The Eton Choirbook

  • Gäbe es das Eton Choirbook nicht, die englische Chormusik wäre um bedeutende Werke ärmer, denn es ist eine Quelle der polyphonen englischen Musik vor Purcell. Beinahe wäre es verloren gegangen.


    In der politisch turbulenten Zeit gegen Ende des 100-jährigen Krieges gründete der englische König Henry VI. um 1440 mit dem Eton College einen Zufluchtsort, wo Hingabe, Wohltätigkeit und Bildung gedeihen konnten.


    Keine 100 Jahre später wurden viele Bibliotheken durch religiöse Reformen und Gegenreformen unter Heinrich dem VIII. zerstört. Umso erstaunlicher ist es, dass ein Großteil des kostbaren, 500 Jahre alten Eton Choirbook diese Zeiten überdauerte: Von den ursprünglich 224 Blättern sind 126 erhalten geblieben, die einen Schatz an geistlichen Werken englischer Komponisten aus der vorreformatorischen Zeit darstellen.


    Das "Eton Choirbook" enthielt ursprünglich 93 Werke von 25 Komponisten, die aus Eton, Windsor, der Schwesterschule von Eton am King's College in Cambridge, Oxford und dem Königshof stammten. Es wurde mit grosser Sorgfalt zusammengestellt und um 1504 / 5 fertiggestellt.


    Dabei ist nicht nur der musikalische Inhalt dieses einmaligen Artefaktes von unermesslichem Wert, auch das Manuskript selbst, für dessen Herstellung 112 Kälber ihr Leben lassen mussten, kostete schon damals das Jahresgehalt eines gut verdienenden Mannes.



    Tonus Peregrinus, Antony Pitts



    The Sixteen hat überlieferte Werke auf 5 CDs veröffentlicht.



    Auf dieser CD von The Sixteen treffen Werke aus dem Eton Choirbook auf zeitgenössische Kompositionen.




    Bald erscheint die erste CD einer geplanten Gesamtausgabe mit dem Ensemble Selene und ihrem Leiter Daniel Gilchrist. Sie arbeiten an einem langfristigen Projekt, mit dem Ziel, unvollständige Stücke daraus zu rekonstruieren und aufzunehmen.


    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



  • Ich mag keine Oberflächlichkeit. Minimalismus ist mir ebenfalls fremd. Das Tamino-Klassikforum sollte seine Professionalität bewahren und fortsetzen.

    "Ὁ βίος βραχύς, ἡ δὲ τέχνη μακρή, ὁ δὲ καιρὸς ὀξύς, ἡ δὲ πεῖρα σφαλερή, ἡ δὲ κρίσις χαλεπή." Ἱπποκράτης

  • Zitat aus den Forenregeln:


    Das Tamino-Klassikforum ist ein privates Forum welches eingerichtet wurde, um Klassikfreunden, Klassikkennern und Neueinsteigern eine Plattform für Diskussionen über das Thema "Klassische Musik" zu bieten.


    Die wenigsten Mitglieder des Forums sind Berufsmusiker. Es verbindet sie die Freude an der Musik der vergangener Epochen. Jeder und jede die sich mit Beiträgen einbringen, machen dies in ihrer Freizeit. Es wird von der Forumsleitung kein Anspruch auf Professionalität erhoben, um sich zu beteiligen. Würde dies gefordert, würden manche abgehalten sich schriftlich zu äussern.

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    Das bedeutende Werk des Eton Choirbooks hatte bisher keinen eigenen Thread und verdient in meiner Einschätzung mehr Beachtung. Die Nennung der verdienstvollen Einspielungen der polyphonen Musik gehört auch dazu.


    Wer etwas zu dieser bedeutenden historischen Quelle beitragen möchte, ist herzlich eingeladen.


    moderato in seiner Funktion als Moderator

    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



  • Teil 1.


    Die Krönung von Henry Tudor (1457 - 1509) als Heinrich VII. am 30. Oktober 1485 markierte nicht nur den Beginn der Tudor-Dynastie, sondern auch das Ende eines blutigen Kapitels in der englischen Geschichte: der Rosenkriege. Diese Auseinandersetzungen zwischen den Häusern Lancaster (rote Rose) und York (weiße Rose) hatten England über drei Jahrzehnte in politische Instabilität und Chaos gestürzt. Der Sieg Heinrichs bei der Schlacht von Bosworth (22. August 1485) beendete diese Machtkämpfe und leitete eine Ära des Friedens und kulturellen Aufschwungs ein.


    Mit dem Ende der Rosenkriege erwachte auch die englische Musik zu neuer Blüte. Eine der kostbarsten musikalischen Quellen dieser Zeit ist das Eton Choirbook, eine prächtige Handschrift, die Ende des 15. Jahrhunderts für die Kapelle des Eton College angefertigt wurde. Diese Sammlung enthält einige der kunstvollsten Werke der englischen Chormusik, die in einer Zeit entstanden, als der Sarum-Ritus, ein liturgischer Gebrauch der mittelalterlichen Kirche in England, die religiösen Feiern prägte.


    Der Sarum-Ritus – ein reich ausgestalteter liturgischer Usus, der besonders in Salisbury (lat. Sarum) seinen Ursprung hatte – war bekannt für seine feierlichen Zeremonien und die prachtvolle musikalische Begleitung. In der Tudorzeit erlebte dieser Ritus eine Blütezeit, in der die Musik zu einem zentralen Bestandteil der Liturgie wurde. Die Kompositionen aus dem Eton Choirbook spiegeln diese Pracht wider: mehrstimmige Werke, die von außergewöhnlicher Komplexität und klanglicher Schönheit geprägt sind.


    Das Eton Choirbook wurde zwischen 1500 und 1505 speziell für den liturgischen Gebrauch in der Kapelle des Eton College zusammengestellt. Der heutige Einband stammt aus der Mitte des 16. Jahrhunderts! Von den ursprünglich 224 Blättern sind noch 126 erhalten, darunter der Index. Insgesamt enthielt das Choirbook 93 Kompositionen, von denen 64 vollständig oder teilweise überliefert sind.


    Bemerkenswert ist, dass es Werke von 24 Komponisten umfasst, wobei einige von ihnen nur durch ihre Aufnahme in diese Sammlung bekannt sind. Die prominentesten Komponisten sind:

    John Browne (1453 - um 1500) mit 10 Kompositionen,

    Richard Davy ( um 1465 - 1538) mit 9 Kompositionen und

    Walter Lambe (um 1450 - 1504) mit 8 Kompositionen.


    Dort findet man auch Werke der anderen Komponisten: William Cornysh (der älterer), Hugh Kellyk, Robert Wilkinson, Edmund Turges, William Horwood, John Nesbett und Nicholas Huchyn.


