Theologische Bachforschung

  • Die musikalische und religiöse für Bachs Sakralmusik hat über die Jahre zu intensiver Beschäftigung mit Bachs Kantaten/Oratorien und schließlich meiner laufenden Dissertation (zur Christologie der Bachkantaten) geführt. Ich bin seit einigen Jahren Teil der sog. Theologischen Bachforschung, also jener fachübergreifenden Disziplin, die sich mit der Theologie der Bachzeit, der Kantatentexte, Bachs Religiosität und ihren Niederschlag in seiner Sakralmusik beschäftigt. Ein recht kleiner Kreis von Theologen, Musikwissenschaftlern und ausführenden Musikern sind in diesem akademischen Spezialgebiet tätig. So hat es in den letzten Jahren viele neue Erkenntnisse über Bachs Sakralmusik gegeben die auch in religionsästhetische und letztlich sogar praktisch- und systematisch theologische Diskurse eingegangen sind.

    In diesem Thread möchte ich einfach mal einen Einblick in diese kleine Nische geben und vielleicht kommt es ja auch zum Meinungsaustausch.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Die Theologische Bachforschung beginnt dem Namen nach offiziell mit der 1976 gegründeten „Internationalen Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung“ mit ihrem Zentrum in Heidelberg.

    Auf theologischer Seite haben sich im besonderen Maße fünf Namen hervorgetan: Walter Blankenburg und Renate Steiger gründeten die Arbeitsgemeinschaft 1976. Beide leiteten diese auch mehrfach zeitweise. Auch gaben sie die Zeitschrift „Musik und Kirche“ mit Aufsätzen im Schnittbereich zwischen Theologie und Musikwissenschaft heraus. Renate Steigers Ehemann Lothar Steiger ist ebenfalls auf theologischer Seite der Bachforschung zu nennen. Der Professor für systematische sowie praktische Theologie untersuchte ebenso wie seine Frau die systematische Theologie der Bachzeit und ihren Zusammenhang mit den sakralen Vokalwerken Bachs. Schließlich muss Elke Axmacher genannt werden. Die systematische Theologin hat sich besonders durch die Untersuchung der beiden großen Passionen Bachs und des Einflusses lutherisch-orthodoxer Predigten auf die Libretti dieser Werke und Bachs Vertonungen hervorgetan. Zu guter Letzt sei mit Martin Petzoldt sicher der wirkungsmächtigste theologische Bachforscher genannt. Der systematische Theologe und ehemalige Vorsitzende der Neuen Bachgesellschaft hat mit seiner theologischen Kommentierung der Kantaten Bachs das Schlüsselwerk der theologischen Bachforschung vorgelegt. Aktuell veröffentlich mit Jochen Arnold wieder ein aktiver Theologe fleißig in diesem Bereich.

    Auf musikwissenschaftlicher Seite sind insbesondere Alfred Dürr, Christoph Wolff und Michael Maul zu nennen.


    Der eigentliche Gegenstand ist in den meisten Werken Bachs grob gesagt die christliche Religion, die Verkündigung des Evangeliums und somit Bekenntnis eines gläubigen Christen zu seiner Religion. Das von Albert Schweitzer geprägte Bonmot von Bach als „fünften Evangelisten“ ist insofern zutreffend, als dass Bach das Evangelium aufnimmt und in musikalischer Form neu verkündigt.

    Dieser ästhetische Zugang zur Religion ist von größter Bedeutung und rechtfertigt eine Beschäftigung mit der Musik Johann Sebastian Bachs von theologischer Seite. Theologische Inhalte in Form des zu Grunde liegenden Glaubens und dem Ziel der Verkündigung wohnen der Bachschen Musik inne und gehören folglich genuin zu ihr.


    Die grundlegenden Methoden der theologischen Bachforschung, wie sie auch insbesondere bei den oben genannten Theologen zu finden sind, stellen sich wie folgt dar: Grundlage muss die „Erarbeitung des zeitgenössischen Verständnisses der von Bach vertonten Texte“ sein. Untersucht werden die Dogmen und ihre Anwendung, folglich die Frömmigkeit und die Dogmatik der späten lutherischen Orthodoxie. Besonders Elke Axmacher bereicherte den Diskurs mit einem interessanten Ansatz: Prediger, Predigten und Dogmatiken werden auf ihren theologischen Gehalt in auslegungsgeschichtlicher Hinsicht untersucht, zunächst völlig losgelöst von der Verwendung in der Musik.


    Eine 'indirekte Annäherung' über die Texte, die Bach vertonte, stellt eine sinnvolle Möglichkeit dar, sich der privaten Religiosität und Theologie des Komponisten zu näheren, denn auf diese Weise wird man den von Bach gesetzten Akzenten gerecht. Die von Bach zur Vertonung ausgewählten Texte stellen schließlich eine Einschränkung und Akzentuierung im großen Feld der christlich-dogmatischen Texte der lutherischen Orthodoxie dar. Die Tatsache, dass von den etwa 300 Kirchenkantaten Bachs ein gutes Drittel verschollen ist, vermag diesen Fokus zu trüben, jedoch nicht die Tendenzen zu verwischen.


    Folgende Fragen stellen sich: Welche Texte kannte Bach, welche Werke las er, welche wählte er zur Vertonung aus und wie sind diese umgesetzt.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Erhellend in diesem Kontext ist ein Blick in Bachs private Bibliothek. Welche Bände standen ihm zur Verfügung? Was hat er gelesen? Gibt es Schwerpunkte? Gibt es theologische Äußerungen?


    In Bachs Bibliothek befanden sich nach heutigem Kenntnisstand 52 Buchtitel in insgesamt 81 Bänden von 27 verschiedenen Autoren. Im Spiegel seiner persönlichen Bibliothek scheint die lutherische Orthodoxie eine wichtige Rolle in Bachs persönlicher Frömmigkeit gespielt zu haben. Bach besaß mindestens 19 Bände mit Schriften Martin Luthers, aufgeteilt in eine deutsche und eine lateinische Gesamtausgabe. Hinzu kommen zahlreiche Werke von Theologen der lutherischen Orthodoxie. So finden sich z.B. Martin Chemnitz' „Examinis concilii tridentini“, mehrere Schriften August Pfeiffers, darunter „Verus Christianismus“, „Anti-Calvinismus“ und „Kern und Safft der Bibel“ und Erdmann Neumeisters „Das Wasserbad im Worte“ in der Auflistung. Auffällig ist die hohe Anzahl von Predigtsammlungen der lutherischen Orthodoxie in Bachs Bestand. Neben dem erwähnten „Verus Christianismus“ von August Pfeiffer, welcher eine Sammlung von acht Katechismus-Predigten darstellt, sind besonders Predigten Heinrich Müllers präsent. Dieser rückte in den Fokus der theologischen Bachforschung, da von Elke Axmacher gezeigt werden konnte, dass mehr als die Hälfte des Textes der Matthäuspassion von Picander in Dichtung überführte Passionspredigten Heinrich Müllers darstellen.
    Es ist auch anzunehmen, dass diese Auflistung nicht vollständig ist. So fehlen beispielsweise sämtliche gängige Kantatentext-Sammlungen in dieser Auflistung. Weder Erdmann Neumeisters, noch Salomon Francks, oder Christian Friedrich Henricis Text-Zusammenstellungen für Kantaten sind enthalten. Es ist aber höchst unwahrscheinlich, dass Bach als praktizierender Kirchenmusiker nicht in Besitz von wenigstens einer dieser Sammlungen gewesen ist. Es muss also davon ausgegangen werden, dass die Liste von 52 Buchtiteln nicht vollständig ist.


    Wichtigste Grundlage persönlicher Frömmigkeit und theologischer Arbeit war freilich die Lutherbibel, von welcher Bach mindestens zwei kommentierte Ausgaben besaß. Zu Gute kam der Theologischen Bachforschung das Auffinden von Bachs Calov-Bibel 1969 durch Hans-Joachim Schulze. Die „Deütsche Biebel D. Martini Lutheri, mit Beyfügung der Auslegung, die in Lutheri Schrifften zu finden durch D. Abrah. Calovium“ enthält mehrere handschriftliche Kommentare Bachs. Es dominieren hierbei Anmerkungen zu alttestamentlichen Texten, vorwiegend im Pentateuch und den Prophetenbüchern Jesaja, Hesekiel, Daniel und Joel. Den Kommentaren ist zu entnehmen, dass Bach die Weissagung des Alten Testaments im Neuen Testament erfüllt sah. Auch weist die von Calov getätigte Methode der Kommentierung („die in Lutheri Schrifften zu finden“) das Werk als streng in der lutherischen Lehre verhaftet aus

    Martin Petzoldt hat gezeigt, dass die zweite Bibelausgabe Bachs von noch größerer Wichtigkeit ist: Die von Johann Olearius kommentierte Bibel zeichnet sich wie der Calovsche Kommentar durch eine lutherisch-orthodoxe Auslegungstradition aus. Bemerkenswert ist die nahezu unübersehbare Dichte von Querverweisen auf andere Bibelstellen. Bach stieß wahrscheinlich in Arnstadt um 1703 erstmals auf die Olearius-Auslegung der Lutherbibel. Der Einfluss der Olearius-Auslegung verbindet alle von Bach vertonten geistlichen Texte untereinander, unabhängig von ihrer Verfasserschaft und ihrer poetischen Spezifik. Olearius zeigt in diesem Kommentar ein verstärktes Interesse an folgenden dogmatischen Topoi: Trinität, Personenchristologie, Hamartiologie, Abendmahlstheologie und der Dialog zwischen Christus und der gläubigen Seele als Darstellung von Entstehung und Struktur des Glaubens. All diese theologischen Tendenzen unterscheiden Bachs Texte von zeitgenössischen Texten für den gleichen Zweck (Kantaten, Passionen etc.), decken sich aber mit der Olearius-Auslegung. Auffällig ist ferner die Verwendung spezifischer Begriffe aus der Olearius-Auslegung, wie „Kreuzstab“ oder „Seelenkur“, in den Texten zu Bachs geistlichen Kantaten. Auch Bachs Textdichter gebrauchten demzufolge die kommentierte Olearius-Bibel.


    Schließlich darf der Anteil an Frömmigkeits- und Erbauungsliteratur im Bestand Bachs nicht unterschlagen werden. Besonders Johann Arndts „Vom wahren Christentum“, welches der pietistischen Bewegung voranging. Im Gegensatz zu späterer pietistischer Literatur fällt auf, dass Arndt der artifiziellen Kirchenmusik gegenüber nicht negativ eingestellt war. Das von Arndt propagierte „ wahre Christentum“ war für Bach ein wesentlicher Punkt in seiner persönlichen Frömmigkeit und Theologie: „Adam soll in uns sterben, damit Christus in uns leben kann.“


    Die schriftlichen Quellen Bachs speisen sich aus dem Luthertum und seinen Folgeerscheinungen. Autoren von Martin Luther bis hin zu aktuellen theologischen Werken der lutherischen Orthodoxie (Müller, Neumeister) dominieren die private Bibliothek Johann Sebastian Bachs.

