Schubert: Schwanengesang

  • Dass Schubert sich nach der kompositorischen Auseinandersetzung mit den „Winterreise“-Gedichten Wilhelm Müllers dem Lyriker Heinrich Heine zuwandte, entbehrt nicht einer gewissen inneren Folgerichtigkeit. In beiden Lyrikern konnte er sich in seinem damaligen Lebensgefühl wiederfinden.


    Vermutlich ist Schubert der Lyrik Heines bei den literarischen Lesungen begegnet, die Franz von Schober veranstaltete. Im Herbst 1828 komponierte er sechs Gedichte Heines, und er hatte wohl die Absicht, sie zusammen mit den sieben Kompositionen auf Texte Rellstabs in Form einer Liedergruppe zu veröffentlichen. Dazu kam es bekanntlich nicht mehr. Der Verleger Haslinger hat nach seinem Tod diese Lieder, ergänzt durch das Lied „Die Taubenpost“, unter dem von ihm kreierten Titel „Schwanengesang“ herausgegeben.


    Was zog Schubert an Heines Lyrik an?


    Man kann darüber natürlich nur Vermutungen anstellen, die sich aus den vorliegenden Liedkompositionen herleiten lassen. Wenn man sie unter dieser Fragestellung hört und analysiert, wird man aber wohl auf einige Antworten stoßen. Ganz allgemein kann man sagen: Es war wohl nicht die Ambivalenz von Heines lyrischer Sprache, dieses für diesen Dichter so ganz typische Zugleich von lyrischer Unmittelbarkeit und Gebrochenheit. Eher scheint Schubert vom Romantiker Heine angezogen worden zu sein, der, nach einem Wort Adornos, „vom Glück der Autonomie zehrte“. Zu dem anderen Heine, der dem Romantiker „die Maske heruntergerissen“ hat, fand Schubert offensichtlich keinen Zugang, - oder er wollte ihn nicht finden.


    Ich glaube aber, dass Schubert sich mit seiner eigenen existenziellen Gebrochenheit (wie sie zum Beispiel auf einmalige Weise in der „Winterreise“ musikalische Gestalt annahm) in dem Lyriker Heine sehr wohl wiederfand. Diese existenzielle Gebrochenheit schlägt sich bei Heine ja nicht nur in seiner lyrischen Metaphorik nieder, sondern greift sogar bis in die Ebene der lyrischen Sprache aus. Und bei Schubert tut es das im Transzendieren der klassischen Musiksprache.


    Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass die musikalisch kühnste Liedschöpfung, diejene, in der Schubert die Tonalität als kompositorische Grundlage verlässt, neben dem Lied „Der Leiermann“ das Lied „Die Stadt“ auf einen Text von Heinrich Heine ist. Hier scheint es eine tiefer reichende innere Verwandtschaft zwischen beiden gegeben zu haben.

    Es zeugt von einem recht vordergründigen Umgang mit der Lyrik Heines, wenn man ihr Wesen an dem – von ihm selbst dafür benutzten! – Begriff der „Ironie“ festmacht und dazu auch noch deren gröbste Form, wie sie sich etwa in dem Gedicht „Das Fräulein stand am Meere“ vorfindet, als Beleg anführt. Die sprachliche Figur der „Ironie“ ist nur die grob-äußerliche Oberfläche von Heines Lyrik. Das, was sich darunter findet und gleichsam der Quellgrund dieser Ironie ist, war wohl auch das, was Schubert an Heine anziehend fand. Es ist die, aus der Erfahrung ihres Verlusts resultierende, Suche nach Heimat. Das ist ein zutiefst spätromantisches Phänomen, und es scheint Schubert und Heine in dem eben so genannten tieferen Sinne verbunden zu haben.


    Allerdings ist Schubert bei dieser Suche Heine nicht so weit gefolgt, wie dieser in seiner Lyrik ging, - nicht bis dahin, das Scheitern dieser Suche künstlerisch zu artikulieren. Das nämlich ist die tiefere Wurzel von dem, was man mit dem Begriff „Ironie“ Heines Lyrik zuordnet. So weit wie Heine ging, dieses Scheitern nämlich im bewussten Bruch des hohen lyrischen Tons und in der ebenso bewussten Zerstörung der zugehörigen Metaphorik dichterisch zu artikulieren, konnte und wollte Schubert wohl nicht gehen. Deshalb hat er, im Unterschied zu Schumann, auch nicht zu solchen Gedichten Heines gegriffen, die sozusagen radikaler lyrischer Ausdruck jenes Scheiterns sind, also sprachlich-ironische Elemente aufweisen.


