Pfiffe bei der Uraufführung - Gustav Mahler: Sinfonie Nr 4

  • Interessanter Artikel über die 4te ! Da kann man viel darüber nachdenken, mitdenken und hören!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • "Pfiffe bei der Uraufführung"


    Ich weiß nicht, wo Alfred Schmidt diese „Pfiffe bei der Uraufführung“ herhat Dieses Wort begegnet mir den zeitgenössischen Kritiken nicht. Die Sinfonie wurde am 25.November 1901 in München unter der Leitung Mahlers uraufgeführt.
    Die Kritiken, die ich dazu auffinden konnte, lauten in Auszügen so:

    Münchener Neueste Nachrichten, 27. November 1901:
    „Wer eine ähnlich (packende) Wirkung (wie die bei der II. Symphonie) von Mahlers neuester symphonischer Schöpfung, die gestern im Kaim-Saale zum ersten Male vor die Öffentlichkeit trat, erwartet hatte, sah sich einigermaßen enttäuscht – womit vorderhand freilich nur eine bloße Thatsache festgestellt, nicht aber ein Urtheil gesprochen sein soll. Denn um ein Urtheil zu fällen, das einigen Werth beanspruchen darf, ist ohne Zweifel zunächst erforderlich, daß der Eindruck, den man von einem Kunstwerke gehabt hat, wenigstens soweit deutlich und bestimmt ist, daß man sich über die Absicht des Schöpfers vollständig klar geworden ist. Dann darf man zustimmen oder ablehnen, weil man beides begründen kann, indem man – im Falle der Ablehnung – entweder schon die Absicht des Autors als eine unkünstlerische (…) nachweist, oder aber zeigt, daß und inwiefern es dem Künstler nicht gelungen ist, seine Absicht zu verwirklichen. Wenn es mir aber nach Anhörung eines Musikstückes durchaus dunkel geblieben ist, was der Komponist eigentlich damit habe sagen wollen, dann muß ich auch auf ein Urtheil über seinen künstlerischen Werth verzichten. Das ist gewiß für einen Kritiker eine mißliche Sache; (...)
    Der starke Beifall, den Mahlers Werk bei einem großen Theile des Publikums fand, blieb nicht ohne Widerspruch.“

    „Die Musik“, Theodor Kroyer, 2. Dezember-Heft 1901:
    „Wer sich einen Fortschritt Mahlers zum Gesünderen, eine Hinkehr zum Urquell aller Kunst, der Natürlichkeit erhofft hatte, der mußte sich enttäuscht zurückziehen. Nichts von Ursprünglichkeit, kein selbständiger Gedanke, kein originelles Fühlen, ja nicht einmal echte Farben zu den unechten Bildern, - alles Technik, Berechnung und innere Verlogenheit, eine kränkliche, abschmeckende Übermusik. Die keimenden Schädlinge der dritten Symphonie, in der sich Mahler noch von seiner besseren Seite zeigt, sind in diesem Werk zu dornigem Unkraut aufgegangen. Es scheint, als ob hier die bedeutende Kombinationsgabe des Tonsetzers lediglich um ihrer selbst willen ihre Kräfte versprühe. Überall ein Aufgebot der möglichsten Orchesterwitze zum Aufputz eines formlos, vor lauter geistreichen Details in sich zusammenstürzenden Stilungeheuers.
    Nein, ich kann die Begeisterung einzelner nimmer teilen, der Eindruck des Werkes war auf mich in hohem Grade beängstigend.“

