Joseph Haydn: Symphonie Nr. 86 D-Dur
Komponiert 1786
Besetzung: Flöte, zwei Oboen, zwei Fagotte, zwei Hörner, zwei Trompeten, Pauke, Streicher
Wie die anderen Pariser Symphonien schrieb Haydn diese für das Orchester der "Loge Olympique" in Paris. Im Gegensatz zu dem ihm sonst zur Verfügung stehenden Esterhazyschen Orchester war dieses mit 28 Violinen, sieben Bratschen, zehn Celli, vier Kontrabässen und durchgängig mindestens doppelten Bläsern sehr groß besetzt (siehe [2], die Angaben sind teils widersprüchlich zu [1]). Dies ermöglichte auch Aufführungen in großen Sälen für ein großes Publikum, das zunächst allerdings nicht öffentlich war. Laut Finscher gab es die ersten öffentlichen Aufführungen der Pariser Symphonien in Paris wahrscheinlich 1788 - in diesem Jahr waren 90 Prozent der in Paris aufgeführten Symphonien von Haydn (siehe [2])!
Auch wenn Haydn das Orchester, für das er schrieb, nicht aus persönlicher Anschauung kannte, hatte das geänderte Anforderungsprofil doch Einfluss auf die Pariser Symphonien: Lessing weist auf eine Verfeinerung von Haydns Orchesterbehandlung, vor allem in Bezug auf die Bläser, und eine Klangfarbenerweiterung der Pariser gegenüber den früheren Symphonien hin ([1], S. 3ff.).
Die Symphonie Nr. 86, von Haydn in der Reihenfolge der Pariser Symphonien an vorletzter Stelle (eigentlich vor 82) vorgesehen, hat - nicht zuletzt durch die Instrumentierung mit Pauke und Trompeten - einen extrovertierten, im Menuett sogar majestätischen Charakter. Dazu in Kontrast stehen der introvertierte zweite Satz und das volkstümliche Trio.
Zwei Anmerkungen zum Folgenden: Erstens habe ich keine Partitur zur Verfügung, nur die 17 Takte des ersten Satzes, die Finscher abdruckt [2], deswegen muss ich auf Taktangaben verzichten und kann natürlich die eine oder andere Ungenauigkeit nicht ausschließen. Zum zweiten werde ich an einigen Stellen Zeitangaben machen, um das Nachvollziehen für alle die, die auch keine Partitur zur Hand haben, zu vereinfachen. Die erste Angabe bezieht sich jeweils auf die Aufnahme von Bernstein mit den New Yorker Philharmonikern, die zweite auf Kuijken mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment. Die Gesamtspielzeiten (als Anhaltspunkt für das Verfolgen anhand anderer Einspielungen) sind unten in der Besprechung der Aufnahmen notiert.
1. Adagio (3/4) - Allegro spiritoso (4/4)
Die Adagio-Einleitung beginnt mit einer Kadenz, aus der sich drei Achtel herausschälen, die während der Einleitung auf verschiedene Art beleuchtet werden: Zunächst aufsteigend (ab 0:15/0:17), dann absteigend (0:27/0:30), dann als bohrende Tonwiederholung (ab 0:32/0:34), und zuletzt in einem auf- und wieder absteigenden Motiv kurz vor Beginn des Allegro spiritoso (1:12/1:10).
Dieses ist insgesamt homophon gehalten und übernimmt aus der Einleitung die Bedeutung der drei aufeinanderfolgenden Achtelnoten. Das Hauptthema (1:32/1:28 ) besteht aus zwei gegensätzlichen Teilen: Einem zierlichen Motiv der Streicher in p, das auf drei aufsteigenden Achteln mit zwischengeschalteten Achtelpausen endet, wird ein Orchestertutti in ff entgegengestellt, das die Einleitungsachtel als hämmernde Tonrepetition aufgreift und ihnen zwei fallende Sechzehntel voranstellt. Dieser zweite Teil des Themas bildet die Grundlage für die folgende Überleitungspassage. Kurz vor dem Erreichen des Seitensatzes werden noch einmal demonstrativ die Kombination von zwei absteigenden Sechzehntelnoten und den hämmernden Achteln und eine Variante mit aufsteigenden Sechzehnteln herausgestellt (ab 2:08/2:03), die in der Durchführung einigen Raum beanspruchen werden.