    Keines der von Schubert „vertonten“ Heine-Gedichte weist „Ironie“ im Sinne dieses bewussten Zerbrechens überkommener klassisch-romantischer Metaphorik auf. Allenfalls zeigt das Gedicht „Am Meer“ ein Element, das Heine selbst möglicherweise – mit seinen eigenen Worten – als „maliziös-sentimental“ eingestuft hätte, - was man als eine Art Vorstufe der Entwicklung hin zur radikalen Ironie verstehen kann. Es zeigt sich dort, wo in die durchweg „heile“ romantische Metaphorik dieses Gedichts das eigentlich ja balladesk grobe Bild vom „unglückseligen Weib“ einbricht, das mit „seinen Tränen vergiften“ kann. Aber selbst darauf hat sich Schubert nicht wirklich kompositorisch eingelassen.

  • Ich hatte oben geschrieben: „und er (Schubert) hatte wohl die Absicht, sie zusammen mit den sieben Kompositionen auf Texte Rellstabs in Form einer Liedergruppe zu veröffentlichen.“ Das ist eine Annahme, die sich nicht sicher belegen lässt. Wirklich mit einer historischen Quelle belegen lässt sich nur, dass Schubert die Heine-Lieder (zusammen mit drei Klaviersonaten und dem Streichquintett) am 2. Oktober 1828 dem Verleger Albert Probst in Leipzig angeboten hat.


    Im Begleitschreiben findet sich der hier interessante Satz:
    „Auch habe ich mehrere Lieder von Heine aus Hamburg gesetzt, welche hier außerordentlich gefielen.“


    Daraus darf man schließen, dass er die Heine-Lieder als eine kompositorische Liedgruppe betrachtete, die für ihn nicht in einem zwingenden Kontext mit den Rellstab-Liedern stand.


    Die Begegnung Schuberts mit Heines Lyrik ist ebenfalls historisch bezeugt. Carl von Schönstein berichtet:


    „Als nämlich Schubert unter den Tuchlauben bei Herrn Schober wohnte (…) besuchte ich ihn eines Tages und fand daselbst Heines >Buch der Lieder<, das ihn so sehr interessierte, daß ich Schubert ersuchte, es mir zu überlassen, was dieser mit den Worten tat: er benötige dasselbe ohnehin nicht mehr. Diese Bemerkung, dann der Umstand, daß sämtliche Blätter, auf welchen sich komponierte Gedichte befanden, eingebogen waren, (…) machen es wahrscheinlich, daß die sechs Lieder schon damals entstanden waren.“


    Es könnte also sein, dass die Heine-Lieder bereits zu Anfang des Jahres 1828 fertig vorlagen. Ganz sicher ist dies freilich nicht. Wohl aber, dass er sie im Herbst 1828 dem oben erwähnten Verleger anbot. Außerdem darf man aus dem Bericht von Carl von Schönstein schließen, dass Schubert Heines „Buch der Lieder“ in Gänze kannte. Die Auswahl, die er daraus vornahm, geschah also ganz bewusst und unter Ausklammerung jener Heine-Gedichte, die ihn von ihrer lyrischen Aussage her nicht ansprachen.


    Das scheint mir ein unter der zentralen Fragestellung dieses Threads wichtiger Sachverhalt zu sein. Der mangelnden Fähigkeit und Bereitschaft Schuberts nämlich, mit dem spezifischen sprachlich strukturellen Faktor „Ironie“ in Heines Lyrik menschlich und kompositorisch umzugehen. Gedichte, die diese Strukturmerkmale aufwiesen, hat er offensichtlich, obgleich er sie kannte, nicht in seine Auswahl einbezogen.

  • ... dort, wo in die durchweg „heile“ romantische Metaphorik dieses Gedichts das eigentlich ja balladesk grobe Bild vom „unglückseligen Weib“ einbricht, das mit „seinen Tränen vergiften“ kann.


    Das Gedicht "Am Meer" findet sich bei Heine im "Buch der Lieder" unter dem Abschnitt "Die Heimkehr" und damit in einem Kontext, der das Scheitern einer Liebe in sehr komplexen zeitlichen Bezügen beleuchtet.


    Als Ausgangspunkt kann man das programmatische Gedicht Nr. VI, "Als ich, auf der Reise, zufällig" wählen. Der junge Mann spricht bei der Familie seiner ehemaligen Geliebten vor. Sie ist vermählt und "in den Wochen". Er ringt sich einen "herzlichen" Gruß an sie ab, während zugleich ein jüngeres Schwesterchen dazwischenruft, daß ein kleines Hündchen aus der Zeit jener Liebschaft "groß und toll geworden" und im Rhein ertränkt war. - Die Augen der Kleinen, so fügt der Ich-Protagonist noch an, "besonders wenn sie lacht", glichen ganz denen der Geliebten, "die mich so elend gemacht".