    Allgemeine musikalische Zeitung, Jg.28, Nr.49, 6.12 1901:
    „Die neueste Komposition Mahlers war nicht geeignet, dem Schaffen des Künstlers irgend welche erhöhte Bewerthung zu Theil werden zu lassen. (…) In rein musikalischer Hinsicht macht das Werk, abgesehen von einer interessanten und stellenweise höchst reizvollen Verwendung der instrumentalen Mittel, einen wenig erquicklichen Eindruck. Die Thematik weist kaum eine Originalität auf; vielfach verliert sie sich in das Phrasenhafte oder macht eine billige Anleihe beim Wienerisch oder Steiermärkisch Volksthümlichen. Sehr unangenehm fällt, besonders im zweiten Satze, der Mangel an großzügiger Rhythmik auf; anstelle derselben tritt fortgesetzt ein den Zuhörer ermüdendes Wiederholen eines kleinen, gedanklich unbedeutenden Motives. Der dritte Satz erweckte ein gewisses Interesse durch Einführung eines basso ostinato; es bleibt nur zu bedauern, daß die zugehörige, darüber liegende melodische Linie keine charakteristische Gestaltung erfahren hat.
    Unwillkürlich taucht die Frage auf, liegt der Musik ein bestimmtes Programm zugrunde? Der Komponist hat die ersten drei Sätze nicht mit einem, die Fantasie des Zuhörers lenkenden vermerke versehen. Angesichts des Umstandes aber, daß die Sinfonie in einem Sologesang ausklingt, und in der Begleitung derselben ein Motiv aus dem ersten Satze wieder Verwendung findet, möchte jene Frage wohl zu bejahen sein. (…)
    Der Komponist fad das ganze Gedicht bis auf einen Vers (…) vertont, ohne einen besonders fesselnden Eindruck hervorzurufen. Das Ausklingen des sinfonischen Werkes in einem
    Sologesang befriedigte in formaler Hinsicht durchaus nicht (…). In der Hauptprobe (…) erstaunte man allgemein über diesen, den Eindruck eines Versandens des musikalischen Flusses hervorgerufenen Abschluß. (…)
    Der Erfolg des Werkes war gering; der größte Teil des Publikums verharrte in stummer Resignation, in den Beifall einiger Zuhörer mischten sich die deutlich vernehmbaren Kundgebungen der Ablehnung.“

    Man sieht:

    Mahler stieß mit seiner „Vierten“ bei der Kritik durchweg auf Ablehnung, beim Konzertpublikum aber offensichtlich nicht durchgängig und in dieser Radikalität. Es gab zwar auch dort Unverständnis und „Kundgebungen der Ablehnung“, aber wohl auch Beifall. Der Kritiker der Münchener Neuesten Nachrichten spricht gar von „starkem Beifall“, Theodor Kroyer immerhin von der „Begeisterung einzelner“. Von „Pfiffen“ berichtet keiner, und das wundert mich auch nicht, war es unter dem gebildeten Konzertpublikum in der Regel üblich, sein Missfallen mit Zischen zu bekunden.

    Dass die „Vierte“ bei der Kritik voll und ganz durchfallen würde, hat Mahler wohl befürchtet. Er wusste, dass man eine Art kompositorische Potenzierung der Zweiten Symphonie erwartete und bekam nach der gewaltigen Dritten eine Art Kammersymphonie mit starker Reduzierung der musikalischen Ausdrucksmittel, die von Anfang an als „Humoreske“ angelegt war. Man muss „das eigentümliche Werk“, wie Paul Bekker schon 1921 bemerkte, „von rückwärts, vom Finale her ansehen und zu erfassen versuchen“. Im Grund stellte sie, vor allem für die professionellen Kritiker, aber auch für die „normalen“ Rezipienten im Grunde eine Zumutung dar, verstieß sie doch auf geradezu radikale Weise gegen alle für den Aufbau und die Anlage einer klassischen Symphonie geltenden Regeln.

    Mahler wusste das natürlich. Gegenüber dem Düsseldorfer Dirigenten Julius Buths, der im November 1903 die „Vierte“ aufführen wollte, meinte er:
    „Also Sie wollen es mit der IV. wagen? Diesem verfolgten Stiefkinde, das bis jetzt noch wenig Freude auf der Welt erlebt hat. Mich freut es riesig, daß Sie an dem Werk Gefallen finden, und mich möchte nur wünschen, daß ein von Ihnen erzogenes Publikum mit Ihnen fühlen und verstehen möchte. Im allgemeinen habe ich die Erfahrung gemacht, daß Humor dieser Sorte (wohl zu unterscheiden von Witz und muntrer Laune) selbst von den Besten oft nicht erkannt wird.“

