"Pelleas et Mélisande" im Theater an der Wien


  • Nach Orpheus und Intermezzo hat mir das Theater an der Wien in dieser Saison gestern den dritten sehr interessanten Opernabend geboten. Wohl starte ich dieses Thema - werd die Details aber den Pelleas-Kennern überlassen. Haben sich doch auch andere Taminos diesbezüglich angekündigt - also eher TaminAs - Melanie?! Severina?!


    Nun also ohne fachgeistige Ergüsse hier meine ganz persönlichen Eindrücke:
    Ich glaube vorerst einmal kaum, dass man es musikalisch besser machen kann. Superstars des Abends sicherlich wiederum das Rundfunk-Symphonieorchester diesmal unter Bertrand de Billy! Am 13. war ich leider nicht zu Hause, um die Radioübertragung aufzunehmen. Denn die zahllosen Details, die sich da im Orchester abgespielt haben, wären doch wert mittels der Aufnahme etwas genauer unter die Lupe oder besser gesagt unters "Ohr" zu nehmen: Zahllose farbige Musiknuancen von transzendent, verhaltenen Ziselierungen bis zur leidenschaftlichen Kraft in Golauds Eifersucht und dem kurzen, aber umso intensiveren Glücksrausch!


    Grundsätzlich hab ich es schön und treffend gefunden, dass die Oper so sehr auch als "Theaterstück" herübergekommen ist. Ein Glücksgriff auch, dass die Darsteller nicht nur stimmlich, sondern auch vom Typ her ihren Rollen so sehr gerecht wurden. Natalie Dessay scheint mir die absolute Idealbesetzung. Stimmlich sowieso und durch ihre zarte Figur und ihre Bewegungen unterstreicht sie all das neptunisch-nymphische der Mélisande.
    Auch Stéphane Degout nimmt man durch sein jungenhaftes Äußeres den Pelleas ebenso ab wie dank seines hellen lyrischen Baritons. Weiß nicht, wie er in größeren Häusern klingen würde, die Stimme scheint nicht sehr voluminös. Hier hat's jedoch meiner Ansicht nach gepaßt.
    Laurent Naouri ist gut zwei Köpfe größer als die Dessay und den grobstofflichen Typen, der Mélisande in seiner Weise liebt aber zu ihrer Seele keine Verbindung aufbauen kann, bringt er sowohl physisch als auch stimmlich wunderbar auf die Bühne. Eine sehr schöne Rolle ist auch der König Arkel, durchaus ergreifend interpretiert vom mir bisher nicht bekannten Baß Philip Ens.


    Ein "Theaterstück", das vom Thema her sehr betroffen macht. Seelen, die an der Umwelt zerbrechen gibt es ja mehr als man glaubt. Ebenso wie falsch verstandene Liebe und unsinnige Eifersucht. Die Regie verzichtet auf jegliche "märchenhafte" Nuance. Mélisande wandelt durch eine düstere von dunklen Holzbauten geprägte Welt, die durch und durch im Gegensatz zu Ihrer Seele steht. Auch Mélisandes angeblich übermäßig langes Haar, das von oben auf Pelleas herabfällt und sich in den Zweigen verfängt, wird in der berühmten Szene auf eine poetische Phantasie seitens Pelleas reduziert, was wiederum menschlich berührt.


    Die Szenerie ist nicht schlecht gelöst. Die Drehbühne ermöglichet rasche Szenenwechsel und dient auch als dramatisches Element z.B. um die Eifersucht Golauds darzustellen. Allerdings ist oft einigermaßen zu viel an "Holzbauten" auf der Bühne - weniger und symbolischer wäre eher meine Idee gewesen.
    Alles in allem eine fast konventionelle Inszenierung - auf jeden Fall recht konservativ in der Pesonenführung. Die Gesamtstimmung des dichten Waldes, der Landschaft, in der man den Himmel nicht sieht, ist jedoch gut getroffen.

  • Hallo Brangäne,


    dann waren wir gestern in der gleichen Vorstellung. :hello:


    Das Theater an der Wien ist ja wirklich ein hübches kleines Theater, dessen Intimität einem Stück wie Pelléas entgegenkommt. Ich war das erste Mal im Theater an der Wien.


    Ein fachkundiges Urteil kann ich auch nicht abgeben, aber mir hat es auch sehr gut gefallen.


    In dieser Aufführung gab es m.E. zwei Hauptpersonen:


    1. Das Orchester
    2. Golaud


    Das das Orchester eine sehr wichtige Rolle spielt, ist ja eigentlich ohnehin klar. Das Rundfunk-Sinfonie-Orchester unter Billy hat mir auch ausnehmend gut gefallen. Klangschön, transparent, in den passenden Szenen dann auch wieder sehr dramatisch.


    Aber gestern hatte ich auch stärker den Eindruck als sonst, dass das Stück um Golaud konzentriert ist - und zwar von der Inszenierung, als auch musikalisch. Wie Brangäne schon schreibt, liebt er Mélisande wohl auf seine Weise, kann aber keine echte Verbindung zu ihr aufnehmen. Ähnlich ist es auch zu Pelléas. Er kann die Beziehung zwischen Pelléas und Mélisande nicht einschätzen und schwankt zwischen Eifersucht und einem Glauben an kindliche Zuneigung hin- und her, wobei die Eifersucht immer zunimmt. Laurent Naouri hat die Rolle meiner Meinung nach unglaublich beeindruckend gesungen und gespielt. Man spürt seine wachsende Verzweiflung, seine Angst und seine Einsamkeit in jeder Minute. Die Szene am Ende des dritten Aktes, in dem er Yniold zum Spionieren zwingt, hat mir fast den Atem geraubt in der Intensität -an der wiederum Hauptperson Nummer eins einen sehr großen Anteil hatte.