    Der ertränkte Hund ist selbstredend ein drastisches Symbol der ehedem sanften Passion, und das feuchte Grab hat es in sich. Denn das Gedicht theamatisiert ja vor allem, wie unsinnig eine Liebe wird, wenn sie einseitig beendet wurde und dennoch immer noch fortlebt, oder vielleicht gerade dann auflebt, wenn sie keine Chance mehr hat.


    Dieses nicht enden wollende Liebenmüssen mit all seinen bittersüßen Ingredenzien führt dann auch zu Phantasien d´outre-tombe, wo der Liebende träumt, im Grab zu liegen (wie in Nr. LXIV im vorangehenden "Lyrischen Intermezzo"). Die Geliebte kommt, ihn zum jüngsten Tag zu wecken; er sträubt sich, sie verspricht, all seine unverheilten Wunden zu stillen, sogar das Loch zu stopfen, das er sich um ihretwillen in den Kopf geschossen hat. Von ihrer Sanftmut bewogen, erhebt er sich, scheinbar genesen - da brechen alle Wunden wieder auf, und er erwacht.


    In Nr. XXXII desselben Abschnitts legt sich der Liebende zur kalten Geliebten ins Grab. "Ich werde selber zur Leiche", so läßt sich dieses sarkastische Happy-End zusamenfassen.


    In "Die Heimkehr" entpinnt ich daraus die Symbolik der Meerfrauen und Wasserjungfern. Es ist stets ein Spiel mit verteilten Rollen - die Liebesunfähigkeit ist jetzt dem Elementar- und Zwischenwesen zugeordnet, das sich, vergeblich, kalt und feucht, nach der Umarmung sehnt. - Oder es gibt gespenstische Szenen, wo der Liebende als Wiedergänger unter dem Fenster der ehemals Geliebten erscheint, als fiedelndes Gerippe.


    Dann wieder erscheint alles aus solcher Drastik zurückgenommen - aus den aufbrechenden blutenden Wunden werden die im Traum vergossenen Tränen, aus dem Untoten (oder dem Doppelgänger) unter dem Fenster wird der ungeladene Zaungast von Festen, die die Liebste ohne ihn feiert. Aus der Meerfrau wird das Fischermädchen. - Das einstige geteilte Glückt wird in eine goldene Kinderzeit zurückverlegt (XXXVIII, "Mein Kind, wir waren Kinder"). Die Liebe wird dadurch besiegelt, daß der Liebende sich verpflichtet, sie auf ewig als unausgesprochenes Geheimnis im Herzen zu hüten.


    All das bildet den Hintergrund zu den Heine-Gesängen im "Schwanengesang" und zumal zu "Am Meer". Das knappe Klangsymbol des Wogenschlags, das Schubert dem Stück voran- und nachstellt, eröffnet zugleich den fatalen Raum des Schweigens, worin die Liebenden nur scheinbar zusammenkommen. Denn die Inszenierung als Erinnerung an eine vermeintlich glückliche Stunde ist ja Schein - "Die Szenerie war Abschied", wie man dem quälenden wortlosen Beisammensitzen von Anfang an entnehmen kann. Das Meer ist das Element der Versenkung des gemeinsam erfahrenen Leids, das hier bildlich die Liebenden noch immer zusammenzwingt. Und aus diesem Meer des Vergessens steigt es auf, Nebel und Woge, und die ersehnte, nie gewährte liebevolle Träne füllt als Projektion des eigenen Schmerzes das Auge der gespenstisch nassen, bleichen und wortlosen Geliebten. Sie soll weinen, wie sie anderswo alt werden soll und sterben und tot im Grabe liegen. - Und diese Tränen schließlich fort zu trinken, heißt ja allein, sein eigenes Leid wieder in sich aufzunehmen; die scheinbare Gabe, von fühllos weißer Hand unschuldig gewährt, ist nur in weiteres Bild für die Frustration unabgearbeiteter Trauer.


    Das "unglückselige Weib" ist daher insgeheim auch ein Meerweib, das die Menschenliebe ersehnt, aber nicht geben kann. Wie bei der Vereinigung im Grab scheint auch hier die unüberbrückbare Isolation der Figuren durch. Die Trennung ist unvermeidlich, die Abschiedstränen in ihrer konstruierten Nachträglichkeit ein sentimentales Paradoxon. Denn vergeblich ist ja die unterschobene Vorstellung, diese Tränen könnten "damals" noch zur rechten Zeit geflossen sein und bewiesen irgendetwas. Und ebenso vergeblich ist die Hoffnung, durch das "Forttrinken" dieser Tänen etwas ungeschehen machen zu können. - Wie tröstlich wäre unser Abschied doch gewesen, wenn es dich damals um mich gereut hätte! Und wie hätte ich alles darangesetzt, dir dieses Leid zu ersparen!