    Das Choirbook ist ein einzigartiges Zeugnis der musikalischen und liturgischen Pracht des späten Mittelalters in England.


    Komponisten wie John Browne, Richard Davy und Robert Fayrfax, deren Werke im Eton Choirbook überliefert sind, standen im Mittelpunkt dieses musikalischen Aufschwungs. Ihre Motetten und Hymnen, die oft für mehrere Stimmen geschrieben wurden, sind von einer spirituellen Tiefe, die auch heute noch berührt. Die Texte, überwiegend lateinische Gebete, wurden in kunstvolle Polyphonie gesetzt, die den prunkvollen Charakter des Sarum-Ritus unterstrichen.


    Die Tudorzeit, geprägt von politischem Neuanfang und kulturellem Aufbruch, war eine Ära, in der Musik und Liturgie eng miteinander verwoben waren. Die Klänge des Sarum-Ritus und die Werke der Eton-Komponisten laden uns ein, in die reiche spirituelle und musikalische Welt des spätmittelalterlichen England einzutauchen.

    Stilistische Merkmale und musikhistorische Bedeutung

    Die musikalische Sprache des Eton Choirbook lässt sich in drei stilistische Entwicklungsphasen gliedern:


    Frühphase – vertreten durch Komponisten wie Richard Hygons (um 1435 – nach 1509), William Horwood (um 1430–1484) und Gilbert Banester (um 1445–1487). Ihre Werke zeigen nicht imitatorische Polyphonie mit starkem Kontrast zwischen vollbesetzten Passagen und solchen für kleinere Stimmgruppen.


    Mittlere Phase – etwa bei John Browne (1453 – um 1500), Richard Davy (um 1465–1538) und Walter Lambe (um 1450–1504) – nutzt Techniken wie Imitation, Cantus firmus und die typisch englische Kreuzrelation, die der Musik klangliche Intensität und Spannung verleihen.


    Spätphase – etwa bei William Cornysh (um 1433 – um 1502) und Robert Fayrfax (1464–1521) – zeichnet sich durch eine stärker imitatorische Anlage, komplexere Texturen und eine stilistische Annäherung an den kontinentalen Klang aus, wie man ihn etwa bei der franko-flämischen Schule findet.


    Das Eton Choirbook ist damit nicht nur ein liturgisches Dokument, sondern auch ein musikgeschichtlicher Meilenstein, der eine Epoche aufblühen lässt, deren musikalischer Reichtum nach der Reformation weitgehend verloren ging.


    1. John Browne (1453 – um 1500):" O Maria salvatoris mate"r


    Beschreibung:

    Ein fünfstimmiges Werk von eindrucksvoller Klangfülle und gestaffelter Dramatik. Browne gelingt es, durch dichte Akkordfolgen und expressive Melodielinien eine feierliche Marienverehrung musikalisch zu gestalten.


    Besonderheiten: Verwendung von Imitation in den Oberstimmen.

    Hoher Kontrastreichtum zwischen homophonen und polyphonen Abschnitten. Ausdrucksstarke Melismatik auf Worten wie salvatoris.


    Übersetzung (Textbeginn):

    O Maria, Mutter des Erlösers, du Hoffnung der Menschen, du Stern des Meeres...


    2. Richard Davy (um 1465–1538): Stabat mater dolorosa


    Beschreibung: Diese Vertonung des bekannten mittelalterlichen Hymnus über den Schmerz Mariens am Kreuz hebt sich durch intensive, beinahe klagende Polyphonie ab. Davy gelingt eine Balance zwischen liturgischem Ernst und emotionalem Ausdruck.


    Besonderheiten: Sehr lange, fließende Phrasen, dichte fünfstimmige Polyphonie mit dramatischen Spannungsbögen, Passagenweise fast instrumental wirkende Vokaltechnik.


    Übersetzung (Textbeginn):

    "Es stand die Mutter schmerzerfüllt beim Kreuze, und ihr Sohn hing daran..."


    3. Walter Lambe (um 1450–1504): "O Maria plena gratiae"


    Beschreibung: ein Werk voller Licht und Weichheit, das den klassischen Gruß des Engels an Maria musikalisch ausdeutet. Lambe verwendet liebliche Harmonien und klare Textstruktur.


    Besonderheiten: elegante Stimmführung, besonders in den Alt- und Tenorstimmen, Wechselspiel von drei- und fünfstimmigen Abschnitten; vereint meditative Ruhe mit festlicher Anrufung.


    Übersetzung (Textbeginn):

    "O Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir…"


    4. William Cornysh der Ältere (um 1433 – um 1502): "Salve regina mater misericordiae"


    Beschreibung: diese Fassung des bekannten marianischen Antiphons ist besonders expressiv. Cornysh bringt dramatische Steigerungen, aber auch zärtliche Passagen ein, die der Bitte um Barmherzigkeit Nachdruck verleihen.


    Besonderheiten: Spannungsreiche dynamische Bögen, Vielschichtige Textausdeutung mit subtiler Harmonik, Eindrückliche Vertonung von Schlüsselworten wie misericordiae und vita


    Übersetzung (Textbeginn):

    "Sei gegrüßt, Königin, Mutter der Barmherzigkeit, unser Leben, unsere Süße und unsere Hoffnung, sei gegrüßt!"


    5. Robert Fayrfax (1464–1521): "Ave lumen gratiae"


    Beschreibung: ein leuchtender Hymnus auf Maria als „Licht der Gnade“. Fayrfax' Stil ist flüssiger, harmonisch transparenter, fast schon ein Vorbote des Renaissancestils um 1520.


    Besonderheiten: Sanfte Imitation und klare Struktur, weniger Dissonanzen, mehr tonale Ruhe, gesangliche Linien, die beinahe liedhaft wirken.


    Übersetzung (Textbeginn):

    "Gegrüßet seist du, Licht der Gnade, du mildeste Jungfrau, du Hoffnung der Welt…"


    6. Edmund Turges (um 1450 – nach 1500): "Gaude flore virginali"


    Beschreibung: ein freudiger Lobgesang auf die Jungfrau Maria, bei dem Turges mit rhythmischer Vitalität und klanglichem Glanz arbeitet.


    Besonderheiten: motivisch prägnante Oberstimmen; Ausdruck freudiger Bewegung durch synkopierte Phrasen, lebendiger musikalischer Charakter.


    Übersetzung (Textbeginn):

    "Freue dich, du Blume der Jungfräulichkeit, du glanzvolle Mutter des Schöpfers…"


    7. John Browne (1453 – um 1500): "Stabat virgo mater Christi" (unsichere Zuschreibung)


    Folio 15–17


    Beschreibung: ein meditatives Stück, das die leidende Mutter Christi beschreibt – nicht mit Pathos, sondern mit kontemplativer Zurückhaltung. Die polyphone Dichte wirkt wie ein Gebet in Bewegung.