    Die Szene zwischen Mélisande und Pelléas am Anfang des dritten Akts wird übrigens als Traum von Golaud angedeutet, so dass nicht klar ist, ob sie so wirklich passiert ist. Dafür isi sie aber auch viel expliziter als im Libretto (Pélleas ergreift nicht nur die Haare, sondern auch Mélisandes Kopf und später dann Mélisande ganz und holt sie aus dem Turm - hier eine Wendeltreppe - zu sich herunter).


    Nun zu Nathalie Dessay als Mélisande. Meine Erwartungen waren sehr hoch - ich bin nicht ganz sicher, ob sie voll erfüllt wurden. Ja, sie spielt unglaublich gut und ihre Mélisande ist sehr kindlich, zerbrechlich und naiv. Ja, die Stimme passt auch sehr gut dazu, aber in den besonders "lyrischen" Stellen des Stücks hätte ich mir mehr Volumen, Stimme oder Tiefe gewünscht - quasi ein Aufblühen der Stimme. Hier schienen mir Grenzen zu sein. Auch die Höhe war nicht immer so mühelos, wie ich erwartet hätte. ich teile auch Brangänes Skepsis, was große Räume anlangt, aber sie hat ja schon an der Staatsoper oder der Met mit viel Erfolg gesungen.


    Meine Kritik ist aber sicherlich Kritik auf höchstem Niveau und ohnehin nicht ganz gerecht, wegen meiner Erwartungshaltung.


    Stephane Dégouts Pélleas hat mir stimmlich sehr gut gefallen - darstellerisch fällt er etwas hinter das Ehepaar zurück, aber diese beiden waren auch wirkluch überragend.


    Insgesamt aber ein sehr schöner Abend. Zur Inszenierung könnte man sicher noch einiges schreiben, aber ich bin gerade erst aus Wien zurückgekommen - und muss mich erst mal wieder zu Hause einleben.


    Eine schöne Stadt habt Ihr, Ihr Wiener :hello:


    Viele Grüße,


    Melanie

  • Danke für eure Berichte, ihr Beiden! Ich war ja gespannt wie ien Flitzebogen, wie "meine" Natalie mit dieser serh lyrischen Rolle ohne jede Virtuositätsansprüche wohl zurechtkommt. Da ein sehr liebenswürdiger Tamino mir die Radioaufzeichnung geschickt hat werde ich mir bald auch ein eigenes Urteil bilden können.
    Vom Typ und Timbre und Diktion kann es wohl wirklich kaum besser sein, denke ich mir. volumen erwarte ich bei einer Melisande nicht- das ist ein fragiles Wesen aus einer anderen Welt- das darf man auch hören-grosse lyrische Stimmen sind m.E. fehl am Platze. vor allem wenn das Orchester gut mitzieht und nicht erdrückt. Bei diesem Sprechgesang muss man die Stimme in der Mittellage so einstellen, dass ich gewisse "Höhenprobleme" da eher normal finde. Man kann nciht alles haben- eine solche Rolle verlangt eine ganz andere Vorbereitung und Attitude als Koloraturrepertoire.



    Das die Rolle des Golaud so aufgewertet wird freut mich serh, er ist wirklich eine tragische Figur.
    Was soll denn ein Mann tun, der eine iirre-ale Märchenffe liebt als selbst irre zu werden, weil er nichts fassen und greifen kann?


    Mir wird es wahrscheinlich schwer fallen, neben Gerard Souzays Stimme eine Andere gelten zu lassen.
    Naouri ist ein sehr guter Sänger aber den baritonalen Schmelz eines Souzay hat er nun wirklich nicht!


    Liebe Brangäne
    Degout ist ein hervorragender Liedsänger.Auch als Papageno hat er mich überzeugt, allerdings ist unsere Oper hier eher mittel bis klein.


    F.Q.

  • Liebe Fairy Queen,


    ich bin ja gespannt, was Du zu dem Mitschnitt sagst. Was Du von den Höhenproblemen schreibst ist natürlich möglich. Ich kann das nicht beurteilen, da ich leider singe wie, hmmm... jetzt fällt mir leider kein guter Vergleich ein - aber Du verstehst wahrscheinlich, was ich sagen will. :stumm:


    Eine generell voluminöse Stimme ist auch nicht das, was ich meine. Aber an den großen lyrischen Stellen hätte ich mir etwas mehr erwartet. Es fällt mir schwer zu beschreiben, was mit gefehlt hat. Wie schon geschrieben, kann es einfach auch an der Erwartungshaltung gelegen haben.


    Zu Laurent Naouri als Golaud: Ich war auch skeptisch, aber er hat mich wirklich gestern unglaublich beeindruckt. Er spielt aber auch überragend, wie seine Frau. Aber auch sängerisch fand ich ihn ausgeszeichent, aber im Theater selbst kann ich beides schwer trennen, wie er in einer reinen Rundfunkübertragung wirkt, weiss ich nicht.


    ich habe versucht über Internet-Radio die Übertragung der Premiere zu hören, aber leider war offenbar meine Verbindung nicht gut. Die Interpretaion wirkte extrem zerhackt mit Generalpausen, wo sie wirklich nicht hingehören. Ich habe das dann abgebrochen :D


    Viele grüße,


    Melanie

  • PS: Ich klinge gerade so mäkelig, dass ich doch hinterherschieben muss, dass es mir gestern sehr gut gefallen hat. Insbesondere die drei Hauptpersonen, das Orchester und der Dirigent, aber auch die Inszenierung.