    Die doppelte Einsicht in die Unerfüllbarkeit dieser Phantasiebegilde ist das Gift, und unglückselig ist die Frau, weil ihr eben gar kein Unglück bewußt war und keine Tränen kamen. Das läßt sich durch nichts wieder gut machen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Ludwig Rellstab wurde 1799 in Berlin geboren und starb dort auch im Jahre 1860. Zunächst war er Offizier und Lehrer an einer Brigadeschule, wandte sich aber später der Schriftstellerei zu und verfasste neben Lyrik auch Novellen, Erzählungen und Opernlibretti. Schubert soll angeblich eine an Beethoven adressierte handschriftliche Fassung von Gedichten Rellstabs zur Verfügung gehabt haben, die aus Beethovens Nachlass an ihn gekommen sei. Das ist aber nicht gesichert, so dass man heute davon ausgeht, dass Schubert auf Grundlage der Berliner Ausgabe von Rellstabs Gedichten (1827) komponiert hat.


    Neben den Liedern aus dem „Schwanengesang“ hat Schubert noch drei weitere Gedichte Rellstabs „vertont“: „Auf dem Strom“ (D 943), „Herbst“ (D 945) und das Gedicht „Lebensmut“, (D 937) das kompositorisch unvollendet blieb, sich aber unter den Entwürfen zu „Liebesbotschaft“ und „Frühlingssehnsucht“ fand, so dass man davon ausgehen kann, dass es ursprünglich die die Liedgruppe einbezogen werden sollte.


    Schubert hat Rellstab nicht kennengelernt. Dieser scheint aber von dessen Kompositionen nicht sonderlich angetan gewesen zu sein, denn in einer seiner Rezensionen wirft er Schubert vor, dass „seine Compositionen (…) zu wenig den gründlichen Musiker bekunden“. Später (1841) aber besuchte er Schuberts Grabstätte und schrieb in seinem Reisebericht von den „edlen, träumend schwärmerischen Zügen, mit denen uns seine Werke anblicken“.


    Zwischen den Gedichten Rellstabs, die Schubert zur Grundlage seiner Liedkompositionen gemacht hat, besteht kein direkter thematischer Zusammenhang. Allenfalls verbindet sie ein lockerer Rahmen, der sich etwa auf den Nenner „Fernsein des geliebten Menschen und Sehnsucht nach Nähe“ gebracht werden könnte. Durchweg sind es, wie Alfred Einstein bemerkt hat, Lieder des Rückblicks, und dies scheint auch der Angelpunkt für Schuberts Interesse an ihnen gewesen zu sein.


    Gewiss war es nicht ihre literarische Qualität. In dieser sind sie meilenweit von den Gedichten Heines entfernt. Ihre zum Teil überladene Metaphorik und ein gewisses Verliebtsein des Autors in das Partizip Präsens (besonders unangenehm auffallend bei „In der Ferne“) sind wohl als Indizien eines lyrischen Dilettantismus einzustufen.

  • Wer je eine Interpretation des „Schwanengesangs“ im Konzertsaal erlebt hat, bei der am Ende das Lied „Die Taubenpost“ gesungen wurde, der dürfte mir darin zustimmen, dass es wohl für einen Interpreten klüger ist, das Lied als das zu behandeln, was es de facto ist: Ein Anhängsel. Es nimmt sich nach der expressiven Wucht der Heine-Lieder regelrecht deplaziert und unangemessen leichtgewichtig aus, und deshalb ist es, wie ich meine, wohl sehr geschickt, es als Zugabe zu singen.


    In dem Konvolut von Liedern, das Ferdinand dem Verleger Haslinger gegen ein Entgelt von 500 fl. überreichte, fand sich diese Komposition nicht. Haslinger hat sie – aus seiner Sicht ganz konsequent – seiner Ausgabe des „Schwanengesangs“ hinzugefügt, weil er ja „Schubert´s letzte Compositionen“ angekündigt hatte. Und um diese handelt es sich ja beim auf Oktober 1828 datierten Lied „Die Taubenpost“.


