüre vertiefen und größten Gewinn daraus ziehen! Größter Respekt von meiner Seite.

    Herzlich,

    Greghauser