Maria Judina - oder: Wie es kam, dass Stalin der Kirche Geld spendete

  • Im Thread über die russische Pianistenschule hat astewes einen Beitrag über Maria Yudina geschrieben, den ich gerne hierher kopiere, zumal dabei auch deutlich wird, wie kontrovers diese Pianistin diskutiert wird. Persönlich neige ich eher zu Axels Einschätzung, wenngleich es ebenso richtig ist, dass man sich auf ihr Spiel einlassen muss. Das Tempo, in dem sie etwa op. 111 von Ludwig van Beethoven spielt, ist schlichtweg gnadenlos. Maria Yudina braucht für die ganze Sonate gut 20 min, Elly Ney oder Claudio Arrau allein für das Adagietto deren 19. Ähnlich schnell ist Walter Gieseking unterwegs, zieht man den Applaus am Ende der Yudina-Aufnahme ab spielen die beiden gleich schnell. Eine Einladung, die beiden Aufnahmen vergleichend zu hören.




    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Im März diesen Jahres hat Elizabeth Wilson eine Biographie der Yudina vorgelegt, "Playing with fire", so der Titel. Im Spectator hat Michael Tanner Würdigung von Pianistin und Buch geschrieben. Hier der Link dahin:


    https://www.spectator.co.uk/ar…the-pianist-maria-yudina/


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Ich kenne Maria Judina nur aus dieser CD:

    Sie spielt das vierte Klavierkonzert G-Dur op. 58 von Beethoven, begleitet von der Leningrader Philharmonie unter Kurt Sanderling, die Aufnahme ist von 1948.

    Die Tempi sind nicht ungewöhnlich: 19:30 - 5:25 - 9:37.

    Mir gefällt ihre Spielweise, die allerdings recht romantisch angelegt ist, kraftvoller Anschlag, freizügige Dynamik, das piano, besonders am Anfang, gerät oft zum mezzoforte, wenn nicht sogar forte. Beide Kadenzen sind hoch interessant, wahrscheinlich von ihr selbst, es sind jedenfalls nicht die sonst üblichen. Leider sind mir andere Aufnahmen nicht bekannt.

    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Am 4. April 1954 gab Maria Yudina ein Recital in Kiew. Das Program ist ziemlich üppig gewesen, und ich höre mich durch den erhaltenen Mitschnitt durch. Herausragend die Eröffnung des zweiten Konzertteils mit Schubert großer nachgelassener Sonate D.960. Der Klang könnte besser sein, das Spiel hingegen ist umwerfend. Es gibt noch eine Studio-Aufnahme des Werkes aus dem Jahr 1948, beides höchstemotionale Lesarten der Sonate. Hier der live-Mitschnitt aus 1954:



    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Die Studio-Aufnahme möchte ich nicht unterschlagen:



    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Ein schöner Thread. Danke! Ich habe begonnen, Fr. Yudina regelmäßig zu hören.

    ..., eine spe*ifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifi*ierbar.
    -- Aydan Ö*oğu*

  • Zu der Studio-Aufnahme von D.960 muss ich noch etwas anmerken. Als Aufnahmedatum wird 1947 genannt. Die CD aus der Scribendum-Box (in der die Sonate als Nr. 10 bezeichnet wird, jedoch mit korrekter DV-Nr., ) klingt allerdings stereo, bei dem Aufnahmedatum ist das wohl auszuschließen. Beim Durchforsten der Diskographie von Maria Yudina habe ich keine weitere Aufnahme von D.960 gefunden, es bleibt also bei der live-Aufnahme aus Kiev und der Studioaufnahme. Vergleicht man beide miteinander, bedonders die Kopfsätze, handelt es sich bei beiden Aufnahmen um Aufnahmen von Maria Yudina. Die einzige Erklärung für den erstaunlich guten Klang der Studio-Aufnahme wäre, dass die Aufnahme perfekt digitalisiert wurde (von welchem Ausgangstonträger auch immer) und dann vorsichtig stereophoniert. In der Sowjetunion erschien die Aufnahme als LP im Jahr 1980 (mono, mit der Angabe des 13.8.1947 als Aufnahmedatum).


    Beim nochmaligen Durchforsten bin ich auf die erste Veröffentlichung der Aufnahme als CD gestoßen. Das russische Label Vista Vera veröffentlichte sie als Maria Yudina Legacy 6, und da taucht die Sonate als Nr. 10, D.960 stereo auf (mit den bekannten alten Aufnahmedaten). Chapeau, da haben die Moskauer Tontechniker ganze Arbeit geleistet. Gekoppelt ist die Schubert-Sonate auf der Vista Vera-CD mit Schumanns Fantasiestücken op. 12:



    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Wow, das ist sehr ungewöhnlich gespielt, ich müsste beide Aufnahmen von ihr haben und schaue abends mal nach. Die Live-Aufnahme ist klanglich in dieser Version allerdings schwer erträglich und sehr verzerrt.