    Stilistische Merkmale: enggeführte Imitation bei stabat virgo, Wechsel von Drei- zu Fünfstimmigkeit, Ausdrucksstarke Melismen über den Schlusszeilen.


    Übersetzung (Textbeginn):

    "Die Jungfrau, Mutter Christi, stand traurig,

    voll Gnade und stiller Klage,

    neben dem Kreuz."


    8. John Browne (1453 – um 1500): "Stabat juxta Christi crucem" (unsichere Zuschreibung)


    Folio 17v–19


    Beschreibung: inhaltlich eine Parallele zu Werk Nr. 7 – möglicherweise ein alternativer Vertonungsversuch desselben oder eines verwandten Textes. Stilistisch jedoch konzentrierter, mit mehr innerer Spannung.


    Stilistische Merkmale: eng verwobene Linienführung, Verwendung dissonanter Übergänge (Kreuzrelationen) zur Verstärkung des Schmerzes, sehr ruhige Kadenzgestaltung


    Übersetzung (Textbeginn):

    "Sie stand neben dem Kreuz Christi,

    die fromme Mutter,

    und vergoß Tränen der Liebe."


    9. John Browne (1453 – um 1500): "O regina mundi clara" (unsichere Zuschreibung)


    Folio 19v–22


    Beschreibung: ein Werk voll marianischer Erhabenheit. Die „leuchtende Königin der Welt“ wird hier in musikalischem Glanz verehrt. Der Satz ist festlich, aber nie überladen.


    Stilistische Merkmale: breit ausgeführte Melismen auf clara und regina, Betonung der Oberstimmen durch klangliche Transparenz, Auffällig viele Homophonien auf Bitten und Anrufungen


    Übersetzung (Textbeginn):

    "O du leuchtende Königin der Welt,

    Mutter der Gnade,

    sei uns Licht auf dem Weg zum Heil."


    10. Edmund Sturton (Lebensdaten unbekannt): "Gaude virgo mater Christi"


    Folio 22v–25


    Beschreibung: eine der wenigen bekannten Kompositionen von Sturton. Die Musik ist klar gegliedert, schlicht im Ausdruck und wirkungsvoll in der Betonung freudiger Passagen.


    Stilistische Merkmale: wechselnde Stimmführung mit klarer Tenorachse, Verwendung kurzer imitatorischer Motive, der Textfluss bleibt jederzeit verständlich


    Übersetzung (Textbeginn):

    "Freue dich, Jungfrau, Mutter Christi,

    du leuchtest wie die Morgenröte,

    und trägst den König der Himmel in deinem Schoß."


    Die elfte überlieferte Komposition im Eton Choirbook ist eine unvollständige Vertonung von "O virgo prudentissima" durch Robert Wilkinson († nach 1500), die sich auf Folio 25v befindet. Der Text preist die Jungfrau Maria als höchste Weisheitsträgerin, und auch wenn nur Fragmente überliefert sind, lässt sich ein Stil erkennen, der auf klare Textausdeutung und ruhige Stimmführung zielt. Im Zentrum steht eine schlichte, aber ehrwürdige Melodik, die sich in langen Bögen entfaltet. Der lateinische Eingang O Jungfrau, du Weiseste unter den Frauen legt eine Verbindung zur marianischen Sapientia-Tradition nahe.


    Das zwölfte Werk, ebenfalls "Gaude flore virginali", ist in der Handschrift nicht erhalten, wurde jedoch Robert Wilkinson zugeschrieben. Es ist heute verloren, sodass keine stilistischen Aussagen möglich sind.


    Auch das dreizehnte Werk ist verschollen: "Salve regina vas mundiciae" von einem Komponisten namens Fawkner († nach 1500), dessen Stil anhand zweier überlieferter Werke später im Manuskript zumindest ansatzweise fassbar wird.


    Das vierzehnte Stück, "Gaude flore virginali", stammt von William Cornysh dem Älteren (um 1433 – um 1502) und ist nur in Fragmenten auf Folio 26 überliefert. Die erhaltenen Abschnitte zeigen große klangliche Weite und eine Vorliebe für imitatorische Passagen, die mit prächtigen Melismen über dem Namen der Jungfrau Maria verbunden sind. Trotz des fragmentarischen Zustands ist der festliche, zuweilen fast triumphale Tonfall erkennbar.


    Das fünfzehnte Werk, "Salve regina mater misericordiae" von Robert Wilkinson († nach 1500), erstreckt sich über die Folios 26v bis 29. Diese Antiphon gehört zu den zentralen Marienhymnen der spätmittelalterlichen Liturgie. Wilkinsons Vertonung ist reich an imitatorischen Motiven, wobei jede Textzeile musikalisch durchdrungen wird. Die Komposition lebt von ihrer schrittweisen klanglichen Steigerung, die in der Bitte um Erbarmen ihren Höhepunkt findet. Der lateinische Textbeginn lässt sich übersetzen mit: Sei gegrüßt, Königin, Mutter der Barmherzigkeit, unser Leben, unsere Süße und unsere Hoffnung.


    Das sechzehnte Werk des Eton Choirbook ist eine weitere Vertonung von "Salve regina mater misericordiae", diesmal von William Brygeman († nach 1500), überliefert auf den Folios 29v bis 30. Brygemans Stil ist kaum dokumentiert, doch in dieser kurzen, aber vollständigen Fassung zeigt er eine klare Gliederung des Textes, weitgehend syllabische Vertonung und nur gelegentliche Imitation. Die Musik wirkt schlicht und zurückhaltend, mit einer Ausgewogenheit zwischen melodischer Eingängigkeit und liturgischer Würde.


    Auf den Folios 30v bis 32 folgt ein weiteres "Salve regina" von William Horwood (um 1430–1484), das sich durch eine tiefgründige klangliche Architektur auszeichnet. Horwood verwendet fünf Stimmen und baut den Satz mit großer Geduld auf. Charakteristisch ist seine Vorliebe für lange, sich überlappende Melismen, die ein Gefühl von Weite und innerer Spannung erzeugen. Die Einleitung des Textes erklingt in ruhig schreitendem Duktus, fast wie ein feierlicher Einzug.


    Die nächste Komposition, ebenfalls "Salve regina mater misericordiae", stammt von Richard Davy (um 1465–1538) und ist auf Folio 32v bis 34 enthalten. Davy formt den Text zu einem dramatischen Gebilde mit starker rhythmischer Kontur. Seine Behandlung der Stimmen ist komplex, teils mit enggeführten Imitationen, teils mit blockhaften homophonen Passagen. Besonders auffällig ist seine klangliche Zeichnung der Bitten um Fürsprache, die durch intensive Kreuzrelationen hervorgehoben werden.