  • Nachdem mich Fairy nun schon zweimal um Berichterstattung angefleht hat, versuche ich mein Bestes, obwohl ich - und das ist der Hauptgrund, warum ich euch bisher mit meinen Ergüssen verschont habe ;) - mit diesem Werk meine Probleme habe. Wohlgemerkt mit dem Werk, nicht mit der Musik und schon gar nicht mit der großartigen Umsetzung unter Bertrand de Billy und einem wunderbaren Ensemble ohne Schwachstelle im Theater an der Wien. Als Entschuldigung für meine Verständnisprobleme möchte ich ein Zitat von Natalie Dessay (Bühne Jänner 2009) anführen: "Ich glaube, dass es für Nichtfranzosen gar nicht so einfach ist, dieses Stück zu verstehen." Nun, in diese Kategorie falle ich ganz eindeutig :D
    Versuchen wir's also!


    Wenn sich der Vorhang hebt, befinden wir uns im Wald, in einem sehr abstrahierten Wald allerdings, der nur aus bis in den Schnürboden ragenden, glatten Baumstämmen besteht, die wiederum aus paneelierten Holzsockeln herauswachsen. (Symbolistisch gedacht: Gezähmte Natur? Gesprengte Zivilisation?? Beides wären für mich mögliche Deutungsansätze, denn ich begreife Mélisande als eine Art Naturgeschöpf, das nicht zuletzt an den Versuchen zugrunde geht, es zu domestizieren)
    Diese Baumstämme bilden das Zentrum der Drehbühne, in sie eingefügt gleiten die einzelnen Stationen dieses Dramas am Zuschauer vorbei: Zunächst einmal die Quelle, an welcher Golaud Mèlisande findet, plump zusammengegefügt aus groben Felsbrocken, dann der Palast König Arkels, eine einfache Podestkonstruktion mit zwei Stufen, eingefasst mit Paneelen und einem kleinen Würfel auf der oberen Ebene, ein minimalistischer Thron sozusagen. Eine kleine Drehung, und wir befinden uns vor einer Holztreppe, die vom Palast (den uns die Fantasie bauen muss) hinunter auf einen Steg führt, von welchem Mélisande sehnsüchtige Blicke hinaus aufs Meer werfen kann.
    Der nächste Kreisabschnitt zeigt uns den verhängnisvollen Brunnen, in welchen Mélisande in übermütigem Spiel ihren Ehering fallen lässt: zwei Steinbecken, eines etwas höher als das andere, unter einer Laube, die allerdings keine romantische Rosenhecke trägt, sondern nur dürre, unfruchtbare Äste. Selbst an diesem Ort, wo Mèlisande sich heiter und unbeschwert fühlt, gebärdet sich also die Natur abweisend und unheilschwanger.
    Die Bühne dreht sich weiter und wir sehen ein einfaches Bett (nur Bettgestell und Matratze), auf dem später der verwundete Golo liegt, den Verlust des Ringes bemerkt und Mélisande mit Golo zur Grotte schickt, wo sie vorgibt das Schmuckstück verloren zu haben.
    Diese Grotte ist natürlich auch keine Grotte, sondern das Holzskelett vom Rumpf eines gestrandeten Schiffes, vom Mondlicht grünlich ausgeleuchtet. Ganz hinten kauern die drei Bettler, Gestrandete auch sie, ebenso wie Mélisande etwas von einer Schiffbrüchigen an sich hat, vom Schicksal an ein unwirtliches Gestade geworfen, fern von ihrer Heimat und Bestimmung. Dieses Bild fand ich sehr stark.
    Der Turm, von dem Mélisande ihr Haar herablässt, um Pelléas damit emotional den Rest zu geben, ist hier eine Art Plattform zwischen den Baumstämmen, durch eine Holzwendeltreppe erreichbar (Treppen oder zumindest Treppchen gibt es fast bei jeder "Station", auch wenn sie scheinbar nicht notwendig sind) In dieser Szene beweisen Natalie Dessay und Stéphane Degout, dass sie nicht nur stimmlich, sondern auch körperlich topfit sind!
    Schließlich das letzte Bild, Mélisandes Sterbezimmer. Beklemmend eng drängen sich hier die Holzpaneele um ein Bett, das schräg aufgebockt steht auf einigen Felsblöcken.
    Ich weiß nicht, ob meine Beschreibung anschaulich genug ist. Faszinierend fand ich, wie diese einzelnen Schauplätze ineinander übergehen (So ist z.B. Station 3 die Rückseite des "Baumturmes"), durch eine kleine Drehbewegung der Bühne wieder ein völlig neuer Spielort sich öffnet, ohne komplizierte Umbaupausen.
    Weniger leicht als die Szenerie lässt sich nun die Regiearbeit Laurent Pellys beschreiben :( Er zählt zu meinen Lieblingsregisseuren, leider hat auch er es mit dieser Inszenierung nicht geschafft, mir den Sinngehalt dieser Oper wirklich zu erschließen. Natalie Dessay meint in oben zitiertem Interview, Mélisande könne einfach auch nur ein Produkt der Männerfantasien sein. Das fände ich einen wirklich interessanten Ansatz, den aber Pelly offensichtlich nicht aufgreift. Er macht, zumindest in meinen Augen, gar nicht den Versuch, das große Ganze zu deuten, sondern konzentriert sich auf die Interaktionen zwischen den einzelnen Personen, und das gelingt ihm wirklich gut. Jede Szene ist konsequent durchinszeniert in dem Sinn, dass die Sänger wirklich miteinander und nicht nebeneinander agieren, jeder Blick, jede Geste sich auf ein Gegenüber bezieht, und sei es auch nur ein imaginäres Gegenüber wie z.B. der Hirte, den der kleine Yniold irgendwo im Zuschauerraum erspäht.
    Vor allem steht ihm ein großartiges Ensemble zur Verfügung, dass diese Intentionenen 1:1 umsetzt.