    Bezeugt wird das durch einen Brief von Friedrich Hartmann, in dem er über die letzte Schubertiade bei J. Spaun am 23.12.1828 berichtet. Es heißt dort: (Es wurde) „das letzte vor seinem Tode componierte Lied: die Brieftaube, eines der lieblichsten (…) die es unter seinen Liedern gibt“, gesungen. Die Datierung „Okt. 1828“ findet sich auf der Reinschrift, die als Doppelblatt an die Rellstab- und Heine-Lieder angeklebt wurde (von Haslinger).


    Die Bezeichnung „eines der lieblichsten“ Lieder Schuberts, die Fr. Hartmann für die „Taubenpost“ verwendet, mag diesem Lied zwar nicht ganz angemessen sein, sie wird seinem Charakter aber sehr wohl gerecht. Das ist, von seinem Klangbild her, ein durchaus heiteres Lied: Eine volksliedhaft schlichte, diatonisch strukturierte melodische Linie entfaltet sich über einer synkopisch lebhaften Begleitung im Klavier. Der zugrundliegende Text Seidls ist von lyrisch schlichter Natur, auch wenn sich die Taube am Ende als Allegorie der Sehnsucht enthüllt.


    Diesem Lied irgendwelche tiefere Bedeutung beizumessen, eben weil es sich um das letzte Schuberts handelt, ist sachlich unbegründet. Schubert litt damals zwar schon unter den ersten Symptomen einer Typhus-Erkrankung, aber er konnte nicht ahnen, dass er daran sterben würde. Nach allem, was wir wissen, ging er, als er die „Taubenpost“ komponierte und an „Der Hirt auf dem Felsen“ arbeitete, nicht davon aus.


    Gewiss zeigt sich Schubert auch bei diesem Lied in seiner kompositorischen Größe, - etwa darin, wie er das „Kennt ihr sie?“ modifiziert und schrittweise harmonisch eindunkelt. Dieses Lied ist - eben wegen seiner ganz typischen Anmutung von volksliedhafter Schlichtheit - ganz zweifellos „großer Schubert“. Aber aus dem Blickwinkel der Heine-Lieder ist es ein kompositorischer Rückschritt. Und unmittelbar hinter dem Lied „Der Doppelgänger“ gesungen, ist es ein – ich würde durchaus sagen fast peinlicher - auf jeden Fall aber faktischer Fehlgriff.

  • Um es gleich vorweg zu sagen: Ich meine, es gibt sie nicht, diese innere Einheit. Es gibt sie weder in Form eines irgendwie gearteten thematischen Rahmens oder Zentrums der Lieder, noch gibt es sie in Gestalt ein kompositorisch-strukturellen Nähe der einzelnen Lieder zueinander. Der „Schwanengesang“ stellt eine aus äußerlichen Gründen zustande gekommene Gruppierung von Liedern dar, die sich aus zwei Einzelgruppen zusammensetzt.


    Die äußerlichen Gründe sind rein geschäftsmäßige. Ferdinand Schubert übergab dem Verleger Haslinger das Manuskript, und dieser kündigte in der Wiener Zeitung vom 20.12.1828 an:


    Er habe „Franz Schubert´s letzte Compositionen (…) aus dem Nachlasse (…) bestehend: in vierzehn noch unbekannten Gesängen (…) gekauft, und (…) über die Herausgabe derselben (werde) nächstens eine ausführliche Anzeige erfolgen.“ Die „Taubenpost“ war dabei eine eigene Zutat des Verlegers, denn bei dem von Ferdinand übergebenen Manuskript war sie nicht dabei.


    Mit den Titeln der Aufsätze in musikwissenschaftlichen Zeitschriften, die sich mit der Frage einer möglichen zyklischen Struktur der beiden Liedgruppen beschäftigen, könnte man locker eine ganze Seite füllen. Insbesondere hat man sich den Heine-Liedern zugewandt, vor allem, was deren Reihenfolge anbelangt und die dieser zugrundeliegende Tonartenfolge. Mit dem, was dabei herauskam, lässt sich – nach meiner Meinung - aber nicht wirklich schlüssig eine zyklische Struktur begründen. Das einzige, worauf sich die Schubertforschung einigen konnte, ist die – eigentlich selbstverständliche! – Feststellung, dass die Reihenfolge der Lieder keine zufällige sei, und dass Schubert dabei wohl eine Absicht verfolgt hätte. Nur welche?