    Das neunzehnte Werk ist wiederum ein "Salve regina", möglicherweise von William Cornysh dem Älteren (um 1433 – um 1502), enthalten auf den Folios 34v bis 36. Die Zuschreibung ist nicht gesichert, doch die Musik verrät eine erfahrene Hand: Der Text ist in große Abschnitte gegliedert, mit sorgfältigem Spannungsaufbau, subtiler Dynamik und einer fast instrumentalen Behandlung der Vokallinien. Die Struktur ist symmetrisch angelegt, wobei zentrale Wendungen wie vita dulcedo besonders hervorgehoben werden.


    Den Abschluss dieser Werkgruppe bildet ein weiteres "Salve regina" von John Browne (1453 – um 1500), auf Folios 36v bis 38. Es ist eine der eindrucksvollsten Vertonungen des Gebets im gesamten Manuskript. Browne entfaltet einen majestätischen Klangraum über fünf Stimmen, nutzt kunstvoll verschlungene Imitation und bringt dramatische Spannungsbögen zur Wirkung. Der Satz steigert sich von einem ruhigen, fast kontemplativen Beginn zu einer klanglichen Apotheose im Schlussabschnitt. Der Text entfaltet seine emotionale Kraft durch die innige Verbindung von Wort und Musik.


    Auf den Folios 38v bis 40 finden wir eine weitere Vertonung von "Salve regina mater misericordiae", diesmal von Walter Lambe (um 1450–1504). Seine Fassung ist ausgesprochen ausdrucksvoll und differenziert gearbeitet. Lambe setzt auf einen spannungsvollen Wechsel zwischen engen imitatorischen Passagen und ruhig strömender Homophonie. Besonders auffällig ist sein feines Gespür für Klangfarben, etwa in der differenzierten Behandlung des Wortes misericordiae, das durch feine dissonante Wendungen hervorgehoben wird. Der Satz wirkt wie ein intensives Flehen – nicht laut, sondern in sich gekehrt und innig.


    Die nächste Vertonung des gleichen Textes stammt von John Sutton (Lebensdaten unbekannt) und ist auf Folios 40v bis 42 erhalten. Im Gegensatz zu den vorherigen Fassungen ist Suttons Stil schlichter, beinahe asketisch. Die Stimmen bewegen sich in gleichmäßiger Bewegung, ohne dramatische Ausschläge. Die Vertonung wirkt meditativ und demütig, als wolle der Komponist sich selbst und seine Musik ganz zurücknehmen, um den liturgischen Gehalt des Textes ins Zentrum zu stellen.


    Auf den Folios 42v bis 44 begegnet uns "Salve regina mater misericordiae" in einer Vertonung von Robert Hacomplaynt. Sein Stil erinnert an die mittlere Generation der Eton-Komponisten. Die Musik ist ausgewogen, mit klar strukturierten Abschnitten und sauber gearbeiteter Imitation. Besonders auffällig ist die Zärtlichkeit der Vertonung – weniger dramatisch als bei Browne oder Davy, aber ebenso eindringlich. Die Musik scheint die Barmherzigkeit nicht zu beschwören, sondern sie mit Vertrauen vorauszusetzen.


    Auf den Folios 44v bis 46 steht eine weitere Vertonung von "Salve regina mater misericordiae," diesmal von Nicholas Huchyn. Seine musikalische Handschrift ist geprägt von ruhigem Fluss und struktureller Klarheit. Die Stimmen schreiten gleichmäßig und in wohlgesetzter Imitation voran, wobei Huchyn auf übermäßige Melismatik verzichtet. Die Wirkung ist zurückhaltend und kontemplativ – fast wie ein stilles, in sich gekehrtes Gebet. Besonders eindrucksvoll gelingt ihm die Passage Ad te clamamus, die durch aufsteigende Linien und eine behutsame Steigerung eine flehentliche Spannung aufbaut.


    Die Vertonung auf Folios 46v bis 48 stammt von Robert Wilkinson († nach 1500), der bereits mehrfach im Manuskript vertreten ist. Auch hier zeigt er seine Vorliebe für klare Gliederung und starke Kontraste. Der Text wird in logisch abgegrenzten Abschnitten musikalisch umgesetzt, wobei Wilkinson sowohl imitatorische als auch homophone Verfahren einsetzt. In der Passage Eia ergo erreicht er durch lange, gebundene Linien und sanfte harmonische Spannungen eine fast schwebende Wirkung.


    Mit den Folios 48v bis 50 ist schließlich eine der klanglich reichsten "Salve regina"-Vertonungen des Eton Choirbook überliefert, und zwar von Robert Fayrfax (1464–1521). Sein Werk ist kunstvoll gebaut, mit weitläufigen Imitationen, verschränkten Stimmgruppen und einer souveränen Beherrschung des vokalen Ausdrucks. Fayrfax formt den Text musikalisch mit einer inneren Logik, die sowohl die Kontemplation als auch die Dramatik der Anrufung trägt. Die Passage Et Jesum, benedictum fructum ventris tui ist der klangliche Höhepunkt des Stückes – von ehrfürchtiger Spannung getragen, fast orchestral in ihrer Fülle.


    Auf den Folios 50v bis 52 steht eine weitere Vertonung von "Salve regina mater misericordiae", diesmal von Richard Hygons (um 1435 – nach 1509). Seine Komposition gehört zu den älteren des Eton Choirbook und zeigt einen Stil, der noch stärker in der spätmittelalterlichen Tradition verwurzelt ist. Hygons arbeitet mit ausgedehnten imitatorischen Passagen, die sehr fein ineinandergreifen. Die Stimmen entfalten sich langsam und in weitem Bogen. Besonders eindrücklich ist die Verarbeitung der Zeile vita dulcedo et spes nostra, die durch das Zusammenspiel aller Stimmen wie ein musikalisches Gebet erscheint, ruhig, feierlich und tief empfundene Bitte zugleich.


    Auf Folios 52v bis 54 folgt eine weitere, möglicherweise John Browne (1453 – um 1500) zugeschriebene Version der gleichen Antiphon. Diese Fassung ist klanglich dichter und dramatischer angelegt als viele andere Vertonungen des Textes. Der Satz ist von Beginn an expressiv, mit kraftvollen Einsätzen und einer ausdrucksstarken Harmonik. Der Komponist betont Schlüsselworte wie misericordiae und exsules filii Evae mit scharfen Dissonanzen und harmonischen Wendungen, die das Flehen nach Barmherzigkeit intensiv unterstreichen.