    Allen voran Natalie Dessay, der die Mélisande auf den Leib geschrieben und in die Kehle komponiert wurde. Schon wie sie im ersten Bild zitternd neben der Quelle kauert, eine Verlorene in jeder Beziehung, mit großen, angstvoll geweiteten Kinderaugen (Ich saß in der Einserloge Parterre, wo mir natürlich keine einzige Regung im Gesicht dieser Vollblutschauspielerin entging!), in denen sich dann blankes Entsetzen spiegelt, als Golauld sie berühren will, der innere Kampf, ob sie ihm nun folgen oder alleine im Wald zurückbleiben will, all das spielte die Dessay mit einer Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit, die ihresgleichen zu suchen hat. Kein Wunder, dass es sie 2010 auch zur Sprechbühne zieht!! Natalie Dessays Stimmbänder scheinen in einer geheimen Verbindung zu ihren Augen zu stehen, denn all das, was sich in ihnen abspielte, konnte man auch hören, So filigran und zerbrechlich wie das zierliche Persönchen klang auch ihre Stimme, um dann später glockenhell zu jubilieren als Ausdruck der Koketterie, mit welcher sie Pelléas beim Brunnen umgarnt. Wie ein Wesen von einem anderen Stern geistert Mélisande meist durch die freudlose Welt an Arkels Hof, verloren und ohne Hoffnung. Sie sehnt sich nach Licht und Wärme, in der abweisenden Düsternis dieser Waldeinsamkeit findet ihre Seele keine Nahrung. Der alte König ist auch der Einzige, der ihren Seelenschmerz bemerkt, aber er ist zu schwach, zu antriebslos, um ihr zu helfen. Phillip Ens schlurft im grauen, überlangen Mantel wie in Zeitlupe durch die Szenerie, aschfahl sein Haupt und Bart, und in seinem Inneren dürfte es ähnlich aussehen. Er scheint der Einzige zu sein, der Mèlisande wirklich liebt, Verständnis dafür hat, dass sich dieses ätherische Luftgeschöpf nach Licht und Sonne sehnt, dass es in diesem düsteren Schloss verkümmern muss. Trotzdem sieht er beinahe teilnahmslos zu, wie sie von Golaud vergewaltigt wird, erst ganz zum Schluss greift er halbherzig ein, eher verwundert, was in seinen Sohn gefahren ist, als empört über sein Verhalten. Bei Mélisandes Tod hatte ich wiederum das Gefühl, dass Arkel als Einziger den Schlüssel zum Verständnis für dieses seltsame Wesen besitzt, leider teilte er sein Wissen nicht mit mir ;( ;( ;(
    Stéphane Degouts Pelléas ist die einzige Lichtgestalt am düsteren Hof König Arkels. Er wirkt jung, unbekümmert, abenteuerlustig, wenn auch am Anfang nicht wirklich interessiert an der Frau seines Bruders. Der berühmte Blitz, der beide trifft, das "Tristanhafte" des Stoffes, das immer angesprochen wird, war zumindest für mich nicht zu erkennen. Denn bei ihrem ersten wirklichen Zusammentreffen am Brunnen ist es Mélisande, die ihn übermütig herausfordert, während er zunächst so wirkt, als folge er einem Gebot der Höflichkeit, seine Schwägerin zu unterhalten. Erst als sich Mélisande recht provokant am Brunnenrand räkelt, fühlt sich der Mann angesprochen und reagiert dementsprechend, aber auch da noch eher halbherzig, würde ich sagen. Der große Zauber, der beide zusammenfügt, the point of no return quasi, ereignet sich erst in der Mondscheinacht in der Grotte, von da an steuern beide unweigerlich ihrem Verhängnis entgegen.
    Schauspielerisch stand Stéphane Degout seiner Partnerin um nichts nach, seine Mimik war aber nicht ganz so ausdrucksvoll, aber da lag die Latte wirklich zu hoch für alle übrigen. Seine eher hell timbrierte, aber dennoch kraftvolle Stimme, die er sehr nuanciert einsetzte, gefällt mir sehr gut.
    Laurent Naouri, ein sehr düsterer Golaud, ließ sich als indisponiert entschuldigen, eine schwere Erkältung plagte ihn. Obwohl das phasenweise nicht zu überhören war, bot er dennoch eine bessere Leistung als so mancher gesunde
    Kollege, seiner Spielfreude konnten die Grippeviren gottlob nichts anhaben. Naouri legte den Golo nicht als eindimensionalen Bösewicht an, sondern er schien zunehmend an der Unmöglichkeit zu verzweifeln, Zugang zu diesem Rätselwesen an seiner Seite zu finden. Als dann noch die Eifersucht auf Pelléas dazu kommt, entlädt sich der ganze aufgestaute Frust in der Vergewaltigung Mélisandes, die ich aber, so absurd das jetzt klingen mag, nicht nur als brutalen Gewaltakt, sondern eben auch als Folge dieser Verzweiflung deute. Irgendwie scheint er genauso dabei zu leiden wie sie.
    Kann mir eigentlich jemand erklären, warum Golo erst völlig ausrastet, als er den Verlust des Ringes bemerkt, erklärt, dass das sein wertvollster Besitz sei, Mélisande (mit Pelléas!) mitten in der Nacht zu der Grotte schickt, wo sie vorgibt, den Ring verloren zu haben, obwohl das nicht ungefährlich ist, und später findet der Ring nie wieder Erwähnung, obwohl er eben nicht auftaucht????? Für mich eines der Rätsel dieses Librettos!
    lg Severina :hello:

  • Danke fürs Verschieben, nun komme ich endlich in den Genuss!
    Niemand (ausser Alviano) schafft es so wie Severina,die Opern-Bilder in mir lebendig werden zu lassen und ich werde auch in Zukunft weiter betteln und flehen. :yes:


    Danke!!!!!!
    Wie gut, dass du meinen Höreindruck optisch bestätigst, es ist SOOOO schwierig diese Oper mit solch tollen Schauspieler-Sängern einfach nur zu hören.


