Hallo, liebe Musikfreunde,
Schuberts Melodie klingt wie ein altes Volkslied, irgendwo auf dem Land entdeckt und aufgegriffen, und ist doch auf den Text eines Aufklärers aus Hamburg geschrieben.
Matthias Claudius (1740 - 1815) schrieb 1796 das Gedicht nach dem Tod der erst 21-jährigen Tochter, nachdem bereits vorher ein Sohn gestorben war.
Mädchen. Vorüber! Ach, vorüber
Geh, wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung! Geh Lieber!
Und rühre mich nicht an.
Tod. Gieb deine Hand, du zart und schön Gebild!
Bin Freund, und komme nicht zu strafen.
Sei gutes Muths! ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen!
Welche Intuition hat Schubert dazu geführt, in der Zwiesprache von Tod und Mädchen das innerste Geheimnis der musikalischen Zeit zu entdecken: Jugendlichkeit, Todesverfallenheit, weibliche Anmut, suggestive Selbstberuhigung durch kreisende Figuren? Mit welcher Verzweiflung mussten die ihm nachfolgenden Komponisten einsehen, dass das nicht mehr zu wiederholen war. Oder ist es nicht so, dass die Melodie weiter klingt im langsamen Satz von Bruckners 4. Sinfonie, im gespenstischen 2. Satz in Mahlers 2. Sinfonie? Wie oft haben Hugo Wolf und Gustav Mahler ähnliche Melodien schreiben wollen? Unvergesslich das Konzert mit dem Hagen-Quartett 1987 in Schwetzingen.
Ist es stattdessen Gustav Klimt gelungen, sowohl Schubert wie die vom Tode in überirdischer Schönheit gezeichneten Mädchen zu malen?
Gustav Klimt: Beethoven-Fries 1902, Auszug aus dem mittleren Teil
Hier ist der Sog der Verräumlichung geradezu mit Händen zu greifen. Ausgezehrt verliert die totkranke Frau alle Körperlichkeit und wird maskenhaft. Ihr Alter ist nicht zu bestimmen. Der Tod hat sich gewandelt von einer personalen Gestalt, in der noch bei Matthias Claudius das Mädchen und der Tod miteinander sprechen, über die verführerische Melodie bei Schubert zu einer rhythmisierten, ornamentalen Gestaltung des Hintergrunds. So ist er allgegenwärtig, und doch ist es unmöglich, ihm gegenüber zu treten. Der Tod - und mit ihm das Musikalische - ist räumlich geworden, und es gibt keine Möglichkeit mehr, sich ihm in musikalischer Zeit, mit betörenden oder beschwörenden Melodien zu nähern oder gar ihn zu bannen.
Was unter solch veränderten Bedingungen der Musik übrig bleibt, das zeigt die "Geschichte des Soldaten" von Strawinsky. Auch er will dem Tod aufspielen, um das geliebte Mädchen zu erobern und dem eigenen Tod zu entgehen. Das misslingt gänzlich. Am Ende triumphiert die leere Motorik des teuflischen Schlagzeugs.
Adorno verstand die "Geschichte des Soldaten" (und nicht das "Sacre du Printemps") als Strawinskys Hauptwerk. Von hier entwickelt er in seiner "Philosophie der neuen Musik" die These: Nach Beethoven hat die Musik die Fähigkeit zur "dialektischen Auseinandersetzung mit dem musikalischen Zeitverlauf" verloren, "die das Wesen aller großen Musik seit Bach ausmacht". Strawinsky ist ein Beispiel für den seither eingetretenen Verfall: "Musik weiß von keiner Erinnerung und damit von keinem Zeitkontinuum der Dauer. Sie verläuft in Reflexen."
Seit Debussy zum Impressionismus und Strawinsky zum Kubismus zählten, zeigt das eine "Pseudomorphose der Musik an die Malerei". Die moderne Malerei vermag das Lebensgefühl der neuen Zeit besser zu treffen, und die Musik läuft nur hinterher. Sie entwickelt keine eigenen Ideen mehr, sondern zerfällt in eine unendliche Beliebigkeit von Stilen und wird unhörbar. Sie verliert ihre subjektive integrierende Kraft und wird schließlich schizophren in einem medizinischen Sinn: Adorno spricht von Hebephrenie (ein 1871 von Erich Hecker eingeführter Begriff), worunter er in diesem Zusammenhang versteht, dass bei aller Sucht nach ständig neuen Reizen und Sensationen der eigene Körper doch immer nur als fremd wahrgenommen werden kann.
So geht es auch den Komponisten. Sie finden keine Antwort auf den Prozess der Verräumlichung, der ihnen die elementaren musikalischen Mittel entzieht. Entweder werden sie zu Ingenieuren der Tonkunst, verstehen mit "visueller Musik" die Verräumlichung ganz wörtlich, oder sie versuchen die Töne der modernen Zeit, die exotischen Klänge, den Jazz und den Punk, pure Großstadtgeräusche und maschinell erzeugte Effekte, in immer unverbindlichere Werke zu montieren.
Wer will bezweifeln, dass Adorno etwas Wahres trifft: Die Spaltung in polare wenn nicht multiple Figuren bei Schumann und die Wahnbilder bei Berlioz waren erste Anzeichen. Doch sind Adornos Texte ihrerseits Symptom der von ihm beschriebenen Entwicklung: Seit einmal begonnen wurde, mit psychiatrischen Begriffen Kunst- und Musikstile zu beschreiben, ist ein diffamierender Unterton in die Diskussion gekommen, der es liebt, seinen Gegner nicht mehr als Persönlichkeit anzuerkennen, sondern als "Fall" zu verzerren und zu überführen, bis nichts übrig bleibt als karikaturhafte Spottgestalten.
Wie in der Musik das Endergebnis aussehen kann, zeigt das 1970 komponierte Streichquartett "Black Angels" von George Crumb. Er zitiert Schuberts Melodie und konfrontiert sie brutal mit Stücken hart an der vom Ohr zu ertragenen Schmerzgrenze (zu erhalten über die CD des Kronos Quartett mit dem gleichen Titel). Schubert hatte das vorweggenommen. Das Scherzo seines Streichquartetts kann nicht hart genug gespielt werden, bevor das Finale in seine Zerklüftungen auseinanderbricht. Auch hier hat das Hagen-Quartett Maßstäbe gesetzt.
Viele Grüße und Adieu,
Walter