    Die Vertonung auf Folios 54v bis 56 stammt von John Hampton (Lebensdaten unbekannt) und bringt eine weitere klangliche Variante dieser Antiphon. Sein Stil ist weniger virtuos als der von Browne oder Fayrfax, doch zeichnet er sich durch melodische Ausgewogenheit und ruhige Struktur aus. Die Stimmen bewegen sich in klaren Phrasen und vermeiden unnötige Verzierungen. Besonders hervorzuheben ist die Behandlung der finalen Zeile O dulcis Maria, die in einem sanft ausklingenden Akkordgebilde endet – ein stilles musikalisches Amen.


    Auf den Folios 56v bis 59 folgt mit "O Domine caeli terraeque creator" eine Motette von Richard Davy (um 1465–1538), die sich vom vorigen Marienzyklus thematisch abhebt. In dieser ausdrucksstarken Anrufung Gottes als Schöpfer von Himmel und Erde entfaltet Davy eine erhabene Klangsprache. Der Text ist poetisch und zugleich theologisch tiefgründig. Die Musik bewegt sich in großen Bögen, oft über alle fünf Stimmen hinweg, und erreicht in der Passage miserere famulis tuis einen dramatischen Höhepunkt voller flehentlicher Intensität.


    Auf den Folios 59v bis 62 folgt Richard Davys (um 1465–1538) Motette "Salve Jesu mater vera", ein Werk von seltener Innigkeit, das sich in seiner Textwahl von den üblichen Marienantiphonen des Eton Choirbook abhebt. Hier wird Maria nicht nur als Mutter der Barmherzigkeit, sondern ausdrücklich als wahre Mutter Jesu angerufen. Davy komponiert in weit ausschwingenden Linien, wobei besonders der Beginn von großer Schlichtheit geprägt ist. Nach und nach verdichten sich die Stimmen zu einem dichten Gewebe, das den Ausdruck tiefer Frömmigkeit mit musikalischer Raffinesse verbindet. Auffällig ist das Spiel mit klanglichen Dissonanzen, die hier nicht dramatisch, sondern zärtlich wirken. Die Vertonung schließt mit einer ruhigen, versöhnlichen Kadenz, die den Eindruck einer stillen, innigen Fürbitte hinterlässt.


    Auf den Folios 62v bis 65 steht eine weitere"Stabat mater dolorosa"-Vertonung von Davy, die in Ausdruck und Aufbau stärker formalisiert erscheint als Brownes Fassung. Hier dominiert nicht der freie melodische Fluss, sondern eine klare Struktur mit gleichmäßig gearbeiteten imitatorischen Einsätzen. Davy betont vor allem den Kontrast zwischen der leidenden Mutter und dem gekreuzigten Sohn, indem er Textteile wie dum pendebat Filius mit chromatischen Wendungen und engen Dissonanzen umgibt. Diese klanglichen Mittel erzeugen keine Theatralik, sondern eine fast rituelle Eindringlichkeit. Der Schluss ist bewusst offen gehalten, wie ein Klangbild des Schmerzes, das nicht zur Ruhe kommt.


    Es folgt auf den Folios 65v bis 68 "Virgo templum trinitatis", wiederum von Richard Davy. Diese groß angelegte Motette preist Maria als Wohnstatt der Dreifaltigkeit und verbindet theologische Tiefe mit musikalischer Klarheit. Die Komposition wirkt in ihrer formalen Balance fast architektonisch. Besonders die ersten Zeilen werden in blockhaftem Satz präsentiert, bevor sich die Stimmen zu immer feingliedrigeren Verflechtungen öffnen. Der Ausdruck ist dabei stets licht, nie überladen. Es dominiert ein sanfter, fast pastoraler Grundton, der Maria nicht als leidende Mutter, sondern als Königin der Weisheit in den Mittelpunkt stellt.


    Auf den Folios 68v bis 71 steht mit "In honore summae matris" ein weiteres Werk Richard Davys (um 1465–1538), das in seiner musikalischen Sprache eine lichte Festlichkeit entfaltet. Der Text ehrt Maria als höchste Mutter und ruft sie in einer Reihe dichter Anrufungen an. Davy strukturiert die Komposition in deutlich voneinander abgegrenzte Abschnitte, wobei jeder neue Textgedanke musikalisch mit einer neuen Imitation oder einem harmonischen Kontrast eingeführt wird. Besonders eindrucksvoll ist die Zeile gaudent angeli, die mit lebhaften Rhythmen und aufsteigenden Linien das Lob der Engel zum Klingen bringt. Trotz der motivischen Vielfalt bleibt das Werk geschlossen und klar gegliedert, was auf eine ausgeprägte architektonische Konzeption schließen lässt.


    Auf den Folios 71v bis 74 folgt mit "O Maria et Elisabeth" eine Motette von Gilbert Banester (um 1445–1487), die eine Begegnung zweier biblischer Gestalten in musikalische Form bringt: Maria und ihre Base Elisabeth. Der Text bezieht sich auf die Szene der Heimsuchung (Lk 1,39–56), und Banester gelingt es, die Freude und das Erstaunen dieses Moments musikalisch einzufangen. Die Stimmen sind in sanft bewegtem Fluss gehalten, mit häufigem Wechsel der Besetzungsdichte. Besonders charakteristisch ist der imitatorische Dialog bei den Namen Maria und Elisabeth, die förmlich einander antworten. Die Musik wirkt schlicht und zugleich würdevoll, mit einer zurückhaltenden Eleganz, die gut zur intimen Thematik passt.


    Auf den Folios 74v bis 76 begegnet uns erneut der Text "Gaude flore virginali", diesmal in der Vertonung von William Horwood (um 1430–1484). Horwoods Stil ist geprägt von klaren Linien, gemäßigtem Tempo und einer fast kontemplativen Ruhe. Der Text ruft Maria als jungfräuliche Blume zum Lob auf, und Horwood antwortet darauf mit einer Musik, die durch ihre strukturelle Einfachheit und ihren ausgewogenen Klang besticht. Die Imitationen sind kurz und übersichtlich, die Harmonien weich und stabil. Besonders bemerkenswert ist der Verzicht auf überladene Melismen – stattdessen dominiert ein syllabischer Stil, der dem Text viel Raum gibt.


    Das nächste Stück auf Folio 76v bis 77v, wiederum von William Horwood, trägt den Titel "Gaude virgo mater Christi". Auch hier zeigt sich seine charakteristische Handschrift: ein ruhiger, linearer Satz, getragen von gleichmäßigem rhythmischem Puls. Die Vertonung ist fünfstimmig angelegt, doch Horwood greift häufiger auf Dreistimmigkeit zurück, um klangliche Durchsichtigkeit zu erzeugen. Die Zeile mater Christi wird durch eine zarte harmonische Wendung hervorgehoben, und der Gesamtklang strahlt eine fast meditative Freude aus.