    Dass sie für Nicht-Franzosen eine grosse Herausforderung ist, glaube ich gerne, aber nicht nur für die. Man muss schon einen offenen Sinn für diese erstmal abstrakt wirkende Art der Oper und die verschwommene Geschcihte haben, um das geniessen zu können. Wenn man es aber einmal annehmen kann, ist es einfach nur grossartig. Finde ich.
    Das mit dem Ring kann ich mir so erklären, dass hier ein Symbol für Ehetreue vorab zerbrochen wird. Melisandes Ergebenheit als Golauds grösster Reichtum. Das sie so ungreifbar, nah und doch fern von iihm und in einer anderen Welt schwebt, kann Golaud nciht aushalten. Und als sie den Ring verliert wird ganz offenbar, wie fremd ihr sein Wesen und die Ehe mit ihm sind.
    Sie scheint ihm "zu gehören", aber tut es doch nicht. Und er wird sic hdessen durch den Ring bewusst und stürzt in Verzweiflung. Vergewaltigung aus Verzweiflung ist für mich hier ebenfalls psychologisch gut nachvollziehbar.
    All das gibt es nciht selten auch in der realen Beziehungswelt. Und deshalb finde ich diese Geschichte überhaupt nciht an den Haaren herbeigezogen sondern als Märchen sehr wahr. Wie eben alle Märchen.


    F.Q.


  • Liebe Fairy,
    danke für die Blumen und vor allem für deine Ringdeutung, die mir sehr einleuchtet. Ich verstehe nur nicht, dass dieses Thema übrhaupt nicht mehr zur Sprache kommt. Zunächst klingt Mélisandes Erklärung ja ganz plausibel, dass Golaud sie offensichtlich nicht ganz glaubt, wird aus seinem Drängen ersichtlich, sofort und trotz der erheblichen Gefahr (Grotte, Nacht, Gezeiten...) den Ring herbeizuschaffen. Aber für mich fehlt eben dann diese klitzekleine Konfrontation: "Also, cara mia, wo ist jetzt der Ring??????" Erst dann würde Golaud für mich dort stehen, wo du ihn schon jetzt siehst, nämlich in dem Wissen, dass seine Ehe eigentlich eine Farce ist.
    lg Severina :hello:

  • ?(
    Tja, wo der Ring nun wirklich ist, das weiss ich auch nicht zu beantworten, aber ist das wirklch so ausschlaggebend?
    Ich gehe an ein symbolistisches Märchen nicht so logisch heran wie z..B an Verismo-Oper und die(musikalischen) Stimmungsbilder erklären für mich hier eigentlich genug.


    Golaud weiss, schon vor dem Ehebruch , dass seine Frau nciht seine Frau ist und ihm unentrinnbar entgleitet, bzw nie bei ihm war. Dafür steht der verlorene Ring.
    Wo er ist, weiss vielleicht deshalb niemand, weil niemand weiss, wer Melisande ist und wo sie herkommt?


    Golauds Machtlosigkeit angescihts eines Zauberwesens entlädt sich in einer Manifestation des Irdsich-Seins : dem Versuch Melisande greifbar und materiell spürbar zu machen. Vergewaltigung im Sinne von Vergegenwärtigung würde ich fast denken.
    So wie jemand, der einen Schmetterling präpariert und auf ein Brett nagelt , um damit seine zauberische Gestalt irdisch zu machen.
    Und damit gerade das Gegenteil erreicht.
    Golaud ist für mich eine sehr tragische Gestalt, denn er weiss, was er getan hat, kann aber nciht anders, weil er eben keine Flügel hat.


    F.Q.

  • Liebe Fairy,
    du hast mich ein wenig missverstanden: Wo der Ring in Wahrheit ist, weiß ich schon, nämlich im Brunnen. Da fällt er ja ganz eindeutig hinein, als Mélisande übermütig damit herumspielt. (Und vielleicht Pelléas signalisiert, dass sie sich nicht an seinen Halbbruder gebunden fühlt???? In unserer Inszenierung geht die Flirtinitiative eindeutig von ihr aus!) Was mich so frappiert: Erst rastet Golo total aus, als er das Fehlen des Rings bemerkt, schickt Mélisande nächtens auf die Suche, stellt sie dann aber am nächsten Tag nicht zur Rede, wo das corpus delicti denn nun ist. :boese2: :boese2: :boese2: :boese2: Hat er tatsächlich diese Ringsache so schnell vergessen?? Natürlich hast du Recht, dass man einem Märchen nicht mit Logik kommen darf, aber ich bin's eben so gewohnt, Texte nach bestimmten Kriterien abzuklopfen..... :D
    lg Severina :hello:


    PS: Kennst du eigentlich die literarische Vorlage von Maeterlinck? Muss ich mir wohl schleunigst besorgen!

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  • Liebe Severina, ja, da hab ich Dich falsch verstanden. Und eure Inszenierung ebenfalls.
    Ich habe die Oper leider noch nie auf der Bühne gesehen ,nur gehört, und die Vorlage auch noch nicht gelesen .


    Rein psychologisch scheint mir der Golaud aber wirklich die interessanteste Gestalt in der ganzen Sache zu sein.
    Sein Verhalten wirkt vielleicht gerade deshalb so widersprüchlich und unlogisch, weil er sich durch seine Liebe zu Melisande selbst verliert bzw sozusagen den Verstand verliert angescihts dieser mit seinen Massstäben nicht zu messenden Frau.
    Bei seinen Wechselbädern wg des Rings könnte sogar eine sadomasochistische Tendenz mit hineinspielen.
    Wenn man(n) etwas liebt, das phyisch greifbar und "im eigenen Machtbereich" liegt, aber gleichzeitig emotional vollkommen un(be)greifbar und unbeherrschbar ist, wird alles Mögliche zwischen Aggression und Depression (idem Auto-Agrression) freigesetzt.