    Natalie Bauer-Lechner gegenüber erläuterte er einmal die zugrundeliegende kompositorische Intention wie folgt:
    „Was mir hier vorschwebte, war ungemein schwer zu machen. Stell dir das ununterschiedene Himmelsblau vor, das schwieriger zu treffen ist als alle wechselnden und kontrastierenden Tinten. Dies ist die Grundstimmung des Ganzen. Nur manchmal verfinstert es sich und wird spukhaft schauerlich; doch nicht der Himmel selbst ist es, der sich trübt, er leuchtet fort in ewigem Blau. Nur uns wird er plötzlich grauenhaft, wie einen am schönsten Tage im lichtübergossenen Wald oft ein panischer Schreck überfällt.
    Mystisch verworren und unheimlich, daß euch dabei die Haare zu Berge stehen werden, ist das Scherzo. Doch werdet ihr im Adagio darauf, wo alles sich auflöst, gleich sehen, daß es so bös nicht gemeint war.“

    Da sagt Mahler wohl nicht ganz die Wahrheit. Es war „so bös gemeint“, und es musste die Hörerschaft tatsächlich verschrecken.
    Wie gesagt, - diese Sinfonie ist eine gewaltige Zumutung. Sie ist, wie Adorno treffend feststellte, ein einziges „Als ob“. Nichts ist so gemeint, wie es an der Oberfläche aussieht. Ein eigentlich ungeheuerliches Werk der Ironie.

    Und ich glaube: Die große Beliebtheit, auf die die „Vierte“ heute, ganz anders als damals, beim Publikum trifft, beruht auf einem – zumindest teilweisen - Missverständnis.

  • "Pfiffe bei der Uraufführung"


    Ich weiß nicht, wo Alfred Schmidt diese „Pfiffe bei der Uraufführung“ herhat

    Vielleicht hat Alfred Schmidt ja Pfiffe mit Zischen verwechselt?


    Jens Malte Fischer schreibt in seiner Mahler-Biografie "Der fremde Vertraute" über die Münchner Uraufführung der Vierten (in meiner Ausgabe S. 409/410) u.a.:


    "Nach dem ersten Satz herrschte Ratlosigkeit, nach dem zweiten war das Zischen stärker als der Applaus (im Unterschied zu heute war nicht Buh das Zeichen von Missfallen, sondern Zischen)"

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • "Vielleicht hat Alfred Schmidt ja Pfiffe mit Zischen verwechselt?"


    Mag sein! Aber darum ging es mir in meinem voranstehenden Beitrag nicht, das war nur der Einstieg.

    Es ging mir um das Wesen dieser Sinfonie, die Probleme, die die zeitgenössischen Rezipienten damit hatten, und das Aufzeigen der Gründe dafür.

    Bei der etwas mehr als einen Monat später erfolgenden Aufführung der "Vierten" in Berlin reagierte das Publikum übrigens mit deutlich stärkerem Beifall als in München.

  • Na schön!

    Das hätte ich eigentlich ganz gerne von ihm selbst gehört. Aber sei´ drum! Es ist ohnehin nicht von Bedeutung.

    Etwas möchte ich doch noch nachtragen. Ich meinte oben:

    "Die große Beliebtheit, auf die die „Vierte“ heute, ganz anders als damals, beim Publikum trifft, beruht auf einem – zumindest teilweisen - Missverständnis."

    Th. W. Adorno kommentiert die Vierte u.a. mit den Worten:

    "Nicht nur im zweiten Satz der Vierten überblenden sich die Bilder des Kindes und des Todes. Dämmert über Äonen die Sprache auf, die man als Kind verstand, so ist das Glück, abermals sie zu sprechen, gekettet an den Verlust von Individuation."

    Und:

    "Eine Teststelle aus dem Wunderhorngesang >Der Schildwache Nachtlied< (...) heißt: >An Gottes Segen ist alles gelegen! Wer´s glauben tut! Wer´s glauben tut!<. Das kommentiert das Bild der Seligkeit, mit dem die Symphonie endet. Sie malt das Paradies bäuerlich-anthropomorph aus, um anzumelden, daß es nicht sei. (...) Unerreichbar bleibt Freude, und keine Transzendenz ist übrig als die von Sehnsucht."