    Beste Grüße von Tristan2511


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    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Die Theologische Bachforschung hat des Weiteren naturgemäß ein großes Interesse an den Textdichtern der Bachkantaten. Die Dichter und Verfasser sind Theologen und Dichter des 16. und vor allem 17. Jahrhunderts, die allesamt in der Tradition der lutherischen Orthodoxie stehen. Erdmann Neumeister kommt das Verdienst zu, um 1700 die später gebräuchliche Form für Kirchenkantaten aus älteren Formen entwickelt zu haben. Neumeisters Einfluss auf Bachs Werk sollte jedoch nicht überschätzt werden, da nur 5 der etwa 200 erhaltenen geistlichen Kantaten Bachs Texte von Neumeister vertonen. Neumeister ist eher mit Telemann in Verbindung zu bringen.


    Salomon Francks Dichtungen hingegen sind mit etwa 20 Kantaten schon repräsentativer im Werk Bachs zu finden. Franck, auf den Bach 1713 in Weimar traf, wo er seit 1708 das Amt des Hoforganisten bekleidete, war wahrscheinlich nicht nur Dichter, sondern auch Theologe. Er neigte unter Bachs Textdichtern am ehesten zu Empfindungstiefe, mystischen Zügen und einer Nähe zum Pietismus.


    Der wohl wichtigste und am häufigsten vertonte Textdichter in Bachs Werken ist Christian Friedrich Henrici, genannt Picander. Henrici war Dichter der lutherisch-orthodoxen Tradition, jedoch kein Theologe. Dürr bezeichnet die poetischen Qualitäten Picanders als höchst mittelmäßig, das sehe ich teilweise ein bisschen anders. Jedenfalls eignet sich seine Dichtung auf Grund formaler Gewandtheit und profunder musikalischer Kenntnisse außergewöhnlich gut zur Vertonung. Leider gehören zwei höchstwahrscheinlich von Picander geschriebene Kantatenjahrgänge zu den verschollenen Kantaten Bachs. Nur etwa zehn Kantaten aus Picanders Feder sind deshalb heute bekannt. Besondere Bedeutung kommt ihm dennoch zu, da er die Texte zu Himmelfahrtsoratorium, Osteroratorium, Matthäuspassion und mutmaßlich Weihnachtsoratorium geliefert hat.


    Die Urheberschaft von überraschend vielen Kantaten, darunter der ersten beiden Leipziger Jahrgänge und der Johannespassion, liegt jedoch bis heute im Dunkeln. Gelegentlich hat Bach jedenfalls auf die Texte weiterer Theologen der lutherischen Orthodoxie zurückgegriffen, so etwa auf einige Texte von Georg Christian Lehm und Georg Weiß zurückgegriffen. Man geht heute auch davon aus, dass Bach selbst die Dichtungen einiger Kantatentexte und geringer Teile der Johannespassion vorgenommen hat.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • In Bachs Bibliothek befanden sich nach heutigem Kenntnisstand 52 Buchtitel in insgesamt 81 Bänden von 27 verschiedenen Autoren. Im Spiegel seiner persönlichen Bibliothek scheint die lutherische Orthodoxie eine wichtige Rolle in Bachs persönlicher Frömmigkeit gespielt zu haben.

    Vielen Dank. Bachs Hinterlassenschaft, incl. Bibliothek ist seit langer Zeit bekannt. Schon Spitta veröffentlichte sie (Band II, ab Seite 956), sogar mit den Schätzpreisen!. Darunter befande sich auch 3 Bände des strikt orthodoxen Professors Abraham Calov.

    Über Bachs persönliche Glaubensüberzeugeungen werden wir nur "Rätselraten" können. Wir kennen sie nicht, es gibt kaum persönliche Notizen darüber. Wahrscheinlch war er lutherisch-orthodox eingestellt. Dafür lassen sich aber auch recht praxisnahe Begründungen anführen. Die Orthodoxie war zu Bachs Lebzeiten ein wesentlicher Garant für eine wohlgeordnete, groß angelegte Kirchenmusik "ad maiorem gloriam Dei". Weder der Calvinismus, der üppige Kirchenmusik wie vieles Weiteres ablehnte, noch der Pietismus mit seinen "Gänseblümchenmelodien/texten" (die großartige Musiker höchstens langweilen konnten) waren dazu bereit und in der Lage. Mühlhausen zu Bachs Zeit wäre ein Beispiel hierfür.

  • Vielen Dank. Bachs Hinterlassenschaft, incl. Bibliothek ist seit langer Zeit bekannt. Schon Spitta veröffentlichte sie (Band II, ab Seite 956), sogar mit den Schätzpreisen!

    Dir als Bachianer mag das bekannt sein, aber das geht nicht Vielen so, deshalb führe ich das hier nach Art einer Einführung an. Nicht falsch verstehen: Das sind keine neuen Forschungsergebnisse sondern die Grundlagen der Theologischen Bachforschung.

    Etwas mehr als Rätselraten können wir allerdings schon. Das zeigen u.a. die kommentierten Bibelstellen, die Textauswahlen, vereinzelte Quellen mit Aussagen Bachs und natürlich die im Werk verschlüsselten Glaubensaussagen. Klare Schubladen gibt es da nicht. Grob gesagt ist Bach - natürlich - lutherisch-orthodox, darüber hinaus aber eben auch immer wieder im Pietismus verhaftet, Mystiker und das spätere Werk ist textlich recht deutlich der frühen Aufklärung verpflichtet.

    Beste Grüße von Tristan2511


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    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Darf ich/dürfen wir davon ausgehen, dass die im Netz zu findende Examensarbeit aus Leipzig 2015 zum selben/ähnlichen Thema aus deiner Feder stammt? ;)

    Auch ich halte das für ein höchst interessantes Projekt und Forumsthema!:thumbup:

    Was die Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung betrifft, finde ich es erstaunlich (um nicht zu sagen: traurig), dass 1. wenig Zulauf und Output vorhanden sind, und dass 2. kaum Kirchengeschichtler bzw. Historiker und v.a. kaum Bibelwissenschaftler daran beteiligt sind; die genannten Namen und Personen waren so gut wie allesamt systematische Theologen.

    Was mir auffällt, ist, dass Bach (abgesehen von den Passionen und Weihn-Orat.) wenig explizite Bibeltexte vertont hat, schon gar nicht vollständige Perikopen bzw. z.B. Psalmen (Ps 51/BWV 1083 ist seine Bearbeitung von Pergolesi). Das war/ist bei Händel z.B. völlig anders, auch wenn der bei seinen Chandos und Royal Capel Anthems sehr freizügig mit den Bibeltexten und ihrer konkreten Zusammenstellung umgegangen ist (aber das wäre ein neues, eigenes Thema...)

    Die Arbeiten von Rüdiger Bartelmus (evang. Alttestamentler) zum Thema sind dir sicher bekannt; auch gibt es eine relativ neue Internet-Zeitschrift "Die Bibel in der Kunst", aber da ist bislang wenig Musikalisches drin erschienen.

    Also nochmals vielen Dank für diesen höchst interessanten und informativen Input!

    Zum Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem studio schon habil seyenden besonderem Zeitvertreib auffgesetzet und verfertiget (Johann Sebastian Bachs Eigentitel auf dem Titelblatt des Autographs des Wohltemperierten Claviers, Teil I, 1722)

  • Lieber Tristan,


    ein tolles Dissertationsprojekt! Wunderbar, dass Du das hier vorstellst! Das interessiert mich sehr! :) :hello:

    Na das finde ich doch auch, dass das ein tolles Thema ist! ;)



    Darf ich/dürfen wir davon ausgehen, dass die im Netz zu findende Examensarbeit aus Leipzig 2015 zum selben/ähnlichen Thema aus deiner Feder stammt? ;)

    Auch ich halte das für ein höchst interessantes Projekt und Forumsthema!:thumbup:

    Was die Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung betrifft, finde ich es erstaunlich (um nicht zu sagen: traurig), dass 1. wenig Zulauf und Output vorhanden sind, und dass 2. kaum Kirchengeschichtler bzw. Historiker und v.a. kaum Bibelwissenschaftler daran beteiligt sind; die genannten Namen und Personen waren so gut wie allesamt systematische Theologen.

    Was mir auffällt, ist, dass Bach (abgesehen von den Passionen und Weihn-Orat.) wenig explizite Bibeltexte vertont hat, schon gar nicht vollständige Perikopen bzw. z.B. Psalmen (Ps 51/BWV 1083 ist seine Bearbeitung von Pergolesi). Das war/ist bei Händel z.B. völlig anders, auch wenn der bei seinen Chandos und Royal Capel Anthems sehr freizügig mit den Bibeltexten und ihrer konkreten Zusammenstellung umgegangen ist (aber das wäre ein neues, eigenes Thema...)

    So leicht ist man zu identifizieren? ;) Zumindest nehme ich an, dass es meine Examensarbeit ist, denn mir ist kein ähnliches Projekt aus dieser Zeit bekannt. Die Universitäten waren Leipzig & Halle.


    Ich finde es auch bedauerlich und auch erstunlich, dass relativ wenig (kirchen-)historische Mitwirkung erfolgt. Allerdings muss man sagen, dass viele der Systematiker und einige der Musikwissenschaftler (wie Dürr oder Maul) wirklich profunde kirchengeschichtliche Expertise besitzen.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Was mir auffällt, ist, dass Bach (abgesehen von den Passionen und Weihn-Orat.) wenig explizite Bibeltexte vertont hat, schon gar nicht vollständige Perikopen bzw. z.B. Psalmen (Ps 51/BWV 1083 ist seine Bearbeitung von Pergolesi). Das war/ist bei Händel z.B. völlig anders, auch wenn der bei seinen Chandos und Royal Capel Anthems sehr freizügig mit den Bibeltexten und ihrer konkreten Zusammenstellung umgegangen ist (aber das wäre ein neues, eigenes Thema...)

    Ja, durchgehenden Bibeltext findet man bei Bach so selten, weil es für die Kantatendichtung die Ausnahme war. Viel mehr haben die Textdichter, die nicht selten Theologen waren, versucht, die Schrift mit der Schrift auszulegen. Bibelstellen aufeinander zu besziehen und namentlich das AT im NT zu bestätigen. Das führt dann dazu, dass es zwar kaum durchgehende Passagen gibt, dafür aber Hunderte einzelne Bibelstellen, die Petzold in mühevoller Arbeit als Konkordanz zusammengestellt hat!

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

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  • Als Theologe, der früh der Amtskirche entflohen ist (Fundamentalismus-Alarm !), ist das hier im Moment für mich das spannendste Thema. Ich habe mir erstmal alles ausgedruckt; das ist mein größtes Lob hier.

    Ich bin allerdings in punkto Bibel-Vertonungen ein Schütz-Fan, der (der Schütz, nicht ich) viele längere Texte, vor allem Psalmen, vertont hat. Da muss ich leider sagen, dass Picander und Friends, solchen Bibeltexten in Luthers Übersetzungen das Wasser nicht reichen kann. Bei vielen Bibelstellen, wenn ich sie lese, ist sofort Schütz in meinem Kopf, nicht Bach. Ich habe viel Bach gesungen, nicht immer gerne. Im Moment proben wir "Jesu, meine Freude", das kann ich zum Glück noch, aber gut singen lässt es sich nur teilweise, weil Bach eh für Streicher schreibt. So ist bei "Gute Nacht, o Wesen" (S 1 und 2, Alt, Tenor) die Tenorstimme eine typische Gambenstimme.

    Über die manchmal sehr seltsamen Texte werden wir hier ja noch einiges erfahren, z.B. "Ich freue mich auf meinen Tod!"