    Dass in eurer Inszenierung Melisande dann auch noch Diejenige ist, die Pelleas aktiv verführt, setzt dem Ganzen noch die Krone auf.
    Solange Golaud davon ausgehen kann, dass sie eine fast unbewusste Mâdchen-Frau sit, die die Liebe nicht wirklich erfährt und erlebt und in anderen Sphären lebt, ist das zwar schon schmerzlich genug, muss aber nciht unbedingt sein eigenes Ego bertreffen.
    Wenn aber Melisande das, was sie ihm verweigert, nun doch hat und einem Anderen freiwillig gibt?


    Am besten erstmal verdrängen ,(wozu dann die Ringsache passen könnte) weil es sich sonst mit unkontrollierbarer Gewalt entladen muss.


    Was es ja dann schliesslich auch tut.


    Wobei diese Vergewaltigung wirklich auch eine Selbst-Vergewaltigung Golauds ist.
    Wie Du oben geschrieben hast, leidet er mit Sicherheit genauso daran wie Melisande, denn er wird zum Vergewaltiger und Brudermörder aus reiner Ohnmacht und Hilflosigkeit.


    Ich weiss nicht, wie Pelly in dieser Inszenierung die Melisande interpretiert hat.
    Ist Golaud nur der Falsche für sie und und Pelleas eben der Rcihtige?
    Das fände ich zu einfach, denn es trifft den Kern nciht.
    Schon gar nciht den Kern der Musik.


    F.Q.

  • Liebe Fairy,
    "verführen" ist sicher übertrieben, sie legt es auch nicht bewusst darauf an -Was ist schon "bewusst" an diesem rätselhaften Geschöpf?? - aber trotzdem scheint (in unserer Inszenierung) Pelléas' Interesse an ihr erst zu erwachen, als sie sich ihm doch sehr eindeutig als begehrenswerte Frau präsentiert. Sie flirtet mit ihm, aber diese Szene am Brunnen ist auch die einzige, wo Mélisande wirklich unbeschwert und heiter wirkt, sie mit dem düsteren Schloss auch kurz die Düsternis ihrer Seele verlässt. Auch in unserer Inszenierung bleibt die Liebe auf einer rein platonischen Ebene, sieht man von dem einzigen Kuss beim Abschied ab.
    Ob Pelleás der Richtige ist? Ich bezweifle es, er ist bloß momentan die einzige Alternative. Um ein Wesen wie Mélisande wirklich zu verstehen, fehlen ihm einige Dimensionen. Zumindest für mich ist dieses Zwingende, das die beiden ohne Ausweg aufeinander zutreibt, nicht zu erkennen, deshalb verstehe ich nicht ganz, warum manche diese Oper als "französische Antwort" auf den Tristan bezeichnen.
    Das Spannende für mich ist ja die Frage, ob Mélisande wirklich so eine unschuldig-naive Kind-Frau ist. Was hat sie erlebt, bevor Golo sie völlig verstört im Wald findet? Ist sie so traumatisiert, dass sie zu einer normalen Mann-Frau-Beziehung überhaupt nicht mehr fähig ist? Vom wem hat sie die Krone, die sie in den Brunnen geworfen hat und nie wieder berühren will, sonst würde sie sich töten?? Später wirft sie dann Golos Ring ebenfalls in einen Brunnen..... (Gut, er fällt ihr beim Spielen hinein, aber auf mich wirkt es so, als ließe sie es drauf ankommen!) Aber diese Parallele - erst die Krone, dann der Ring im Brunnen - ist doch sicher nicht nur Zufall!
    Ich muss mir jetzt doch den Materlink besorgen, das lässt mir keine Ruhe!!
    lg Severina :hello:

  • Liebe Severina, das mit dem Tristan sehe ich wie du. Ist das auch nciht eher auf die Musik bezogen?


    In jedem Fall darf man nciht vergessen, dass wir uns literarisch im Symbolismus befinden.
    Melisande gehört, wenn man es ganz weit fassen will, in die Reihe der Ligeias , der Loreleis und Melusines und auch der Dante Gabriel Rossetti Frauen. Und für mich ist sie auch eine Bellini-Gestalt, nur ohne deren sizilianische Zwangskorsette.
    Das sind wirklich keine Femme fatales, die Männer aufgrund starker Sinnlichkeit und verderblcihen Lebenswandels direkt in den Untergang treiben sondern das ist der Typus der "Femme fragile"- zwischen den materiellen und ätherischen Welten schwebend. Das Geheimnis und das Un-Fassbare , das Zerbrechlcihe und von Menschen allzu leicht und unbewusst Zerstörbare ist hier mit eingeboren. Solche Frauen kämpfen niemals, sie leiden und sterben an ihrem Schicksal , dessen sie sich vielleicht nicht einmal richtgi bewusst werden.
    Für mich steckt in dem Gedanken, dass Melisande im Kindbett stirbt, auch der Gedanke, dass sie noch keine wirklche Frau ist und eine Schwangerschaft und Geburt überhaupt nciht überleben kann.


    Eine ins Realistische getreibene Karikatur wären die bleichen¨Ladies "des 19 Jh , die blutjung an irgendwen verheiratet wurden und nach der Geburt des ersten Kindes jedes eheliche Sexualleben - sogar mit ärztlcher Bescheinigung- aufgeben konnten , weil sie zu zart waren, um weitere Schwangerschaften zu überstehen.
    Verwelkende Blumen, die aber nie geblüht haben.


    Es geht bei Melisande sicherlich auch ein wenig (oder viel, ich weiss es im Moment noch nciht) um die Unvereinbarkeit der Geschlechter und das Mysterium Frau, das zu dieser Zeit stark in den Köpfen herumspukte.


    Bin sehr gespannt, was du nach der Maeterlinck Lektüre dazu zu sagen hast!