    Auf den Folios 78 bis 80 findet sich eine weitere Vertonung des Textes "Stabat mater dolorosa", möglicherweise von William Cornysh dem Älteren (um 1433 – um 1502). Diese Fassung unterscheidet sich deutlich von den Vertonungen durch Davy oder Browne: Sie ist dramatischer, dichter und expressiver. Die Stimmen beginnen in engem Imitationsgeflecht, wobei Cornysh mehrfach chromatische Wendungen und Kreuzrelationen einsetzt, um Schmerz und Klage musikalisch zu unterstreichen. Besonders im Abschnitt dum pendebat Filius baut sich ein klanglicher Höhepunkt auf, der sich langsam wieder in ruhigeres Fahrwasser zurückzieht. Das Werk endet in einer ruhigen, fast resignativen Kadenz, die den Schmerz Mariens musikalisch nachhallen lässt.


    Auf den Folios 80v bis 82 begegnet uns mit "Gaude virgo salutata" ein Werk von John Fawkyner († nach 1500), einem Komponisten, über den kaum biografische Daten bekannt sind. Die Motette ist von freudigem Charakter, wobei Fawkyner geschickt zwischen imitatorischen und syllabischen Abschnitten wechselt. Die Anrufung Mariens als „begrüßte Jungfrau“ wird durch helle, oft parallel geführte Oberstimmen besonders hervorgehoben. Die Musik wirkt leichtfüßig und bewegt, ohne an Tiefe zu verlieren. In der Zeile per angelum salutata spiegelt sich die Szene der Verkündigung in einem fast tänzerischen Rhythmus.


    Auf Folio 82v bis 85 folgt von demselben Komponisten die Motette "Gaude rosa sine spina". Der Text spielt auf Maria als „Rose ohne Dorn“ an – eine der poetischsten marianischen Metaphern des Mittelalters. Fawkyner unterstreicht diese Bildlichkeit mit einer äußerst zarten, geradezu schwebenden Vertonung. Der Satz ist transparent, die Stimmen sind in weiter Lage geführt, und die harmonische Sprache vermeidet starke Kontraste. Besonders die abschließende Anrufung O Maria, mater Dei wird in ruhigem Fluss und mit einem schlichten Schlussakkord gesetzt – ein musikalisches Bild der Reinheit.


    Mit Gaude flore virginali auf den Folios 85v bis 87 präsentiert Edmund Turges (um 1450 – nach 1500) seine Vertonung dieses beliebten Textes. Turges’ Stil ist kraftvoller als der seiner unmittelbaren Vorgänger. Die Imitationen sind enger geführt, die rhythmische Bewegung lebendiger. Besonders die Anfangsworte Gaude flore werden motivisch herausgearbeitet und mehrfach imitiert, was dem Stück einen eingängigen Charakter verleiht. Die Musik steigert sich zum Schluss hin deutlich und endet in einer freudigen, strahlenden Kadenz.


    Auf Folio 87v bis 88 steht "Nesciens mater virgo virum" von Walter Lambe (um 1450–1504), ein Werk von außerordentlicher stilistischer Feinheit. Der Text verweist auf das Geheimnis der jungfräulichen Geburt, und Lambe vertont ihn in einer Weise, die zurückhaltend, fast geheimnisvoll wirkt. Die Stimmen sind eng verwoben, die Harmonik bewegt sich vorsichtig, mit vielen sanften Dissonanzen. Der gesamte Satz vermittelt eine mystische Atmosphäre, die dem theologischen Gehalt des Textes vollkommen entspricht. Besonders die Stelle genuit sine dolore Salvatorem saeculorum ist von fast sphärischer Klanglichkeit geprägt.


    Auf Folio 88v steht die Motette "Salve decus castitatis" von Robert Wilkinson († nach 1500), ein kurzes, aber kunstvoll gearbeitetes Werk, das Maria als Zierde der Keuschheit preist. Der Satz ist ausgesprochen symmetrisch aufgebaut, mit klaren Phrasengrenzen und gezielt eingesetzten Imitationen. Die Vertonung ist ruhig und in tiefer Lage gehalten, wodurch eine andächtige Atmosphäre entsteht. Besonders eindrucksvoll ist die Behandlung des Wortes castitatis, das durch eine zarte melodische Linie hervorgehoben wird. Die Musik endet in einer sanften, fast lautlosen Kadenz.


    Es folgt auf Folio 89 die Himmelfahrtsmotette "Ascendit Christus hodie" von Nicholas Huchyn († nach 1500). Dieses Werk hebt sich durch seinen festlichen Tonfall von den eher kontemplativen Marienmotetten ab. Huchyn komponiert in lebendiger Rhythmik, mit vielen aufsteigenden Linien, die den Inhalt – Christi Auffahrt in den Himmel – musikalisch illustrieren. Die Stimmen beginnen mit kurzen motivischen Fragmenten, die sich allmählich verdichten und schließlich in einem jubelnden Schlussakkord gipfeln. Die Musik ist voller Bewegung und Licht, ein echtes Feststück im Zyklus des Kirchenjahres.


    Auf den Folios 89v bis 91v steht mit "O mater venerabilis" eine Motette, die John Browne (1453 – um 1500) zugeschrieben wird. Sie gehört zu den innigsten marianischen Stücken des Eton Choirbook. Browne entfaltet hier eine polyphone Struktur von großer Tiefe und Wärme. Der Satz ist durchgehend fünfstimmig angelegt, doch wirken die Stimmen wie im Dialog miteinander verwoben. Die Melodien sind weich geführt, mit nur gelegentlichen Spannungen, die rasch wieder aufgelöst werden. Besonders die Passage mater mitis et fidelis klingt wie ein stiller Lobgesang auf Mariens Milde und Treue.

    "Ὁ βίος βραχύς, ἡ δὲ τέχνη μακρή, ὁ δὲ καιρὸς ὀξύς, ἡ δὲ πεῖρα σφαλερή, ἡ δὲ κρίσις χαλεπή." Ἱπποκράτης

  • Teil 2.


    Das Werk "Ave lumen gratiae" von Robert Fayrfax (1464–1521), überliefert auf Folio 92v bis 93v, stellt ein leuchtendes Beispiel für Fayrfax’ reifen Personalstil dar. Die Musik ist klar gegliedert, mit eleganten, fast liedhaften Melodien und einer bemerkenswert ökonomischen Stimmführung. Fayrfax verzichtet weitgehend auf demonstrative Virtuosität und erreicht seine Wirkung durch fließenden Zusammenklang und sorgfältige Textausdeutung. Der Beginn des Werks – Ave lumen gratiae, virgo singularis – ist von edler Schlichtheit und strahlt zugleich eine majestätische Ruhe aus.