    Zum anderen gibt es natürlich die allerwunderbarsten Texte mit noch ergreifenderen Melodien. Ich kann mich noch erinnern, als ich bei der Beerdigung der Frau eines Freundes zum ersten Mal "Schlummert ein, ihr matten Augen", gesungen von einer Altstimme, begleitet von der Orgel, gehört habe. Das ist wochenlang in meinem Kopf präsent geblieben.

    Ich habe die Johannespassion in drei verschiedenen Chören gesungen, jedesmal, wenn der Schlusschor anstand (Ruhet wohl, ihr heiligen Gebeine), hatten wir alle ein Taschentuch griffbereit.

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

  • Ein kurzer Blick muss auf die gottesdienstliche Situation der Bachzeit geworfen werden, vornehmlich auf die Situation an der Leipziger Thomaskirche, da er das Gros seiner Kirchenkantaten, so wie beide erhaltene Passionen und alle Oratorien für Leipzig schrieb. Bach schrieb hier, neben zahlreicher anderer musikalischer Aufgaben, zunächst für jeden Sonn- und Feiertag eine 'Kantate großen Stiles' und führte diese in den Gottesdiensten selber auf. Die in den ersten Jahren erfolgte Neukomposition einer Kantate für jeden Sonn- und Feiertag war wesentlich mehr, als von einem Thomaskantor erwartet wurde und stellte eine gewisse Übererfüllung des Amtes dar. Dass Bach die an ihn gestellten Erwartungen so überstieg, war gänzlich seine eigene Entscheidung. Arbeitsbelastung, veränderte Interessen Bachs und das Ausbleiben echter Anerkennung durch seine Vorgesetzten hat diese Übererfüllung in späteren Jahren in Untererfüllung umschwenken lassen.


    Bei jedem Hauptgottesdienst hatte die Kirchenkantate ihren festen Platz nach der Verlesung des Evangeliums und dem lutherischen Glaubenslied „Wir glauben all an einen Gott“. Oftmals sind die Kantaten Bachs auch zweiteilig und fungieren gewissermaßen als Rahmen vor und nach der Predigt bzw. dem Kanzeldienst. Auch eine Verwendung der Musik des zweiten Teiles zum Sakrament (als Musica sub communione) ist nicht unüblich gewesen. Das lässt sich am Beispiel der Kantate BWV 61 zeigen: Eine Verwendung zum Sakrament passt gut zur lutherisch-orthodoxen Dogmatik: Die Sätze vier bis sechs, als zweiter Teil der Kantate, passen zum Ablauf des Abendmahles. Im Rezitativ im vierten Satz wird auf das Abendmahl hingewiesen, wenn es dort heißt: „... zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl mit ihm halten“. Die Arie im fünfte Satz verstärkt diesen Eidruck mit den Worten: „Öffne dich mein ganzes Herze, Jesus kömmt und ziehet ein“. Der Einzug Christi in das menschliche Herz wird hier sakramental verstanden werden. Dieses Bild taucht in vielen Kantaten Bachs auf. Die im Schlusschoral ersehnte Wiederkunft Christi passt schließlich zum in der lutherischen Orthodoxie verbreiteten Verständnis des Abendmahls als eine Vorausnahme der ewigen Seligkeit.


    Der grundsätzliche Ablauf des Gottesdienstes stand in der Bach-Zeit im Einklang der Tradition des Ordinarium Missae, mit samt seiner in der Reformation erfahrenen Neuerungen, wie z.B. der Deutschsprachigkeit und der Aufwertung des Gemeindegesanges. Luthers theologische Musikanschauung führte generell zu einer Aufwertung der Kirchenmusik in der lutherischen Orthodoxie, vor dem umgekehrten Prozess im Pietismus. Das Verständnis von Gottesdienst als Kommunikationsereignis förderte den Stellenwert der Kirchenmusik. Nicht zuletzt Luthers berühmte Torgauer Formel fixiert den Gesang der Gemeinde und somit die Kirchenmusik als einen wichtigen Teil des Gottesdienstes. Dieser soll dadurch charakterisiert sein, „dass nichts anders darin geschehe, denn das unser lieber Herr selbs mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir widerumb mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang“. Musik gilt Luther als „Lobopfer, welches im Gottesdienst dem Sündenbekenntnis korrespondiert“. Dieses auf Augustin zurückgehende Musikverständnis der Musik als Donum Dei äußerte Luther 1529: „Ich liebe die Musik, denn die Musik ist Gabe Gottes und nicht der Menschen, sie macht das Gemüt froh, sie verjagt den Teufel und sie bereitet eine unschuldige Freude. Darüber vergehen Zorn, Begierden, Hochmut. Ich gebe der Musik den ersten Platz nach der Theologie.“


    Die in Leipzig gebräuchlichen Gesangbücher (damals noch nicht einheitlich) enthielten alle gängigen lutherischen Choräle, immer wieder neues Liedgut und darüber hinaus den großen Fundus ökumenischer Lieder und eine riesige Anzahl von Marienliedern, da die Marienfeste auch im lutherischen Leipzig eifrig begangen wurden. Nahezu alle in den Kantaten verwendeten Choräle finden sich hier und waren folglich der Gemeinde grundsätzlich bekannt. Bach fügte dem vorhandenen Material aber in den Kantaten häufig kunstfertige Chorsätze hinzu.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Hallo Tristan 2511,

    die Leipziger Gottesdienste zur Bachzeit war sehr vielseitig, sehr gut nachzulesen bei Günther Stiller: Johann Sebastina Bach und das gottesdienstliche Leben seiner Zeit. Deutsch? Latein? Letzteres zumindest an hohen Festtagen...deswegen auch die lateinischen Kurzmessen Bachs. Ebenso wurde das Gloria und Credo vom Pastor auf Latein intoniert. An normalen Sonntagen sang dann die Gemeinde als Antwort: "Allein Gott in der Höh sei Ehr" und "Wir glauben all an einen Gott".

    Die Leipziger Orthodoxie hielt sich also recht streng an Luthers "Formula missae" (1526) bis an das Ende des 18. Jhdts. Da war Latein noch einsetzbar. Für die Dörfer gab es Luthers "Ordnung" (1523).

    Ich habe das als junger Mensch noch alles miterlebt. Aufgewachsen in einem niedersächsischen Dorf (streng lutherisch, und antipreussisch: denn ach! sie sind ein Sohn, der preussischen Union ^^): strikte Einhaltung der Ordnung 1523. In der Hauptkirche der Kreisstadt hingegen: Ordnung 1526, jedoch kein Latein mehr, sondern Intonation auf Deutsch durch den Pastor (selbstverständlich im Messgewand).

  • Hallo Tristan 2511,

    die Leipziger Gottesdienste zur Bachzeit war sehr vielseitig, sehr gut nachzulesen bei Günther Stiller: Johann Sebastina Bach und das gottesdienstliche Leben seiner Zeit. Deutsch? Latein? Letzteres zumindest an hohen Festtagen...deswegen auch die lateinischen Kurzmessen Bachs. Ebenso wurde das Gloria und Credo vom Pastor auf Latein intoniert. An normalen Sonntagen sang dann die Gemeinde als Antwort: "Allein Gott in der Höh sei Ehr" und "Wir glauben all an einen Gott".

    Die Leipziger Orthodoxie hielt sich also recht streng an Luthers "Formula missae" (1526) bis an das Ende des 18. Jhdts. Da war Latein noch einsetzbar. Für die Dörfer gab es Luthers "Ordnung" (1523).

    Ich habe das als junger Mensch noch alles miterlebt. Aufgewachsen in einem niedersächsischen Dorf (streng lutherisch, und antipreussisch: denn ach! sie sind ein Sohn, der preussischen Union ^^): strikte Einhaltung der Ordnung 1523. In der Hauptkirche der Kreisstadt hingegen: Ordnung 1526, jedoch kein Latein mehr, sondern Intonation auf Deutsch durch den Pastor (selbstverständlich im Messgewand).

    So ist es. Selbst vielen Gläubigen ist heute gar nicht mehr klar, wie eng Luthers Liturgie im Grunde am römischen Ordinarium war und wie die Formula missae letztlich die Tradition bewahrt bzw. nur behutsam reformiert hat. Ein weiteres Beispiel dafür sind ja auch die Marienfeste, für die es zahlreiche auch sehr berühmte Kantaten gibt und auf das Stiller ebenfalls eingeht. Und dann ist ja die 'reine Dogmatik' das Eine und der gelebte Volksglaube mit seinen synkretistischen Tendenzen das Andere. Im übrigen bis heute ^^

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Und dann ist ja die 'reine Dogmatik' das Eine und der gelebte Volksglaube mit seinen synkretistischen Tendenzen das Andere. Im übrigen bis heute ^^

    Guten Morgen, Tristan 2511,


    So ist es :).

    Da ich weder Theologe noch Geisteswissenschaftler bin sondern Dr.Ing., gehe ich an Dogmatiken nicht ohne Einschalten einer "Alarmanlage" heran wg. der meist sehr zweifelhaften wissenschaftlichen "Beweise" heran. Wieviel "Volksglaube" bzw. subjektive Überzeugungen stecken in diesen Beweisen/Argumenten?

    Und damit zurück zu Bachs Religiosität. Da wir diese kaum kennen, interpretiert fast jeder Forscher diese auch unter starkem Einfluss seiner persönlichen Überzeugung. Also: der Lutheraner macht aus ihm einen "Superlutheraner", der Pietist entdeckt pausenlos pietistische Tendenzen in Bachs vertonten Texten, gleichwie ein Aufklärer. Dabei vergessen diese Interpreten leider oft, dass unsere großen Genies auch nur Menschen waren, die (möglichst gut) durch das Leben kommen wollten. Klartext: Geld und berufliche Aspekte spielen eine große Rolle. Bachs Krach mit dem pietistischen Superintendenten in Mühlhausen war ein gutes Argument für einen Stellungswechsel nach Weimar, der auch mit sehr viel mehr Geld verbunden war. Als er dort nicht zum Hofkapellmeister ernannt wurde, scheute sich Bach nicht Hofkapellmeister des "Ketzers" in Köthen zu werden (auch mit mehr Geld). Geistliche Musik dort? April. April! Als es dort nicht mehr so lief wie erhofft: ab nach Leipzig.

    Quintessenz: Vorsicht ist die Mutter in der Porzellankiste :)

  • Die Quintessenz teile ich, sie sollte die Mahnung aller Wissenschaft sein.

    Als Theologe sehe ich Dogmatik aber naturgemäß ein bisschen anders. Sie ist - ersteinmal völlig wertfrei - das systematische Gerüst unserer Geisteswissenschaft und enthält die verschiedenen relevanten Topoi. Dabei geht es weniger um Beweise (innerhalb eines Prämissensystems kann es natürlich auch denklogische Beweise im Sinne eines Anselm von Canterbury geben - nur funktionieren sie eben außerhalb des Systems nicht so nachweisbar wie naturwissenschaftliche Beweise) als um Argumente auf gewissen Grundlagen (Bibel, Konzilentscheidungen, Schriften). Sobald daraus Dogmatismus wird, sobald daraus - wie in der Kirchengeschichte so oft geschehen - Missbrauch aus Eigennutz wird, sollten natürlich Alarmglocken angehen. Aber die Dogmatik bzw. systematische Theologie an sich ist so unverdächtig, wie die Systematik jedes anderen Bereiches auch.