Der Seitensatz beginnt mit dem ersten, lyrischen Teil des Hauptthemas (2:20/2:15), worauf statt des zweiten Teils eine Überleitungspassage mit eingestreuten Forteschlägen folgt, die zum melancholisch-fragenden "eigentlichen" Seitenthema (2:39/2:33) führt. Die abschließende Überleitungspassage bringt sofort wieder Schwung ins Geschehen und greift noch einmal den zweiten Teil des Hauptthemas auf.
Die Durchführung (ab 4:53/4:44) beginnt mit der gespannt wirkenden modulierenden Verarbeitung des ersten Teils des Hauptthemas, teilweise umspielt von Bläsern. Es folgt eine dramatische Verarbeitung des zweiten Thementeils (ab 5:21/5:10), die nach einiger Zeit in sich zusammenbricht. Traurig fragend meldet sich nun das Seitenthema (5:53/5:42), dem erst zaghaft, dann immer bestimmter der erste Teil des Hauptthemas antwortet und schließlich triumphierend auf Basis der aufsteigenden Achtel in die Reprise überleitet (ab 6:12/6:01).
Die Reprise ist gegenüber der Exposition leicht verändert: Der erste Teil des Hauptthemas wird von Bläsern umspielt und einige Überleitungsabschnitte sind abgewandelt.
2. Capriccio. Largo (3/4)
Hinter der Bezeichnung "Capriccio" verbirgt sich ein formal frei gehandhabter Satz, den Lessing als "ähnlich kühn durch die Tonarten schweifendes Gegenstück" zur Fantasia aus op. 76,6 sieht. Zwischen den Wiederholungen des meditativen Hauptthemas - insgesamt kehrt es dreimal variiert zurück, was den Satz in vier Abschnitte gliedert - werden rondoartig verschiedene "Couplets" eingefügt, die allerdings wiederum aus verschiedenen, teilweise in mehreren der Couplets vorkommenden Versatzstücken bestehen.
Lessing verweist bezüglich der Satzstruktur auf Karl Geiringer, der auch Bezüge des Satzes zur Sonatensatzform sieht. Damit könnte die teilweise Überdeckung des ersten und dritten Couplets gemeint sein, so dass dann der erste und dritte Abschnitt Exposition und Reprise darstellen würden, der zweite Abschnitt die Durchführung und der vierte eine (lange) Coda.
Die "mystische Versunkenheit" (Lessing) des Satzes wird immer wieder durch herbe Ausbrüche unterbrochen: Am Ende des ersten Abschnitts, im kurzen und düsteren zweiten Abschnitt, sehr schön eingeleitet von einer chromatischen Flötenpassage und darauf folgender Generalpause (ab 3:36/2:46), und im vierten Abschnitt kurz vor Ende des Satzes.
3. Menuetto: Allegretto - Trio (3/4)
Das Menuett ist das längste der Pariser Symphonien und hat durch seinen Umfang, seinen "grandiose[n], 'sinfonische[n]' Duktus" (Lessing) und die sonatensatzartige Gliederung des Menuett-Teils einiges an Gewicht. Der durchführende "B"-Teil (ab 0:34/0:29), der einen kleinen Kanon in d-moll über den Kopf des Menuett-Themas einschließt (0:45/0:38 ), ist hierbei verhältnismäßig umfangreich.
Einen Kontrast dazu bildet das Trio (ab 2:59/2:35) mit seiner hübschen, volksliedhaften Melodik und starken Betonung der Holzbläser, vor allem eines Solofagotts im ersten und dritten Teil des Trios.
4. Finale: Allegro con spirito (4/4)
Dem Kopfsatz stellt Haydn ein gewichtiges Finale in Sonatenform entgegen. Das mit einer fünffachen Tonrepetition beginnende Hauptmotiv durchzieht die komplette Exposition, so dass Finscher "fast eine permanente Durchführung des tonrepetierenden Kopfmotivs" darin sieht. Vom Kopfmotiv abgeleitet ist auch das entspannte Seitenthema (0:51/0:54), das ebenfalls mit einer fünffachen Tonrepetition beginnt.