    Auf Folios 94 bis 95 steht schließlich "Gaude virgo mater Christi" von Robert Wilkinson († nach 1500), ein Werk, das sich durch klare Gliederung und sanften Ausdruck auszeichnet. Wilkinson komponiert in einer zurückhaltenden, fast meditativen Sprache. Der Textfluss bleibt durchwegs verständlich, die Melodien sind ruhig, fast kantabel geführt. Besonders eindrucksvoll ist die musikalische Darstellung des Begriffs mater Christi, die durch ein Aufleuchten in den Oberstimmen und eine anschließende ruhige Kadenz hervorgehoben wird.


    Auf den Folios 95v bis 97 steht eine weitere "Stabat virgo mater Christi"-Vertonung, vermutlich von John Browne (1453 – um 1500). Dieses Werk zeichnet sich durch eine besonders dichte Stimmführung und eine klanglich dunklere Grundfarbe aus. Browne komponiert hier mit innerer Spannung und setzt gezielt dissonante Wendungen ein, um den Schmerz der Mutter Christi musikalisch nachzuzeichnen. Die Stimmen kreisen eng umeinander, wobei sich besonders in der Zeile videns natum suum cruci affixum – „als sie ihren Sohn ans Kreuz geschlagen sah“ – eine tief bewegende Klangverdichtung entfaltet. Der Satz endet in einer offenen, resignativen Kadenz, die mehr fragt als beantwortet.


    Auf den Folios 97v bis 99 folgt die Motette "Stella caeli extirpavit quae lactavit" von Walter Lambe (um 1450–1504), ein Werk, das Maria als „Stern des Himmels“ preist, der die Pest vertrieb und Heilung brachte. Der Text bezieht sich auf eine marianische Antiphon aus dem 14. Jahrhundert. Lambe gestaltet die Musik mit sanften, gleichmäßigen Bewegungen, fast wie ein Wiegenlied. Die Stimmen sind eng aufeinander bezogen und entfalten ein ruhiges Klangbild. Besonders die Zeile cuius precibus sublevati sumus wird durch eine steigende Linie hervorgehoben, die wie eine musikalische Bitte um Schutz wirkt.


    "Ascendit Christus hodie", ebenfalls von Walter Lambe, ist auf Folios 99v bis 101 überliefert. Diese zweite Himmelfahrtsmotette von Lambe wirkt im Vergleich zu der von Huchyn zurückhaltender und introvertierter. Die Stimmen bewegen sich in kleinen Intervallen, die Melodien sind gedrungen und voller innerer Spannung. Trotz der freudigen Thematik bleibt der Ausdruck verhalten, beinahe ehrfürchtig. Lambe legt Wert auf eine klare Struktur und verzichtet auf jubilierende Ausbrüche. Der Schluss ist schlicht, mit einem ruhigen Zusammenklang der Stimmen auf dem Namen Christus.


    Auf Folios 101v bis 103 folgt eine weitere "Gaude flore virginali"-Vertonung von Walter Lambe. Diese Fassung ist klanglich reicher und stärker imitatorisch angelegt als seine anderen Werke. Lambe verwendet kunstvolle motivische Verarbeitung und gestaltet jede Textzeile musikalisch individuell aus. Die Freude über die jungfräuliche Blume wird nicht in ekstatischer Jubelmusik umgesetzt, sondern in einem sorgfältig aufgebauten Klanggewebe, das eher die staunende Bewunderung als das laute Lob verkörpert.


    Den Abschluss dieser Gruppe bildet "Gaude flore virginali" von Edmund Turges (um 1450 – nach 1500), enthalten auf Folios 103v bis 105. Im Vergleich zu Lambe ist Turges rhythmisch agiler, mit lebhafteren Einsätzen und kürzeren Imitationen. Der musikalische Duktus ist klar gegliedert, fast tanzhaft. Die Stimmen antworten einander schnell, was dem Werk Leichtigkeit und Bewegung verleiht. Turges gelingt es, den Text in einem festlichen, aber nie überladenen Klang zu gestalten.


    Auf Folio 105v bis 106 steht die Motette "Ave Maria mater Dei", die möglicherweise William Cornysh dem Älteren (um 1433 – um 1502) zugeschrieben wird. Das Werk ist schlicht und in ruhiger Tonalität gehalten, mit einem betont kontemplativen Charakter. Cornysh verwendet eine sanfte Imitation zwischen den Stimmen und verzichtet auf dramatische Wendungen zugunsten einer gleichmäßigen Klanggestaltung. Besonders auffällig ist der melodische Verlauf in der Anrufung mater Dei, der sich durch eine aufsteigende Linie und sanfte Harmonie deutlich abhebt. Die Musik endet in einem zurückhaltenden Schluss, der das Gebet in klanglicher Stille ausklingen lässt.


    Auf Folios 106v bis 108 folgt "Gaude virgo mater Christi", ebenfalls Cornysh dem Älteren zugeschrieben. Dieses Werk ist im Vergleich zur vorherigen Motette reicher und klanglich breiter angelegt. Der Text wird in Abschnitte gegliedert, die jeweils mit neuen musikalischen Ideen versehen sind. Cornysh nutzt eine ausgewogene Kombination aus Imitation und blockartigen Passagen. Die Stelle quae regem coelorum genuit wird durch eine majestätische Klangentfaltung hervorgehoben, die fast hymnischen Charakter annimmt. Das Werk strahlt eine edle Feierlichkeit aus und gehört zu den bedeutenderen Motetten dieser Handschrift.


    Auf Folios 108v bis 110v steht "Gaude virgo salutata" von Holynborne (Lebensdaten unbekannt), eine selten überlieferte Komposition, die in ihrer Struktur einfach, aber wirkungsvoll gestaltet ist. Holynborne arbeitet mit klaren imitatorischen Eingängen und legt besonderen Wert auf die Textverständlichkeit. Die Musik ist weniger dicht als bei Cornysh, wirkt aber durch ihre konzentrierte Ausdruckskraft. Der freudige Charakter der Anrufung wird durch helle Harmonien und leichte rhythmische Bewegung unterstützt. Die Vertonung ist feierlich, doch ohne Überladenheit.