    Was Bachs Religiosität bzw. Frömmigkeit angeht gibt es relativ wenig gesicherte Aussagen, das stimmt. Ein übliches Problem der Geisteswissenschaft. Man kann die Konsequenz ziehen und sagen, dass man nichts sagen kann. Das ist relativ einfach/bequem und dann ist das Thema schnell durch. Ich bin aber persönlich und als Geisteswissenschaftler der Meinung, dass man durchaus verschiedene Schlüsse ziehen kann. Vor allem Schlüsse aus dem Werk, darüber hinaus auch Schlüsse aus dem Quellenmaterial authentischer Äußerungen Bachs und seiner Zeitgenossen. Auf diese Weise nähern wir uns zum Einen mit aller seriösen Vorsicht Bachs persönlicher Religiosität und - was im Diskurs freilich wichtiger und ertragreicher und anschlussfähiger ist - dem religiösen Gehalt seines Werkes. Wissenschaftliche Seriosität darf man der Theologischen Bachforschung dabei durchaus zugestehen: Als Lutheraner lässt es sich heutzutage eben durchaus neutral über z.B. pietistische Tendenzen der Bachzeit sprechen. Ich habe keinen Luther-Hammer ;)


    NB: Dass Bach in Köthen für mehr Geld eine zeitlang vor allem weltliche Musik geschrieben hat, ist pragmatisch nachvollziehbar. Aus der Karrierplanung an sich wird im Umkehrschluss allerdings keine Aussage über seine Frömmigkeit ex negativo.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Möchte man sich, wie in meinem Fall, der Christologie der Bachkantaten nähern, ist es sinnvoll sich einen Überblick zu verschaffen. Welche grundsätzlichen christologischen Kategorien sind anzutreffen und wie äußern sich diese im Werk? Wie finden dogmatischer Topos und Religionsästhetik zusammen, wie erhellen sie sich gegenseitig? Letztere sind gewiss Grundfragen der Theologischen Bachforschung und der theologischen Beschäftigung mit Sakralmusik im allgemeinen.

    Die Christologie ist ein so zentraler dogmatischer Topos, dass er die meisten Kategorien (Hamartiologie, Soteriologie, Trinität auf jeden Fall, im Ansatz auch Gotteslehre, Anthropologie, Schöpfungslehre, Ekklesiologie und Eschatologie) abdeckt und somit ideal als Brennglas der theologischen und religiösen Tendenzen der Bachzeit und Kantatentexte.


    Christologische Kategorien gibt es zahlreiche im Werk Bachs, auch wenn sich recht deutlich vier Hauptkategorien abzeichnen:

    - Christus als Bräutigam in mystischer Vereinigung mit der gläubigen Seele,

    - Christus als Hirte seiner Herde (und der Kirche),

    - Christus als Schmerzensmann, der die Erlösung der sündenbefallenen Welt gebracht hat (Theologia crucis u.a.) und

    - Christus als moralisches Vorbild und Tröster.

    Diese vier christologischen Ausformungen zeichnen die absolute Mehrzahl aller geistlichen Vokalwerke Bachs aus. Diese auch von Bach getroffene Auswahl zeigt eine deutliche Präferenz neutestamentlich-christologischer Themen. Auch die meisten alttestamentlichen Texte erfahren innerhalb des Ablaufs der Kantate eine christologische Überhöhung und Zielführung.


    Völlig unterrepräsentiert sind hingegen andere dogmatische Topoi wie Schöpfung und Erhaltung, Vorsehung, Eschatologie, Gotteslehre, Anthropologie und spezifische alttestamentliche Themen wie Bund oder Gesetz. In den Kantaten, wo diese Topoi im Text vorkommen, erfahren sie stets eine christologische Zielführung. Als Beispiel sei die Kantate BWV 89, „Was soll ich aus dir machen, Ephraim“, genannt. Das eigentlich alttestamentliche Thema, beruhend auf einem Text aus Hosea 11, erfährt im zweiten Teil eine christologische Deutung, gleichsam eine Korrektur: „Dass ich vor Gott in Schulden bin. Doch Jesu Blut macht diese Rechnung gut [...]“. Der Heilstat Jesu im Neuen Testament kommt auch für das alte Testament soteriologische Bedeutung zu.


    Dies nennt man katechetische Vorgehensweise, sie ist für viele Kantaten Bachs symptomatisch und typisch für die christliche Theologie bis ins 20. Jh. hinein. Im Judentum wird sie freilich abgelehnt und erst in jüngerer Zeit wird hier vielseitiger gedacht.

    Die Gesamtstruktur dieser Werke mit katechetischer Vorgehensweise ähnelt dem klassischen Predigtaufbau, bestehend aus Lectio, Meditatio und Applicatio. Als Lectio fungiert in solchen Kantaten die alttestamentliche Situation, vorgetragen durch den Eingangschor oder eine Bibelwort-Arie am Beginn des Werkes. Die Meditatio erfolgt in Form einer Reflexion der Situation und der Suche nach dem Ausweg, meist in Form eines Rezitativ-Arie-Paares. Die Applicatio schließlich, in Form eines weiteren Rezitativ-Arie-Paares, bringt den Höhepunkt mittels eines neutestamentlichen Zeugnisses und einer christologischen Deutung. Ein Schlusschoral festigt die Lehre in katechetischer Form.

    Auch verschiedene Kantaten zu neutestamentlichen Texten funktionieren nach diesem Prinzip. In der Meditatio kommt es hier jedoch meist zu einer bilanzierenden Adam – Christus bzw. Sünde – Erlösung – Reflexion. Als Beispiel für solche Kantaten sei BWV 47, „Wer sich selbst erhöht, der soll erniedrigt werden“ (Lk 14,11ff.), genannt. Nach dem Bibelwort erfolgt zunächst drastische und typisch barock-bildhafte Ermahnung und Reflexion des sündhaften Menschen: „Der Mensch ist Kot, Staub, Asche und Erde […]. Geh schäme dich du stolze Kreatur, Tu Buß und folge Christi Spur“. In der nachfolgenden Arie geschieht dann die christologische Wende: „Jesu beuge doch mein Herze unter deine starke Hand [...]“. Nicht zuletzt in den vielen Choralkantaten ist ein ähnliches Vorgehen zu beobachten.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Als Lutheraner lässt es sich heutzutage eben durchaus neutral über z.B. pietistische Tendenzen der Bachzeit sprechen. Ich habe keinen Luther-Hammer ;)

    Ich auch nicht.^^

    Nur, wieviele gibt es neben dem Lutherhammer? Bei Pietisten, Aufklärern, Katholiken?

    Beispiel: das Schemelli-Gesangbuch. Von den über 500 Liedtexten haben 69 eine Melodie mit untersetztem Generalbass. 5 Melodien könnten von Bach stammen, bei den Generalbässen weiß man es nicht wieviele. Da die Schemellitexte stark pietistisch angehaucht sind, kommt nun der "Pietistenhammer": Bachs Religiosität war pietistisch.

    Meine Annäherung an diese Frage: wieviel hat Bach denn für diese Arbeit, die ihn maximal 2 Stunden abgefordert hat, bekommen?

  • Zu den oben erwähnten christologischen Kategorien habe ich vor einiger Zeit mal eine Tabelle erstellt und die Kantaten nach Themen eingeteilt. Einige Kantaten gehören freilich noch in eine weitere Kategorie (Tabelle 2). Weitere und kleinteiligere Kategorisierungen sind für den Überblick nicht mehr sinnvoll.


    Tabelle der geistlichen Kantaten und ihrer christologischen Themen

    In der folgenden Liste habe ich alle geistlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs nach ihrem christologischen Inhalt und Typ sortiert. Die jeweilige Reihenfolge der Auflistung der Kantaten geschieht in der Chronologie des Kirchenjahres und innerhalb gleicher Sonntage nach Entstehungsjahr. Eine in Klammern gesetzte Kantate lässt sich auch anderweitig einordnen.


    Tabelle 1:

    Erstkategorie

    Unterordnung

    Kantaten

    Christus als Hirte


    BWV 143, (92), (42), 104, 85, 112, 184, 175, 20, 46, (Weihnachtsoratorium)

    Christus (als

    Bräutigam) und Seele

    Dialog

    BWV 57, 152, 32, (66), 145, (172), 21, 140, 106


    Narrativ

    BWV 155, 165, 186, 107, 27, 162, 180, 49


    Furcht-Hoffnung

    BWV 109, 60, 194

    Christus am Kreuz

    (explizit: Opfer, Blut Christi)


    BWV 41, (153), 123, 23, 22, 159, (54), 182, (4), 158, 12, (146), (166), (183), 74, 173, 2, 136, 178, 105, (168), 78, 56, Matthäuspassion, Johannespassion, (Osteroratorium)

    Christus als Lebensspender, Erlöser, ethisches Vorbild, Tröster allgemein


    BWV 61, 62, 36, 132, 63, 91, 40, 121, 64, 133, 151, 122, 190, 16, 171, 153, 65, 154, 124, 3, 13, 72, 81, (92), 18, 181, 126, 127, 159, (4), 31, 66, 134, 67, 42, 103, 146, 108, 86, 87, 37, 128, 43, 44, 59, 68, 174, 176, 75, (20), 76, 135, 185, 24, 177, (93), 88, 170, 9, (178), (45), 94, 101, 102, (199), 179, 113, 69a, 35, (77), 33, 164, 25, 17, (138), 99, 95, (148), 114, 47, 96, 48, 5, 38, 98, 89, 115, 55, 163, (139), (26), (90), 116, 70, 83, 125, 200, 1, 147, 10, 167, 7, 30, (130), (149), 150, 80, 79, (119), (195), 157, 117, 97, Weihnachtsoratorium, (Osteroratorium), Himmelfahrtoratorium

    Keine christologische Kategorie

    Nur Trinität


    BWV 191, 129, 51, 29


    AT - Psalter

    BWV 187, 137, 131, 150


    AT - Schöpfung

    BWV 39


    AT - Israel

    BWV 34, 120, 196


    Gott - Vater

    BWV 14, 144, 137, 169, 188, 52, 194, 192, 100


    Engel

    BWV 19


    Sterbekantaten

    BWV 58, 73, 111, 156, 84


    Feste

    BWV 28, 71, 197



    Tabelle 2:

    Zweitkategorie

    Unterordnung

    Kantaten

    Entwicklung AT → NT (direkt: Bibelwort & indirekt: Inhalt)

    Pentateuch (incl. Sündenfall)

    BWV 40, 133, 122, 165, 9, (136), 70, 167, 157


    Psalter

    BWV 110, 190, 171, 143, 104, 43, 75, 76, 21, (136), 105, 69a, 25, 17, 83, 149, 79, 119


    Weisheit (Sir.)

    BWV 179


    Prophetie

    BWV 65, 18, 45, 46, 102, 89

    Christus im Herzen


    BWV 61, (151), 16, 159, (134), 145, (87), 74, (148), 180, 163, 80

    Abschiedsreden

    Joh 13-16


    BWV 103, 146, 166, 108, 86, 87, 44, 183, 59, 74

    Sterbekantaten

    Christus-Sehnsucht

    BWV 161, 95, 8, 82


    Keine Christologie

    BWV 58, 73, 111, 156, 84, (127), (31), 158, 146, (170), 27, (56)

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Eine Vorbemerkung zwischendurch: Mir ist klar, dass dieses Thema sehr speziell und möglicherweise teilweise am Rande des Spektrums eines Musikforum angesiedelt ist. Ich werde diesen Thread deshalb nicht endlos fortführen, aber erstmal noch ein wenig mehr anfüllen.