    Der Schubertforscher Elmar Budde vertritt bezüglich dieser Frage eine Auffassung, von der ein Laie wie ich allerdings nicht weiß, wie weit sie auf allgemeine Zustimmung stößt. Er meint, die Heine-Lieder betreffend, durchaus Ansätze zu einer zyklischen Struktur erkennen zu können. Dabei stützt er sich auf die „abwärts gerichtete Chromatik“, die der Tonfolge der Lieder zugrundliegt:


    Das Fischermädchen ……As-Dur
    Die Stadt………………….....c-Moll
    Am Meer…………………. ...C-Dur
    Der Doppelgänger…… ...h-Moll
    Ihr Bild…………………….....b-Moll
    Der Atlas………………….....g-Moll


    Er kommentiert das so:
    „Im Blick auf die chromatische Abfolge der Heine-Lieder scheint die chromatische Distanz … figürlichen Charakter zu haben, und zwar im Sinne des passus duriusculus, jener barocken Figur der Trauer und der Passion. Die Abfolge der Heine-Lieder (…) wäre dann nicht nur im poetisch-erzählenden Sinne sinnvoll, sondern wäre auch musikalisch-kompositorisch als Zyklus zu bestimmen, also ein Zyklus, dem der Leidensweg einer Passion eingeschrieben ist, der in der Katastrophe endet.“

    Auch bei den Rellstab-Liedern meint er, zyklische Strukturen zu erkennen, insofern „Schubert – ähnlich wie in der Schönen Müllerin und der Winterreise – charakteristische musikalische Figuren, die in einem definierbaren semantischen Feld angesiedelt sind, zu musikalischen Ausdrucksfiguren steigert und verwandelt.“

    Ich gestehe, dass mir das alles ein wenig konstruiert vorkommt. Ich halte es für unzureichend, eine zyklische Struktur einer Liedgruppe primär oder gar ausschließlich auf Tonartenverwandtschaften zu gründen. Und zudem meine ich, dass man nicht den Fehler machen sollte, von den Gegebenheiten der „Schönen Müllerin“ oder der „Winterreise“ an den „Schwanengesang“ heranzutreten. Bei den beiden wirklichen Liederzyklen Schubert gründet deren musikalische Binnenstruktur ganz wesentlich auf der dichterischen Vorlage, die ja jeweils ein in sich geschlossenes, als Gedichtzyklus angelegtes Werk war.


    Bei den beiden Gruppen der Rellstab- und der Heinelieder nahm Schubert eine Auswahl aus einer Gedichtsammlung vor und behandelte die jeweiligen lyrischen Texte so, wie er das bei all seinen Gedicht-„Vertonungen“ gemacht hat: Als singuläre Liedkomposition, bei der kein thematischer Bezug zu irgendwelchen anderen lyrischen Texten vorliegt. Also ist es auch wenig sinnvoll, einen solchen im nachhinein mehr oder weniger künstlich konstruieren zu wollen.


    Anmerkung:
    Eigentlich hatte ich vor, mich nun auf eine Betrachtung der einzelnen Lieder des „Schwanengesangs“ einzulassen. Aber es geht nicht. Ich stelle mit Verwunderung fest, dass die Erfahrungen, die ich bei der Arbeit an dem Thread „Liedanalytische Betrachtung der Winterreise“ machen musste, eine Art Schock bei mir hinterlassen haben. Zu einem solchen oder ähnlichen Projekt scheine ich für längere Zeit nicht mehr fähig zu sein. Mögen andere das machen. Die Grundlage dafür habe ich, so denke ich, mit den letzten Beiträgen hier doch wohl geschaffen. Mir ist nach Ruhe.

  • Es gibt, finde ich, eine Ambivalenz der Texte in diesem "Pseudo"-Zyklus' (auch ich bin der Meinung, dass Schubert daraus wohl keinen zusammenhängenden Komplex gemacht hätte...andererseits könnte man ganz steil mutmaßen, ob diese Divergenz nicht doch Absicht war...wer weiß), weshalb ich gerade mit den Rellstab-Liedern mehr Berührungshindernisse habe als mit denen zu Heine-Texten, deren Frakturen mich besonders an den "Winterreise"-Zyklus erinnern.
    Eine weitere Reibung zwischen diesen unterschiedlichen Liedern, und damit die Fraglichkeit ihrer homogenen Zusammengehörigkeit, entsteht außerdem (zumindest für mich) bei meinem Favoriten aus dem Werk, nämlich "Der Atlas"...von einem Tenor gesungen (oder gar einer Frauenstimme...kann gerade nicht sagen, ob es das gibt) hat gerade dieses Lied für mich viel weniger Wirkung, da die schwere einer tieferen Stimme auch die "(be)schwerende" Botschaft des Atlas besser zur Geltung bringt und fühlbar macht.


    Der Atlas
    Autor: Heinrich Heine


    Ich unglücksel'ger Atlas! Eine Welt,
    Die ganze Welt der Schmerzen muß ich tragen,
    Ich trage Unerträgliches, und brechen
    Will mir das Herz im Leibe.