    Auf Folio 111 folgt mit Magnificat: "Et exultavit spiritus meus" von John Nesbet (Lebensdaten unbekannt) der Auftakt zu einer Reihe von Magnificat-Vertonungen. Nesbets Stil ist durch strukturelle Klarheit und starke Textbezogenheit geprägt. Der Beginn ist schlicht, mit syllabischer Textvertonung und weiten Pausen zwischen den Phrasen. Allmählich verdichtet sich die Polyphonie, besonders bei den Zeilen quia respexit humilitatem, die mit zurückhaltender Klangfarbe und feiner Dynamik ausgestaltet sind.


    Auf Folios 111v bis 113 folgt Magnificat: "Et exultavit spiritus meus" von William Horwood (um 1430–1484). Seine Vertonung ist breit angelegt und durch kunstvolle Imitation charakterisiert. Horwood entfaltet den Text in klaren, motivisch verbundenen Phrasen, wobei die Musik im Verlauf zunehmend an Energie gewinnt. Die Stelle feci potentiam in brachio suo ist besonders dramatisch gestaltet, mit schnellen rhythmischen Figuren und deutlichem Kontrastreichtum. Der Schluss ist ruhig und ausgewogen, im Sinne eines liturgischen Abschlusses.


    Auf den Folios 113v bis 116 steht das Magnificat: "Et exultavit spiritus meus" von Hugh Kellyk (aktiv um 1500), eine klanglich dichte, fünfstimmige Vertonung, die sich durch ihre intensive Imitation und rhythmische Vielfalt auszeichnet. Kellyk legt großen Wert auf eine abwechslungsreiche Gestaltung der einzelnen Textabschnitte. Besonders eindrucksvoll ist die Umsetzung der Zeile dispersit superbos mente cordis sui, in der er durch enge Dissonanzen und abrupte Wechsel der Stimmführung den inhaltlichen Bruch musikalisch nachzeichnet. Die Komposition zeigt eine deutliche Entwicklung hin zu einem ausdrucksstarken Frührenaissancestil.


    Auf den Folios 116v bis 118 folgt das Magnificat von Walter Lambe (um 1450–1504). Seine Vertonung ist lyrischer angelegt als diejenige von Kellyk. Lambe arbeitet mit langen, geschwungenen Melodielinien, einem sanften Stimmenfluss und vergleichsweise wenig rhythmischer Spannung. Die Musik entfaltet sich wie in Wellenbewegungen, mit besonderen Höhepunkten in den Zeilen suscepit Israel puerum suum und sicut locutus est ad patres nostros, die durch warme Harmonien und eine feierliche Schlusswendung besonders hervorgehoben werden.


    Auf Folio 118v steht ein kurzer Abschnitt eines Magnificat von John Browne (1453 – um 1500), möglicherweise unvollständig. Der erhaltene Teil lässt dennoch seine Handschrift erkennen: dichte, gut austarierte Polyphonie, mit starkem Gewicht auf Klangtiefe und stimmlicher Ausgewogenheit. Die Imitationen sind klar gesetzt, die Harmonien mild, ohne Extreme. Auch in der Kürze vermittelt das Werk den Eindruck einer durchdachten, sorgfältig gearbeiteten Vertonung.


    Auf Folio 121 folgt ein weiteres Magnificat von Richard Davy (um 1465–1538). Sein Stil ist hier deutlich rhythmischer als in seinen marianischen Werken. Die Textzeilen werden in knappe musikalische Gedanken gegliedert, die sich motivisch durch das Stück ziehen. Besonders die Zeile fecit potentiam in brachio suo zeigt eine kraftvolle musikalische Umsetzung mit aufsteigenden Bewegungen, die den Textinhalt wortgetreu interpretieren. Insgesamt wirkt die Komposition lebendig und klar konturiert, mit einem ausgewogenen Wechsel von Imitation und Blocksatz.


    Den Abschluss dieser Gruppe bildet das Magnificat von William Stratford (Lebensdaten unbekannt), überliefert auf den Folios 121v bis 123. Stratford wählt einen eher konservativen Stil mit gleichmäßigem Fluss und wenigen harmonischen Überraschungen. Der Text ist in deutlich voneinander abgegrenzte Abschnitte unterteilt, wobei jede Zeile ein eigenes musikalisches Motiv erhält. Die Stimmen bewegen sich in ruhigem Gleichmaß, was dem Werk eine meditative Grundhaltung verleiht. Besonders hervorzuheben ist die klare Struktur und die unaufgeregte Schönheit der Schlusszeile et in saecula saeculorum. Amen.


    Auf den Folios 124 bis 126 steht die "Passio Domini"" von Richard Davy (um 1465–1538), ein außergewöhnliches Werk innerhalb des Eton Choirbook, da es sich um die einzige erhaltene Passionsvertonung handelt. Der Text folgt dem lateinischen Evangelienbericht der Passion Christi und wird in einer erzählerischen, fast rezitativischen Struktur dargestellt. Davy wechselt geschickt zwischen verschiedenen Textrollen – Christus, Evangelist, Volk – und setzt diese musikalisch deutlich voneinander ab. Der Evangelientext ist meist syllabisch vertont, während die Worte Christi mit größerer Melodik und Ausdruckstiefe versehen sind. Besonders dramatisch ist die Szene der Kreuzigung, in der Davy durch enge harmonische Wendungen und wechselnde Stimmgruppen eine hohe emotionale Dichte erzeugt. Die Musik endet in ruhiger Einfachheit – ganz im Sinne liturgischer Ernsthaftigkeit – ohne übertriebene dramatische Gesten, aber mit eindrücklicher Wirkung.


    Das letzte erhaltene Werk des Eton Choirbook, überliefert auf Folio 126v, ist die Motette "Jesus autem transiens" von Robert Wilkinson († nach 1500). Der Text beschreibt eine Heilungsszene aus dem Neuen Testament, in der Jesus an einem Ort vorbeigeht und auf einen Hilfesuchenden trifft. Wilkinson vertont den Text in einem gleichmäßigen, ruhig fließenden Stil mit dezent eingesetzter Imitation. Der Beginn – Jesus autem transiens per medium eorum ibat – ist in weit ausgespannten Linien komponiert, die das stille Schreiten Christi musikalisch nachzeichnen. Die Stimmführung ist transparent, die Harmonik weich und beruhigend. Es ist ein würdiger Abschluss der Sammlung – keine monumentale Klangfülle, sondern ein Bild geistlicher Bewegung, geprägt von Sanftheit, Menschlichkeit und liturgischer Innerlichkeit.


    Damit sind alle 64 erhaltenen Werke des Eton Choirbook besprochen.

    "Ὁ βίος βραχύς, ἡ δὲ τέχνη μακρή, ὁ δὲ καιρὸς ὀξύς, ἡ δὲ πεῖρα σφαλερή, ἡ δὲ κρίσις χαλεπή." Ἱπποκράτης

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