    Als Beispiele für die oben genannten Kategorien stelle ich einzelne, typische Kantaten vor.

    Die erste für Bachs Kantatentexte typische christologische Erscheinungsform ist der Dialog der gläubigen Seele mit Christus. Nicht selten geschieht dies in Form einer aus dem Hohelied entlehnten Bräutigam (Christus)- Braut (gläubige Seele)-Metaphorik, die oftmals gar erotisch konnotiert ist. Durch seine Arndt-Lektüre war Bach mit mystischen Lehren und Anschauungen sowie ihrem Nachklang in der lutherischen Erbauungsliteratur durchaus vertraut.

    Die exemplarisch ausgewählte Kantate BWV 49, „Ich geh und suche mit Verlangen“, entstand für den 20. Sonntag nach Trinitatis (03.11.1726) in Leipzig. Der Textdichter dieser Kantate ist unbekannt. Das Proporium des Sonntags weist folgende Texte aus: Ps 1 als Eingangspsalm, Eph 5,15-21 (christliche Ethik) als Epistel und Mt 22,1-14 (Gleichnis vom Hochzeitsmahl) als Evangelium. Das Hochzeits-Gleichnis passt freilich inhaltlich zur Bräutigam-Braut-Metaphorik. Olearius kommentiert diesen Text in seiner Auslegung: „Der Hauptzweck aber ist, dass wir den ewigen Sohn des großen Königs erkennen, welcher Davids Herr und Sohn ist, hier sein Wort hören, annehmen, das selige Glaubenskleid erlangen und nicht mehr hinausgestoßen werden.“ Die Folge dieses epistemischen Vorgangs beschreibt Olearius im Anschluss folgendermaßen: „Sondern hier zeitlich seiner Gnade und dort ewig seiner Ehre und Freude genießen“.

    Die Kantate ist mit Dialogus überschrieben, was sie als Abkömmling der geistlichen Dialogkompositionen des 17. Jh. kennzeichnet. Der Dialogcharakter erfreute sich bereits einer langen christlichen Tradition. So finden sich bereits in der Bibel Gesprächsgänge auf Dialogebene (Gott – Urväter; Jesus – Jünger), die in musikalischen und künstlerischen Verarbeitungen des biblischen Zeugnisses verstärkt und neu interpretiert wurden (Gott – Volk; Jesus – Gemeinde). Besonderer Beliebtheit erfreuten sich diesbezüglich die Dialoge des Hoheliedes. Im 16. Jh. setzte sich im Zuge mystischer Tendenzen die Deutungsweise solcher Dialoge als Gespräch Jesu mit der gläubigen Seele durch. Petzoldt geht davon aus, dass diese Deutung die Auslegungstradition des Hoheliedes von Bernhard von Clairvaux enterotisieren, zumindest enttabuisieren sollte. So legte Bernhard das Hohelied als metaphorisches Liebesverhältnis zwischen Jesus und Maria aus, was ob der familiären Beziehung höchst problematisch war.


    Die Kantate beginnt mit einer instrumentalen, den festlichen Hochzeitscharakter des Werkes betonenden Sinfonia. Sie ist der ursprüngliche Schlusssatz von BWV 1053.

    Die titelgebende Arie ist dem Bass als Vox Christi zugeschrieben, der somit den Dialog eröffnet. Mit Textstücken aus dem Hohelied wird die metaphorische Verwendung von Bräutigam und Braut eingeführt, die im theologisch-anthropologischen Sinne Jesus und die glaubende Seele, im ekklesiologischen Sinne Jesus Christus und die Kirche meint. Das Wort „Taube“ als Synonym für die Braut entstammt vermutlich der Olearius-Bibel, da Olearius einen Bezug zwischen dem Hochzeitsgleichnis Mt 22,1-14 und dem Hohelied 2,14 zieht.


    Das folgende Dialogrezitativ vollzieht das Muster eines Liebes-Werbung, mit gewissen Verschiebungen zum als Vorlage dienenden Evangelium. Das hier nicht der König sondern der Sohn selbst um die Braut wirbt, wird im Hinblick auf inner-trinitarische Beziehungen im Lichte des Luthertums plausibel: Christus wirbt um die glaubende Seele. Gott in Jesus Christus wirbt um den Glauben der Menschen, nicht der Mensch erzeugt Gottesglauben. Im Verlaufe des Rezitativs steigert sich das Geschehen zu einem regelrechten Liebesduett im tänzerischen Dreiertakt, was der erotisch-mystischen Vereinigung der Seele mit Christus entspricht: „Komm Schönster/Schönste lass dich küssen […], Mein Bräutigam/Komm liebe Braut, ich eile nun die Hochzeitskleider anzutun“.

    Musikalisch für mich ein echtes Highlight, wie sich dieses Rezitativ immer weiter steigert.


    Die zweite Arie gehört nun im Sinne der Symmetrie der Braut und somit der gläubigen Seele (Sopran). Die selbstbewusste Grundfeststellung („Ich bin herrlich, ich bin schön“) wird im Mittelteil mit der von Gott kommenden Gerechtigkeit und der Rechtfertigung jedes Menschen vor Gott durch Christus („Seines Heils Gerechtigkeit ist mein Schmuck und Ehrenkleid“) begründet.


    Das zweite Dialog-Rezitativ der Kantate stellt die Antwort des Bräutigams auf die Feststellung der Braut: „Mein Glaube hat mich selbst so angezogen“ dar. Der entstandene Glaube wird zum eigenen Glauben des Gläubigen, nicht ein von außen herangetragenes Fremdprodukt. „Gott will sich in Ewigkeit verbinden. Bitte um Einlass muss der Mensch selbst äußern, aber Jesus verheißt Treue.


    Die abschließende Duett-Arie verbindet Bibelworte mit dem Choral „Wie bin ich doch so herzlich froh“. Der Hinweis der Liebe Gottes zu den Menschen („Dich hab ich je und je geliebet“) stellt die abschließende Arie verstärkend der Sopranarie an die Seite.

    Musikalisch für mich der mitreißendste Satz.


    Die hier exemplarisch anzutreffende Bräutigam-Braut-Metapher stellt auf der einen Seite gewiss eine mystische Vorstellung der Vereinigung mit Christus dar, lässt darüber hinaus aber noch soteriologische Schlüsse zu: Die Braut trägt ihren Geliebten in der Gestalt des Gekreuzigten und Auferstandenen nach 2. Tim 2,8 („Halt im Gedächtnis Jesus Christus, der auferstanden ist von den Toten“) im Herzen.



    1. Sinfonia


    2. Arie (Bass)

    Ich geh und suche mit Verlangen ich, meine Taube, schönste Braut. Sag an, wo bist du hingegangen, dass dich mein Auge nicht mehr schaut?


    3. Rezitativ (Bass & Sopran)

    Bass

    Mein Mahl ist zubereit' und meine Hochzeittafel fertig, nur meine Braut ist noch nicht gegenwärtig.

    Sopran

    Mein Jesus redt von mir; O Stimme, welche mich erfreut!

    Bass

    Ich geh und suche mit Verlangen dich, meine Taube, schönste Braut.

    Sopran

    Mein Bräutigam, ich falle dir zu Füßen.

    {Bass/Sopran}

    Komm, {Schönste / Schönster}, komm und lass dich küssen,

    {Du sollst mein / Lass mich dein} fettes Mahl genießen.

    {Komm, liebe Braut, und / Mein Bräutigam! ich} eile nun,

    beide

    Die Hochzeitkleider anzutun.


    4. Arie (Sopran)

    Ich bin herrlich, ich bin schön, meinen Heiland zu entzünden.

    Seines Heils Gerechtigkeit ist mein Schmuck und Ehrenkleid; Und damit will ich bestehn, wenn ich werd im Himmel gehn.


    5. Rezitativ (Sopran & Bass)

    Sopran

    Mein Glaube hat mich selbst so angezogen.

    Bass

    So bleibt mein Herze dir gewogen, so will ich mich mit dir in Ewigkeit vertrauen und verloben.

    Sopran

    Wie wohl ist mir! Der Himmel ist mir aufgehoben: Die Majestät ruft selbst und sendet ihre Knechte, dass das gefallene Geschlechte im Himmelssaal bei dem Erlösungsmahl zu Gaste möge sein, hier komm ich, Jesu, lass mich ein!

    Bass

    Sei bis in Tod getreu, So leg ich dir die Lebenskrone bei.


    6. Arie & Choral (Sopran & Bass)

    Dich hab ich je und je geliebet,

    Wie bin ich doch so herzlich froh, dass mein Schatz ist das A und O, der Anfang und das Ende.

    Und darum zieh ich dich zu mir.

    Er wird mich doch zu seinem Preis aufnehmen in das Paradeis; Des klopf ich in die Hände.

    Ich komme bald,

    Amen! Amen!

    Ich stehe vor der Tür,

    Komm, du schöne Freudenkrone, bleib nicht lange!

    Mach auf, mein Aufenthalt!

    Deiner wart ich mit Verlangen.

    Dich hab ich je und je geliebet, und darum zieh ich dich zu mir.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

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  • Eine zweite für Bachs Kantatentexte typische christologische Erscheinungsform ist die Hirtenmetaphorik. Jesus Christus tritt als Hirte seiner Herde auf, was im ekklesiologischen Sinn als Jesus als Haupt der Gemeinde und somit der christlichen Kirche verstanden werden kann.


    Die exemplarisch ausgewählte Kantate BWV 104, „Du Hirte Israel, höre“, entstand für den Sonntag Misericordias Domini (23.04.1724) in Leipzig. Wieder ist der Textdichter nicht bekannt, vereinzelt wurde Bach selbst als Dichter des Textes angesehen. Das Proprium des Sonntags weist folgende Texte aus: Ps 23 (Guter Hirte) als Eingangspsalm, 1. Petr 2,21-25 (Christus als Hirte der Seelen) als Epistel und Joh 10,12-16 (Hirtenrede). Die Texte stellen in ihrer Gesamtheit folglich eine höchst pastorale Grundstimmung her. Bach ist einer der ersten komponierenden Kirchenmusiker, die das gesamte Proprium des Gottesdienstes in Text und Musik zu den Kantaten einbeziehen und ein „Monopol des Evangeliums“ hinter sich lassen.


    Der Psalmvers des Eingangschors (Ps 80,2) führt unmittelbar in das Hirtenmilieu ein und betont – wie die gesamte Kantate – die Gegenwart Gottes. Mit Arnold verbindet der Text den transzendenten Gott („der du sitzest über Cherubim“) mit dem sich geschichtlich offenbarenden, fürsorgenden Gott („der du Joseph hütest“).


    Das folgende Rezitativ verstärkt das Bild des fürsorgenden Gottes („Der höchste Hirte sorgt für mich, was nützen meine Sorgen“). Die erste Arie der Kantate vollzieht den Schritt vom allgemeinen Rufen nach Gott („Verbirgt mein Hirte sich zu lange“) zu einem persönlicheren Gottesverständnis von Gott als Vater („Ein gläubig 'Abba' durch dein Wort“). Angerufen wird derjenige, der sich selbst als guter Hirte bezeichnet hat und in dem „Gott als Mensch unter Menschen mit seiner einzigartigen Gottesbeziehung gewirkt hat: Jesus“.