Die knappe Durchführung (ab 3:06/3:15) beginnt nach einer kurzen Verarbeitung des Hauptthemas mit einer scheinbar völlig harmlosen Entwicklung des Seitenthemas (3:19/3:28 ), die aber im zweiten Anlauf durch heftige "Offbeat"-Akzente an Fahrt gewinnt und in eine kanonartige Passage über den Kopf des Hauptthemas mündet (3:42/3:52) nach der in die Reprise (ab 4:00/4:10) übergeleitet wird.
Diese ist gegenüber der Exposition stark verändert: Die Überleitungspassage zum Seitenthema ist teilweise neu, und direkt hinter dem Seitenthema ist ein dramatischer Abschnitt mit direktem, deutlichem Bezug zum Hauptthema eingefügt (ab 4:47/5:01), durch den der Gegensatz der beiden Themen noch einmal durchführungsartig zugespitzt wird. Das letzte Wort in der Reprise scheint zunächst erstaunlicherweise ein zierliches Motiv im piano zu haben, das aus dem Seitenthema abgeleitet ist (5:28/5:45). Hier wird noch einmal der Kontrast der beiden Themen herausgestellt, denn nun wird das Werk mit hämmernden Tonrepetitionen beendet.
Lessing lobt diese Symphonie "über den grünen Klee": Sie bilde nicht nur den Höhepunkt der Werkgruppe, sondern sei als "Werk von höchster Originalität der Erfindung und kompositorischer Meisterschaft" eine der bedeutendsten Symphonien Haydns (Lessing tut seine Einschätzung der Haydnschen Symphonien allerdings an einigen Stellen sehr emphatisch kund, z.B. zu Nr. 89 im negativen Sinne). Auch Finscher hebt die Symphonie heraus, und zwar zusammen mit Nr. 82 als Anspruchsvollste der Pariser Symphonien.
In meiner persönlichen Wertschätzung liegt die 86 wegen ihrer äußerst mitreißenden Ecksätze und des tollen Capriccio an erster Stelle unter den Pariser Symphonien und kann auch mit 88 und den besten Londonern mithalten (und den besten Sturm-und-Drang-Symphonien). Noch ein kleines Stück besser finde ich allerdings 92.
Mir stehen zwei Aufnahmen zur Verfügung: Zum einen Kuijken mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment, zum anderen Bernstein mit den New Yorker Philharmonikern. Äußerlich betrachtet werden die Ecksätze bei beiden etwa gleich schnell gespielt, wobei Kuijken im ersten Satz etwas schneller ist (8:21 zu 8:10), Bernstein im letzten (6:01 zu 6:20). Bei den Binnensätzen lässt sich Bernstein allerdings mehr Zeit als Kuijken: Für das Menuett benötigt er 6:21 statt 5:01 bei Kuijken, und das Capriccio zelebriert er in 8:35 gegenüber Kuijkens 6:33.
Im ersten Satz kommen durch die eher homophone Anlage etwaige Vorteile bei der Durchhörbarkeit des kleineren Kuijken-Orchesters m.E. kaum zum Zug, Bernstein gelingt der Satz im Gegenzug begünstigt durch das große Orchester aber wesentlich kontrastreicher, wuchtiger. Das Capriccio profitiert m.E. enorm von Bernsteins langsamem Tempo, es gewinnt stark an Gewicht gegenüber Kuijkens Deutung. Im dritten Satz wird durch Bernsteins Tempo im Menuett-Teil schön das Majestätische herausgestrichen - eine schnellere Lesart kann ich mir gleichwohl auch vorstellen -, das Trio ist mir aber doch etwas zu langsam. Wirklich punkten kann Kuijken hier aber nicht, das Menuett wirkt bei ihm vergleichsweise kraftlos. Im Finale taut er dann aber etwas auf und bietet mehr Kontrast als im Kopfsatz und im Menuett. Trotzdem sehe ich auch hier Bernstein vorne, der in diesem Satz sogar schneller als Kuijken ist.
Quellen:
[1] Walter Lessing: Die Symphonien von Joseph Haydn, Band 3; Begleitbuch zu einer Radiosendung des SWR 1987-89
[2] Ludwig Finscher: Joseph Haydn und seine Zeit, S. 330ff; Laaber 2000