    F.Q.

  • Liebe Fairy,
    das sehe ich alles genauso, auch was du über Golaud geschrieben hast, den ich ebenfalls als viel interessanter empfinde als die Lichtgestalt Pelléas. Aber diese Krone-Ringsache "intriguiert mich maßlos", wie Schnitzler es formuliert hätte :D.
    Nein, dieser Tristanvergleich bezieht sich eben nicht auf die Musik, sondern auf die Handlung: Bis auf den fehlenden Liebestrank sah der Autor absolute Parallelen, besonders in der Unausweichlichkeit dieser Liebe. Leider kann ich mich nicht mehr erinnern, in welchem der vielen Zeitungsartikel anlässlich dieser Produktion ich es gelesen habe :( Aber genau dieser Ansatz vereinfacht die Geschichte zu sehr, ignoriert jede Metaebene.
    Hoffentlich schaffe ich es morgen in die Bibliothek zum Maeterlinck!
    Wo sind übrigens die anderen Wiener?? Brangaene und ich können doch nicht die Einzigen gewesen sein, die in dieser Aufführung waren!! (Sonst müssen Fairy und ich womöglich auch in einen Exilthread ;), wenn sich das hier zur Doppelconference auswächst :D )
    lg Severina :hello:

  • Liebe Fairy Queen, liebe Severina!
    Ich habe zwar die Aufführung nicht gesehen, aber möchte dennoch ein paar ungeordnete Gedanken beifügen:


    Mélisande ist in meinen Augen ein völlig unbewusstes Geschöpf, so weit von einem doch immer wenigstens teilrationalen Menschsein entfernt wie nur möglich, ein Kleinkind (Regression!) oder gar wie ein Tier in Menschengestalt. Sie ist völlig unfähig, zu reflektieren, bis zum Schluss. Sie ist total verwahrlost im Hinblick auf eine menschliche Erziehung und ich frage mich eigentlich, in welchem Keller sie ihre "Kindheit" verbracht hat, bevor ihr die Flucht gelang.
    Aber wenn sie Pelléas anflirtet, dann zeigt sie wohl, dass sie gelernt hat - wie eine Ratte - was sie tun muss, um gut behandelt zu werden. Und Pelléas will sie gut behandeln. Liebt er sie? Das bezweifle ich. Sie sind zwei Kinder, zwei Spielgefährten. Mélisande kann bei ihm ein bisschen Freude im düsteren Allemande finden, gerade weil er sie nicht liebt. Er spielt mit ihren Haaren. Sie schauen gemeinsam ins Licht. Versucht er, Mélisande zu heilen? Es gelingt ihm nicht.
    Die Tristanhaftigkeit des Stoffes erschließt sich auch mir nicht.


    Liebe Grüße,
    Martin

  • Lieber Martin,
    ich habe deinen wunderschönen Mélisande-Thread gelesen, wollte mich da aber nicht dranhängen, weil es hier ja in erster Linie um die Aufführung gehen soll(t)e. Dass sich das immer rasch verselbständigt, wenn Fairy und mir die Interpretationsgäule durchgehen ;), ist den Mods sicher leidvoll bewusst :] Umso schöner, dass wir in dir nun einen Mitdiskutanten gefunden haben! :jubel:
    Wie ich dich einschätze, kennst du sicher auch die literarische Vorlage! Für mich war es am 22. Jänner die szenische Erstbegegnung mit dieser Oper, ich beziehe mich in meinen Interpretationsansätzen in erster Linie darauf.
    In der ersten Szene wirkt Mélisande wirklich wie ein scheues Waldgeschöpf (auch ihr Kleid, das etwas Nymphenhaftes suggeriert, passt da gut dazu), es gibt aber in dieser Inszenierung durchaus Momente, wo sie bewusst, "vernünftig" (Im Sinne von vernunftbegabt) handelt, z.B. in ihrer Begegnung mit dem verwundeten Golaud oder eben die bewusste Brunnenszene. Da verhält sie sich ganz so wie eine junge Frau, die kurz ihrem Ehegefängnis entronnen ist, sich an der Freiheit erfreut und die Gelegenheit zu einem kleinen Flirt nützt. Ich glaube, wenn sie da nicht so aufreizend herumhüpfen würde, käme Pelléas gar nicht auf die Idee, mehr in ihr zu sehen als die langweilige und etwas seltsame Schwägerin. Auch das Spiel mit dem Ring scheint mir nicht so unschuldig, sondern eher provokant, oder sagen wir vielleicht Herausforderung des Schicksals. (Du siehst, ich komm von diesem Ringsymbol nicht weg! :D )
    Wirklich schade, dass du diese Aufführung nicht sehen konntest, wo du dich doch so einfühlsam mit der rätselhaften Mélisande beschäftigst!
    lg Severina :hello:


  • Hallo Severina,


    das die Geschichte mit dem Ring nicht mehr aufgegriffen wird, liegt meines Erachtens an der spezifischen dramaturgie der Oper, die ja insgesamt viele Dinge unerklärt und offen lässt. Für mich wird hier nicht so sehr eine vollständige zusammenhängende Geschichte erzählt, sondern es werden einzelne Bilder aus eben dieser Geschichte gezeigt, die sich der Zuschauer erst zu einer Gesamt-Geschichte bauen muss. So ist es ja auch bei vielen szenen unklar, wieviel Zeit dazwischen vergeht und was genau passiert. Wieviel Zeit vergeht zwischen der ersten und der zweiten szene im ersten Akt? Wieviel Zeit zwischen dem 4. und dem 5. Akt? Es wird nicht deutlich gesagt - viele Interpretationen sind denkbar. So denke ich mir, dass duchaus eine Auseinandersetzung mit Golaud über den Ring stattgefunden hat, aber sie wird nicht gezeigt. Wie sie verlaufen ist, weiss man nicht?