    Das folgende Rezitativ übernimmt das Vertrauen dieses persönlichen Gottesbildes. Über die Fürsorge Gottes hinaus mischen sich nun auch eschatologisch-soteriologische Töne bei („Ach lass den Weg nur bald geendet sein und führe uns in deinen Schafstall ein“). Die folgende Bassarie – eine der feierlichsten Tondichtungen Bachs – vollzieht endgültig die christologische Deutung des Hirten. Im pastoralen Siciliano-Takt wird Jesu Güte als Lohn des Glaubens, bereits auf Erden und wesentlich stärker nach dem Tode, dargestellt („Hier schmeckt ihr Jesu Güte schon und hoffet noch des Glaubens Lohn, nach einem sanften Todesschlafe“). Jesu Güte soll folglich erfahrbar („schmecken“) sein und sich im Zusammenhang zwischen der Auferstehung Christi und der erhofften Auferstehung des glaubenden Menschen vollziehen.


    Der abschließende Choral („Der Herr ist mein getreuer Hirte“) verstärkt diese Hoffnung mit einem alttestamentlichen Rückgriff auf Ps 23, welcher gewissermaßen von katechetischem Charakter ist und das Glaubensbekenntnis in der Kantate als Vertrauensbekenntnis identifiziert.


    Die in dieser Kantate exemplarische Hirtenmetaphorik ist symptomatisch für den Glauben der lutherischen Orthodoxie. Das friedvolle, ruhige Hirtenmilieu eignete sich nach Dürr besonders dafür, dem barocken Christen die Vorstellung idealer Empfindungen wie Liebe, Unschuld oder Treue deutlich zu machen. Dies gilt ebenso für christliche Tugenden, wie Glaube, Demut oder Friedfertigkeit. Unter dem Leitbild des guten Hirten finden sich vor allem theologische Aussagen zur Güte Gottes und der providentia Dei.




    1. Chor

    „Du Hirte Israel, höre, der du Joseph hütest wie der Schafe, erscheine, der du sitzest über Cherubim“


    2. Rezitativ (Tenor)

    Der höchste Hirte sorgt vor mich, was nützen meine Sorgen? Es wird ja alle Morgen des Hirten Güte neu. Mein Herz, so fasse ich, Gott ist getreu.


    3. Arie (Tenor)

    Verbirg mein Hirte sich zu lange, macht mir die Wüste allzu bange, mein schwacher Schritt eilt dennoch fort.

    Mein Mund schreit nach dir, und du, mein Hirte, würkst in mir ein gläubig Abba durch dein Wort.


    4. Rezitativ (Bass)

    Ja dieses Wort ist meiner Seelen Speise, ein Labsal meiner Brut, die Weide die ich meine Lust, des Himmels Vorgeschmack, ja mein alles heiße. Ach! Sammle nur, o guter Hirte, uns Arme und Verirrte, Ach lass den Weg nur bald geendet sein und führe uns in deinen Schafstall ein.


    5. Arie (Bass)

    Beglückte Herde, Jesu Schafe, die Welt ist euch ein Himmelreich.

    Hier schmeckt ihr Jesu Güte schon und hoffet noch des Glaubens Lohn nach einem sanften Todesschlafe.


    6. Choral (Chor)

    Der Herr ist mein getreuer Hirt, dem ich mich ganz vertraue, zur Weid er mich, sein Schäflein führt, auf schöner grünen Aue, zum frischen Wasser leit' er mich, mein Seel zu laben kräftiglich durchs selig Wort der Gnaden.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Die für Bachs Kantatentexte wohl wichtigste christologische Erscheinungsform ist das Bild des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Die sich hieraus ergebende Rechtfertigungslehre und Soteriologie wohnt fast allen Kantaten Bachs inne.

    Die exemplarisch ausgewählte Kantate BWV 159, „Sehet! Wir gehen hinauf nach Jerusalem“, entstand für den Sonntag Estomihi (27.02.1729) in Leipzig. Der Dichter der Kantate ist der bereits erwähnte Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, der auch den Text zur Matthäuspassion lieferte. Das Proprium des letzten Sonntags vor der Passionszeit sieht folgende Texte vor: Ps 31 als Eingangspsalm, 1. Kor. 13,1-13 (Hohelied der Liebe) als Epistel und Lk 18,31-43 (Leidensankündigung und Blindenheilung) als Evangelium. Wie der Evangeliumstext, so verbindet auch Picanders Kantatentext das Leiden des Blinden auf subtile Art mit dem Leiden bzw. der Leidensankündigung Jesu.


    Als Eingangsarioso begegnet erneut ein Dialog der gläubigen Seele mit Christus, in diesem Falle jedoch steht die gläubige Seele konkret für Petrus, der in dieser Kantate sehr präsent ist. Der Gang hinauf nach Jerusalem wird von Petrus als Berg der Sünden interpretiert („O ungeheurer Berg, den meine Sünden zeigen“) und bringt eine hamartiologische Kategorie in das Geschehen. Petrus möchte Jesus davon abhalten diesen Berg der Sünden zu erklimmen. Lothar Steiger interpretiert das Verhalten Petri auf folgende Weise: „Wer daran denkt, wie ihm das Heil zu Teil geworden ist, wird wiederum zur Erkenntnis seines Sünderseins kommen, versteht notwendig das Hinaufgehen Jesu tropologisch als einen harten Gang“, schreibt Lothar Steiger. Auf diese Weise verstanden erhält die mit Petrus identifizierte gläubige Seele wieder einen allgemeinen Charakter, der im Sündersein und der Bedürftigkeit zur Rechtfertigung jedes Menschen begründet liegt. Deshalb meditiert die Seele am Ende der Arie die möglichen Folgen des Zurückbleibens Jesu von Jerusalem und somit der Passion: „Doch bliebest du zurücke stehen, so müsst ich selbst nicht nach Jerusalem, ach leider in die Hölle gehen“. Dem Menschen bleibt ohne die Heilstat Jesu nur das Verderben.


    Diese Einsicht nimmt die folgende Arie („Ich folge dir nach“) auf und verstärkt sie mit der sechsten Strophe des Passionschorals „O Haupt voll Blut und Wunden“. Die Seele ist bereit, Jesus in der Mediation zum Kreuz zu folgen. Gerade das Kreuz erweist sich als eigentliches Ziel der Nachfolge („Am Kreuz will ich dich noch umfangen […] Sollst du dein Grab in mir erlangen.“). Grundlage des Christusglaubens ist ebenso das Erfassen und Umfassen Christi, als auch das Bergen in Arm und Schoß. Ziel der Nachfolge ist hier die Bereitschaft zum Begraben des lebendigen Christus im eigenen Herzen. Olearius kommentiert dies: „Das Todten-Hauß wird ein Lebens-Hauß“. Nachfolge basiert hier nicht auf Vermessenheit, Selbstüberschätzung und Verleugnung (negative Wesensmerkmale des Petrus), sondern auf Reue und der schmerzhaften Erkenntnis zur Umkehr.


    Das folgende Rezitativ der Seele stellt eine Selbstbesinnung an der Grenze des Selbstmitleides dar („Ich labe mich an meinen Tränen“). Petzoldt interpretiert die Tränen als Petrustränen und somit als Tränen der Reue des sündhaften Menschen.


    Die nun folgende Vox Christi Arie nimmt die klagend-erhabene Text- und Klangwelt der beiden großen Passionen Bachs auf („Es ist vollbracht“). Die Liebe Jesu zur gläubigen Seele hat gesiegt, „das Leid ist alle“, was nicht zuletzt durch den trostvollen, ruhigen Streichersatz der ergreifenden Arie ausgedrückt wird. An dieser Stelle geschieht außerdem eine Verbindung zur Blindenheilung des Evangeliums, bei welcher auch das Ende des Leides im Vordergrund steht. Die Verbindung des Ergebnisses des Handelns Jesu am Blinden (Sehen) mit seinem Handeln an Petrus und darin mit seinem erlösenden Handeln an jedem glaubenden Menschen wird vollzogen. „Wir sind von unserm Sündenfalle in Gott gerecht gemacht“: Der Blick richtet sich auf Erlösung und Auferstehung. Hiermit wird als neue theologische Kategorie das Danken („Nun will ich eilen und meinem Jesu Dank erteilen“) eingeführt. Jesu Vollendung ist die Voraussetzung unserer Dankbarkeit, das Sehen der Herrlichkeit Christi in der Passion führt im besten Falle zu einem lebenslangen dankbaren Festhalten an Christus.


    Der abschließende Choral „Jesu deine Passion“ qualifiziert die Freude der Dankbarkeit auf Grund Christi Heilstat als Vorgeschmack auf die himmlischen Freuden und bringt somit abschließend sogar eine eschatologische Kategorie in die Kantate.


    Diese Kantate steht exemplarisch für das soteriologische Handeln Gottes an den Menschen durch Christus. Hamartiologische und anthropologische Größen und Probleme finden ihr Ziel in der Heilstat Christi, in der Rechtfertigung des Sünders vor Gott, wie sie nicht zuletzt das Luthertum neu betont und qualifiziert hat.




    1. Arioso & Rezitativ (Bass & Alt)

    Bass

    „Sehet!“

    Alt

    Komm, schaue doch, mein Sinn, wo geht dein Jesus hin?

    Bass

    „Wir gehn hinauf“

    Alt

    O harter Gang! Hinauf? O ungeheurer Berg, den meine Sünden zeigen!

    Wie sauer wirst du müssen steigen!

    Bass

    „Gen Jerusalem.“

    Alt

    Ach, gehe nicht! Dein Kreuz ist dir schon zugericht', wo du dich sollst zu Tode bluten; Hier sucht man Geißeln vor, dort bindt man Ruten; Die Bande warten dein; Ach, gehe selber nicht hinein! Doch bliebest du zurücke stehen,

    so müsst ich selbst nicht nach Jerusalem, Ach, leider in die Hölle gehen.


    2. Arie & Choral (Alt & Sopran)

    Ich folge dir nach

    Ich will hier bei dir stehen, verachte mich doch nicht!

    Durch Speichel und Schmach; Am Kreuz will ich dich noch umfangen,

    Von dir will ich nicht gehen, bis dir dein Herze bricht.

    Dich lass ich nicht aus meiner Brust,

    Wenn dein Haupt wird erblassen, im letzten Todesstoß,

    Und wenn du endlich scheiden musst,

    Als denn will ich dich fassen,

    Sollst du dein Grab in mir erlangen.

    In meinen Arm und Schoß.


    3. Rezitativ (Tenor)

    Nun will ich mich, mein Jesu, über dich in meinem Winkel grämen; Die Welt mag immerhin den Gift der Wollust zu sich nehmen, Ich labe mich an meinen Tränen und will mich eher nicht nach einer Freude sehnen, bis dich mein Angesicht wird in der Herrlichkeit erblicken, bis ich durch dich erlöset bin; Da will ich mich mit dir erquicken.


    4. Arie (Bass)

    Es ist vollbracht, das Leid ist alle, wir sind von unserm Sündenfalle in Gott gerecht gemacht.

    Nun will ich eilen und meinem Jesu Dank erteilen, Welt, gute Nacht!

    Es ist vollbracht!


    5. Choral (Chor)

    Jesu, deine Passion ist mir lauter Freude, deine Wunden, Kron und Hohn meines Herzens Weide; Meine Seel auf Rosen geht, wenn ich dran gedenke,

    in dem Himmel eine Stätt' mir deswegen schenke.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Das bereits zu BWV 159 skizzierte Passions- und Erlösungsgeschehen wird in den Passionen zu einem textlichen und musikalischen Höhepunkt geführt wird.