    Ich bin ja ein großer Fan ihrer Aufnahmen aus dem Wohltemperierten Klavier! So lebendig!


    Viele Grüße

    Christian

  • Die beiden unterschiedlichen Aufnahmen der B-Dur Sonate findet man in halbwegs guter Klangqualität in diesen beiden Boxen, die auch bei Qobuz und Spotify verfügbar sind:


    p2619daxoqkca_600.jpg


    vuw52jq0shk5a_600.jpg


    Bei der Gelegenheit habe ich noch diese Ausgabe entdeckt mit Aufnahmen der Kreisleriana und der Fantasie (!), die meiner Erinnerung nach bisher nicht greifbar waren. Mir zumindest sind sie neu - ich bin sehr gespannt, ihr eher nervöser Stil könnte Schumann durchaus entsprechen (vgl. Horowitz):


    Nachtrag: Ich habe kurz reingehört, die Klangqualität der Schumann-Aufnahmen ist leider sehr, sehr schlecht und voller Verzerrungen, da muss ich eine Warnung aussprechen. Da kann man allenfalls im Rahmen eines Abos mal reinhören.


    cwg7nacqb89oc_600.jpg


    Viele Grüße

    Christian

  • Die Studio-Aufnahme möchte ich nicht unterschlagen:



    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Ich oute mich: Yudina ist für mich immer interessant, aber selten akzeptabel. Die Studioaufnahme der B-Dur-Sonate empfinde ich mit ihren an Glenn- Gouldsche-Beethoven-Versuche erinnernde Tempo-Eigenwilligkeiten eher als Persiflage (na gut, ich provoziere ein wenig). Mit Schubert hat das in meinen Augen und Ohren weitaus weniger zu tun als mit Yudina. Wer diese Sonate liebt (und wer könnte das nicht tun?) sollte zu Artur Schnabel oder Leon Fleisher greifen!

    Beste Grüße

    Thomas

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Ich oute mich: Yudina ist für mich immer interessant, aber selten akzeptabel.

    Ich finde diese Unterscheidung interessant ... Ich hätte jetzt gesagt: Ich finde Yudina immer eine Herausforderung, die aber nichts für den Dauergebrauch ist .... :) Ich will nicht immer herausgefordert werden ..


    Brendel ist sehr gut (bei Schubert) , weit mehr als akzeptabel , aber eigentlich liebe ich bei dieser Sonate Afanassiev, der wiederum auch polarisiert.


    Eine akzeptable Version wäre für mich immer eine, die schon irgendwie den Noten folgt, ohne jetzt irgendwas wesentliches der Komposition aufzuzeigen. Also eher mit Tendenz zum Langweiligsein ....

  • Ich oute mich: Yudina ist für mich immer interessant, aber selten akzeptabel.

    Das kommt drauf an....


    Das diese Pianistin nicht im Mainstream mitgeschwommen ist (und ihre Aufnahmen es noch viel weniger heute tun) ist ja nichts Neues. Ich gestehe offen, dass ich diese Aufnahme von D.960 sehr mag, sie mich vom ersten Hören an berührt hat. Afanassiev hat mich beim ersten )und auch weiteren Hören) durch seine Langsamkeit in den Bann geschlagen (die freilich durch Richter und Berman noch übertroffen wird). Es ist vielleicht die sehr persönliche Erzählung, die sich hinter dem Spiel der Yudina verbirgt, gleichsam das, was nicht in Noten notierbar ist sondern in der individuellen Imagination des Werkes entsteht, was mich persönlich an dieser Aufnahme so fesselt. Sie kling zutiefst menschlich. Jenseits des Gemerks jedenfalls.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Lieber Thomas,


    ich verstehe sehr gut und gebe zu, dass die Interpretation einen gewissen "Zauber" hat, eine starke Individualität, und wie gut ist es, dass eine solche Pluralität an Empfindungen vorhanden ist.

    Ohne dir die Aufnahme in irgendeiner Form "madig" machen zu wollen, möchte ich sagen, dass mich die Aufnahme nicht berührt, sondern ärgert. Für mich fehlt der Aneinanderreihung verschiedener Tempi eine Logik, für mich herrscht Willkür über Schubert - und das hat DER nicht nötig.

    Ich habe in einer Vorlesung vor einem überwiegend fachfremden Publikum verschiedene Interpretationen dieses Satzes besprochen, und bei Yudina (ohne Namensnennung) fing das Publikum an zu lachen und jemand fragte, ob ich das selbst eingespielt habe - sozusagen als Provokation.

    Dass es wunderbare Aufnahmen gibt, die Raum für Individualität lassen und dennoch den Schubertschen Text in den Mittelpunkt stellen, beweist in meinen Augen (Ohren) u. a., aber allen voran Artur Schnabel.

    Herzliche Grüße

    der andere Thomas