    Du stolzes Herz, du hast es ja gewollt!
    Du wolltest glücklich sein, unendlich glücklich,
    Oder unendlich elend, stolzes Herz,
    Und jetzo bist du elend.


    Schon die Eingangsklänge dieses Liedes, dieses leicht hämmernde, bürdevolle Schleppen, Schritte schwer wie Blei, da merke ich schn förmlich die Last auf meinem Rücken und dazu diese düstere Ahnung, dass diese Bürde mehr ist als ein massives, konkretes physisches Gewicht, sondern auch ein psychische Schwere hat, nicht nur quantitativ, sonder genauso qualitativ , diese Welt, die voller Leid und Schmerzen ist...letztlich wird ja auch das Herz verwiesen, das brechen will, nicht eigentlich das Kreuz. Diese düstere Grundstimmung in der Begleitung wird nur unterbrochen, wenn Atlas selbst über sich spottet, hier wird das Klavier noch ein Mal leicht heiter, aber die Ironie und der Sarkasmus schon des Textes finden sich auch in der scheinbar leichtfertigen Begleitung aufgenommen. Um dann auch wieder mit dem Text in die trübe, belastende Stimmung zurückzukehren.


    Ich habe diese Version (weil ich Hotter als Lied-Interpret über alles schätze) :

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • Zu der Reihenfolge der Heine-Lieder als mutmaßlichem Zyklus innerhalb der Verleger-Kreation des "Schwanengesang" gibt es auch einen interessanten Text des Musikwissenschaftlers Harry Goldschmidt (u.a. in seinem "Um die Sache der Musik" enthalten).
    Leider bin ich noch einige Zeit nicht bei meinen Büchern und weiß natürlich nicht auswendig, welche revidierte Reihenfolge Goldschmidt vorgeschlagen und wie er das begründet hat

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Der von Johannes Roehl erwähnte H. Goldschmidt entwickelte schon 1972 in Heft 17 des "Deutschen Jahrbuchs der Musikwissenschaft" Üerlegungen zur inneren Reihenfolge der Lieder, wobei er sich auf die Tonarten stützt. Das bleibt aber alles spekulativ, da es nur eine einzige authentische Grundlage gibt: Das Autograph, das mit "Aug.1828" datiert ist. Weitere Quellen, die etwas über die Entstehung der Lieder und ihre Reihenfolge aussagen können, existieren nicht. Im Auograph, das aus mehreren Lagen von Doppelblättern mit Reinschriften besteht, folgt die Gruppe der Heine-Lieder mit dem Lied "Der Atlas" unmittelbar auf das Rellstab-Lied "Abschied".


    Das einzige, was vielleicht noch relevant sein könnte, ist die Tatsache, dass von zwei Rellstab-Liedern (nämlich Nr.1 und Nr.3) Entwürfe vorliegen. Man schließt daraus, dass Schubert vielleicht ursprünglich die Absicht gehabt haben könnte, aus den Rellstab-Liedern eine eigenständige Gruppe zu machen. Aber auch das ist reine Vermutung.


    Die Musikwissenschaft ist sich nur darin einig, dass die Reihenfolge der Lieder, so wie sie im Autograph vorliegt, wohl nicht zufällig sein könnte, sondern dass Überlegungen Schuberts dahintergestanden haben könnten. Welche das gewesen sind, muss offen bleiben.

  • Ich möchte hier und heute getreu der Ausführungen des Threadgründers Siegfried meine Neuerwerbung vorstellen, die gleichwohl 42 Jahre alt ist:


    Prey war 1971 sicherlich noch auf dem Höhepunkt seiner stimmlichen Potenz, und hier im Schwanengesang, dem "Zyklus" der kein Zyklus ist, schöpft er das dynamische Spektrum der Lieder m. E. mehr aus als in der Winterreise mit Karl Engel, wobei das Dramatische, düstere noch manchmal über Entsprechendes in der Winterreise hinausgeht.
    Prey wird hier von Gerald Moore begleitet, der beinahe zeitgleich auch alle drei Zyklen mit Fischer-Dieskau eingespielt hat.
    Und wenn man an der Juilliard School in New York seinerzeit Michael Korstick "Dr. Beethoven" nannte, dann könnte man hier mit Fug und Recht (und einem gewissen Augenzwinkern) Gerald Moore unter den Liedbegleitern "Dr. Schubert" nennen.
    Jedenfalls harmonieren beide sehr gut miteinander, und Moore habe ich nun nach Hotter und Fischer-Dieskau zum dritten Mal im Schwanengesang. Sowohl die lyrischen als auch die dramatischen Stücke gefallen mir ausnehmend, obwohl die hohen Piani Preys Sache nicht so sind wie Fischer-Dieskaus. Dafür braucht er sich in den dramatischen Liedern, auch in den dynamischen Steigerungen, vor Fischer-Dieskau nicht zu verstecken. Und - sein Vortrag geht wieder mal zu Herzen.
    Als Wolfram noch unter den Taminos weilte, hat er das mal in einem umfangreichen und äußerst qualifizierten Beitrag (Posting Nr. 40) schön beschrieben. Er sagte sinngemäß, dass Prey nicht auf der Kopffrequenz, sondern auf der Herzfrequenz sende. Und das ist auch gut so, denn ich bin der Meinung, dass im Auditorium auch die große Mehrzahl der Zuhörer auf der Herzfrequenz empfängt.
    Besonders gut gefallen mir auf dieser Basis neben den Rennern Liebesbotschaft, Frühlingssehnsucht und Ständchen die dramatischen Stücke Kriegers Ahnung, Aufenthalt, In der Ferne, Der Doppelgänger und natürlich Der Atlas. Aber auch das Perpetuum mobile-ähnliche Abschied gelingt ihm, wie ich finde, sehr gut, mit sehr viel Schwung. Die Stadt erfüllt er mit sehr viel Emotion und auch eines meiner Lieblingslieder Schuberts, Am Meer hat mir in der Interpretation Hermann Preys, sehr gut gefallen.
    Eine rundum gelungene Aufnahme, das mit zwei populären Goethe-Liedern, Der Fischer und dem Erlkönig sowie dem Lied Der Wanderer ergänzt wird. Auch hier erfüllt Hermann Prey die Erwartungen, vor allem im Erlkönig.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Dass Schuberts „Schwanengesang“ keine Liedersammlung ist, die seinen echten Zyklen vergleichbar ist, wurde in diesem Thread bereits hinreichend klargestellt. Im Grunde ist der Begriff „Schwanengesang“ ja ein „Werbegag“ gewesen. Denn er geht auf eine Anzeige im des Verlegers Tobias Haslinger zurück, die im Januar 1829 erschien:


    „Franz Schubert´s Schwanen-Gesang mit Begleitung des Pianoforte. Seinen Gönnern und Freunden geweiht. Letztes Werk. In 2 Abtheilungen. Auf sehr schönem weissen Papier, und im geschmackvollen Umschlag gebunden.“


    Wenn man sich dieser Liedersammlung widmet, kann man also nicht nach einer ihm zugrundeliegenden kompositorischen Grundaussage suchen. Allenfalls haben die Rellstab-Lieder eine Art zugrundliegende Thematik: Die Ferne von der geliebten und den Freunden, die daraus resultierende Einsamkeit und die Sehnsucht. Aber das ist nur ein loses thematisches Band, das diese Lieder verbindet, die ja sehr unterschiedlich sind.


    Es bleibt nur, wenn man sich mit dieser Liedersammlung - im Sinne eines liedanalytischen Sich-Einlassens auf sie – näher beschäftigt, jedes einzelne Lied als gleichsam singuläres musikalisches Gebilde zu nehmen. Allerdings gäbe es dabei doch eine Art Leitfrage. Es handelt sich ja um späte Lieder Schuberts. Und hier wäre nun der Frage nachzugehen, ob sich da so etwas wie ein liedkompositorischer Spätstil Schuberts erkennen lässt. Immerhin weisen viele Lieder, vor allem die auf Gedichte Heines, stark ausgeprägte liedkompositorisch innovative Elemente auf.


    Aber selbst in solch einem Lied wie „Ständchen“, das – z.B. von einem Richard Tauber – reichlich abgenutzt (wenn nicht verhunzt) wurde, stößt man auf überraschende Strukturelemente in der Faktur. So hat Hartmut Höll auf die „überpunktierten Viertel mit anschließendem Sechzehntel“ oder „die überpunktierten Halbe mit anschließendem Achtel“ aufmerksam gemacht. Und er meint dazu:


    „Das Ich versucht den Panzer der Unfreiheit aufzubrechen, versucht, wieder Atem zu gewinnen. Denn die Welt ist nicht mehr schön: Lebensfeindlich ist der Aufenthalt auch da, wo er sich scheinbar gefällig gibt.“


    Das ist ein interessanter interpretatorischer Ansatz für das Verständnis dieses Liedes und die musikalische Aussage, die Schubert mit ihm machen wollte. Man könnte in dieser Weise bei allen Liedern des „Schwanengesangs“ einmal „nachfragen“.