    Die Matthäuspassion BWV 244 entstand entweder für den Karfreitag des Jahres 1727 oder 1729 in Leipzig. Das genaue Datum der Entstehung bzw. der Uraufführung konnte bisher nicht abschließend geklärt werden. Den Text lieferte Picander, jedoch wird davon ausgegangen, dass Bach selbst den Text veränderte und bearbeitete. Für die theologische Bachforschung ist die Entdeckung, dass mehr als die Hälfte des Textes der Matthäuspassion von Picander in Dichtung überführte Passionspredigten Heinrich Müllers darstellen, von großer Bedeutung. Elke Axmacher geht davon aus, dass Bach selbst, welcher in Besitz der Passionspredigten Müllers war, Picander auf diese Vorlage verweisen hat. Müller, welcher neben Martin Luther und August Pfeiffer der am häufigsten vertretende Autor in Bachs privater Bibliothek ist, dürfte sich folglich großer Wertschätzung bei Bach erfreut haben. Picanders Nachdichtungen (um 1725) der Müllerschen Passionspredigten (um 1680) legen dabei den um 1700 eingetretenen Wandel des Passionsverständnisses offen zu Tage. Der Vergleich beider Texte gibt uns die Möglichkeit, die tiefgreifenden Änderungen der Christologie im Ausgang der lutherischen Orthodoxie zu belegen.


    Das Rezitativ „O Schmerz, hier zittert das gequälte Herz“, welches zur Gethsemane-Szene gehört, führt dies beispielsweise vor Augen. Während Müller Gottes Zorn über den Menschen als Ursache für die notwendige Passion stark macht („Er erschütterte gantz für den erschrecklichen Grimm und Zorn Gottes [...]“), schwächt Picander diese Ätiologie ab und etabliert das Sündhaft-sein des Menschen an sich als Ursache für die Passion („Ach meine Sünden haben dich geschlagen“). Gleichzeitig verschiebt Picander den Fokus des Subjektes von Gott (Müller: „Dann es hatte Gott allen seinen Zorn, allen seinen Grimm, ja alle höllische Quaal über sein Kind ausgeschüttet“) auf Jesus: „Er leidet alle Höllen-Qualen“. Für Müller als Vertreter der klassischen lutherischen Orthodoxie war es folglich wesentlich selbstverständlicher, dass alle Menschen das Leiden Christi gleichsam mitleiden müssen, während Picander im frühaufklärerischen und pietistischen Wandel des Christusbildes Jesus als selbstständig handelnd in den Fokus rückt. Letztlich lässt sich an dieser Gegenüberstellung die Auflösung des altkirchlichen Dogmas der Wesenseinheit Jesu mit Gott zeigen, wie sie in der lutherischen Orthodoxie noch einmal vertreten worden war.


    Diese starke Subjektivierung Jesu und sein selbstständiges Handeln sind unübersehbare Grundtendenz der gesamten Matthäuspassion. Die Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“, die ihren Platz während der Verhandlung vor Pilatus hat, stellt ebenfalls eine beispielhafte Umdeutung Picanders dar. Jesu Tod wird nicht mehr wie bei Müller als stellvertretender Straftod verstanden („Er hatte auf sich genommen aller Menschen Missethat. Er ist ein Übeltäter worden an deiner statt [...]“), sondern stellt einen freiwilligen Opfertod aus Liebe dar: „Aus Liebe will mein Heyland sterben, von einer Sünde weiß er nichts“.


    Ein drittes Beispiel nimmt die bereits in BWV 159 festgestellte Vorstellung des Begrabens des lebendigen Christus im eigenen Herzen auf. Die ergreifende letzte Soloarie der Matthäuspassion („Mache dich mein Herze rein“) greift diesen in Müllers ganzer neunter Passionspredigt dominierenden Gedanken auf. Müller spricht von Jesu Blut als Quelle der Heiligung und Reinheit des Herzens: „Ists rein gemacht durch den Glauben in seinem Blut, so lege ihn hinein und lass ihn nimmer wieder raus“. Picander macht hieraus: „Mache dich mein Herze rein, ich will Jesum selbst begraben […] Welt, geh aus, laß Jesum ein“. Steiger sieht hierin die applicatio, „dass wir uns das Verdienst des Blutes, die Vergebung der Sünden, aneignen sollen“.


    Bach zeigt sich in der Disposition, Textdichtung und Vertonung der Matthäuspassion zwar noch als Kind der lutherischen Orthodoxie, immerhin hatte Bach die Passionspredigten Müllers als Textgrundlage vorgeschlagen. Gleichzeitig erweist sich Picanders Text, der höchstwahrscheinlich unter Mitwirkung Bachs entstanden ist, aber als voll von frühaufklärerischen und pietistischen Tendenzen in der Christologie.

    Zusammengefasst: Picander vermeidet Aussagen über Gott als Urheber für die Leiden Jesu (Zorn). Des Weiteren verschwindet der handelnde Gott zugunsten eines subjektivierten Jesus fast vollkommen aus dem Libretto. Die Menschlichkeit dieses Jesu wird als überhöht und voll von Größe dargestellt. Ferner ersetzt die liebende Beziehung des frommen Ichs zu Jesus strenge theologische Topoi wie Mahnung zur Buße, zur Nachfolge und zum Glauben im Allgemeinen.


    Es lässt sich jedoch bei allen Differenzierungen auch feststellen, dass Müllers Vorlagen die dem Libretto der Matthäuspassion eigene Charakteristik der 'gefühlvollen Jesusliebe' grundsätzlich ermöglichen und vorbereiten. Müllers Text enthält verhältnismäßig wenige dogmatische Lehrstücke und betont stattdessen oftmals eine herzliche, tiefe Frömmigkeit, bei welcher Jesus im Vordergrund steht. An diesen Stellen knüpft Picander mit seiner veränderten Christologie an und bewahrt einzelne Theologumena Müllers Passionsauffassung. Denkbar, jedoch nicht nachweisbar ist auch, dass Bach verantwortlich für die teilweise Bewahrung Müllerscher Theologumena im Libretto der Matthäuspassion zeichnet.





    1. Chor

    Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen; Sehet! Wen? Den Bräutigam.

    Seht ihn! Wie? Als wie ein Lamm. Sehet! Was? Seht die Geduld. Seht! Wohin? Wohin? Auf unsre Schuld. Sehet ihn aus Lieb und Huld Holz vom Kreuze selber tragen.


    19. Rezitativ & Choral (Tenor & Chor)

    O Schmerz! Hier zittert das gequälte Herz! Wie sinkt es hin, wie bleicht sein

    Angesicht!

    Was ist die Ursach' aller solcher Plagen?

    Der Richter führt ihn vor Gericht, da ist kein Trost, kein Helfer nicht.

    Ach, meine Sünden haben dich geschlagen.

    Er leidet alle Höllenqualen, er soll für fremden Raub bezahlen.

    Ich, ach Herr Jesu, habe dies verschuldet, was du erduldet!

    Ach, könnte meine Liebe dir, mein Heil, dein Zittern und dein Zagen vermindern oder helfen tragen, wie gerne, blieb' ich hier!


    49. Arie (Sopran)

    Aus Liebe will mein Heiland sterben, von einer Sünde weiß er nichts.

    Dass das ewige Verderben und die Strafe des Gerichts nicht auf meiner Seele bliebe.


    65. Arie (Bass)

    Mache dich, mein Herze, rein, ich will Jesum selbst begraben. Denn er soll nunmehr in mir für und für seine süße Ruhe haben, Welt, geh aus, lass Jesum ein.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Hallo Tristan2511,

    hast du dich als Theologe mit der Kantate BWV126, "Erhalt uns Herr bei Deinem Wort, und steur des Pabst und Türken Mord" beschäftigt? Da kommen einem Nichttheologen etliche Fragen, aber auch Vermutungen in den Sinn.

    Diese Kantate wurde von Bach 1725 für den Sonntag Estomihi komponiert. Textdichter: Luther/J.Walter für die Choraltexte, die freien Texte: Dichter unbekannt, wahrscheinlich Picander.

    Musikalisch ist diese Kantate auch für Bach ein Sonderfall. Sie steht in a-moll, mit "üblichem" Orchester (Streicher, Continuo, 2 Oboen), jedoch....mit einer Solotrompete (ohne Pauken) mit einem äusserst schwierigen Solopart (der viele Trompeter zum Üben zwingt).

    Der Text:

    1. Choral SATB, Trompete, Oboe I + II, Streicher, Continuo

    Erhalt’ uns, Herr, bei deinem Wort

    Und steu’r des Papsts und Türken Mord,

    Die Jesum Christum, deinen Sohn,

    Stürzen wollen von seinem Thron.


    2. Aria Tenor, Oboe I + II, Continuo

    Sende deine Macht von oben,

    Herr der Herren, starker Gott!

    Deine Kirche zu erfreuen

    Und der Feinde bitter’n Spott

    Augenblicklich zu zerstreuen.


    3. Recitativo (+ Choral) Alt, Tenor, Continuo

    Alt

    Der Menschen Gunst und Macht wird wenig nützen,

    Wenn du nicht willt das arme Häuflein schützen,

    Beide

    Gott Heil’ger Geist, du Tröster wert,

    Tenor

    Du weißt, dass die verfolgte Gottesstadt

    Den ärgsten Feind nur in sich selber hat

    Durch die Gefährlichkeit der falschen Brüder.

    Beide

    Gib dein’m Volk einerlei Sinn auf Erd’,

    Alt

    Dass wir, an Christi Leibe Glieder,

    Im Glauben eins, im Leben einig sei’n.

    Beide

    Steh bei uns in der letzten Not!

    Tenor

    Es bricht alsdann der letzte Feind herein

    Und will den Trost von unser’n Herzen trennen;

    Doch lass dich da als unser’n Helfer kennen.

    Beide

    G’leit uns ins Leben aus dem Tod!


    4. Aria Bass, Continuo

    Stürze zu Boden, schwülstige Stolze!

    Mache zunichte, was sie erdacht!

    Lass sie den Abgrund plötzlich verschlingen,

    Wehre dem Toben feindlicher Macht,

    Lasst ihr Verlangen nimmer gelingen!


    5. Recitativo Tenor, Continuo

    So wird dein Wort und Wahrheit offenbar

    Und stellet sich im höchsten Glanze dar,

    Dass du vor deine Kirche wachst,

    Dass du des heil’gen Wortes Lehren

    Zum Segen fruchtbar machst;

    Und willst du dich als Helfer zu uns kehren,

    So wird uns denn in Frieden

    Des Segens Überfluss beschieden.


    6. Choral SATB, Trompete, Oboe I + II, Streicher, Continuo

    Verleih’ uns Frieden gnädiglich,

    Herr Gott, zu unser’n Zeiten;

    Es ist ja doch kein and’rer nicht,

    Der für uns könnte streiten,

    Denn du, unser Gott, alleine.


    Gib unser’n Fürst’n und aller Obrigkeit

    Fried’ und gut Regiment,

    Dass wir unter ihnen

    Ein geruh’g und stilles Leben führen mögen

    In aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit.

    Amen.

    Daß 1725 in Leipzig Luthers Originaltext (trotz zum Pabsttum konvertiertem Kurfürsten) gesungen wurde, halte ich für normal. Auch in unserem Kuhdorf wurde 250 Jahre später noch der Originaltext von der Gemeinde gesungen.