    Ebenso die Gestalt der Mélisande. Wie unbewusst und naiv ist sie wirklich? Inwieweit ist sie durch die Vorgeschichte traumatisiert? Sie hat ja nun auch eine geschickte Art unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen und Ihre Antwort an Pelléas im 4. Akt: "Ich lüge nie ausser bei Deinem Bruder" deutet ja an, dass sie so unbewusst nicht ist. Siehe auch deine Bemerkungen zum Spiel mit dem Ring.


    Für mich macht es genau den Reiz des Stückes aus, dass diese Fragen nicht eindeutig geklärt werden, sondern im vagen bleiben. Ich fand es durchaus auch gut, dass Pelly dem Stück nicht eindeutige Antworten übergestülpt hat.


    Viele Grüße,


    Melanie

  • Liebe Severina,
    den Maeterlinck kenne ich leider auch noch nicht. Ich interpretiere in diesem Fall nur vom Libretto und der Musik ausgehend und in gewisser Hinsicht bin ich auch der Meinung, dass man eine Oper nur auf diesen Grundlagen interpretieren kann. Manches kann freilich durch die Vorlage klarer oder deutlicher werden, aber was Librettist und Komponist gemacht haben, ist eigentlich meistens ein eigenes Werk, in das sie eigene Ideen und Vorstellungen einfließen haben lassen.


    Ich höre und lese gerade nach und habe gefunden, dass die Sache mit dem Ring, wenn auch nicht explizit, doch wiederaufgenommen wird: In der Szene III/3, wenn Pelléas und Golaud aus der Zisterne emporsteigen, sagt Golaud, er habe erfahren, was wirklich vorgefallen sei. Worauf kann sich das sonst beziehen, als auf den Ring? Offensichtlich hat Mélisande doch die Wahrheit gesagt oder zumindest etwas, das Golaud plausibel genug erschienen ist, worin aber Pelléas gleichwohl vorgekommen ist.


    Noch etwas: In der Szene II/2 spricht Mélisande zu Golaud, dass sie den Eindruck habe, Pelléas möge sie nicht besonders und spreche nur mit ihr, um der Höflichkeit Genüge zu tun, wenn sie sich zufällig begegnen. Sollen wir ihr das glauben? (Mélisande lügt häufig, um von ihrem Herrn nicht bestraft zu werden!) Wenn wir ihr das glauben, ist nämlich Pellys Regie in diesem Punkt sehr werkgetreu.


    Liebe Grüße,
    Martin

  • Debussys Pelléas gilt ja zusammen mit Salome von R. Strauss als erste Literaturoper - also als weitgehend komplette Vertonung eines für das Sprechtheater geschriebenen Dramas ohne Herrichtung für opernspezifische Bedürfnisse.


    Insofern ist der Unterschied zwischen dem Drama von Maeterlinck und Debussys Oper weitaus kleiner als bei den "normalen" Literaturvertonungen des 19. Jahrhunderts. Allerdings hat Debussy dann doch (gegen seinen ursprünglichen Plan) einige Änderungen vorgenommen: vor allem wurden einige Szenen gestrichen (u.a. solche, in denen die Dienstboten die Hauptrolle spielen; auch eine Szene mit Pelléas/Mélisande/Yniold und dem hinzukommenden Golaud) und auch sonst immer wieder kleine Kürzungen im Text vorgenommen (der Brief, den Geneviève in I 2 vorliest, ist im Drama wesentlich länger usw.). Das alles jedoch relativ behutsam. Außerdem hat auch Maeterlinck selbst immer wieder an seinem Drama herumgebosselt, es gibt m.W. drei verschiedene Fassungen.


    Ansonsten stimme ich Melanie zu: es ist zwar interessant, Pelléas als realistisches Eifersuchtsdrama des Fin de siècle zu lesen - viele Regisseure haben diesen Aspekt sehr reizvoll ausgebaut. Aber letztlich verselbständigen sich die Symbole im Drama/in der Oper, gehen nicht komplett im "realen" Handlungsverlauf auf, was neben der unklaren Zeitstruktur zur irrealen Atmosphäre beiträgt. Die von Severina ganz richtig benannte Parallelität zwischen der verlorenen Krone und dem verlorenen Ring deutet auf eine zyklische Struktur hin, in der sich das Unheil immer wiederholt. Der letzte Satz Arkels (über das Kind von Mélisande) lautet ja auch sinngemäß: "Jetzt ist die Kleine an der Reihe."



    Viele Grüße


    Bernd

  • Lieber Mela, lieber Martin, lieber Bernd,
    ich bin natürlich auch der Meinung, dass sich dieses Werk einer endgültigen Deutung entzieht, finde es aber spannend, mit euch ein bisschen herumzufantasieren :]. Außerdem interessiert es mich immer, was andere in eine Szene hineinlegen bzw. herauslesen.
    So deute ich z.B. die von Martin zitierten Worte Golauds eher als einen Schuss ins Blaue - er will anhand der Reaktion Pelléas' testen, ob er mit seiner Eifersucht richtig liegt.
    Was Mélisandes Behauptung betrifft, Pelléas würde sie ablehnen, so habe ich mich auch gefragt, ob sie jetzt Golaud nur ablenken will oder das wirklich glaubt. Trifft ersteres zu, wäre sie aber nicht so ganz das naiv-unschuldige Naturkind, sondern sehr wohl zu Raffinesse fähig. Oder sie verhält sich instinktiv "richtig", weil sie spürt, dass ihrem Gatten eine andere Antwort vielleicht gar nicht so gut gefiele, auf argwöhnische Gedanken brächte etc. etc. Ganz offensichtlich ist ihr klar, dass ihre Tändelei beim Brunnen etwas zu weit gegangen ist.
    lg Severina :hello:

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