    Wenn ich von einem - teilweisen - "Missverständnis" sprach, so wollte ich damit meine Zweifel zum Ausdruck bringen, dass Mahlers "Vierte" heutzutage gemeinhin so gehört, aufgefasst und verstanden wird.

  • Eine Einspielung der mahlerschen 4-Sinfonie G-dur mit Instrumenten aus der Zeit der Erstaufführung hat der Dirigent François-Xavier Roth und Les Siècles beim Label harmonia mundi herausgebracht. Er ist nicht der erste, der solche instrumente verwendet hat. Philip Herreweghe hat dies schon vorgelegt. (siehe Beiträge 31 & 53)


    Die Stimme von Sabine Devieilhe im letzten Satz trifft den Ton, den Gustav Mahler in der Partitur vorschreibt: kindlich-fröhlich und ganz ohne Parodie. Sie ist ein Glücksfall für diesen Satz. Sie schwebt über dem Orchesterklang. Da haben die Tonmeister ein kleines Wunder im Wunderhorn-Lied "Wir genießen die himmlischen Freuden" geschaffen.


    Wir genießen die himmlischen Freuden,

    Drum tun wir das Irdische meiden,

    Kein weltlich Getümmel

    Hört man nicht im Himmel!

    Lebt alles in sanftester Ruh'!

    Wir führen ein englisches Leben!

    Sind dennoch ganz lustig daneben!

    Wir tanzen und springen,

    Wir hüpfen und singen!

    Sankt Peter im Himmel sieht zu!


    Johannes das Lämmlein auslasset,

    Der Metzger Herodes drauf passet!

    Wir führen ein geduldig's,

    Unschuldig's, geduldig's,

    Ein liebliches Lämmlein zu Tod!

    Sankt Lucas den Ochsen tät schlachten

    Ohn' einig's Bedenken und Achten,

    Der Wein kost' kein Heller

    Im himmlischen Keller,

    Die Englein, die backen das Brot.


    Gut' Kräuter von allerhand Arten,

    Die wachsen im himmlischen Garten!

    Gut' Spargel, Fisolen

    Und was wir nur wollen!

    Ganze Schüsseln voll sind uns bereit!

    Gut Äpfel, gut' Birn' und gut' Trauben!

    Die Gärtner, die alles erlauben!

    Willst Rehbock, willst Hasen,

    Auf offener Straßen

    Sie laufen herbei!


    Sollt' ein Fasttag etwa kommen,

    Alle Fische gleich mit Freuden angeschwommen!

    Dort läuft schon Sankt Peter

    Mit Netz und mit Köder

    Zum himmlischen Weiher hinein.

    Sankt Martha die Köchin muß sein.


    Kein' Musik ist ja nicht auf Erden,

    Die uns'rer verglichen kann werden.

    Elftausend Jungfrauen

    Zu tanzen sich trauen!

    Sankt Ursula selbst dazu lacht!

    Cäcilia mit ihren Verwandten

    Sind treffliche Hofmusikanten!

    Die englischen Stimmen

    Ermuntern die Sinnen,

    Daß alles für Freuden erwacht.



    Das Klangbild ist klar, transparent, geschärft. Zuweilen bin ich überrascht, wie ungewohnt diese Musik aus den Lautsprechern kommt. Ich muss die Aufnahme noch mehrmals hören.


    Vielleicht muss man den Titel des Threads anpassen, nachdem Helmut Hofmann Zitate zur Uraufführung gefunden hat.


    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Das Klangbild ist klar, transparent, geschärft. Zuweilen bin ich überrascht, wie ungewohnt diese Musik aus den Lautsprechern kommt. Ich muss die Aufnahme noch mehrmals hören.

    Lieber Moderato,


    herzlichen Dank für den tollen Tip! Die 4. Mahler hat bei mir eine Ausnahmestellung - die Aufnahme kommt also auf meine Liste! :)


    Schöne Grüße

    Holger