    Nun kommen jedoch die Fragen:

    "Du weißt, dass die verfolgte Gottesstadt

    Den ärgsten Feind nur in sich selber hat

    Durch die Gefährlichkeit der falschen Brüder."

    Wer sind denn die "falschen Brüder"? Könnten damit die "frömmelnden Heuchler", vulgo Pietisten gemeint sein?


    "Stürze zu Boden, schwülstige Stolze!

    Mache zunichte, was sie erdacht"

    Schon seltsam: zu Boden soll eine schwülstige Stolze stürzen, das Femininum ist doch sehr ungewöhnlich. Oder könnte damit die "schwülstig, stolze Papstkirche" gemeint sein? Dieser Verdacht kommt da schon auf.

    Was hältst du davon?


    Beste Grüße

    Bachianer

  • Lieber Bachianer,

    BWV 126 ist mit Sicherheit einer der seltsamsten und schwülstigsten Kantatentexte bei Bach. Das liegt bei dieser Choralkantate freilich am zu Grunde liegenden Choral "Erhalt uns Herr bei deinem Wort" von Martin Luther himself. Einige Strophen wurden direkt in die Kantate übernommen und andere aus der Vorlage umgedichtet. Man kennt den Textdichter der Kantate leider nicht. Aber sich mit dem Text der Kantate zu befassen, bedeutet letztlich sich mit Luthers Choral zu beschäftigen. Dieser hatte ursprünglich nur drei Strophen, später wurden immer wieder Strophen angefügt. Die Arie auf die du anspielst, gehört erstens zu den vom unbekannten Textdichter umgedichteten Strophen. Und zweites zu den später vom Reformator Justus Jonas hinzugefügten Strophen. Das Original lautet: "Ihr Anschläg' sie zunichte mach, lass sie treffen die böse Sach, und stürtz sie in die Gruben dein, die sie machen allen Christen dein". Das bezieht sich auf die schon in der ersten Strophe genannten Türken. Ein richtiges Kampflied also. Was aber soll diese Türkenpolemik?

    Historischer Hintergrund sind die Türkenkriege um 1529 und Luthers Schrift "Vom Kriege wider die Türken". Der Choral nun gilt als künstlerische Version dieser Schrift und ist deshalb im Evangelischen Gesangbuch quasi schon immer umstritten. Im Vordergrund steht eindeutig die Türkenpolemik. Die Papstpolemik ist eher - in Sinne und Zuge der laufenden Reformation - mit hineingenommen worden, war aber nicht äußerer Anlass der Choraldichtung. Eine Zeile im Eingangschor ist dabei besonders interessant: "Steu'r des Papsts und Türken Mord". "Steuern" meint dabei im Mittelhochdeutschen und Folgeerscheinungen auch "wehren". Die Gleichsetzung von Türkenmord und Papstmord ist dabei ziemlich heikel und reine Reformationspolemik. Die Pointe ist natürlich, dass Luther Ungläubigkeit und damit Feinde der wahren Christen gleichsetzt bei Türken (also Muslimen) und Papisten (also römisch-katholischen Christen). Das ist freilich ziemlich böse, so wie du gemutmaßt hast.


    Damit dürfte es sich nicht um ein Femininum, sondern um einen Plural (die Türken / die Papisten) handeln. Und zwar um eine grammatikalisch nicht sauber übertragene Liedstrophe (was im übrigen gelegentlich vorgekommen ist). Das scheint mir zumindest wahrscheinlicher, als eine reine Zuspitzung auf die Papstkirche, denn Ursprung des gesamten Chorals und Bezug zu den anderen Strophen sind vor allem die Türken. Denkbar wäre freilich auch ein gedachter pluraler Singular wie 'die Türkenrotte'.

    Die falschen Brüder (man assoziiert ja Glaubensbrüder) dürften tatsächlich eher die Römer, als die Piestisten sein. Sie sind ja - anders als die Türken - Brüder und Schwestern im Glauben. Dieses Element ist dem Choraltext vom Kantatendichter hinzugefügt und da dieser unbekannt ist, bleibt seine Intension letztlich verborgen. Nur ist es wesentlich wahrscheinlicher dass der Katholizismus, als in innerevangelischer Polemik die Pietisten gemeint sind.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Guten Morgen Tristan2511,

    vielen Dank.

    Leider sind wir in diesem Fall, wie in vielen, auf Vermutungen, Interpretationen angewiesen. Als Rohstoffwissenschaftler neige ich jedoch dazu, dass die Bedingungen, Analysen vor Ort (sehr bergmännisch ausgedrückt ^^) entscheidend für die Bewertung einer Lagerstätte sind. Alle weiteren Vorstellungen sind unsicher, müssen deshalb mit einem Wahrscheinlichkeitsfaktor (der übrigens auch unsicher ist) versehen werden. Also:

    - Bach komponiert 1725 eine Choralkantate über einen vorgegebenen Text. Dieser besteht aus einem alten, sehr bekannten Choraltext (Luther u.a.) und einem "neuen" Text eines lokalen Verfassers. Der schreibt:

    -

    Du weißt, dass die verfolgte Gottesstadt

    Den ärgsten Feind nur in sich selber hat

    Durch die Gefährlichkeit der falschen Brüder.

    Wer ist denn nun die "verfolgte Gottesstadt", die den ÄRGSTEN Feind durch "falsche Brüder" nur in sich selber hat? Etwa die Musulmanen? Die waren weit entfernt von Leipzig, keine Brüder, die Wahrscheinlichkeit tendiert gegen Null. Die "Papisten"? Nun gut, Leipzig hat 1697 die Errichtung einer katholischen Gebetsstätte genehmigt, der ökonomische Kompromiss einer internationalen Messestadt mit vielen rk-Besuchern. Katholische Leipziger Bürger gab es nicht. Sie konnten folglich nicht gefährlich werden.

    - Wer sind dann die "falschen Brüder"? Da bleiben nur die Pietisten übrig, die es in der Stadt als Bürger gab.

  • Die "Gottesstadt" ist letztlich ein Chiffre für die Christenheit, das auf Augustin (De civitate Dei) zurückgeht. Ich würde den Text allerdings nicht so sehr auf Leipzig beziehen. Er ist ja - bis auf die Hinzufügung der "inneren Feinde" - eine freie Übertragung des reformatorischen Chorals. Der unbekannte Textdichter, der nichts am Text ändert, außer diese Hinzufügung, muss nicht aus Leipzig kommen, das tun die anderen Textdichter Bachs ja auch nicht alle. Es bleibt dabei: Entweder Papisten oder Pietisten/Mystiker werden gemeint sein. Da wir den Dichter nicht kennen, ist ein Urteil nicht möglich.

    NB: Bach selbst hätte den Pietismus nicht als inneren Feind angesehen, die reine Mystik sowieso nicht.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Der olle Augustin und seine "de civitate Dei" in allen Ehren, jedoch kann man damit in einem Einzelfall (hier ein Kantatentext) nicht viel anfangen. Das kommt mir wie ein Geologe vor, der mir bei einem Erzfund im Atlas eine geologische Karte Nordafrikas vorlegt und sagt: das ist devonischer Magmatismus. Der reicht von Ostafrika bis zum Atlantik. Nur, über die Abbauwürdigkeit dieser Lagerstätte wird damit nichts ausgesagt.

    Über Bachs Feinde, gleich ob "innere" oder "äussere" können wir kaum urteilen. Schon aus ökonomischen und musikalischen Gründen wird er kein Freund des Pietismus gewesen sein. Pietismus = keine regulierte Kirchenmusik und musikalisch ein langweiliges Gedudel.


    Beste Grüße

    Bachianer

  • Der olle Augustin und seine "de civitate Dei" in allen Ehren, jedoch kann man damit in einem Einzelfall (hier ein Kantatentext) nicht viel anfangen. Das kommt mir wie ein Geologe vor, der mir bei einem Erzfund im Atlas eine geologische Karte Nordafrikas vorlegt und sagt: das ist devonischer Magmatismus. Der reicht von Ostafrika bis zum Atlantik. Nur, über die Abbauwürdigkeit dieser Lagerstätte wird damit nichts ausgesagt.

    Über Bachs Feinde, gleich ob "innere" oder "äussere" können wir kaum urteilen. Schon aus ökonomischen und musikalischen Gründen wird er kein Freund des Pietismus gewesen sein. Pietismus = keine regulierte Kirchenmusik und musikalisch ein langweiliges Gedudel.


    Beste Grüße

    Bachianer

    Dein Kommentar ist mir ein wenig schleierhaft. Ich habe lediglich die Herkunft des Begriffes "Gottesstadt" erklärt. Theologische Termini sind oftmals durch die Jahrhunderte hindurch wirkmächtig gewesen, grade von Größen wie Augustin. Es geht hier auch weniger um Bachs Feinde, als diejenigen des Christentums aus Sicht des Textdichters. Und nochmal in aller Deutlichkeit (darüber gibt es Fakten und nicht nur Spekulationen): Bach war kein Feind des Pietismus und sogar ein Freund der weniger musikfeindlichen frühen pietistischen Strömungen. Arndts "Vom wahren Christentum" hat er z.B. in vielen Punkten zum Zentrum seines Glaubens erhoben, das zeigen schon die zahlreichen Anmerkungen in den beiden erhaltenen Bibelausgaben und in seiner Arndt-Ausgabe. Bach zum Feind des Pietismus erklären, da mache ich nicht uneingeschränkt mit. Dass Textdichter von Kantaten hingegen antipietistisch eingestellt waren, das ist gut möglich und sogar wahrscheinlich.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Dein Kommentar ist mir ein wenig schleierhaft. Ich habe lediglich die Herkunft des Begriffes "Gottesstadt" erklärt. Theologische Termini sind oftmals durch die Jahrhunderte hindurch wirkmächtig gewesen, grade von Größen wie Augustin

    Schleierhaft? Also noch einmal.

    Ich habe die Herkunft des Begriffs "Gottesstadt" durch Augustinus nicht infrage gestellt, sondern nur seine "Wirkmächtigkeit". Woher wissen wir, dass der Verfasser des Textes von BWV126 diese Definition da verwendete? Deswegen mein Vergleich mit der Geologie. Auch da sind die "Termini" oft über Jahrhunderte wirkmächtig, nur helfen sie in Einzelfällen nicht einen Schritt weiter.

    BWV126 ist mit Sicherheit nicht für eine innertheologische Auseinandersetzung geschrieben worden, sondern für den sonntäglichen Kirchenbesucher in Leipzig. Wieviele Hörer und Leser dieses Textes werden da wohl an Augustins Definition gedacht haben? Vermutlich kaum jemand, sonder eher an den frömmelnd-missionierenden Nachbarn.

    Hinsichtlich Johann Arndt wäre ich da etwas vorsichtiger. Der ist 1621 in Celle gestorben, also längst vor der Entstehung des Pietismus. Er hat Anhalt verlassen müssen wg. seines lutherischen Bekenntnisses. Er hat des theogische "Affentheater" z.B. die Entstehung der Konkordienformel bewusst miterlebt und seine Schlüsse daraus gezogen: zum Christentum gehört nicht nur die Rechtgläubigkeit, sondern auch das menschlich-tägliche Verhalten. Die Orthodoxen pochten fast ausschließlich auf die Rechtgläubigkeit, die nachfolgenden Pietisten fast ausschließlich auf das Verhalten. Extremisten auf beiden Seiten.

    Nicht erstaunlich: diese Denkweisen gibt es noch heute. Jedoch sollte man das Gehirn nicht ausschalten.

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